Auf bedenklichen Wegen …

Eine Skizze zu Nietzsches Begriff des Wanderns

Auf bedenklichen Wegen …

Eine Skizze zu Nietzsches Begriff des Wanderns

6.3.25
Michael Meyer-Albert
Vielleicht ist es Nietzsches philosophische Haupterrungenschaft, dass er das Denken als einen Vorgang beschrieb, der leibhaftig geschieht. Reflexion ist für ihn eine kooperative Spannung von Leib und Geist. Das Denken ist geerdet in der nervösen Weltoffenheit des Leibes. Nietzsches Umkehrung des Christentums: Das Fleisch wird Wort. Damit zeigt sich Denken in Gesten. Im Folgenden soll eine Skizze geliefert werden, die die Haupttypen dieser reflexiven Gestiken andeutet. Es soll dadurch verdeutlicht werden, was es heißt, wenn sich Nietzsche selbst immer wieder als ein Wanderer beschreibt. Ein intellektueller Rundgang, der vom Stehen und dem Sitzen als Grundmodi der traditionellen Philosophie hin zum Gehen, (Aus-)Wandern und halkyonischen Fliegen als Nietzsches alternativen Modi eines befreiten Denkens und Lebens führt.

Vielleicht ist es Nietzsches philosophische Haupterrungenschaft, dass er das Denken als einen Vorgang beschrieb, der leibhaftig geschieht. Reflexion ist für ihn eine kooperative Spannung von Leib und Geist. Das Denken ist geerdet in der nervösen Weltoffenheit des Leibes. Nietzsches Umkehrung des Christentums: Das Fleisch wird Wort. Damit zeigt sich Denken in Gesten. Im Folgenden soll eine Skizze geliefert werden, die die Haupttypen dieser reflexiven Gestiken andeutet. Es soll dadurch verdeutlicht werden, was es heißt, wenn sich Nietzsche selbst immer wieder als ein Wanderer beschreibt. Ein intellektueller Rundgang, der vom Stehen und dem Sitzen als Grundmodi der traditionellen Philosophie hin zum Gehen, (Aus-)Wandern und halkyonischen Fliegen als Nietzsches alternativen Modi eines befreiten Denkens und Lebens führt.

Wir gehören nicht zu Denen, die erst zwischen Büchern, auf den Anstoss von Büchern zu Gedanken kommen – unsre Gewohnheit ist, im Freien zu denken, gehend, springend, steigend, tanzend, am liebsten auf einsamen Bergen oder dicht am Meere, da wo selbst die Wege nachdenklich werden.1

I. Stehen

Wer steht, hat etwas zu sagen. Zumindest sollte diese Haltung einem genauen Standpunkt entsprechen, der in der exponierten Lage des Aufrechtseins eine Geltung für sich beansprucht. Die Agora, der Versammlungsplatz der antiken Polis, ist der prototypische Ort der Standpunktvertretung. Wer steht, will Mitsprache. Hannah Arendt sah in einer öffentlichen Mitsprache die Realisierung der vita activa als wesentlicher Dimension des Humanen. Das Streben nach Ruhm durch eine gelungene Interaktion in der Öffentlichkeit legitimiert die Gebürtigkeit, die „Natalität“. Eine solche Interaktion versteht es, den Impuls des Neuen, das mit jedem Leben auf die Welt kommt, in das schon vorhandene Gewand des Üblichen erfolgreich so einzuflechten, dass auch in anderen der Impuls zu ihrer innovativen Mitsprache stimuliert wird. An die Stelle des liegenden „Seins zum Tode“ der Sterblichen, das ihr Lehrer und Liebhaber Martin Heidegger als den dominanten Seinsmodus annahm, tritt bei Arendt das um Mitsprache ringende Sein, das auf der Geburt der Stehenden gründet. Über die „Freiheit frei zu sein“ (Arendt) belehrt jeder Gang durch die Straßen und Plätze einer Stadt. Die Orte des Urbanen erinnern uns gleich einem verborgenen Pantheon an die ruhmvollen Vorfahren, nach denen sie benannt sind. Für das Stehen bedeutet das: Wir stehen in dem Licht der Berühmten auf, die vor uns erfolgreich aufgestanden sind.

II. Sitzen

Wer steht, versteht nicht. Er will wirken. Wer sitzt, will nicht wirken. Er will verstehen. Wer sitzt, vertritt keine Standpunkte, sondern denkt über sie nach, zumindest in den europäischen Traditionsräumen. Blickt man nach Asien, so gewinnt die nichttätige Tätigkeit des Nur-Sitzens – zum Beispiel diejenige des „Zazen“ aus der japanischen Zentradition – vor allem den Zug ins Nicht-Denken. Demgegenüber realisiert sich europäisches Zazen in einer geistigen Sammlung, die durchdachte Zusammenhänge in begrifflicher Kohärenz hervorbringt. Das Unmittelbare versinkt und ein Sinnieren setzt ein, das weitgefasste Themen umfassen lernt. Die Nähe des alltäglichen „Geredes“ (Heidegger) weicht einer Konzentration, die, so das Pathos des sitzenden Denkens, die wesentlichen Dinge ergründet. Das typische Utensil des sitzenden Denkens ist das Buch. Der Sitzende sitzt zumeist um zu lesen und zu schreiben. Lesendes Schreiben und schreibendes Lesen sind die elementaren Bewegungen des sitzenden Denkens.

Das Ergebnis der europäischen sitzenden Bedächtigkeit könnte, wenn das Wort nicht allzukomisch klänge, als „Sitzpunkt“ tituliert werden. Mit dem Sitzen gewinnt das Denken eine erste Transformation. Sie schafft eine außeralltägliche Entschleunigung und Konzentration, die durch den Dialog mit abwesenden Geistern, vermittelt durch das Buch, neue Abstraktionsebenen erfindet und entdeckt. Mit dem Sitzen beginnt die vita contemplativa. Philosophisch ist das Sitzen wie ein luzides Sterben inmitten des Alltags.

Wenn der Sitzende wieder aufsteht, kehrt er zurück in die Welt der Standpunkte. Er tut dies idealerweise nicht nur, um seine alten Ansichten mit neuem Schwung zu vertreten. Wer philosophisch vom Sitzen wieder aufsteht, steht auf mit einer bestärkten aufklärerischen Anteilnahme. Diese äußert sich traditionell durch eine ungeläufig komplexe Form der Rhetorik, die ihre reflexiven Differenzierungsgewinne mitteilen möchte. Durch das Sitzen kommt die Besonnenheit in das Stehen.

III. Gehen

Wer geht, vertritt keine Standpunkte, er denkt auch nicht bloß über sie nach, sondern er denkt über das Nachdenken nach, das über Standpunkte nachdenkt. Mit Nietzsches Ansatz einer leibhaftigen Reflexion erreicht das Denken erstmals den Modus eines wahrhaften Gehens. Seine Idee, Leib und Geist als eine reflexive Nervosität aufeinander zu beziehen, entsteht als ein Verdacht gegenüber der sitzenden Bedächtigkeit und ihrer Grundfarbe des Graus. Nietzsches These: Die Unbeweglichkeit des Sitzens verleitet zu der Hypertrophie einer Bedächtigkeit, die das Leben zu sehr vom geistesgegenwärtigen Geist entfernt:

So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden. – Das Sitzfleisch – […] die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.2

Sitzendes Denken ist für Nietzsche zu unvital, um sachlich über das Leben nachdenken zu können. Es fehlt der Übermut und die Reaktivität der Geistesgegenwart. In der Langsamkeit des besinnlichen Sitzens geraten so schnell die weiten Horizonte und überraschenden Zusammenhänge aus dem Blick. Vor allem fehlt es dem Sitzen an der lebendigen Präsenz. Vor seiner zuschauenden Reflexion verflüchtigen sich die Phänomene. Denken als ein nervöses Reflektieren, das seinen Stimmungen ein Mitspracherecht erteilt, ist für das sitzende Denken ein Affront, der als Irrationalität wegrationalisiert wird.

Demgegenüber weiß der gehende Denker: Das Denken denkt nicht. Es sind Zustände, die denken. Das sitzende Denken ist ein verklemmtes Denken, das alles Mögliche bedenkt, nur nicht seine eigene Steifheit. Nietzsche erweitert so die universelle romantische Ironie gegenüber dem starren Text zu einer physiologischen Ironie gegenüber einer denkenden Identität. Nur weil man auf eine vielfältige Weise da ist, kann man Vielfalt denkend sein. Er dreht Descartes’ „Cogito ergo sum“, „ich denke, also bin ich“, um: „Sum ergo cogito“.

Mit Nietzsche erlangt die Philosophie somit eine erweiterte Sachlichkeit als leibliche Kohärenz. Die gelungene Theorie ist ein Gehen, das in das Erfahren gerät und beweglich genug ist, um es sprachlich auszuloten und zu verdeutlichen. Nietzsches Definition der vita contemplativa ist damit konstruktiv. Die „Denkend-Empfindenden“3 erdichten und verdichten Wirklichkeit durch ihre „vis creativa“ (ebd.), ihre schöpferische Kraft. Idealerweise unterwegs als „Spazierengehen mit Gedanken und Freunden“4. Nietzsche träumt sogar von einer umherschweifenden Urbanität, die seine früheren Träume von einem musikmythischen Bayreuth ablöst. Nach seiner Wagnerjüngerschaft geht es ihm um eine Kultur der Aufklärung mit „stille[n] und weite[n], weitgedehnte[n] Orte[n] zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen Hallengängen […] [W]ir wollen in uns spazieren gehen, wenn wir in diesen Hallen und Gärten wandeln.“5

IV. Wandern als Auswandern

Nietzsches gehendes Denken erkannte in einer kulturtherapeutischen Perspektive, dass eine Gesellschaft, die keine spaziergängerische Intellektualkultur zu Stande bringt, von ressentimen Kompensationen verstimmt wird. Eine sitzende Aufklärung verfällt letztlich einer Agonie, die sich an Moralisierungen auf eine ungute Weise ermuntert, indem sie immer wieder, unterstützt von irrationalen Mythen, zu polarisierenden Standpunkten mobilisiert. Wer das Gehen nicht kultiviert, wird das Marschieren ertragen müssen. Es ist diese giftige Kompensation für eine fehlende moderne Mobilität des Geistes, die Elias Canetti 1960 zu einer tiefsinnigen Deutung des deutschen Wesens und seiner romantischen „Sympathie mit dem Tode“ (Thomas Mann) verleitete: Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. In keinem modernen Land der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland.6

Wer das Marschieren nicht ertragen möchte, wandert aus. Daher ist die Beweglichkeit der Aufklärung ein Wandern. Man wandert, um gehen zu können. Und erst im neuerreichten Gehen wird man fähig, aus den hartnäckig mitgereisten Verstimmungen auszuwandern. So wird der Philosoph als Wanderer, der sich doppelt distanziert – von den Sitten einer Öffentlichkeit und von seinen verinnerlichten Prägungen –, zum Hüter des hellen Seins.  Während Hegel den von ihm so genannten „Weg der Verzweiflung“ nur formal andachte, wird dieser für Nietzsche zu einer existenziellen Wahrheit. Krisen der Verzweiflung führen zu Überwindungen, die aus Umstimmungen hervorgehen, sich in Umwertungen kristallisieren und letztlich den Habitus von Umbeseelungen annehmen sollen. Dialektik wird zu einer „Kunst der Transfiguration“7, die sich von der Last der „kommandirenden Werthurtheile[]“8 und ihrer in Fleisch und Blut verinnerlichten Lebensgefühle befreien will. Dazu gehört, dass die Eiseskälte der fehlenden sozialen Nähe ertragen werden kann, um eine neue Lebendigkeit zu erlangen. Wandern besitzt so für Nietzsche, weil es sich überwinden und auch aus sich auswandern muss, die Intensität eines Bergsteigens. Nietzsches Geburt des Gedankens eines übermenschlichen Humanismus entsteht aus dem Geiste eines Daseins in Eis und Hochgebirge, dessen Movens eine „Wanderung im Verbotenen9 ist. Nietzsches Metaphorik für diese Dimension des wandernden Denkens ist alpin:

Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! wie frei man athmet! wie Viel man unter sich fühlt! – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge […].10

Nietzsches Akklimatisierung an die Höhenluft bedeutet eine strikte Selektion von Ernährung, Wohnort und Art der Erholung. Um sich von Schopenhauers Pessimismus, Wagners romantisierender Tragik, dem preußischdeutschen Militarismus und der Stimmungsmache für die „pathetische und blutige Quacksalberei“11 der Revolutionen zu lösen, hört der Lebenswanderer Nietzsche intensiv Bizet, reist nach Sils und Genua, hält eine strikte Diät ein – „Keine Zwischenmahlzeiten, keinen Café: Café verdüstert. Thee nur morgens zuträglich“12 –, lebt im Verborgenen. Nietzsches Philosophie als „Entschluss zum Lebensdienste“ (Thomas Mann) im Modus des Wanderns ist weniger eine „Arbeit am Begriff“ (Hegel) als eine Kultur des Leiblichen. Dabei verabscheut der Kulturpsychologe Nietzsche „die Hoffnung auf plötzliche Genesung“13 und votiert für einen allmählichen Wandel durch kleine Dosen. Lebensreform des eigenen Lebens statt politischer Revolution gegen das System:

Soll eine Veränderung möglichst in die Tiefe gehen, so gebe man das Mittel in den kleinsten Dosen, aber unablässig auf weite Zeitstrecken hin! Was ist Grosses auf Einmal zu schaffen! So wollen wir uns hüten, den Zustand der Moral, an den wir gewöhnt sind, mit einer neuen Werthschätzung der Dinge Hals über Kopf und unter Gewaltsamkeiten zu vertauschen, – nein, wir wollen in ihm noch lange, lange fortleben – bis wir, sehr spät vermuthlich, inne werden, dass die neue Werthschätzung in uns zur überwiegenden Gewalt geworden ist und dass die kleinen Dosen derselben, an die wir uns von jetzt ab gewöhnen müssen, eine neue Natur in uns gelegt haben.14

Aus Genua schreibt Nietzsche von den Erfolgen seiner postheroischen Einsamkeit:

Wenn die Sonne scheint, gehe ich immer auf einen einsamen Felsen am Meer und liege dort im Freien unter meinem Sonnenschirm still, wie eine Eidechse; das hat mehrere Male meinem Kopfe wieder aufgeholfen. Meer und reiner Himmel! Was habe ich mich früher gequält! Täglich wasche ich den ganzen Körper und namentlich den ganzen Kopf, nebst starkem Frottiren.15

V. Wandern als Überwinden

Durch seine Beweglichkeit der Wanderung kommt aber bei Nietzsche noch eine weitere Dimension zu dieser Kinetik des Denkens hinzu. Nur am Leben zu sein auf therapeutischer Wanderschaft und an seiner Resilienz zu arbeiten, ist zu wenig. Leben will Lebendigkeit. Um sich zu erhalten, muss es sich in seiner Munterkeit steigern. Gehendes Denken mag mutig sein, erst durch das Wandern wird es übermütig. Der Wanderer Nietzsche erkennt: Der Flaschensauerstoff des Philosophen in der einsamen Höhenluft ist Selbstenthusiasmierung als eine Lust an einem neuen Weltentdecken. Wandern wird ein existenzielles Bearbeiten von existenziellen Themen.

Da Nietzsche eine konstitutive Erdung des Geistes im Leib wahrnimmt und reflektiert, muss seine Philosophie eine Thematisierung seiner Existenzspannung sein. Philosophie kommt nicht aus der Haut heraus, die es denken lässt. Der „Perspektivismus“ von Nietzsche hat daher enge Grenzen. Er verläuft in den Bahnen der Grundstimmungen, in denen man lebt. Für Nietzsche heißt das, dass er die bipolare Vitalität seines Lebens philosophieren muss. Im Wechselspiel seiner minimalen und maximalen Vitalwerte kommt sein Denken zur Welt:

Von der Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen und Werthen, und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewissheit des reichen Lebens hinuntersehn in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts – das war meine längste Übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn irgend worin wurde ich darin Meister.16

Nietzsches Wandern meint, mit den Konstitutionsbedingungen eines erwanderten lebendigen Denkens zu experimentieren. Verzweiflungen werden nicht einfach aufgelöst, sie werden vielmehr aufgesucht. Nietzsches Ethos der gefährlichen Philosophie erfindet Sprachspiele, die aus Verzweiflungsspielen hervorgegangen sind. Anders als in Heideggers Der Feldweg – als Manifest des gewollt idyllischen Gehens in der „Weite und Weile“ der horizontalen Gegenden –, gewinnt Nietzsches wilde Besinnlichkeit Vertikalität. Nietzsches Wandern wird zu einer Art Laboratorium für Höhenexperimente, die danach forschen, wie weit man gehen kann. Sloterdijk weist in einer jüngeren Publikation darauf hin, dass vor allem das Phänomen der Vegetationsgrenze eine gewichtige Inspiration für Nietzsche gewesen sein müsste, um bei seinen „Randgängen der Lebendigkeit“ ein erweitertes Verständnis für die Natur und die menschliche Existenz zu erlangen.17 Gerade weil Nietzsche nicht mit beiden Beinen mitten im Leben steht, sondern immer auch jenseits des Lebens und diese Todeszone der Existenz immer wieder aufsucht, entdeckt sich für ihn das Leben neu. So wird aus der Notlage der Wanderschaft die Tugend einer präziseren Philosophie des Lebens. Eine gelungene Rezeption seiner Erkenntnisse und „wahre Ekstasen des Lernens“18 durch seine Philosophie, hält Nietzsche aber nur bei den Lesern für möglich, die seinen Spielraum der Höhen und Tiefen des Lebens nachvollziehen können, „denn ich komme aus Höhen, die kein Vogel je erflog, ich kenne Abgründe, in die noch kein Fuss sich verirrt hat“ (ebd.).

Den Gipfel erreicht Nietzsches gefährliche Meditation des Zwischenbereichs von absolut unwirtlicher Felsenhaftigkeit der Existenz und „unendliche[r] Lichtfülle und Glückstiefe“19 in seiner Idee von der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“, die in ihm nach eigener Aussage im August 1881 an dem Pyramidenfelsen von Surley kam. Nietzsche versucht mit dieser Idee eines modernisierten Kosmos die größte Herausforderung des aus dem Flachland ausgewanderten Wanderers zu bestehen, die darin liegt, dass das Wahre nicht mehr als das Schwere, Ernste, Tragische – man denke an die europäischen Megaprägungen durch Platons melancholisches Konzept der „Anamnesia“ und Augustinus’ düstere Idee der „Erbsünde“ – aufgefasst und passiv ertragen wird. Der Schmerz der Wahrheit und die Wahrheit des Schmerzes wird dabei nicht geleugnet. Der Schmerz wird aber nicht mehr substanzialisiert. Ja zu sagen zu einem Kosmos, der alles genauso noch einmal wiederkehren lässt, bejaht ein Leben als Wanderschaft mit einer unternehmerischen Leistungsbereitschaft zur aktiven Gestaltung der Oszillation von Ankommenlassen und Sichüberwinden als neue Grundform eines postmetaphysischen Lebens, das sich darum bemüht, sein Bestes zu geben. Ohne Erfolge ist das Leben ein Irrtum, aber Scheitern gehört zum Geschäft des Seins. Dabei sein, dabei bleiben, bewusster bezeugen ist alles:

Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins.
Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins.
In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.20

Nietzsches Idee einer ewigen Wiederkunft ist ein postmetaphysisches Gedankenexperiment, das in einer Epoche, die vom Tod Gottes geprägt ist, eine existenzielle Resilienz provoziert. Mit dieser verlieren die in der Moderne politisch so verheerenden Schmerzkompensationen vom erlösenden Ganz-Anderen und vom rettenden Advent, der erhofften Wiederkunft Christi, ihr Charisma.

Das leibliche Denken, das das Spüren in das Reflektieren einführte, muss sich jedoch eingestehen: Die Zeit für eine allgemeine postmetaphysische Beweglichkeit ist noch nicht erreicht. Zuviel verlautbarendes Stehen, larmoyantes Sitzen, entrüstetes Marschieren und verwundetes Auswandern dominiert. Noch herrscht das Ressentiment. Eine entmutigende Philosophie der kulturkritischen Verdächtigung gibt den Ton an.  

VI. Wandern als Fliegen

Nietzsches Wandern lässt seine Zeit hinter sich, um erneut in sie eintauchen zu können. Die erschwerte Beweglichkeit, die das Wandern als ein Auswandern aus überlebten Prägungen erfordert, beflügelt das Denken genauso wie die Versuche das Wandern als ein Experiment zu betreiben, das anzeigt, wie weit man gehen kann. Das Resultat ist eine Art physiologischer Dialektik: Im Wandern wandelt sich das Leben, das denkt, und das Denken, das lebt. Nietzsche erkannte: Wandern, das sich in seiner Schwere selbst bejaht, verändert seinen Aggregatzustand. Nun läuft Denken nicht mehr Gefahr, nur die Form eines betulichen Flanierens oder einer frivolen Munterkeit anzunehmen. Das Denken gelangt als ein Über-sich-hinaus-denken zu einem fluiden Modus. Als Über-Denken wird Philosophie zu einem Tanzen und letztlich von der eigenen Thermik getragen zu einem Fliegen. Das Ziel des Wanderns ist das Fliegen. Aus dem Wanderer und seinem Schatten wird ein Flieger und sein Himmel. Wege werden Startbahnen. Im Rückblick kann Nietzsche sagen: „Und all mein Wandern und Bergsteigen: eine Noth war’s nur und ein Behelf des Unbeholfenen: – fliegen allein will mein ganzer Wille“21.

Aus dem Wandern entsteht ein Fliegen, das, wenn es gelingt, halkyonisch wird. Das letzte Denken ist Halkyonik. Die höchste Kinetik des Denkens wiederholt so die Ruhe des antiken Denkens als Schau auf eine reflektiertere Art und Weise. Hier ist kein vormoderner Gott und keine moderne Selbstenthusiasmierung mehr nötig. Dasein reicht. Die Kontingenz, die im modernen Existenzialismus als „Ekel“ (Sartre), als das „Absurde“ (Camus), als „Seinsverlassenheit“ (Heidegger) philosophisch emotionalisiert wird, zeigt sich beim Wanderer Nietzsche als „der Himmel Zufall“ (ebd.). Damit wird der physiologische Stimmungsgrund des Ressentiments trockengelegt. Wenn das Dasein nicht mehr „fundamentalontologisch“ gedeutet wird, als etwas, was von fahlen und absurden Grundstimmungen durchzogen ist, verlieren die tragischen Deutungen des Seins ihre Berechtigung. Wo Heidegger suggeriert, dass „eine tiefe Langweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin und herzieht“22 und den klaren Willen des Erzkonservativen erkennen lässt, aus diesem Phänomen einen neuen Notstand als „Not der Notlosigkeit“ herbeizuphilosophieren, so weist Nietzsches Halkyonismus auf die Unschuld der Kontingenz hin. Langeweile als Flaute des Lebens stellt vielmehr eine Phase da, die neuen Winden vorhergeht. Kein wabernder Nebel taucht das Dasein grundsätzlich in ein fahles Grau. Es liegt vielmehr immer wieder offen zu Tage wie ein weites Feld, auf dem wie im tiefen Licht von Spätsommertagen Weltspannungen auftauchen wie schwebende, silberne Spinnenfäden, die zu Ideen verdichtet werden können. Gedanken werden zu einer Art Luftplankton. Halkyonische Kontingenz entdeckt das Realitätsprinzip als unverhoffte Leichtigkeit. Die deutlichste Verdichtung der hohen Töne, die das denkende Sein preisen, findet sich vielleicht in dem Abschnitt „Vor Sonnenaufgang“ im Zarathustra. In ihm preist das wandernde Cogito den Raum, der es fliegen lässt. Die Höhe als Ferne zum sozialen Du entbirgt eine neue Nähe zum Himmel, als Bedingung der Möglichkeit der Freiheit. Nietzsches Denken, das sich frei gewandert hat, beginnt zu singen, wenn es auf und aus diesen Denkhöhen zu sprechen kommt:

Oh Himmel über mir, du Reiner! Tiefer! Du Licht-Abgrund! Dich schauend schaudere ich vor göttlichen Begierden.
In deine Höhe mich zu werfen – das ist meine Tiefe! In deine Reinheit mich zu bergen – das ist meine Unschuld!  [...]
Wir sind Freunde von Anbeginn: uns ist Gram und Grauen und Grund gemeinsam; noch die Sonne ist uns gemeinsam.
Wir reden nicht zu einander, weil wir zu Vieles wissen —: wir schweigen uns an, wir lächeln uns unser Wissen zu. [...]
Zusammen lernten wir Alles; zusammen lernten wir über uns zu uns selber aufsteigen und wolkenlos lächeln: –
– wolkenlos hinab lächeln aus lichten Augen und aus meilenweiter Ferne, wenn unter uns Zwang und Zweck und Schuld wie Regen dampfen.
Und wanderte ich allein: wes hungerte meine Seele in Nächten und Irr-Pfaden? Und stieg ich Berge, wen suchte ich je, wenn nicht dich, auf Bergen?
Und all mein Wandern und Bergsteigen: eine Noth war’s nur und ein Behelf des Unbeholfenen: – fliegen allein will mein ganzer Wille, in dich hinein fliegen!23

Quellen

Canetti, Elias: Masse und Macht. Frankfurt a. M. 1980.

Heidegger, Martin: Grundbegriffe der Metaphysik. Frankfurt a.M. 2001.

Sloterdijk, Peter: Wer noch kein Grau gedacht hat. Berlin 2022.

Quelle des Artikelbilds.

Fußnoten

1: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 366.

2: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 1.

3: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 301.

4: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 329.

5: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 280.

6: Vgl. Canetti, Masse und Macht, S. 190 f.

7: Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede, Abs. 3.

8: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 380.

9: Ecce homo, Vorwort, 3.

10: Ebd.

11: Morgenröthe, Aph. 534.

12: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 1.

13: Morgenröthe, Aph. 534.

14: Ebd.

15: Brief an Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 8. Januar 1881.

16: Ecce Homo, Warum ich so weise bin, 1.

17: Vgl. Sloterdijk, Wer noch kein Grau gedacht hat, S. 207 f.

18: Ecce homo, Warum ich so gute Bücher schreibe, 3.

19: Ecce homo, Vorwort, 4.

20: Also sprach Zarathustra, Der Genesene, 2.

21: Also sprach Zarathustra, Vor Sonnen-Aufgang.

22: Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, S. 119.

23: Also sprach Zarathustra, Vor Sonnen-Aufgang.