1, 2, 3…

Zur neuen Dauerausstellung im Naumburger Nietzsche-Haus

1, 2, 3…

Zur neuen Dauerausstellung im Naumburger Nietzsche-Haus

16.9.24
Lukas Meisner
Seit 1994 befindet sich in jenem Haus in Naumburg, in welchem Nietzsche nach seinem geistigen Zusammenbruch 1889 mit seiner Mutter mehrere Jahre lang lebte, ein Leben und Werk gewidmetes Museum. Anlässlich des dreißigjährigen Jubiläums seines Bestehens wurde die Dauerausstellung des Nietzsche-Hauses vollständig umgestaltet, kuratiert vom Berliner Philosophen Daniel Tyradellis. Unser Stammautor Lukas Meisner war vor Ort und hat sie sich angesehen.

Seit 1994 befindet sich in jenem Haus in Naumburg, in welchem Nietzsche nach seinem geistigen Zusammenbruch 1889 mit seiner Mutter mehrere Jahre lang lebte, ein Leben und Werk gewidmetes Museum. Anlässlich des dreißigjährigen Jubiläums seines Bestehens wurde die Dauerausstellung des Nietzsche-Hauses vollständig umgestaltet, kuratiert vom Berliner Philosophen Daniel Tyradellis. Unser Stammautor Lukas Meisner war vor Ort und hat sie sich angesehen.

1

Es ist ein faszinierendes Fleckchen Land, die Thüringer Städtekette. Im Westen die Lutherstadt Erfurt mit ihrem mittelalterlichen Kern und ihrem etwas anderen „Speckgürtel“ aus Jugendstil; im Osten Jena, das Herz des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik gleichermaßen; in deren Mitte Weimar, seinerseits das Zentrum der deutschen Klassik, der Musikhochschulen, der ersten Republik, des Bauhauses – aber auch: Nietzsches Sterbeort.

Gedenktafel am Nietzsche-Haus in Naumburg

Nicht weit von dieser geistesgeschichtlich bedeutsamen Städtekette liegt, im idyllischen Saale-Unstrut-Delta, Naumburg. In dieser wunderschönen Stadt verbrachte Nietzsche seine Schulzeit und jene Jahre der ‚geistigen Umnachtung‘, in denen er von seiner Mutter gepflegt wurde. Immer wieder kehrte er hierher – Zeit seines Lebens – zurück von seinen ausgedehnten Wanderungen in der Schweiz und in Italien. Hier, im Weingarten 18, wo Nietzsches Mutter ab 1858 lebte, befindet sich bis heute das Nietzsche-Haus, in dem eine neue Dauerausstellung auf ungewöhnlich ästhetische Weise das Denken und die Biografie des Philosophen näherbringt. Fünf ausgedehnte Audiospuren – auf Deutsch oder Englisch – führen in 1, 2, 3… Nietzsche die Gäste durch neun mitunter beengte Räume über zwei Stockwerke hinweg. An Kinder ist dabei ebenso gedacht, wie an jene, die Nietzsches Nähe zum Tierischen und zum Dinghaften für fundamental halten; denn der Mensch ist kein Hinterweltler, kein Transzendenzanhängsel, sondern ein Irdischer, Hiesiger und damit so leiblich wie materiell wirkende Wirklichkeit.

2

In der Audiospur der Ausstellung zu Nietzsches Leben fasziniert neben seiner Berufung mit 24 Jahren auf eine Professur in Basel (noch bevor er promoviert wurde) und seine ausgedehnten Wanderjahre nach der verfrühten Pensionierung aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes vor allem sein „Turiner Erlebnis“. In diesem warf er sich, der Überlieferung nach, einem gequälten Pferd wie schützend um den Hals, was laut offizieller Erzählung den Anfang seines „Wahnsinns“ markiert. Wahnsinn noch wird so sinnlich vermittelt; die Anekdote wirkt wie ein Beweis gegen die Lehrmeinung für all jene, die ihm gegenüber offen sind: Vom Willen zur Macht der Quälenden, vom Mitleidlosen der Herrschenden war der Mensch Nietzsche augenscheinlich weniger erfreut als seine Lehre es vermuten lässt. Ja, es scheint, als sei er von kaum etwas so abgestoßen gewesen wie von „blonden Bestien“ und deren brutalem „Übermenschentum“. Das Museum legt diesen Schluss zwar nicht nahe, behandelt Nietzsches animalische Epiphanie aber mit entsprechender Sympathie.

Pferde-Plastik in der Ausstellung 1, 2, 3...

3

Der neuen Dauerausstellung ist darüber hinaus zeitgemäßer Geschmackssinn zu diagnostizieren. Doch war Nietzsche nicht ein Unzeitgemäßer? War er nicht ein Verächter des Geschmacks und der Mode? Texttafeln jedenfalls hat 1, 2, 3… Nietzsche kaum und dafür umso mehr Gimmicks, was sich in gewissem Sinne passend ins Stadtbild Naumburgs zu Postwendezeiten einfügt – wo einzig die Fassaden noch vom Bunten handeln. Die Präsentation des Museums spiegelt dergestalt das Museale seiner Umwelt wider, wobei der frühe Nietzsche dem sicher nicht mit Wohlgefallen begegnet wäre. Auch vermittelt sie dem Besucher eher oberflächliches und unkritisches als tiefgreifendes oder neues Wissen. Die Adressaten scheinen der Form wie dem Inhalt nach folglich mehr Bekenner als Kenner Nietzsches zu sein – mehr aus der Popkultur als durch philosophische Studien informiert. Gerade für diese Adressaten andererseits hält sie wichtige Korrekturen altbewährter Vorurteile bereit.

Blick auf den Naumburger Dom

Etwa klärt sie darüber auf, dass Nietzsche eben kein Nihilist (sondern, zumindest dem Selbstanspruch nach, Anti-Nihilist) war und dass sein Bonmot „Gott ist tot“ komplexer (ja, letztlich anders) zu verstehen ist, denn als resümierendes Konstatieren eindimensionaler Modernegläubigkeit. In dieselbe Kerbe hauend, jedoch seinerseits klischiert, scheint das hauptsächliche Feindbild von 1, 2, 3… Nietzsche die Habermassche Problematisierung der nietzscheanischen Einebnung der Differenz zwischen Philosophie und Literatur zu sein. Diese Problematisierung allerdings versäumt es ihrerseits, Habermas‘ Überidentifizieren Nietzsches mit dem Poststrukturalismus (aus dem Philosophischen Diskurs der Moderne bekannt) zu hinterfragen, was Wege sowohl über den Hegel der Bundesrepublik Habermas’ wie über die Neokonservativen des neuen Geists des Kapitalismus – die Poststrukturalisten – hinaus hätte eröffnen können.

Fraglich bleibt demgemäß auch, ob im Falle Nietzsches, wie es die Ausstellung suggeriert, überhaupt von Begriffen – in Sachen „Wille zur Macht“ oder „ewige Wiederkunft“ – gesprochen werden kann, wenngleich die Auswahl dieser in den Museumsräumen durchaus überzeugt. Schließlich philosophierte hier ein Wanderer mit seinen Schatten und einem Hammer, kein Systematiker mit Enzyklopädie und dialektischer Methode. Dennoch wird der Nietzsche-Neugierige in 1, 2, 3… nicht nur über dessen Gegenmethode der Genealogie und der Ästhetik (der Schein kommt vor dem Bewusstsein!) in Kenntnis gesetzt, sondern auch über heute – nicht zuletzt politisch – zentrale Konzepte wie „Ressentiment“ oder „Nihilismus“. Letzterer freilich wird fragwürdigerweise erörtert als „von Nietzsche geprägt“ und als bloße Gegenwartsbeschreibung des späten 19. Jahrhunderts, statt ihn jenseits seiner russischen Entstehungsbedingungen – und mit Nietzsche – in eine Doppelverbindung zu Religion und Szientismus zu bringen, die bis heute Bestand hätte.

Nicht zuletzt dürfte es Nietzschekenner wenig überzeugen, in dessen „Erd-Regierung“, die Sklaverei, Feudalität und Ungleichheit heranzüchten sollte (wie noch der zynische Postkritiker Sloterdijk erinnerte), nichts als eine Verteidigung der „Vielfalt“ wiederzufinden, wie 1, 2, 3… vorschlägt, als sei ausgerechnet Nietzsche der erste Linksliberale gewesen. Die Verteidigung der „Fernstenliebe“ hingegen, die allen Nationalismus und einigen Antisemitismus (wenngleich bei Nietzsche leider kaum Rassismus) ausschließt, als den essentiell anti-essentialistischen Beitrag Nietzsches zu Zeiten des Neochauvinismus hervorzuheben, ist definitiv ein Verdienst der neuen Ausstellung im Nietzschehaus.

Nietzsche-T-Shirts in der Ausstellung 1, 2, 3...

4

Aller Kritik ungeachtet bietet 1, 2, 3… dem Besucher einen vergnüglichen, leichten, unterhaltenden und gleichsam bildenden Nachmittag auch zu Werktagen, an denen das Museum von 14 bis 17 Uhr geöffnet hat (außer montags). Es dürfte eine geeignete Zeitspanne sein, um sich die verschiedenen Tonspuren anzuhören und – entlang ihrer – diverse akustisch vermittelte Erfahrungen derselben haptisch einholbaren Räumlichkeiten zu durchleben. Zwar widersteht auch die neue Ausstellung nicht vollends der Versuchung, Nietzsche zu romantisieren bzw. zu heroisieren; Menschen, die Nietzsche schon seit Jahren und Jahrzehnten lesen, dürfte jener Mensch, der vom Übermenschen schrieb, durch sie dennoch ein ganzes Stückchen näherkommen. Gerade dieses Näherbringen des Menschen Nietzsche ist am dankbarsten hervorzuheben in unserer Epoche hegemonialer Selbstabschaffung des Menschen, die ideologisch von anti-, trans- und posthumanistischen Avantgarden vorauseilend eingeholt zu werden versucht wird. Nietzsche jedenfalls war noch ein Mensch, dem lediglich das Ziel und dergestalt die Gattung fehlte, nicht aber die Menschlichkeit, wenn es ums Leiden eines Tieres ging.

Nietzsche-Denkmal von Heinrich Apel aus dem Jahr 2007 auf dem Holzmarkt in Naumburg

5

Im besten Sinne könnte 1, 2, 3… insofern dazu beitragen, Orte wie Naumburg, Jena und Weimar, Figuren wie Nietzsche, Hegel und Goethe geistesgeschichtlich wieder füreinander zu öffnen: Denn Nietzsches proteleologische Frage nach dem selbstbestimmten Ziel des Menschen, das Authentizitätsideal der deutschen Romantik, die rationale Gesellschaft des deutschen Idealismus und die adäquate Ordnung des guten Lebens (deutsche Klassik) gehören jenseits aller bildungsbürgerlichen Ressentiments zusammen – vor allem aber: jenseits aller Deutschtümelei.

Link zur Internetseite des Nietzsche-Haus mit weiteren Informationen.

Lukas Meisner in Naumburg, fotografiert von einer anonymen Freundin

Informationen zu den Bildern

Alle Bilder dieses Artikels stammen, sofern nicht anders gekennzeichnet, vom Autoren.

Artikelbild: Front des Nietzsche-Hauses in Naumburg