Das Haus des Scheins

Präludien über den Zusammenhang von Architektur und Denken bei Nietzsche mit ständiger Rücksicht auf ein Buch von Stephen Griek. Eine Rezension

Das Haus des Scheins

Präludien über den Zusammenhang von Architektur und Denken bei Nietzsche mit ständiger Rücksicht auf ein Buch von Stephen Griek. Eine Rezension

9.9.24
Michael Meyer-Albert
Eine fruchtbare Methode innerhalb der Philosophie kann darin liegen, sich scheinbar nebensächlichen, alltäglichen Themen zuzuwenden. So in etwa dem Verhältnis von Denken und Architektur, wie sich dieser Text anhand des neu erschienen Buches Nietzsches Architektur der Erkennenden von Stephen Griek aufzuzeigen bemüht. Mit Nietzsche gedacht, so Michael Meyer-Albert, ist der Schutz einer Behausung – im wörtlichen wie übertragenen Sinne – vor dem Chaos der Wirklichkeit unabdingbar für ein gelungenes Weltverhältnis. Dies kommt ihm in Grieks postmodernem Ansatz, der auf maximale Öffnung abzielt und an die Stelle klarer räumlicher Strukturen diffuse nomadische Netzwerke setzen möchte, zu kurz. Architektur als Kunst der nichtgewaltsamen Verwurzelung werde so undenkbar; das „Haus des Scheins“, das die menschliche Existenz trägt, kollabiere.

Eine fruchtbare Methode innerhalb der Philosophie kann darin liegen, sich scheinbar nebensächlichen, alltäglichen Themen zuzuwenden. So in etwa dem Verhältnis von Denken und Architektur, wie sich dieser Text anhand des neu erschienen Buches Nietzsches Architektur der Erkennenden von Stephen Griek aufzuzeigen bemüht. Mit Nietzsche gedacht, so Michael Meyer-Albert, ist der Schutz einer Behausung – im wörtlichen wie übertragenen Sinne – vor dem Chaos der Wirklichkeit unabdingbar für ein gelungenes Weltverhältnis. Dies kommt ihm in Grieks postmodernem Ansatz, der auf maximale Öffnung abzielt und an die Stelle klarer räumlicher Strukturen diffuse nomadische Netzwerke setzen möchte, zu kurz. Architektur als Kunst der nichtgewaltsamen Verwurzelung werde so undenkbar; das „Haus des Scheins“, das die menschliche Existenz trägt, kollabiere.

„Nicht zuviel Sonne, das Licht wird verkannt, die Dämmerung ist die eigentliche Menschheitsbeleuchtung.“ (Benn, Drei alte Männer)

I. Wohltemperierte Weltoffenheit

Wohnen kann man nicht nur in Häusern. Auch eine Sprache, ein Rechtssystem, Sitten oder Traumwelten können Wohnungen sein. Überall dort, wo Fremde sich in Vertrautheit verwandelt und Vertrautheit eine Lebendigkeit gewinnt, die zu einer „schönen Fremde“ (Eichendorff) wird, wird gewohnt. Leben schafft sich durch Symbole, Phantasien und Rituale ein Haus der Existenz. Es beseelt sich durch sein Schaffen selbst. „Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde.“ (Hölderlin) Architektur ist insofern nur eine weitere Form einer existenziellen Weltbefreundungsbewegung. Im Dämmer der Konstruktionen kann das Leben aufleuchten.

Ausgehend von ästhetischen Spekulationen zur griechischen Tragödie gelangt Nietzsche schon früh in seiner Philosophie zu einem existenziell-architektonischen Verständnis des Lebens. Realität versteht er als existenzielle Dialektik von den Kräften des Dionysischen – des Ekstatischen, Ausbruchhaften – und des Apollonischen – als traumhafte Verklärung und Formgebung. Zentral, und das gilt für Nietzsches gesamte dramatische Philosophie – auch wenn sich nach seiner „Kehre“ in Bayreuth 1876 ein deutlicher Wandel weg von der Tragödie hin zur Komödie in seinem Denken durchsetzte –, ist hierbei der Vorrang der Ordnung vor dem Chaos. Weil Existenz mit einem Übermaß von Fremde konfrontiert ist, ist Leben, das lebt, konstitutiv apollinisch. Auch alle dionysischen Ausbrüche ereignen sich nur aus dieser lebenswichtigen Verklärungsintegration heraus:

Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch? – so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosen Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth machen und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen.1

Das Apollinische gewinnt dann in Nietzsches Phase des „freien Geistes“, nach dem schmerzlichen Bruch mit Wagner, eine erweiterte Bedeutung im Begriff des „Scheins“. Schein wird zur lebensnotwendigen Kompensation für die Abgründe der Wahrheit, mit denen sich nicht leben lässt. Gelingendes Leben benötigt eine Architektur des Scheins. Die ästhetische Verklärung des apollinischen Traumes wandelt sich dabei für Nietzsche zu einer schonenden Theorie. Diese verkörpert sich einerseits in wohlwollenden, ermutigenden Deutungen und andererseits in einer therapeutischen Ausblendung von unintegrierbaren Tatsachen. So beschreibt Nietzsche die aufgeklärte Nicht-Aufklärung als „Entschluss zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschliessung, ein Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem Dinge, ein Nicht-heran-kommen-lassen, eine Art Vertheidigungs-Zustand gegen vieles Wissbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit dem abschliessenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gutheissen der Unwissenheit.“2

Man könnte in Nietzsches Gedanken ein Vorspiel sehen für ein in der Anthropologie des 20. Jahrhunderts etabliertes Verständnis des Humanum als ein Wesen, das, anders als das von seinen Instinkten geleitete Tier, weltoffen ist. „Weltoffenheit“ – ein von Max Scheler geprägter, in Johann Gottfried Herders Denken präformierter Begriff – taucht in der Philosophie in substanzieller Mächtigkeit zuerst bei Heidegger in Sein und Zeit auf. Dort gelingt eine begriffliche Konkretisierung, die Nietzsches gesamtes Verständnis der rationalen Existenz des freien Geistes formelhaft expliziert: „Die Gestimmtheit der Befindlichkeit kontituiert existenzial die Weltoffenheit des Daseins.“3

Nietzsches existenziell-architektonisches Denken kommt in Heideggers Worten zur Sprache. Das Leibdenken des freien Geistes, der ein Haus des Scheins benötigt, um in der Weltoffenheit wohnen zu können, hat sich in einem Gehäuse von guten Stimmungen zu situieren. Als Architekt des Vitalen baut man an seiner Lebendigkeit, indem man sich bestimmten Einflüssen – etwa Gebirgsseen, großmütigen Menschen, Musik von Bizet, dem Klima Liguriens etc. – aussetzt. Was Heidegger nicht reflektiert, ist der Aspekt der regulierbaren „Geworfenheit“ als bewusster Wille zum verklärenden Schein. Nur eine apollinisch wohltemperierte Befindlichkeit vermag überhaupt eine Offenheit zur Weltoffenheit zu entwickeln. Das Chaos der Nerven differenziert sich partiell versiegelt zu einem Kosmos, der das Leben zum Leben als Weltoffenheitsbürger motiviert. Erst als proportionierte Dimmung der Realitäten entsteht das Dämmerlicht, das einer hochnervösen Weltoffenheit die Konturen der Welt geordnet präsentiert und ein Leben ermöglicht, das „Weltvertrauen“ (Heidegger) besitzt und vererben kann. Daher benötigt das „noch nicht festgestellte Thier4 Mensch einen Filter, einen Schutz, ein Haus für das Sein, um der vita contemplativa nachzugehen. Erst wenn die Welt nicht nervt, kann sie „welten“ (Heidegger). Ohne eine stimulierende Innen- und eine schützende Außenarchitektur des Lebens kann es keine welthaltige Philosophie geben.

II. Gegen den Baum

In seinem kürzlich erschienenen Buch Nietzsches Architektur der Erkennenden5 hat der in Genf ansässige Stadtplaner und Professor für Architektur Stephen Griek eine großangelegte essayistische Meditation über den Zusammenhang von Denken und Bauen verfasst. Den Titel des Werks hat er einem Aphorismus Nietzsches entnommen, den er ihm auch als Motto vorangestellt hat. Darin heißt es:

Es bedarf einmal und wahrscheinlich bald einmal der Einsicht, was vor Allem unseren grossen Städten fehlt: stille und weite, weitgedehnte Orte zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen Hallengängen für schlechtes oder allzu sonniges Wetter, wohin kein Geräusch der Wagen und der Ausrufer dringt […] Bauwerke und Anlagen, welche als Ganzes die Erhabenheit des Sich-Besinnens und Bei-Seitegehens ausdrücken. […] Wir wollen uns in Stein und Pflanze übersetzt haben, wir wollen in uns spazieren gehen, wenn wir in diesen Hallen und Gärten wandeln.6

Griek lässt sich von diesen Formulierungen inspirieren und bemüht sich die verwandte Grundstruktur von Denken und Architektur herauszustellen. Dabei liegt für ihn die Gemeinsamkeit darin, dass beide in der Form des Entwurfes die Realität gestalten (vgl. S. 46). Architektur kann er durch diese Idee als eine Form der Konzeptionalität begreifen, durch die Menschen die Welt deuten. Nah bei Nietzsche ist Griek darin, dass Denken als eine Kunst angesehen wird, deren Kreativität primär negativ zu verstehen ist. Kunst lässt weg, Denken reduziert, Architektur begrenzt: „Architektur […] ist also ein Ausschneiden, Vereinfachen, Reduzieren, Abstrahieren des Außen, der Welt (Raum ist nicht einfach da, sondern ein bewusster Ausschnitt aus dem Außen, Raumschaffen ist Ausscheiden).“ (S. 214) Architektur denkt und Denken ist Architektur als Schaffen von Raum aus Chaos durch „regulative Fiktionen“ (S. 160).

Nietzsches Idee des Scheins wird so aufgenommen und betont polemisch gegen einen Begriff der Wahrheit gewandt, der sich an dem Verständnis einer hierarchischen Ordnung orientiert; eine Wahrheit, deren Wesenhaftigkeit feststeht und deren Struktur nur entfaltet werden muss. Emblematisch ist dabei für Griek das Bild des Baumes (vgl. S. 21 f.). Er nennt als Ursprung dieses Gedankens den Text A City is not a Tree von Christopher Alexander aus dem Jahr 1965 und merkt an, wie Gilles Deleuze dieses Bild auf die gesamte westliche Ideengeschichte anwendete. (Vgl. S. 20f.)

An einer Kritik gegen diesen in seinen Augen innovationsfeindlichen, totalitären Begriff der Wahrheit reibt sich Griek jedoch auf. Das führt dazu, dass seine immense Bandbreite an herangezogenen Fakten und Ideen verklumpt. Sein interessanter Ansatz, dass Strukturen der Architektur Strukturen des Denkens und vice versa darstellen und sein stellenweise nachvollziehbares Plädoyer für eine „Kultur des Werdens“ (S. 39) verpufft so in einer sehr gelehrten Polemik. Aus der Kritik am Baum entfaltet sich keine Skizze einer alternativen Organik, sondern alles wird einem monotonen Angriff auf das klassische Sein untergeordnet. So essayhaft sich Grieks Text auch ausnimmt, so absehbar baumhaft wird er selbst in seiner Konfrontationshaltung.

Hinzukommt, dass Griek von seinem Ansatz her eine Offenheit für das Werden zeigen möchte, die seinen Text als „für jedermann zugängliche und komplett nachvollziehbare Baustelle” (S. 36) präsentiert. Auch wenn damit sympathischerweise eine Philosophie verfolgt werden soll, die das, was sie sagt, auch zeigen möchte, so gelingt das Griek nicht. Die Thematik reichert sich nicht an, sondern verkommt zu dem immer wieder erwartbaren Resultat einer Kritik an der Wahrheit des Baumes. Die Polemik verscheucht die Phänomene. Gerade von einem versierten Architekten hätte man sich konkretere Ausführungen zu einzelnen Gebäuden versprochen, um seine Ideen an realen Entwürfen zu erläutern, wie es die von ihm positiv hervorgehobenen Werke Learning from Las Vegas (Brown/ Venturi) und Delirious New York (Koolhaas) leisten. Dabei hilft es auch nicht, wenn Zitate von Nietzsche nicht als Belege von Gedankengängen verwendet werden, sondern meist nur als assoziative Andeutungen, ja oft nur als Art Soundkulisse dienen. Sie erscheinen wie Plakate an den Zäunen einer Baustelle. Wenn Bücher Häuser sind, durch die man als Leser Gast wird und einen Eindruck von der Qualität ihres jeweiligen Wohngefühls bekommt: Warum sollte man dann eine Unterkunft in unfertigen Baustellen beziehen, die diese Qualität offensichtlich nicht erreichen wollen?!

Durch diese fehlende Herausarbeitung seiner Thesen an konkreten Details und an Nietzsches Philosophie verpasst Griek die Chance, die von Nietzsche herausgestellten konzeptionellen Innovationen zu verdeutlichen. Vor allem die Bedeutung des Leibes für Nietzsche, die dann weiterwirkt in der von Heidegger inaugurierten und von Hermann Schmitz systematisierten Leibphänomenologie, die Stimmungen und Atmosphären als substanzielle Realitäten anerkennt, wird nicht konkretisiert. Dabei ist es doch die Architektur, die ähnlich wie die Musik, die Form des Inseins kultiviert und ein Absorbiertsein provoziert. Eine philosophische Betrachtung über den Zusammenhang von Denken und Bauen hätte sich doch gerade dem Thema widmen müssen, inwiefern Stimmungen und Gebäude, Atmosphären und Wohnen verbunden sind und wie der Begriff der Teilhabe von diesen Thematiken angereichert wird.7 Da Griek aber fixiert ist auf eine gewaltsame Dominanz einer Kultur des baumhaften Seins, geht es ihm darum, für das Chaos, die Veränderung, die Entropie einzutreten. Aus dieser Statik des Dagegenseins kann er keine erweiterte Statik des Inseins denken, die immer eine seinshafte Abgeschlossenheit und konservative Ordnung benötigt. Man sieht vor lauter Axt die Alternative zum Baum nicht mehr.

III. Scheinarchitektur

Der tiefere Grund dafür, warum es Griek nicht gelingt, entscheidende Reflexionsgewinne herauszuarbeiten, die Nietzsches Denken ausmachen, ist, dass er sich in eine polemische Haltung gegen eine Ontologie des Baumes verstiegen hat, die sich legitimiert durch eine Überbetonung des Konzeptes „Willen zur Macht“. Nietzsches Idee des Scheins wird von ihm so fast ausschließlich als Form der Eroberung gedacht. Leben wird akzentuiert als permanente Revolution der Kreativität gegen den Bestand der Tatsachen. Nur Autonomie als aktives Bestimmen ist frei und alles andere ist das Gehorchen auf eine totalitäre Wahrheit an sich, die „lebensfeindlich“ und „immer tyrannisch“ (S. 138) sei. Griek präzisiert so durch seinen kritischen Reflex nicht hinreichend die Dimension des Defensiven im Schein, die bei Nietzsche den Vorrang hat. Der Zusammenhang von Souveränitätsgefühl des Schaffens und notwendiger künstlicher Ferne zur Unmittelbarkeit für das zerbrechliche, unsichere und mitunter auch kreative Tier Mensch wird daher nicht klar expliziert. Auch wenn Griek mit Bezug auf Metropolen die Stadt bewundernswert einfallsreich als „ontologische[] Immunisierungsmaschinen“ (S. 248) betitelt und die Bedeutung des Hauses tiefsinnig als „dosierte Offenheit zum kosmischen Werden“ (S. 233) charakterisiert: Das Verständnis von Schein als Schutz vor zu viel Weltoffenheit kommt zu kurz. Dabei dominiert doch gerade in dem vorangestellten Motto diese Dimension von Nietzsches Denken als antichristliche Form einer peripatetischen vita contemplativa.  

Grieks Ideal eines nichtbaumhaften Entwerfens als „offene Architektur“, die das „nötige Driften des Lebens“ (S. 322) beachtet, findet sich so in Entwürfen, die offen dafür sind, leicht wieder durch andere Entwürfe abgelöst zu werden. Es soll ja kein Zwang aufgebaut werden durch ein manifestes Bauen, das ein zukünftiges Bauen möglicherweise blockieren könnte. Alle Gesten als Provisorium. Anstelle des Baumes die ewige Baustelle. Gebäude sind jedoch nicht nur herrische, virile Entwürfe, die anderes Entwerfen verdrängen, sondern, wenn sie als Resonanzraumgestaltung die Dimension apollinische „Wohnlichkeit“ erreichen können, sind sie Möglichkeiten das Leben durch ein neu gestaltetes Insein zu bereichern. Es ließe sich hier an die klassische Bedeutungsdimensionen des Begriffs „Macht“ erinnern und ihn in architektonische Kontexte einschreiben: Macht als auctoritas ist die Kompetenz zum Gestalten von Räumen, die durch Attraktivität ihrer Kreativität überzeugt und nicht bloße potestas, die jemand anderem einen Willen zu seinen Räumen gewaltsam aufzwingt. Aus der Erfahrung eines schon bestehenden vielfachen guten Wohnens entsteht die Lust zum eigenen Raumentwurf als individuelle Kombination von tradierter Häuslichkeit. Offene Architektur ist kein Bauen, das dem Willen zum Neubauen in ungehemmter Expressivität durch leicht abrissbare Gebäude entgegenbaut. Wahrheit ist, was wohnen lässt.

Griek sitzt in seinen gewollt unfertig bleibenden Entwürfen für ein unfertig bleibendes architektonisches und reflexives Entwerfen grundsätzlichen Konfusionen auf, die in Nietzsches Denkweg angelegt sind. Es wird bei Nietzsche nicht klar genug auf die zwei Grunddimensionen der Architektonik des Scheins hingewiesen: Schein ist eine Schutzmauer und Schein ist eine animierende Einbildungskraft. Zudem kommt es vor allem in Nietzsches späteren Denken zu einer ins Sozialdarwinistische „hinüberdunkelnden“ (Celan) Überbetonung des „Willens zur Macht“. Nietzsche substanzialisiert die zu verklärende Verletztlichkeit des wahrheitsfähigen Tieres falsch zu einer Ontologie des Chaos, die dann einen Naturalismus der Macht legitimiert.

Hätte Nietzsche sich selber genauer gelesen, so wäre ihm die unterdifferenzierte Bedeutungsvielfalt des Scheins aufgefallen. Schein ist existenziell, kulturell, physiologisch, psychologisch, philosophisch und philologisch konnotiert: Existenziell wirkt er als apollinischer Schutz gegen den „Urscherz“. Oder Schein kann auch die Form einer Sinngebung annehmen, die das Chaos Welt ordnet. Schein als kulturelle Größe schützt vor den deprimierenden Verdunklungen einer Kultur, die unter dem Wegfall ihrer substanziellen metaphysischen Deutung leidet. Schein kann aber auch bestimmt werden als Filter gegen die Angriffe von ressentimen Scheinkonstrukten von Verstimmten und Verbitterten. Physiologischer Schein weist darauf hin, dass unverstimmtes Leben eine Diät an Tönen, Orten, Gefühlen etc. als Grundlage benötigt, um sich stabil in helle, luzide Zustände aufzustimmen. Psychologisch bedeutet Schein den Zustand einer emotionalen Stabilität als Selbstzufriedenheit. Philosophischer Schein rechtfertigt als Gesamtverständnis die eigene Art zu leben. Philologischer Schein schließlich äußert sich in selbstermunternden Sprachspielen, die als „Schein-Brücken” zu Anderen hinüberhellen können. Aus all dem ließe sich spekulieren, dass eine umfassende Architektur des Erkennens nach Nietzsche sich selbst als seelische, physiologische, symbolische und philosophische Scheinkonstruktion begreifen müsste. Das „Haus des Seins“ (Nietzsche) ist ein Haus des Scheins, dessen Räume in sechs Dimensionen so zu gestalten sind, dass sie das Bewohnen als ein In-sich-Spazierengehen ermöglichen.

Bei aller Sympathie für die zeitgemäße Thematik, der beeindruckende Fülle des Wissens – so etwa, indem auf die Wirkung hingewiesen wird, die durch eine effizientere Proteinvariante (durch die Aminosäure Arginin statt Lysin) entsteht, die bei der evolutionären Entwicklung der Nervenzellen im Frontallappen des Neokortex eine Rolle spielte (vgl. S. 186) – und auch den stellenweise genialischen Formulierungen Grieks – „symbolischer Urknall“ (S. 248), „Boosten des Baumes“ (S. 21) –, überwiegt doch bei der Lektüre der Eindruck einer redundanten Polemik. Das ist schade, denn das Buch hätte als kleines Plädoyer durchaus einen innovativen, axthaften Impuls freisetzen können. In der vorliegenden gut 300 Seiten langen Fassung dieser überbordenden Streitschrift stellen sich allerdings recht schnell Ermüdungerscheinungen ein. Man weiß bald, wie der Hase läuft und auf einen Aha-Effekt kommen zehn Ach-ja-Effekte. Der Rezensent bekennt sich offen dazu, dass er bei seinen Lesereisen nicht leicht auf den Komfort von deutlich strukturierten Bücherhäusern verzichten möchte, in denen man in sich spazieren gehen kann und dass er bei aller philosophischen Offenheit die luftige Offenheit von unbewohnbaren Zeichenbaustellen des Werdens – so innovativ, nichtübergriffig und werdefreudig diese wohl auch sein mögen – sehr gerne meidet.

Quellen

Griek, Stephen: Nietzsches Architektur der Erkennenden. Die Welt als Wissenschaft und Fiktion. Bielefeld 2024.

Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 1953.

Sloterdijk, Peter: Sphären I–III. Frankfurt a. M. 1998–2004.

Fußnoten

1: Die Geburt der Tragödie, Abs. 25.

2: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 230.

3: Heidegger, Sein und Zeit, S. 137.

4: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 62.

5: 2024 im „transcript“-Verlag publiziert und im Folgenden im Fließtext zitiert.

6: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 280.

7: Sloterdijks opus magnum Sphären geht auf tausenden von Seiten genau diesen Fragen nach und kommt zu dem Resultat, dass die lebensnotwendige Minimal-Architektur des Hauses des Seins mit einer neunfach seelisch-sozialen Verschalung entworfen werden muss.