„Der höchste Gegenspieler“

Daniel Tutt und Henry Holland im Gespräch

„Der höchste Gegenspieler“

Daniel Tutt und Henry Holland im Gespräch

13.11.24
Henry Holland & Daniel Tutt
Nach zwei vorherigen Beiträgen zu Nietzsche in der Anglosphere für diesen Blog, interviewte Henry Holland den US-amerikanischen Denker Daniel Tutt über seine Perspektive auf Nietzsche als wichtigsten Antagonisten der Linken. Dabei kam das Gespräch unter anderem auf Huey Newton, Anführer der Black Panthers in den 1970er-Jahren, und was dessen „parasitische“ Art Nietzsche zu lesen bewirkte. Eine unredigierte und ungekürzte Fassung dieses Interviews, im englischsprachigen O-Ton, ist auf dem Youtube-Kanal von Tutt anzuhören und anzuschauen (Link).

Nach zwei vorherigen Beiträgen zu Nietzsche in der Anglosphere für diesen Blog, interviewte Henry Holland den US-Amerikanischen Denker Daniel Tutt über seine Perspektive auf Nietzsche als wichtigsten Antagonisten der Linken. Dabei kam das Gespräch unter anderem auf Huey Newton, Anführer der Black Panthers in den 1970er-Jahren, und was dessen „parasitische“ Art Nietzsche zu lesen bewirkte. Eine unredigierte und ungekürzte Fassung dieses Interviews, im englischsprachigen O-Ton, ist auf dem Youtube-Kanal von Tutt anzuhören und anzuschauen (Link).

Zusammenfassung

Das Gespräch kreist um Daniel Tutts Buch How to Read Like a Parasite. Why the Left Got High on Nietzsche, das Ende 2023 erschien. Henry Holland spricht Tutt zunächst auf seine Herkunft aus der Arbeiterklasse an, die Tutt in dem Buch immer wieder zum Thema macht. Tutt berichtet davon ausgehend von seiner ersten begeisterten Nietzsche-Lektüre als Jugendlicher und wie ihn Nietzsches Individualismus von der Entwicklung eines Klassenbewusstseins im marxistischen Sinne abbrachte. Er möchte aus diesem Grund an die marxistische Nietzsche-Kritik, wie sie etwa Georg Lukács und Domenico Losurdo artikulierten, anknüpfen. Holland fragt ihn dann nach seiner Einschätzung des Linksnietzscheanismus. Hierfür dient der in dem Buch auch thematisierte Huey Newton (1942-1989) als Beispiel, der in den 60er Jahren in den USA die Black Panther Party mitbegründete und in der Folge einer ihrer führenden Köpfe war; eine Organisation, die sich in radikaler Form für die Emanzipation der Schwarzen einsetzte. Das Gespräch kreist in der Folge darum, inwiefern die nietzscheanische Suche nach der Realisierung eines „höheren Selbst“ mit einer marxistischen Gesellschaftskritik und einem entsprechenden Engagement nicht doch kompatibel ist im Sinne einer „parasitären“ Lesart von Nietzsches eigentlich elitären und gegen die Arbeiterbewegung gerichteten Ideen. Unter kritischer Aufgreifung der Polemiken des zeitgenössischen Rechtsnietzscheaners Costin Alamariu begreifen Tutt und Holland Nietzsche als politisch vieldeutigen Verteidiger der individuellen wie kollektiven Überschreitung herrschender Normen.

Vollständiges Gespräch

I. Nietzsche und die Arbeiterklasse

Henry Holland: Einen großen Dank, Daniel – Daniel Tutt –, dass du bei uns sein kannst, für dieses Blog- und Video-Interview. Eher zufällig stieß ich auf dein neues Buch, nachdem Micky Wierda vom Repeater-Verlag mir das Werk für eine Besprechung nahelegte. How to Read Like a Parasite. Why the Left Got High on Nietzsche kam als Taschenbuch und E-Book Ende 2023 heraus. Es nimmt Lesende auf einer intellektuellen Reise mit über eine riesige Steppe der modernen Ideengeschichte, in der auch politische Wendepunkte – sei es etwa die Russische Revolution 1917, seien es die Tumulte von 1968 – stets präsent sind. Auf dieses faszinierende, aber auch bisweilen entsetzliche Territorium entführt, erfahren Lesende auch die Geschichten außerordentlicher nietzscheanischer Akteure. Und zu guter Letzt, mittendrin in dieser großen Historie, forcieren auch die Einblicke in deine Autobiographie, die du immer wieder einstreust, vielfach Perspektivwechsel. Kannst du an dieser Stelle kurz rekonstruieren, wie deine Biographie dich zu Nietzsche führte und erklären, warum deine Herkunft aus der Arbeiterklasse eine Schlüsselrolle in deinen Argumenten spielt?

Daniel Tutt: Zuerst auch ein Dank meiner Seite, es ist eine Ehre mit dir in einen Dialog zu treten. Wie du andeutest, las ich Nietzsche zum ersten Mal als sehr junger Student, Jenseits von Gut und Böse – und ich verstand fast gar nichts. Aber wie bei allen Texten Nietzsches – und weil es mit seinem anziehenden Stil doch etwas auf sich hat –, fühlte ich mich geradezu gezwungen, weiterzulesen und zu recherchieren, was eigentlich in diesem äußerst dynamischen Material vor sich geht. Es war also etwas vollkommen anderes als die übliche angloamerikanische analytische Philosophie, die ich an der Uni studierte. Und ich habe mich auch für Geschichte und Lyrik interessiert, das passte gut zusammen.

Ich hatte also diese Figur, die in mein Leben trat, die irgendwie alle meine fachlichen Interessen befriedigte und auch einen sehr tiefgründigen Kommentar zum modernen Leben, zur modernen Existenz abzugeben hatte. Nietzsche hat mich umgehauen, wie nur er es eben vermag, und ich glaube, er sprach auch ein Gefühl der rastlosen Erregung bei mir an, die ich nicht genau benennen oder lokalisieren konnte.

Du hast von der „Arbeiterklasse“ gesprochen: Das trifft sich. Es gehört zu den besonderen Absurditäten unseres gegenwärtigen Kapitalismus, dass im Verständnis vieler Spezialisten, Soziologen und sogar Philosophen so etwas wie die „Arbeiterklasse“ gar nicht mehr existiert. Diese Entwicklung bahnte sich in den letzten vier Generationen seit dem Zweiten Weltkrieg an. Infolge dieser Entwicklung ist allein die Kundgabe, dass man selbst aus dieser „Arbeiterklasse“ stammt, an sich schon ein Skandal. Damit betrachtet man seine Existenzweise aus der Perspektive eines bestimmten Antagonismus, der vom Status quo verdrängt wird. Denn der Status quo will die Welt nicht in Klassen sehen. Der Status quo will die Dinge in Bezug auf individuelle singuläre Agenten oder Agierende sehen, die versuchen, sich über ihre Beziehung zum Markt zu bestimmen. Dort wollen sie auch die „höchste“ Version ihrer eigenen „Marke“ – laut dieser Perspektive mit ihrem höchsten Selbst identisch – verwirklichen.1 Nietzsche machte mich aber nicht klassenbewusster. Eher glaube ich, dass die Lektüre Nietzsches mich damals von jedweder Formulierung eines Klassenbewusstseins abbrachte; dafür stattete sie mich aber mit dem nötigen Rüstzeug aus, um die Verwirklichung eines höheren und singulären Selbst zu versuchen. Und deshalb lautet der Titel meines ersten Kapitels: „Wir leben in Nietzsches Welt“. Genau deswegen halte ich sein Denken für so aktuell. Peter Sloterdijk spricht davon, dass es Nietzsches Anspruch war, uns das fünfte Evangelium zu bringen.2 Nietzsche kann also, laut Sloterdijk, als Prophet unserer heutigen Welt angesehen werden. Und damit aktualisiert auch Nietzsche die sokratische Maxime von der Erweiterung der Selbsterkenntnis.3 Er fügt aber diesem wichtigen Zusammenhang etwas Entscheidendes hinzu: Diejenigen, die sich um ein höheres Selbst bemühen, müssen einen gefährlichen Weg einschlagen, um weiterzukommen. Anders formuliert: Dieser Weg ist nur für wenige bestimmt. Das war für mich als junger Mensch der Reiz der Nietzsche-Lektüre, nämlich dass ich mein höheres Selbst erreichen und auch Teil dieser nietzscheanischen Community sein wollte, die aus außergewöhnlichen Persönlichkeiten bestand. Und damit kommen wir zum anderen großen Erzählstrang des Buches: Nietzsche – ausgerechnet er – als gemeinschaftsbildender Philosoph.

Falls man meiner Argumentation soweit folgen mag, denn muss man auch zugeben, dass es so etwas wie den Nietzscheanismus gibt, dass Nietzsche mehr als lediglich ein Philosoph der Gedankenexperimente oder ein Kritiker der Metaphysik gewesen ist. Und auch mehr als ein Philosoph, der wie ein reiner Einsiedler jenseits der Politik wirkt, der aus dem gesellschaftlichen Leben „subtrahiert“ werden kann und der unzeitgemäß ist.4 Und mein Buch stellt schließlich auch die Frage nach der Rückkehr zu Nietzsche, nachdem man sich schon einmal mit ihm vertraut gemacht hat. Dabei greife ich auf das zurück, was ich für eine lange vernachlässigte marxistische Kritik an Nietzsche halte.

II. Individualismus und sozialistische Bedrohung

Der Linksnietzscheaner Huey Newton 1967 in der Zeitschrift The Black Panther (Bd. 1, Aus. 6). Photographie von Blair Stapp (Bildquelle).

HH: Ja,  Georg Lukács‘ marxistische Kritik5 und Domenico Losurdos fast enzyklopädische neuere Schriften bilden tragende Säulen deines Buches.6 Unter den vielen verlockenden Faden, die du gerade ausrollst, lasst uns zuerst Nietzsches „Gemeinschaftsbildungsprojekt“ herausgreifen. Denn es gibt diese dir ja bekannte und sich penetrant am Leben haltende Debatte: Besitzen Nietzsches Schriften einen nennbaren Kern, ein definierbares Zentrum? Oder sind sie rettungslos dezentriert? Und hier nimmst du klare Stellung für ein „Zentrum“, für einen springenden Punkt in Nietzsches Philosophie, von dem alles andere ausgeht. Oder, präziser gefasst, für einen Kern von von Nietzsche absichtlich verbundenen springenden Punkten. Du führst vor, wie Nietzsches Denken im Kern auf den Aufbau einer elitären Community intellektueller Aktivisten abzielt, eine exklusive Intelligenzija, die wiederum realen Einfluss auf die Politik ausüben soll. Ein weiterer Teil dieses Kerns ist deiner Ansicht nach, dass Nietzsche Rangordnungen um jeden Preis beibehalten will, auch wenn das bedeutet, dass die Arbeiterklasse unterdrückt und in ihre Schranken gewiesen werden muss. Kurz gesagt, er will die bestehenden Tabus bezüglich eines Sich-Identifizierens mit der Arbeiterklasse, oder gar eines Klassenbewusstseins aufrechterhalten. Gerade vor diesem Hintergrund wäre es sinnvoll, über den einen oder anderen sogenannten „Linksnietzscheaner“ zu sprechen, die du im Buch anführst. Denn diese haben offensichtlich von einem „Klassenbewusstsein“ gesprochen im Zuge ihrer eigenen Bemühungen darum, intellektuelle Gemeinschaften aufzubauen. Wahrscheinlich ist die frappanteste Figur, die du in deinem Buch in dieser Hinsicht behandelst, Huey Newton (1942-1989). Newton, vor allem bekannt als einer der Mitbegründer der Black Panthers, kam aus einer völlig peripheren gesellschaftlichen Position, um plötzlich eine Führungsrolle innerhalb der radikalen Linken und vor allem der schwarzen Communities in den späten 60er und frühen 70er Jahren einzunehmen. Du beschreibst, wie Newton diesen Sprung schaffte: Durch eine „kreative Fehldeutung“ von Nietzsches Thesen über den Willen zur Macht.7 Das fand fast zeitgleich mit einem kulturellen Ereignis statt: 1968 erschien eine außerordentlich einflussreiche Neuübersetzung von Der Wille zur Macht, dieser verfälschenden Edition der Nachlassfragmente Nietzsches durch seine Schwester und ihre Mitarbeiter, übertragen von Walter Kaufmann und R. J. Hollingdale. Du stellst wiederum fest, dass Nietzsche, ab etwa 1971, eine stetige Größe in Newtons Denken war. Könntest du diese Zusammenhänge näher erörtern?

DT:  Sehr gerne. Ich entnehme deinen Ausführungen zwei Fragen. Eine davon betrifft Nietzsches Verhältnis zur Arbeiterklasse. Die zweite zielt darauf ab, wie ich Nietzsches sogenannten „Kern“ verstehe.

Wenn wir nun überhaupt die Behauptung wagen, dass Nietzsches Denken einen solchen „Kern“ besitzt, dann verstößt dies zunächst gegen die fest etablierte akademische Orthodoxie der French Theory8. Aber auch, wenn man sich zum Beispiel die US-amerikanischen Nietzsche-Interpretationen von Maudemarie Clark9 bis hin zu Brian Leiter10 anschaut, und das sind überwiegend analytisch geprägte nietzscheanische Ansätze, dann bestehen diese Denker ebenso darauf, dass wir es bei Nietzsche mit einem dezentrierten Denker zu tun haben. Auch wenn sie dies mit ganz anderen Argumenten begründen als etwa Derrida, Deleuze und Foucault, beharren sie doch auf demselben Punkt. Und dann existieren außerdem noch die verschiedenen Perspektiven auf Nietzsche, die eine genuin linke Nietzsche-Interpretation leiten könnten. Es ist in dieser Hinsicht von entscheidender Bedeutung klarzustellen, dass Nietzsche der plebejischen oder sogar der Arbeiterklasse nicht mit besonderem Hass entgegentritt. Es geht vielmehr darum, Nietzsches Begriffsbildung zu dieser Frage durch das Brennglas seiner breiteren Kritik der Sklavenmoral hindurch zu verstehen.  

Ich möchte in diesem Zusammenhang betonen, dass aus Nietzsches Sicht der Zustand der Arbeiterklasse nach der Französischen Revolution und nach der Entstehung des industriellen Kapitalismus ab den 1830er Jahren äußerst problematisch wurde. Er diagnostiziert, dass das Bewusstsein der Arbeiterklasse in dieser Periode mit Ideen der „Sklavenmoral“ durchtränkt wurde. Diese „Sklavenmoral“ ist vor allem deswegen problematisch, so Nietzsche in seinem Frühwerk, weil sie eine „optimistische Weltanschauung“ impliziert. Eine solche Einstellung beeinträchtige die Fähigkeit einer Kultur, individuelle „Genien“ hervorzubringen.

Wenn wir uns mit Nietzsches Frühschrift Schopenhauer als Erzieher auseinandersetzen, dann sehen wir eine Sache, die sich im Kielwasser Goethes bewegt: eine Abkehr von einem bestimmten Verständnis des Intellektuellen und von einem bestimmten Verständnis von Größe. Nietzsche bezeichnet Individuen, die eine solche Größe noch in sich tragen, als „höhere“ oder „werthvollste Exemplare“. Diesen gegenüber stellt Nietzsche die Philosophie des Ressentiments und der Sklavenmoral, welche Judaismus, Christentum und moderner Sozialismus miteinschließt und welche, laut diesem Verständnis, auf einer vulgären Auffassung von Gleichheit beharrt. Dadurch wird die volle Blüte der gerade erwähnten Form menschlicher Größe verhindert. Diese verhinderte Form nennt Nietzsche, im Gegensatz zur „optimistischen“, die tragische Weltanschauung. Schopenhauer ist nach dieser Leseart ein Philosoph, der das große Individuum nur in Begriffen der Kontemplation, nicht aber in Begriffen der Handlung denkt. Nietzsche legt also großen Wert auf die Notwendigkeit, die Sklavenmoral durch eine politische Praxis zu bekämpfen, die darauf bedacht ist, diesen möglichen Mann der Tat und des Genies zu erhalten. Denn die Bewegungen der Nivellierung, insbesondere der Sozialismus, scheinen diese Möglichkeit zu beseitigen. Und das ist bei Nietzsche eine Quelle tiefer Melancholie. Wir sollten auch anerkennen, dass Nietzsche selbst ein frühreifes Genie war, oder zumindest auf diese Weise betrachtet wurde, indem er mit nur vierundzwanzig Jahren auf so außergewöhnliche Weise eine ordentliche Professur erhielt.

III. Faustkämpfe mit dem Philosophen der Überschreitung

HH: Da sind einige heiße und gesprächswürdige Themen im Raum, die ich gerne aufgreife. Fangen wir mit der biographischen Perspektive an. Wiederholt empfinde ich Nietzsches Biographie als schlichtweg zu chaotisch, dass er, in seinem ozeanischen Werk, das er kaum zügeln konnte, ein kohärentes Zentrum hätte hinein gestalten können. Man denke nur an seine großen gesundheitlichen Einschränkungen, die sich bei ihm als gerade Erwachsenen einstellten und nicht weggingen. Man kommt in die Versuchung, seine eigenen krassen Worte, die er wiederholt gegen die wehrlosesten Teile der Bevölkerung gnadenlos richtete, auf ihn selbst anzuwenden. Ganz objektiv, also vor allem physiologisch gesehen, war er eine „kranke Natur“, und welchen Realitätsbezug haben die Aussagen einer solchen? „Das, was die Menschheit bisher ernsthaft erwogen hat, sind nicht einmal Realitäten, blosse Einbildungen, strenger geredet, Lügen aus den schlechten Instinkten kranker, im tiefsten Sinne schädlicher Naturen heraus“12. Solche schelmischen Versuchungen beiseite, aber dennoch vor dem gleichen Hintergrund: Bis zu welchem Grad willst du Nietzsche eine durchgeplante Absichtlichkeit in seinem Wirken zuschreiben? Gleichzeitig würde ich gerne auf Huey Newton zu sprechen kommen. In früheren Gesprächen zwischen uns empfahlst du nämlich einen faustkampfartigen Umgang mit Nietzsche. Kurzgefasst, du behauptest, wir können am meisten von „Nietzsches Politik“, „Nietzsche’s politics“, wie du es selbst formulierst, lernen, wenn wir diese im Zentrum seines Gesamtwerkes verortet sehen – und dabei Nietzsche wie einen Sparringpartner behandeln.

Und Newton ging auch faustkampfartig bei seiner Nietzsche-Lektüre vor. Bildhaft gesprochen, fand sie da draußen auf der Straße und bei Konfrontationen statt, es ging nicht um nette Lesegruppen von „Gutmenschen“, bei denen die Frage, wer jetzt beim Vorlesen dran wäre, den größtmöglichen Streitgegenstand bildet. Und in diesem Zusammenhang will ich auch die Frage der Transgression oder strafbaren Überschreitung nachgehen. Denn ich schlage vor, dass der Grund für Nietzsches Attraktion für so viele Lesende, einschließlich so viele Lesende aus der Arbeiterklasse13, darin liegt, dass er den Weg frei macht, so dass Individuen „berechtigten Transgressionen“ nachgehen können: So könnten wir solche Handlungen nennen.

In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, dass Newtons Mitführung der Black Panthers von diversen Überschreitungen der bürgerlichen Ordnung gekennzeichnet war, Transgressionen, die insgesamt emanzipatorisch auf ihre Protagonisten wirkten, selbst wenn sie immer wieder gewalttätig waren. Er wurde tatsächlich erst zu einer bundesweiten Führungsfigur in den USA, nachdem er im Oktober 1967 in tödliche Schüsse auf einen Polizisten involviert war. Nach diesem Todesfall, wofür er wegen Mordes angeklagt wurde – im Falle eines Schuldspruches hätten die Behörden ihm hingerichtet –, organisierte sich in den USA eine bundesweite „Free Huey“-Kampagne, an der eine Reihe entrechteter Gruppen beteiligt waren, darunter die Young Lords oder die sogenannten Latin Panthers. Diese Gruppen erkannten die rassistisch motivierte staatlicher Gewalt in dem, womit Newton konfrontiert war. In den Anklagepunkten gegen ihn wurde er aber nicht für schuldig befunden und konnte deswegen, und sozusagen ausgezeichnet durch die leibliche Erfahrung mit der Ahndung einer Transgression, eine Führungsrolle in seinen Organisationen übernehmen.14

Zuletzt will ich diese Frage bezüglich der berechtigten Überschreitung bei und mit Nietzsche mit einer Perspektive aus dem zeitgenössischen „Rechts–Nietzscheanismus“ verbinden und dich auch um deinen Standpunkt zum letzteren bitten. Es geht um das neue Buch von Costin Alamariu, den viele Menschen nur unter seinem draufgängerischen Social-Media-Pseudonym kennen: Bronze Age Pervert. Augenscheinlich geht es Alamariu um das Inszenieren und Herbeiführen von Transgressionen: Ob diese „berechtigt“ sind, ist aber eine andere Frage. Alamariu zufolge postulierte Nietzsche einen „glücklichen Moment“ in geschichtlichen Zyklen, in dem eine politische Schwäche eintritt, die zuvor erzwungene Homogenität zusammenbricht und eine lang in Regimen aufgestaute Spannung sich entlädt. (Kontra Alamariu denke ich an dieser Stelle auch an die repressive Homogenität des Arbeitslebens im Spätkapitalismus, die berührend in deinem Buch beleuchtet wird, Daniel.) Darüber hinaus behauptet Alamariu, dass diese Homogenität durch eine „tropische Vermehrung“ monströser Typen ersetzt wird, die meisten von ihnen schwach und/oder mangelhaft, aber einige wenige glücklicherweise stark und „wohlgeraten“. Und nun möchte ich Alamariu direkt zitieren: „Die Qualitäten oder Tugenden, die inneren Zustände, die das Ergebnis aristokratischer Erziehung und Erziehung sind, sind jetzt frei, um ihren Weg in neue, unerwartete Richtungen zu gehen. […] Man kommt auf neue Geschmäcker: auf das Neue als solches und auf eine Vorliebe für Überschreitung, eine Langeweile mit dem Gesetz ...“15

Selbst wenn ich wenig von Alamarius Polemik als Ganze halte, resoniert seine Schilderung an dieser Stelle stark mit den Kampagnen von Newton und weiteren linkspolitischen Akteuren in den Sechzigern und Siebzigern. Du stellst wiederum fest, Daniel, dass „Nietzsche die Krisen des Kapitalismus und die von ihnen aufgewirbelte Dekadenz offen verfocht“, denn diese „bieten eine Chance, die in ihnen offengelegte Brutalität [noch weiter] zu beschleunigen“16. Offensichtlich glaubst du nicht an einen Zusammenbruch unserer jetzigen politischen Ordnung, der sich emanzipatorisch für die meisten Menschen in der Arbeiterklasse auswirken würde: Und in dieser Gruppe siehst du auch die große Mehrheit der Weltbevölkerung. Würdest du dich dennoch dafür einsetzen, dass mehr Menschen auf den Geschmack der Überschreitung im positiven Sinne kommen?

DT: Das ist eine komplexe Frage, ich kann aber deinem Gedankengang folgen. Lass mich versuchen, die Frage auszupacken. Zunächst einmal: Warum glaube ich, dass Nietzsche für die Beschleunigung der Dekadenz war? Das ist eine Behauptung, die sich übrigens von denjenigen Interpretationen unterscheidet, die im Zeitraum unmittelbar nach dem Tod des Denkers im Umlauf waren, zum Beispiel von Stefan Georges Deutungen und denjenigen der anderen frühen Nietzsche-Kulte. Und wir können auch über das sprechen, was Nietzsche als den Wert transgressiver Gemeinschaften erkannte, nämlich dass sie als Versuchskaninchen für die Elastizität der Sitten der Sklavenmoral dienen könnten. Diese Strategie hat Nietzsche in den Augen vieler zu einem antibürgerlichen Denker qualifiziert. Und bis zu einem gewissen Grad stimmt auch diese Einstufung. Ich behaupte nicht, dass Nietzsche leicht als Anhänger der bürgerlichen Macht zu verstehen ist. Lukács hingegen wird argumentieren, dass Nietzsches Anti-Moral, Nietzsches Theorie der Überschreitung und so weiter, oder sogar die Gemeinschaft, die Nietzsche aufzubauen versucht, die Elemente bilden, die als militante Ästhetik zugunsten des Erhalts von bürgerlichen Macht zu begreifen sind.17 Die Wertesphäre der bürgerlichen Macht ist selbst als eine Art elastische Sphäre zu verstehen, in der Überschreitungen ihrer eigenen Werte nicht zwangsläufig eine tödliche Bedrohung für ihren Status als Klassenmacht darstellen. 1968 kehrte Nietzsche zurück, aber – und im Gegensatz zu den 1930ern – kehrte er dieses Mal auf der Seite der Linken zurück. Diese Umstellung entsetzte Lukács, der den Aufstieg der Nazis miterlebt hatte und Nietzsche Komplizenschaft mit demselben vorgeworfen hatte. Aber so war’s eben: Nietzsche kehrte unter Linken zurück, und der Fokus liegt auf der Counterculture, weil die Wertesphäre Nietzsches, in der Praxis umgesetzt, in erster Linie in der Kultur liegt. Bleibt nun die Frage: Was ist der Nutzen oder die Stärke von Nietzsches Kritik am Kulturwert?

Da gibt es eine Menge zu sagen. Huey Newton bietet eine interessante, nennen wir es eine „parasitäre“ Lesart. Denn Newton erkennt durchaus an, dass Nietzsche reaktionäres Gepäck mit sich schleppte, aber er liest dennoch einen bestimmten Text von Nietzsche, der ihn sehr beeinflusst: Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne.18 Diese äußerst überzeugende kurze Frühschrift kann man als Vorläufer dessen bezeichnen, was später Diskurstheorie wurde. Sprache ist Nietzsche zufolge die Heimat von Werten, die in Worten manifestiert sind; Worte haben daher eine politische Wertigkeit.

Parallel dazu hat Newton Nietzsches Kritik der Arbeiterklasse wahrgenommen: Die Bedingungen des modernen Lebens haben sie ruhiggestellt, sie eines gewissen Vitalismus beraubt. Daher sind Menschen in der Arbeiterklasse teilweise nicht mehr in der Lage, sich mit der Art von Aktivität zu beschäftigen, durch die ihr höheres Selbst letztendlich verwirklicht werden kann. Das ist eigentlich, glaube ich, Henry, ein wahrer Punkt Nietzsches. Wir sollten nicht so tun, als gäbe es da nichts. Und ich glaube, Huey Newton hat das Gleiche gesehen. Ja, dass man sich in einem Zustand der Passivität befindet, ist, wenn man aus der Arbeiterklasse kommt oder einem Leben in Armut ausgesetzt ist, eine der Dinge, die es zu erkennen gilt. Die Frage wird dadurch wesentlich: Wie kann man diese Unterdrückung umstellen und sie von ihrer Verflechtung mit der um sich greifenden Passivität lösen? Für Newton war die Antwort eine sprachliche und publikumswirksame Operation, von den Panthers vorangetrieben, welche die Polizei im Bewusstsein vieler neu bestimmt hat. Die Neudefinition der Polizei, wortwörtlich als „Schweine“, ermöglichte es auch den Panthers, sich und ihre Beziehung zum Staat neu zu erfinden, und hier wird es interessant.

Denn das bedeutet, dass Newton im Grunde das Klassenbewusstsein durch die Lektüre Nietzsches fördern konnte. Auch wenn das, glaube ich, das Gegenteil von Nietzsches Absichten ist. Nietzsche ist ein militanter Bürgerlicher, der für die Überschreitung sein mag, aber nicht unbedingt für eine Gesellschaftsordnung, die sich in einem ständigen revolutionären Moment der Agitation befände. Nietzsche ist Antirevolutionär. Das heißt nicht, dass wir ihm nicht etwas entlocken können, und das führt uns auf das Faustkämpferische zurück. Ja, falls du ein linker Mensch bist und dir die Beendung der Ausbeutung eine Herzenssache ist, kannst du Nietzsche so lesen. Ich denke, das wird für euch am produktivsten sein, oder? Und wenn du ihn so liest, dann wirst du dich mit diesem sehr berühmten Satz Nietzsches identifizieren können, der fast wie ein Gebet für seine Feinde wirkt: „Ihr müsst stolz auf euern Feind sein: dann sind die Erfolge eures Feindes auch eure Erfolge.“19

Daniel Tutt (geb. 1981) wuchs an der US-amerikanischen Westküste auf, in einer Familie aus der Arbeiterschicht, die mehrmals auseinanderfiel. Er arbeitete, seit er ein junger Teen war, im Baugewerbe, zuerst als Zuarbeiter für Maurer („hod carrier“ im Englischen), und verdiente auch nach seinem ersten Universitätsabschluss sein Geld in der Baubranche. 2014 promovierte er zum Thema „Political Community in Badiou, Laclau, Nancy, and Žižek“. Tutt gibt auf seiner Webseite an, dass ihm den Übergang zum „bürgerlichen“ Beruf des Philosophen vor allem deswegen gelang, weil er die finanzielle Unterstützung eines Geschäftsmannes in der Übergangsphase genoss. Seitdem lehrt er in Gefängnissen und an Universitäten und setzt sich in zahlreichen Veröffentlichungen mit der Schnittstelle von Psychoanalyse, Politik und Marx’scher Philosophie auseinander.  

Henry Holland (geb. 1975) ist Literaturübersetzer, aus dem Deutschen ins Englische, und lebt in Hamburg. Darüber hinaus schreibt und forscht er zur Ideen- und Kulturgeschichte und veröffentlichte 2023 zu Ernst Bloch und Rudolf Steiner in German Studies Review. Zusammen mit dem Religionswissenschaftler Aaron French (Universität Erfurt), arbeitet er an einer kritischen, englischsprachigen Steiner-Biographie. Mehr zu Hollands wissenschaftliche Arbeit und Kulturpolitik erfährt man auf seinem Blog, German books, reloaded, oder in Print-Zeitungen. Er ist Mitglied und im Vorstand vom Hamburger writers’ room: Der Arbeitsraum für literarisch Schreibende in Europa.

Quellen

Alamariu, Costin: Selective Breeding and the Birth of Philosophy. New York 2023.

Clark, Maudemarie: Nietzsche on Truth and Philosophy. Cambridge 1991.

Doggett, Peter: There’s A Riot Going On. Revolutionaries, Rock Stars And the Rise And Fall Of ʽ60s Counter-Culture. Edinburgh 2007.

Leiter, Brian: Nietzsche on Morality. London 2014.

Losurdo, Domenico: Nietzsche, der aristokratische Rebell. Berlin 2012.

Lukács, Georg: Die Zerstörung der Vernunft. Berlin 1960.

Sloterdijk, Peter: Über die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches fünftes „Evangelium“. Rede zum 100. Todestag von Friedrich Nietzsche. Frankfurt a M. 2000.

Tutt, Daniel: How to Read Like a Parasite. Why the Left Got High on Nietzsche. London 2024.

Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Griechisch-deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Peter Jaerisch. Düsseldorf & Zürich 2003.

Fußnoten

1: Vgl. Nietzsches Idee der „Treue“ eines Individuums zu „seinem höheren Selbst“ in Richard Wagner in Bayreuth, Abs. 3.

2: Vgl. Peter Sloterdijk, Über die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches fünftes „Evangelium“. Sloterdijk greift auf Nietzsches Beschreibung von Also sprach Zarathustra I zurück, wie sie einem Brief an seinen Verleger Ernst Schmeitzner zu entnehmen ist: „Es ist eine ‚Dichtung‘, oder ein fünftes ‚Evangelium‘ oder irgend Etwas“ (Brief vom 13. 2. 1883).

3: Vgl. u. a. den Bericht von Sokrates’ Schüler Xenophon, der einige Aussagen Sokrates zum Thema Selbsterkenntnis sammelte: Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, S. 199-201.

4: An dutzenden Stellen seiner Schriften inszeniert Nietzsche sich als „einen Unzeitgemässe“: In dieser Hinsicht sind die vier Bände seiner Unzeitgemässen Betrachtungen, zwischen 1873 und 1876 veröffentlicht, am bekanntesten. Aber auch ein Kapitel der Spätschrift Götzen-Dämmerung betitelt Nietzsche „Streifzüge eines Unzeitgemässen“ (Link).

5: Vgl. Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft.

6: Vor allem: Domenico Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell.

7: Vgl. Daniel Tutt, How to Read Like a Parasite, S. 193.

8: Anm. d Red.: Als „French Theory“ wird in der internationalen Debatte vor allem der Poststrukturalismus bezeichnet (vgl. auch die entsprechenden Bemerkungen dazu hier).

9: Vgl. u. a. Maudemarie Clark, Nietzsche on Truth and Philosophy.

10: Vgl. Brian Leiter, Nietzsche on Morality.

11: Vgl. Schopenhauer als Erzieher, Abs. 6.

12: Vgl. Ecce homo, Warum ich so klug bin, Abs. 10.

13: Vgl. etwa eine Umfrage, die 1897 für die Leipziger Arbeiterlesesaal durchgeführt wurde, bezüglich des Leseverhaltens von Arbeiterinnen und Arbeitern, von der auf diesem Blog bereits die Rede war (Link).

14: Vgl. Doggett, There’s a Riot Going On, S. 128-130.

15: Alamariu paraphrasiert und direkt zitiert aus Chapter Four von Costin Alamariu, Selective Breeding and the Birth of Philosophy.

16: Tutt, How to Read Like a Parasite, S. 278.

17: Lukács schreibt in Die Zerstörung der Vernunft etwa: „Bei Nietzsche entsteht […] die Konzeption einer Instinktenfesselung: die niedergehende Bourgeoisie muß alles Schlechte, Bestialische in den Menschen entfesseln, um militante Aktivisten für die Rettung ihrer Herrschaft zu gewinnen“ (S. 305). In der sogenannten „Expressionismus-Debatte“ betonte er schon in den 1930er Jahren die Affinität einer nietzscheanischen Ästhetik und der faschistischen Bewegung.

18: Vgl. http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/WL. Diese Schrift von 1873 wurde allerdings erst posthum veröffentlicht.

19: Also sprach Zarathustra, Vom Krieg und Kriegsvolke.