Die alte Wut

Die Geburt der Moderne aus dem Geist des Ressentiments

Die alte Wut

Die Geburt der Moderne aus dem Geist des Ressentiments

21.1.25
Hans-Martin Schönherr-Mann
„Ressentiment“ ist einer der Leitbegriffe von Nietzsches Philosophie und vielleicht sogar ihr wirkmächtigster. In seinem neuen Buch Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments (Marburg 2024, Büchner-Verlag) vertritt Jürgen Große die These, dass seit dem 18. Jahrhundert mehr oder weniger alle politischen oder sozialen Bewegungen solche des Ressentiments sind. Unser Stammautor Hans-Martin Schönherr-Mann hat es gelesen und stellt im Folgenden Großes wichtigste Thesen vor.

„Ressentiment“ ist einer der Leitbegriffe von Nietzsches Philosophie und vielleicht sogar ihr wirkmächtigster. In seinem neuen Buch Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments (Marburg 2024, Büchner-Verlag) vertritt Jürgen Große die These, dass seit dem 18. Jahrhundert mehr oder weniger alle politischen oder sozialen Bewegungen solche des Ressentiments sind. Unser Stammautor Hans-Martin Schönherr-Mann hat es gelesen und stellt im Folgenden Großes wichtigste Thesen vor.

Gibt es Politik, Weltverständnisse, soziale Bewegungen, die frei von Ressentiment sind? Praktisch alle werden das von sich selbst behaupten. Gegenüber ihren Konkurrenten führen alle selbstverständlich gute Gründe für ihre Gegnerschaft an, so dass diese nicht auf einer affektiven Ablehnung beruhe.

Der Philosoph Jürgen Große bestreitet diesen Anspruch und führt in seinem neuen Buch vor, dass alle politisch-sozialen Strömungen seit der Aufklärung auf Ressentiments beruhen. Auch wenn er den zeitgenössischen politischen Szientismus nicht explizit erwähnt, aber en passant das ökologische Weltbild: Auch diese bedienen sich einer affektiv ausgrenzenden Terminologie, wenn sie ihre Gegner als Leugner ihrer wissenschaftlichen oder ökologischen Wahrheiten titulieren.

Gibt es gar keine Ausnahme? Doch, nämlich die Hippie-Bewegung der sechziger Jahre. Aber die Hippies stiegen doch aus dem bürgerlichen Leben aus? Entwickelten sie diesem gegenüber kein Ressentiment? Das bescheinigt Große zwar der Alternativbewegung der achtziger Jahre, nicht aber den Hippies. Diese stiegen zwar aus der Leistungsgesellschaft aus, aber lässig, nicht aggressiv wie die Bohème des späten 19. Jahrhunderts oder gar politische Protest-Bewegungen.

Einerseits entwickelten die Hippies eigene Werte, andererseits eine eigene Lebenspraxis mit eigenen Bedeutungszusammenhängen. Große schreibt:

Auch hier wieder begreift die Szene ihr Verweigern als lediglich abgenötigte Position, nicht als ursprüngliche Negation: Ursprünglich sei nämlich der Reichtum bedeutungsfreien Ausdrucks, wie ihn etwa Bob Dylan, oder bedeutungsverdrehenden Ausdrucks, wie ihn etwa Jefferson Airplane kultivierten, repressiv-abgeleitet hingegen die Konstruktion rigide bedeutungsverweigernder Formwelten. (S. 289)

Die Hippies leben auch nicht in einer primären Gegnerschaft zum Kapitalismus, verkörpern sie doch einen Hedonismus, der zwar nicht produzieren will, aber doch konsumieren. Ähnliches attestiert Große auch noch der Jugendszene in der DDR, die ohne emanzipatorische Ansprüche auskam und gegenüber der Politik schlicht abgetaucht war.

Was aber die Gegenkultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt betrifft, so sieht Große wesentliche Unterschiede zwischen der US-amerikanischen und der westeuropäischen Gegenkultur. Die amerikanische besinnt sich auf eine Natur, bei der man sich auch auf die Ureinwohner bezieht, die europäische ist primär nihilistisch, was Große mit dem Ressentiment und somit mit Zynismus und Neid verknüpft.

So steht denn im Zentrum von Großes Buch Nietzsche, über den er bemerkt: „Bis zu Nietzsche war in der europäischen Literatur das Ressentiment psychologisch und moralisch neutral oder kritisch beschrieben worden, nach Nietzsche galt es als verächtlich oder gar als therapiebedürftig.“ (S. 74) Die französischen Aufklärer etwa hatten gegenüber dem Ressentiment eine neutrale Einstellung, werteten es nicht grundsätzlich negativ.

In Nietzsches Zur Genealogie der Moral avanciert das Ressentiment zum strukturell negativen Hass der jüdischen Priester auf die herrschenden Schichten, als affektive Ablehnung der Starken, Reichen und Schönen, die in der „Herrenmoral“ das Gute verkörpern, während die Armen, Schwachen und Hässlichen in derselben das Schlechte darstellen. Die Christen, so Nietzsche, transformieren dieses negative Gefühl in eine positive Umwertung der Werte, so dass nun die Schwachen zu den Guten avancieren, während die Starken als „Böse“ abgewertet werden. Für Nietzsche ist damit nach Große das Ressentiment schöpferisch geworden, wie schon zuvor für Charles Baudelaire.

Großes Buch lässt sich denn auch in zwei verschiedenen Perspektiven lesen. Es enthält eine Geschichte des Ressentiment-Begriffs, die mit Montaigne einsetzt, ihre Dynamik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhält, als Literatur und Kunst gesellschaftskritisch werden, d. h. der absolutistischen Gesellschaft ablehnend begegnen, ähnlich wie sie im 19. Jahrhundert das Bürgertum scharf kritisieren, was sich im 20. Jahrhundert praktisch in allen politisch sozialen Strömungen fortschreibt, die sich jeweils aus unterschiedlichen Formen der Ablehnung speisen. Nietzsche spielt dabei eine Schlüsselrolle.

Die zweite Lesart von Großes Buch erklärt das Ressentiment zum Grundmotiv von politischen und sozialen Strömungen seit dem 18. Jahrhundert. An die Stelle von sozialen Gegensätzen bei Marx, die ökonomische Grundlagen haben und insofern durchaus rationalen Charakter, treten affektiv beschleunigte Abneigungen, emotional ausgelöster Hass auf Menschen und Ideologien, auf das Andere schlechthin, die mit der Hybris einhergehen, selber das Richtige zu leben und zu glauben. Dergleichen scheint für alle relevanten politischen und sozialen Strömungen zu gelten – die Hippies und die Jugendbewegung in der DDR sind nicht relevant. Das avanciert fast zu einem geschichtsphilosophischen Grundmotiv: Geschichte wird vom Ressentiment getrieben, allerdings nicht von Anbeginn – wer würde denn auch solchen Unsinn zu behaupten wagen, er kenne das Grundprinzip aller Geschichte!

Anders als Nietzsche, der es als Motiv des entstehenden Christentums beschreibt, hängt es für Große vielmehr mit dem seit der Aufklärung sich verbreitenden Anspruch des Egalitarismus zusammen. Die Adligen hatten es nicht nötig, gegenüber ihren Untertanen ein Ressentiment zu entwickeln und für letztere gab dazu umgekehrt auch keine Gründe. Erst mit dem Anspruch auf Gleichheit entsteht der Hass auf andere, die nicht gleich genug erscheinen, es aber doch sein sollten. Dass Großes Buch diese Lesart nahelegt, liegt vor allem daran, dass es sehr viele politischen und sozialen Strömungen in der westlichen Welt abhandelt und deren Ressentiment-Struktur aufzeigt.

Max Scheler, der Nietzsches Ressentiment-Begriff kritisiert, attestiert das Ressentiment der bürgerlichen Moral und spricht das Christentum davon frei. Die aufklärerische Moral beruht für Scheler auf einem Ressentiment gegenüber der christlichen Ordnung der Liebe, die selbst frei von allem Ressentiment oder gar einem „Willen zur Macht“ ist.

Daran schließt Ludwig Klages mit einem biozentrischen Denken an. Die Seele ist vital, vom Ich zu unterscheiden. Damit deutet Klages Nietzsche um und weitet den Ressentiment-Begriff aus. Große schreibt: „Durch seinen Hass auf den Lebenszersetzer Geist konnte Klages zum Weggefährten konservativer Revolutionäre wie auch zum Vorläufer ökologischer Weltrettungsutopien werden.“ (S. 72)

E. M. Cioran treibt das auf die Spitze. Für ihn sind Affekte nur durch Affekte zu bekämpfen, kann man sich vom Bösen nur durch das Böse befreien, muss das Ressentiment ausgeschöpft werden. Für Cioran bedarf das Denken der Heimtücke. Große kommentiert Cioran: „Neid, Hass, Wut sind keine geistfernen, Kunst, Philosophie, Wissenschaft keine affektfreien Reinzustände.“ (S. 81)

Während die bürgerlichen Revolutionäre ihren Hass auf den Absolutismus und das Christentum ausleben, reagiert die Reaktion bei Joseph de Maistre oder Juan Donoso Cortés mit Rachephantasien, die theologisch eingebettet werden:

Der Liberale begreift weder die Gottgegebenheit oder Selbstevidenz der Ordnung noch den Primat der voluntas vor dem intellectus. Die eigene Impulsivität gegenüber der liberalen Blässe zu loben und zu pflegen wird fortan eine Elementarübung aller reaktionären Theoretiker und Literaten. (S. 155)

Vor allem der Katholik Léon Bloy ragt dabei heraus, der sich zum ‚Antischwein‘ erklärt und damit alle Gegner zu Schweinen:

Angesichts der personellen und materiellen Übermacht des bürgerlichen Prinzips, das nicht etwa Terror (wie für die ältere Reaktion), sondern Indifferenz ist, wird Fanatismus zur geistig-moralischen Pflicht. Wenn Bloy die Schönheit beschreibt, die für ihn Blutbäder unter Bürgern, Engländern, Emanzipierten, Ungläubigen aller Art haben, dann erinnert das an die literarische Exzentrik de Maistres. (S. 159)

Aber ähnliche Ressentiments entdeckt Große auch bei Anarchisten, Linken und im Feminismus, den er primär als bürgerliche Bewegung qualifiziert, wie auch bei seinen männlichen Fürsprechern. „Frauenversteher werden nach 1800 Legion“ (S. 183), schreibt Große. Weder in der feudal-aristokratischen Gesellschaft noch in proletarischen Bewegungen hat es Feminismus nach Große gegeben: „[A]llein das Bürgerweib ist ressentimenthistorisch auffällig geworden.“ (181)

Männer werden abgewertet und Frauen verherrlicht. Weibliche Verdorbenheit verdankt sich für den Feminismus den Männern. Das Rachemotiv zielt dabei auf eine Umwertung der Werte, die sich wie bei Nietzsche der eigenen Schwäche verdankt und dem Neid auf die Stärke der Männerwelt. Große schreibt:

Die ressentimenttypische, aber auch bürgerlicher Emanzipationslogik zugrundliegende Ressentimentstruktur – privates Leid als Symptom eines Weltzustandes – zeigt bereits die frühe Frauenbewegung; „offener Männerhass“ und Ideen weiblicher „Weltrettung“ durch bislang ausschließlich weibliche Kleinwelttugenden wie „Wärme und Hingabe“ sind bereits kurz nach 1800 nachweisbar. (S. 185)

Das Ressentiment beschränkt sich also keineswegs auf rechte oder konservative Strömungen wie die Yuppies der achtziger Jahre oder dem aktuellen Rechtspopulismus, die den Linken eine Neid-Haltung unterstellen und Benachteiligung als selbstverschuldet erklären: Von diesen formulierte Ansprüche seien von Unruhestiftern evoziert. Minderheiten und Benachteiligte können sich nicht selbstredend als Opfer präsentieren und ihre Lebensform als ethische ausgeben. So bemerkt Große:

In der fortgeschrittenen Moderne ist der Bezug zum christlich-„ritterlichen“ Motiv des Racheverzichts geschwächt. Ressentimentgefühl und Ressentimentbegriff werden zusehends mit Fragen sozialer Gerechtigkeit konnotiert, insbesondere mit frustriertem Gleichheitsverlangen. (S. 327)

Ähnliches schreibt Große auch den diversen antibürgerlichen künstlerischen Strömungen zu vom Sturm-und-Drang über die Bohème und den Surrealismus bis heute. Das gilt noch für die neuen Halb-Eliten aus linken, grünen oder digitalen Lagern, über die Große bemerkt: „Politik-, Medien- und Kultur-Bobos [bourgeois-bohémien; SM] agieren als Primärverletzte wie auch als Stellvertreter aus historisch-tradiertem, gegenwärtig andauerndem Unrecht.“ (S. 311)

So scheint das Ressentiment für Große seit ca. drei Jahrhunderten Politik und Gesellschaft an- und umzutreiben und damit die Geschichte zu bestimmen. Freilich erreicht es dabei kaum die schöpferische Qualität der Umwertung der Werte. Aber darüber darf man streiten. Denn gerade ökologisch ethische Werte haben sich heute in modernen Gesellschaften breitgemacht. Und vielleicht auch der Hedonismus der Hippies mit Sex & Drugs & Rock’n’Roll – letzteres umschreibt Große mit „Lärm“ (292), ein Anschluss an Adornos Abneigung gegenüber der Popkultur. Aber wie man in die Welt hineinruft, so hallt es zurück.

Bildnachweis Artikelbild

Edmund Adler: Der Blumenkranz (1950) (Link)