Sinnieren im Südwind

Zu Gast in Nietzsches Sommerhaus im Engadin

Sinnieren im Südwind

Zu Gast in Nietzsches Sommerhaus im Engadin

30.9.24
Christian Saehrendt
In knapp 2.500 m Höhe entspringt in der Südostschweiz, im Kanton Graubünden, der Fluss Inn. Über eine Strecke von 80 km fließt er zunächst durch ein Hochgebirgstal, das man das Engadin nennt. Er durchzieht hier, unweit des mondänen Kurorts St. Moritz, zwei kleine Seen, den Silsersee und den Silvaplanersee, zwischen denen das idyllische Bergdorf Sils Maria liegt. Der Philosoph Friedrich Nietzsche verbrachte in dieser erlesenen Landschaft mehrere Sommer und ließ sich von ihr zu einigen seiner wichtigsten Werke inspirieren. Christian Saehrendt begab sich an diesem vielleicht wichtigsten „Pilgerort“ der Nietzsche-Szene auf Spurensuche.

In knapp 2.500 m Höhe entspringt in der Südostschweiz, im Kanton Graubünden, der Fluss Inn. Über eine Strecke von 80 km fließt er zunächst durch ein Hochgebirgstal, das man das Engadin nennt. Er durchzieht hier, unweit des mondänen Kurorts St. Moritz, zwei kleine Seen, den Silsersee und den Silvaplanersee, zwischen denen das idyllische Bergdorf Sils Maria liegt. Der Philosoph Friedrich Nietzsche verbrachte in dieser erlesenen Landschaft mehrere Sommer und ließ sich von ihr zu einigen seiner wichtigsten Werke inspirieren. Christian Saehrendt begab sich an diesem vielleicht wichtigsten „Pilgerort“ der Nietzsche-Szene auf Spurensuche.

Besucher aus dem Norden spüren hier sofort, dass sie einen magischen Ort erreicht haben: Der Blick schweift über den Silsersee Richtung Italien, das südliche Licht schmeichelt den Augen, das Gesicht umspielt der warme Malojawind, ein thermischer Luftstrom, der in manchen Wetterlagen ganztägig in Windstärke 4 bis 5 weht. An der Spitze der Halbinsel Chastè, die weit in den Silsersee hineinragt, ist er besonders zu spüren, wenn er rauschend die Kiefern zerzaust.  

Chastè gehörte zu den Lieblingsorten Friedrich Nietzsches, der im nahegelegenen Dorf Sils Maria sieben Sommer verbrachte. Im Hause der Familie Durisch bewohnte er in den 1880er Jahren mehrfach für einige Wochen ein einfaches Gästezimmer. Im trockenen und sonnenreichen Klima des Oberengadin erhoffte der von häufigen Migränebeschwerden gequälte Philosoph günstige Bedingungen für seine Gesundheit und Arbeitsfähigkeit vorzufinden. Wichtige Werke wurden in Sils konzipiert und z. T. niedergeschrieben: Die fröhliche Wissenschaft, Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral, Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung u. a. Vor allem in seinem dichterischem Hauptwerk Also sprach Zarathustra ist Nietzsches Interpretation der Engadiner Landschaft als „heroisch“ und „belebend“ spürbar.

Blick auf den Silsersee. Foto: Christian Saehrendt, 2024

Er erlegte sich während seiner Aufenthalte in Sils einen strikten Tagesplan mit festen Arbeits-, und Essenszeiten und mehreren Stunden Bewegung auf. Das breite, flache Tal erlaubte ausgedehnte Spaziergänge in der Umgebung, bei denen man sich nicht allzu sehr verausgabte und jederzeit die Gelegenheit bestand, die mitgeführten Notizbücher mit Gedankenblitzen zu füllen. Schon der erste Aufenthalt in Sils soll ihm an einem markanten, pyramidenförmigen Stein am Ufer des Silvaplanersees einen Schlüsselgedanken beschert haben, der seinem weiteren Philosophieren eine Richtung gab: jenen „Gedanken der ewigen Wiederkunft“, der in Also sprach Zarathustra eine wichtige Rolle spielen sollte. Auf aktuellen Wanderkarten und bei Googlemaps ist der Pyramidenstein markiert, so dass auch heute jeder die Aura dieses Felsblocks bei einem Spaziergang überprüfen kann.

Das Nietzsche-Haus in Sils Maria. Foto: Christian Saehrendt, 2024

Das 200-jährige Haus im historischen Ortskern von Sils Maria, in dem Nietzsche als regelmäßiger Sommergast wohnte, wurde 1959 von der eigens dafür gegründeten „Stiftung Nietzsche-Haus in Sils Maria“ erworben, renoviert und mit Exponaten ausgestattet. Am 25. August 1960, an Nietzsches sechzigstem Todestag, eröffnete die Stiftung im Haus ein Museum. Das Konzept der Stiftung, die bis heute Trägerin des Hauses ist, ruht auf zwei Säulen: Zum einen informiert eine Ausstellung über Leben und Werk des Philosophen, zum anderen ist das Haus als lebendige Wohn-, Arbeits- und Forschungsstätte gedacht. Das Münchner Nietzsche Forum schreibt jährlich ein „Werner-Ross-Stipendium“ aus. Dieses richtet sich an junge Akademikerinnen und Akademiker, an Schriftsteller und Autorinnen, die an Texten und Projekten im erweiterten Themenkreis von Nietzsche arbeiten. Das Stipendium bietet einen kostenlosen vierwöchigen Aufenthalt im Monat September im Nietzsche-Haus mit abschließender Teilnahme am Nietzsche-Kolloquium, das jährlich im benachbarten Luxushotel Waldhaus stattfindet.1 Die bislang 14 Stipendiaten und Stipendiatinnen kamen aus Deutschland, Kanada, Frankreich, Italien, Finnland und China. Daran sieht man: Das internationale wissenschaftliche Interesse an Nietzsche hat sich also stabilisiert und die wissenschaftliche Nietzsche-Community verjüngt sich permanent. Doch nicht nur Stipendiaten können ein Zimmer im Haus bewohnen, um dort in inspirierender Umgebung zu schreiben. Auch andere Gäste, also „Zivilisten“, haben die Möglichkeit, einen Raum im Haus zu mieten. Diese Mischung der Nutzer dient dem Ziel, Dialog und Vernetzung unter Forschenden, Nietzsche-Lesern und Touristen zu fördern. Ausserdem führt die Stiftung seit Mitte der 1980er Jahre Ausstellungen zeitgenössischer Kunst mit Nietzsche-Bezug im Haus durch, schließlich hatte Nietzsche wie wohl bisher kein zweiter Denker gerade die Künstler immer wieder stark inspiriert und zu produktiver Auseinandersetzung mit seinen Ideen und seiner Person angeregt. Nach Gastspielen u. a. von Gerhard Richter und Helmut Federle war auch der Bündner Künstler Not Vital zu Gast: Ein monumentaler weisser Gips-Schnauzbart war sein Hauptexponat, das er auf dem Bett Nietzsches deponierte.

Riesenschnauz auf Nietzsches Bett. Kunstwerk von Not Vital, Ausstellungsansicht Nietzsche-Haus 2006

Seit 2021 zeigt das Nietzsche-Haus eine erneuerte Präsentation von Leben und Werk Nietzsches, die von Matthias Buschle und Wolfram Groddeck kuratiert wurde. Neben biografisch-chronologischen Fakten werden wichtige Begriffe aus der Gedankenwelt Nietzsches einem Publikum erläutert, das nicht nur aus Nietzsche-Kennern, sondern auch aus Neugierigen und touristischen Zufallsbesuchern besteht. Im Laufe der Jahrzehnte nach der Eröffnung ist dieses Publikum spürbar internationaler geworden. Zudem entdeckten in den Corona-Jahren vermehrt Schweizer, darunter viele französischsprachige Westschweizer, das Haus. Deshalb war eine mehrsprachige Konzeption des Gedenkortes notwendig geworden, die die digitale Dimension einschliesst und dem Bedürfnis des zeitgenössischen Publikums nach leicht zu verarbeitenden und wohlportionierten Informationen entgegenkommt.

Abbildung Ausstellungsansicht Nietzsche-Haus 2024

Die Ausstellungsräume wurden 2021 in einem einheitlichen Design gestaltet, auf der Hintergrundfarbe der originalen Zarathustra-Bücher, d. h. in einem dezenten Türkis. Die Abfolge der Vitrinen folgt chronologisch dem Leben Nietzsches. Raritäten wie diverse Erstdrucke und eine kleine, regelmässig wechselnde Selektion wertvoller Originalmanuskripte der bedeutenden Sammlung Rosenthal-Levy sind zu besichtigen. Die einzelnen Exponate sind – heutigen Lesegewohnheiten eines überwiegend touristischen Publikums geschuldet – eher knapp beschriftet, die viersprachigen Erläuterungen können in einem Textheft oder auf einer mobilen Website gelesen werden. In den Vitrinen integrierte Tafeln informieren über Grundbegriffe und wichtige Stichworte in Nietzsches Denken.

Die Möglichkeit zur Übernachtung in den einfachen Doppelzimmern mit historischem Flair (Minimum drei Nächte, Maximum drei Wochen, für Gruppen eine Woche) besteht während der beiden saisonalen Öffnungszeiten von Mitte Juni bis Mitte Oktober und von Mitte Dezember bis Mitte April. Leider ausgenommen davon ist das Zimmer, welches Nietzsche selbst bewohnt hat, es ist Teil der musealen Präsentation. Im Haus befindet sich auch eine Präsenzbibliothek zur Nietzsche-Forschung, die ca. 4.500 Titel umfasst. Den Hausgästen steht zudem eine zu regen Gesprächen am Kaminfeuer einladende Küche zur Verfügung.2  

In weniger als einer halben Stunde erreicht man vom Nietzsche-Haus aus die Halbinsel Chastè, die früher wie heute gerne von Nietzscheanern aus aller Welt aufgesucht wird. Manche erwarten dort die Begegnung mit dem wiederkehrenden Geist des Philosophen. So z. B der renommierte belgische Architekt und Designer Henry van de Velde. Er berichtete von einer Vision, die ihn am 25. August 1918, dem 18. Todestages Nietzsches, beim Besuch der Halbinsel Chastè überkam: „Dort empfand ich einen Schauer als ob ich plötzlich vor einem Tempel, einem Mausoleum stehen würde, wo ich mit Nietzsche selbst in Berührung kommen werde.“3 Die Aura des Ortes ist ungebrochen: Wer sich heute auf der felsigen Halbinsel aufhält, wird immer wieder auf Zeitgenossen und Zeitgenossinnen treffen, die lesend oder sinnierend auf Ruhebänken und im Grünen verweilen und sich ebenfalls für eine Erscheinung von Nietzsches Geist bereithalten.

Informationen zum Artikelbild

Blick auf Chastè, Foto von Christian Saehrendt, 2024

Fußnoten

1: Vgl. auch https://www.nietzsche-forum-muenchen.de/.

2: Vgl. https://nietzschehaus.ch/das-nietzsche-haus-i/wohnen/.

3: Brief Henry van de Veldes an Elisabeth Förster-Nietzsche, 25. August 1918, Nationale Forschungs- und Gedenkstätte der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Goethe und Schiller Archiv, Bestand E. Förster-Nietzsche = Signatur 72.