Interessante Fremde
Bemerkungen zu Kafkas Werk
Interessante Fremde
Bemerkungen zu Kafkas Werk
Vor 100 Jahren starb Franz Kafka. Der folgende Text ist ein Aktualisierungsversuch, der sich seinem Werk mit einer von Nietzsche inspirierten sozio-psychologischen Perspektive nähert. Seine These: Kafka zeigt erzählend, wovon Nietzsche philosophiert. Michael Meyer-Albert will dafür werben, in den als düster-surreal geltenden Fiktionen eines der bedeutendsten Autoren der Moderne die Logik einer nichtnaiven Weltaufhellung zu finden: Lebensbejahung statt Suizid.
Redaktioneller Hinweis: Einige schwierige Fachbegriffe haben wir in den Fußnoten erläutert.
„[...], war es eine Komödie, so wollte er mitspielen. Noch war er frei.“
Kafka, Der Prozeß
I. Kafkaesk
In Woody Allens Film Play It Again, Sam aus dem Jahr 1972 gibt es eine Szene in einem Museum, in der der Protagonist Allan etwas unbeholfen eine Frau anspricht, die in die Betrachtung eines Bildes versunken ist. Er versucht sein Glück, indem er sie fragt, was das Bild für sie bedeute. Darauf sieht sie ihn nicht an, sondern beschreibt in einem sonoren Monolog ihre Faszination für den existenziellen Pessimismus, den das Bild für sie hat. In seiner anders gearteten Faszination geht Allan auf den Schwall der dunklen Philosopheme nicht ein und fragt schlicht, ob die Dame am Samstag zufällig Zeit hätte für ein Rendezvous. Sie entgegnet darauf – offenbar ist es ihr ernster mit dem existenziellen Pessimismus –, dass sie samstags nicht könne, sie würde an diesem Tag Selbstmord begehen. Davon lässt sich Allan nicht entmutigen und fragt etwas verzweifelt, ob sich dann nicht ein Treffen am Freitag einrichten ließe. – Eine der folgenden Szenen zeigt die beiden nackt in einer anscheinend postkoitalen Situation im Bett. Schüchtern und nervös fragt Allan, wie sie den Beischlaf gefunden habe. Ihre Antwort: „Es war kafkaesk.“
Allens Film zeigt in dieser Passage tiefsinnig auf, wie das Erbe von Franz Kafka kollabierte zu einer Phrase. In einem Jargon der Absurdität1 funktioniert sie als eine Art Markierung für das Vokabular einer negative Weltsicht, die durch ihre automatische Geläufigkeit kontextunsensitiv in unpassende Situationen überspringt. „Kafkaesk“ konnotiert die grundlegende Absurdität des Lebens. Während bei Kafka die Absurditäten des Lebens zumeist eine düstere surreale Hoffnungslosigkeit ausdrücken, weist Allens Film darauf hin, dass existenzielle Absurditäten auch durchaus eine andere Richtung nehmen können. Sex statt Suizid. Für diese Nietzscheanisierung des Kafkaesken möchten die folgenden Abschnitte auf eine philosophische Weise werben. Für eine poetische Herangehensweise mit einer ähnlichen Stoßrichtung sei auf das Werk von Wilhelm Genazinos verwiesen, das die „Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“ in humorvoller Detailschärfe beschreibt.
II. Die Wunde Kafka
Kafka ist einer der Kronzeugen für die moderne Philosophie, die an der Moderne verzweifelt. Sein Werk gilt als Indiziensammlung für die dunkle Wahrheit der „verwalteten Welt“ (Adorno). Dass Kunst als Garant dieser Wahrheit herhalten muss, kann allerdings als Indiz dafür gelten, dass die Philosophie sich nicht mehr alleine zutraut zu sagen, was ist. Doch als freiwillige Magd der Kunst tritt das Denken nur auf den ersten Blick in einer neuen Bescheidenheit auf. Philosophie als Königinmacherin behält sich vor, das letzte Wort darüber zu haben, was die Kunst eigentlich zum Besten gibt. Für diese Rolle der hermeneutischen Dechiffrierung disponiert zusätzlich die in der Moderne unter der Konvention des Unkonventionellen stehende Entwicklung der Kunstwerke, die sich in immer kryptischere Originalitäten versteigen. Philosophie wird zu einem Priestertum des Ästhetischen. Sie erlangt über den Umweg der Kunst wieder die Weihen der metaphysischen Wahrheit. Davon profitiert auch die moderne Kunst, deren manische Enigmatik sich nun einbilden kann, transzendenten Ursprungs zu sein. Ein augenzwinkernder Hinweis auf die Show der Schau reicht von Platons Ion bis zu Sigmar Polkes: „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!“
Neben Heidegger ist es vor allem Adorno gewesen, der die Philosophie über die Interpretationshoheit maßgeblicher Werke wieder für die Wahrheit retten will. Neurespektabel wird das Denken nach dem Versuch sich als eine verstehende, nicht bloß positivistisch erklärende Geisteswissenschaft aufzuwerten, als eine Form der Kunstauslegung. Neben Beckett und Schönberg ist es für Adorno Kafka, aus dessen Werk er die Legitimation ziehen möchte, die moderne Welt en gros als demiurgische Hölle des „Bestehenden“ zu diffamieren.
Die Tragik von Adornos Philosophie ist es, dass ihre stupende Sensibilität manipuliert wird von ihrem Weltschmerzdogma. Ihre Negation von abstrakten Weltanschauungen schützt sie nicht davor, selbst wieder eine zutiefst resignative Weltanschauung zu propagieren, die sich indirekt durch wiederholte Deutungsmuster vermittelt, die das, was ist, insgesamt als großes Unglück interpretieren. Damit instrumentalisiert Adorno Kafka als eine Bestätigung für seine gnostischen2 Vorurteile. Er verstellt sich so eine bereichernde Betrachtung auf das Werk Kafkas. Und das, obwohl er es mit Sätzen wie diesen, die von der seiner großen ästhetischen Sensibilität zeugen, zugänglicher machte: „Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden.“3
Mit einer sozio-psychologischen Herangehensweise ließe sich Kafkas Wunde metaphysisch abgeklärter verstehen. Es wird schnell klar: Kafka hatte daddy issues, exemplarisch ablesbar in Das Urteil in der Gestalt Georg Bendemann oder auch im Brief an den Vater. Der Konflikt lässt sich leicht verständlich machen: Kafkas Vater stammte aus sehr einfachen Verhältnissen, Sohn eines Fleischhauers aus einem 100-Seelen-Dorf, der dann in Prag sein Glück suchte und dort mit Hilfe seiner vermögenden Frau ein Galanteriewarengeschäft gründete. Als erfolgreicher Entrepreneur, der es schaffen wollte und geschafft hat, hatte er kein Verständnis für einen Sohn, der allein für die Literatur leben wollte.
Philosophisch anspruchsvoll werden Kafkas Vaterprobleme, wenn man sie kulturgeschichtlich deutet. Die Figur das Vaters figuriert dann als erziehende Autorität, die den Akt der Geburt in erweiterten Dimensionen fortsetzt. Der Vater als die ergänzende Mutter führt ein in die Gesellschaft und die kulturellen Räume. Seine Autorität erscheint so nicht nur als diffuse Form einer herrischen Macht, sondern als überlegenes Muster von Kompetenz. Kafkas Werk geht so gesehen nicht darin auf, ein Indiz für die Welt der bürokratischen Herrschaftsformen zu sein, sondern es ist darüber hinaus ein Zeichen für die abgründigen Effekte, die sich einstellen, wenn der Zusammenhang der Generationen nicht mehr über Traditionen vermittelt wird, die für die Nachkommen eine hinreichende Plausibilität erreichen können. Kafkas Tagebuch ist ein Sammelsurium von Belegen für eine ortlose Existenz:
Ohne Vorfahren, ohne Ehe, ohne Nachkommen, mit wilder Vorfahres-, Ehe- und Nachkommenslust. Alle reichen mir die Hand: Vorfahren, Ehe und Nachkommen, aber zu fern für mich.4
Ich bin unsicherer, als ich jemals war, nur die Gewalt des Lebens fühle ich. Und sinnlos leer bin ich. Ich bin wirklich ein verlorenes Schaf in der Nacht und im Gebirge oder wie ein Schaf, das diesem Schaf nachläuft. So verloren zu sein […].5
Bin ganz leer und sinnlos, die vorüberfahrende Elektrische hat mehr lebendigen Sinn.6
Wenn Autoritäten als plausible Muster, die nachgeahmt und variiert werden können, nur noch als befremdende Mächte erfahren werden, fällt das Lernen eines halbwegs umfänglichen Zur-Welt-Kommens aus: „Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt.“7
Kafkas Werk zeigt also die erste Phase dieses Abbruchs einer kulturellen Nidation8 in Folge eines generationellen Prozesses, der von zwei Weltkriegen geprägt wurde und in der Grundstimmung einer universellen Ratlosigkeit resultierte.
In der zweiten Phase werden die Joseph Ks von aggressiveren rotbraunen Irrlehren mobilisiert, die ihm die vermeintlichen Schuldigen für seine Notlage benennen können und radikale Auswege aufzeigen. Dostojewskis unheimlichster Roman Die Dämonen (1872) hat diese Grundspannung, die so dominant werden sollte für das 20. Jahrhundert, in einer prophetischen Tiefenpsychologie erzählerisch ausgestaltet. Es ist genau die Vorform dieser Spannung, die der Affe Rotpeter in Kafkas Erzählung Ein Bericht für eine Akademie in den folgenden Worten beschreibt: „Nein, Freiheit wollte ich nicht. Nur einen Ausweg; rechts, links, wohin immer; […].“9
III. Nietzsches mögliche Aufzeichnungen zu Kafka
Über Nietzsche finden sich explizit keine Aufzeichnungen bei Kafka. Es ist allerdings von Max Brod, Kafkas Jugendfreund, überliefert, dass sein erstes Kennenlernen mit Kafka in einer intensiven Diskussion bestanden habe, bei der Kafka Brods Eintreten für Schopenhauer mit einem Hinweis auf Nietzsche kritisierte.10
Dennoch lässt sich mit Nietzsche eine sozio-psychologische Sichtweise auf Kafkas Werk vertiefen, indem ein Schritt hin zu einer metaphysischen Perspektive gemacht wird. Kafkas Literatur wird darin nicht als vermeintliche Theologie im Sinne einer modernen Kabbala11 gelesen, sondern als Ausgrabungsstätte für eine philosophische Archäologie, die die spurenhafte Wirkung von kulturellen Konzepten verdeutlicht. Mit dieser Sicht lassen sich in Kafkas düsterem Erzähluniversum zwei Leidparadigmen unterscheiden. Stellvertretend dafür können seine beide Romanhauptwerke stehen. So thematisiert Das Schloss implizit die platonische Seinsferne, die von einem melancholischen Abstand zwischen der irdischen Welt und den ewigen Guten ausgeht. Das Beste bleibt trotz aller Spuren und Annäherungsversuche unzugänglich. Die Sirenen schweigen. Den Roman Der Prozess wiederum könnte man lesen als Aktualisierung der augustinischen Erbsündenlehre – diese moralisiert Platons Abstand vom Sein – im Gewand der modernen Bürokratie. Ein unerklärliches Schuldigsein bestimmt das Leben wie eine anonyme Macht. Alle Bemühungen in einem bürokratischen Prozess Aufschluss über den Charakter dieser Schuld, Aufklärung und Gerechtigkeit zu erhalten scheitern letztlich. Die Wunde Kafka ist demnach kein Indiz für die „verwaltete Welt“ (Adorno), sondern die Spur von mächtigen metaphysischen Traditionen, die die Grundverständnisse und Stimmungen in der Moderne massiv prägen.
Folgt man dieser Lesart, so zeigt sich das von Nietzsche herausgestellte und kritisierte unnötig Masochistische eines platonisch-augustinischen Existenzialismus bei Kafka – vermutlich vor allem durch Kierkegaard vermittelt – in einer Vielzahl von Details. Etwa, wenn dem verhungernden Hungerkünstler am Ende die „Freude am Leben“ in der Gestalt eines Panthers – „dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper“ – gegenüber gestellt wird: „Ihm fehlt nichts.“12
IV. Schöne Rätselhaftigkeit
Kafkas Werke sind jedoch mehr als bloße Fußnoten zu Platon oder Augustinus. Mein Vorschlag ist es, sein literarisches Schaffen als einen impliziten Existenzialismus zu lesen, der die Kontingenz des Seins auf eine moderne Weise herausstellt.
Nietzsche hat für eine positive Konnotation der existenziellen Kontingenz die befreiende Perspektive gefunden, das Leben als ein „Experiment des Erkennenden“ zu begreifen. Das setzt aber voraus, dass man sich verabschieden lernt von den zentralen ontologischen Paradigmen der abendländischen Kultur. Es gibt kein Sein als zentrale Ursprungsmitte, das zu den Rändern hin ausstrahlt und es gibt keinen gerechtmachenden Advent13, der einmal in einer besseren Welt sein wird. Keine Geschichtsphilosophie, kein Ganz-Anderes. Das „Nichtidentische“ (Adorno) und das Gefühl der „Seinsverlassenheit“ (Heidegger) sind Chimären, die daraus entstehen, dass das Kontingente unnötig zu einer Not–Wendigkeit resubstanzialisiert wird, gegen die dann wieder ungenaue Aggressionen freigesetzt werden. Kafkas poetisches Projekt ließe sich mit Nietzsches philosophischem Projekt in der Idee einer apollinischen Verklärung verbinden:
Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch? – so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke.14
Kafkas Apollinismus ist allerdings ein latenter Apollinismus zweiter Stufe. Seine Prosa zeigt Ansätze dafür, sich auf die unlebbare Dissonanz mit der Welt durch ihre Darstellung als unlebbare Dissonanz doch noch einen minimalen Restreim zu machen. Zentral ist dafür die Explikation eines hermeneutischen Perspektivismus. In den Texten Kafkas objektiviert sich das Rätsel Welt durch scheiternde Objektivierungen der Protagonisten. Oftmals werden ganze Systematiken des Verstehens fortgeführt, deren autopoietische15 Dynamiken kontrastieren mit der Situation, auf die sie reagieren. Das Bestätigen fällt aus. Das Ganze ist das Seltsame, an dem das Reflektieren scheitert: „Try again. Fail again. Fail better.“ (Beckett) Was ist skurriler als Gregor Samsa, der zu einem „ungeheuren Ungeziefer“ mutiert, aber sich vor allem Sorgen macht um die Unannehmlichkeiten, die sein Fernbleiben bei seiner Anstellung verursachen? Dergestalt wirken Kafkas Texte wie Sagen, die mit dem Gestus des Erklärens das Unerklärliche nicht erklären. Indirekt wird so das Unheimliche zum Merkwürdigen verklärt. Eine zu unverständliche Welt wird verständlicher, indem ihr Verstehen als Unverständlich-Bleiben verstanden wird. Jeder Satz spricht aus einer Gewöhnlichkeit heraus, aber alles bleibt ungewöhnlich.
Damit wird das ewige Gespräch mit und über die Gesamträtselhaftigkeit der Welt nicht nur fortgesetzt, sondern ermöglicht, weil deren Fragwürdigkeit durch die Unzulänglichkeit des Verstehens nun stärker hervortritt. In diesen Versuchen einer impliziten Verklärung des Disharmonischen zum Enigmatischen sind Kafkas Werke kulturfunktionalistisch gesehen Darstellungen provisorischer Horizontverschmelzungsversuche. Ihre Irritationen harmonisieren, weil sie ein Verstehen veranschaulichen, das in seinem Nichtverstehen verständlich wird. Vorgeführter Irrsinn erzeugt eine Ironie zum Sinnmachen, das jedoch sein muss. Kafkas Prosa ist ein entlastendes Propädeutikum für die Dissonanz, die wir sind. Sie verklärt das Verklären. Kontingenz wird darin spürbar in der Ambivalenz einer Grundstimmung von „schöner Fremde“ (Eichendorff).
V. Die müde Wunde
Kafkas enigmatische Objektivierungen des Enigmatischen besitzen auch für Nietzsche-Leser eine kulturphilosophische Bedeutung. Auf eine vertiefende Weise loten sie den Gedanken neu aus, zum Verklären verurteilt zu sein. Darüber hinaus zeigen sie Spuren davon, was es heißt, nicht mehr von den Schatten Gottes verdunkelt zu werden. Nicht die Wunde Kafka, sondern das Rätselhafte bei Kafka stimuliert als Sensibilisierung für das von Nietzsche im Medium der Philosophie etwas zu großspurig und parolenhaft geforderte anziehende Geheimnisvollsein des Lebens. Die Explikation des Enigmatischen stimuliert eine geistige Lebendigkeit. In allem lässt sich nunmehr etwas Interessantes finden. Die Vergeblichkeit des Verstehens wertet sich um zur Lizenz zum Poetisieren. Durch Kafkas Kunst wird der Rätselcharakter der Welt als Möglichkeit eines pluralen Dabeiseins in der Ausprägung einer hermeneutischen Diversität deutlicher. Freiheit kann sein, wenn das Verstehen durch sein Scheitern zu einem Spiel wird. Gerade ohne eine Königsbotschaft sind die individualisierten Kuriere der Moderne nicht mehr elend-sinnlos ihrem Gerede von Meldungen ausgeliefert. Nicht ein Diensteid verpflichtet sie zum Leben, sondern eine gesteigerte Disponierbarkeit für die unerhörten Begebenheiten verführt zum ermunternden Erzählen von der ewigen Novelle Welt und einem Neuengagement auf ihren Bühnen.
Diese Umwertung des unheimlichen Lebensprozesses zu einer unabsehbar interessanten Rätselhaftigkeit besitzt den Effekt einer kulturtherapeutischen Peripetie16. Kafka zeigt narrativ, wovon Nietzsche philosophiert. Inmitten der Fiktionalisierung von permanenten Selbstanklagen, die von einem unverständlichen Schuldgefühl (vgl. Der Prozess) und einer paranoiden Unsicherheit (vgl. Der Bau) inspiriert werden und der latenten Ahnung eines deprimierenden unaufhebbaren Abstandes zur Erfüllung (vgl. Das Schloss), finden sich hier und da bei Kafka unkafkaeske Stellen, die emanzipatorische Veränderungen der platonisch-augustinischen Mächte andeuten. Das Selbstgefühl, ein Niemand ohne Autorität von ganz oben zu sein, wird erlöst von dem Drang nach der Erlösung durch Gnade und Anerkennung, vom heroischen Siegenwollen und Revolutionen ganz zu schweigen. Kafkaesk könnte die Kontingenz der Existenz für einen redlichen „Willen zum Lebensdienste“ (Thomas Mann) werden, dem sich das Absurde als schöne Beliebigkeit und mögliche Anfänge von Siegen über die Banalität vermittelte. Nichts muss, alles kann. Angelus Silesius’ bekannte Losung gälte es umzukehren: Mensch, werde unwesentlich. Eine Ahnung von einer übermütigen Kontingenz, die den Zufall als Quelle der Gelegenheiten ehrt, vermittelt etwa Der Ausflug ins Gebirge:
„Ich weiß nicht“, rief ich ohne Klang, „ich weiß ja nicht. Wenn niemand kommt, dann kommt eben niemand. Ich habe niemandem etwas Böses getan, niemand hat mir etwas Böses getan, niemand aber will mir helfen. Lauter niemand. Aber so ist es doch nicht. Nur dass mir niemand hilft –, sonst wäre lauter niemand hübsch. Ich würde ganz gern – warum denn nicht – einen Ausflug mit einer Gesellschaft von lauter Niemand machen. Natürlich ins Gebirge, wohin denn sonst?“17
Auch für den paranoiden Maulwurf in Kafkas Der Bau gibt es Phasen, in denen er sich von seinen unablässigen „Verteidigungsvorbereitungen“ luzide distanziert: „Bis allmählich mit völligem Erwachen die Ernüchterung kommt, ich die Übereilung kaum verstehe, tief den Frieden meines Hauses einatme, den ich selbst gestört habe, […].“18
Am deutlichsten wertet Kafka in der Parabel Prometheus die Werte des Abendlandes um. Prometheus, ein antiker Christus am Kreuz, erlebt eine Auferstehung durch die heilende Macht der Zeit, wodurch „die ganze tragische Prometheia aller Erkennenden“19 verschwindet, wie am Meeresufer eine Sandburg in den Wellen. Keine Wunde lenkt mehr ab von dem Rätsel des bloßen Seins:
Die Sage versucht das Unerklärliche zu klären; […] Von Prometheus berichten vier Sagen. Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet und die Götter schickten Adler, die von seiner immer nachwachsenden Leber fraßen. […] Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler. Die Wunde schloß sich müde. Blieb das unerklärliche Felsgebirge.20
Quellen
Adorno, Theodor W.: Aufzeichnungen zu Kafka. In: Gesammelte Werke 10/1: Kulturkritik und Gesellschaft. Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt a. M. 1977.
Kafka, Franz: Erzählungen. Stuttgart 1994.
Ders.: Tagebücher. 1910-1923. Stuttgart 1967.
Oschmann, Dirk: Skeptische Anthropologie. Kafka und Nietzsche. In: Thorsten Valk (Hg.): Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne. Berlin 2009, S.129–146.
Fußnoten
1: Analog zu dem „Jargon der Eigentlichkeit“, den Adorno bei Heidegger und seinen Epigonen herausstellte.
2: Anm. d. Red.: „Gnosis“ meint die Überzeugung, dass die Welt, in der wir leben, nicht die Schöpfung Gottes, sondern eines untergeordneten, bösartigen „Demiurgen“ ist.
3: Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, S. 255.
4: Kafka, Tagebücher, S. 402 (21.Januar 1922).
5: Ebd., S. 236 (19.November 1913).
6: Ebd. (20. November 1913).
7: Ebd. S. 404 (24. Januar 1922).
8: Anm. d. Red.: Die Einnistung der aus der befruchteten Eizelle hervorgegangenen Frühform des Embryos in die Gebärmutterschleimhaut.
9: Kafka, Erzählungen, S. 202.
10: Vgl. Oschmann, Skeptische Anthropologie. Kafka und Nietzsche, S. 129.
11: Anm. d. Red.: Mystische Tradition des Judentums.
12: Kafka, Erzählungen, S. 235.
13: Anm. d. Red: Der Begriff „Advent“ bezeichnet neben der ersten Ankunft Christi seine Wiederkunft.
14: Die Geburt der Tragödie, Abs. 25.
15: Anm. d. Red.: „Autopoiesis“ bezeichnet den Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems.
16: Anm. d. Red.: In der Literaturtheorie der Umschlagspunkt einer Handlung.
17: Kafka, Erzählungen, S. 22.
18: Ebd., S. 468.
19: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 300.
20: Kafka, Erzählungen, S. 373.