Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien I

Vietnam

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien I

Vietnam

2.3.25
Natalie Schulte
Unsere Autorin Natalie Schulte ist neun Monate in Südostasien mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. 5.500 km hat sie zurückgelegt durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. Mit im Gepäck zur Motivation und Auseinandersetzung war wie schon häufiger Also sprach Zarathustra. Aber auch jenseits dieses Werkes waren Gedanken Nietzsches häufig präsent. In ihrer kurzen Essayreihe erzählt sie von ihren Reiseerfahrungen mit und ohne Nietzsche.

Unsere Autorin Natalie Schulte ist neun Monate in Südostasien mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. 5.500 km hat sie zurückgelegt durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. Mit im Gepäck zur Motivation und Auseinandersetzung war wie schon häufiger Also sprach Zarathustra. Aber auch jenseits dieses Werkes waren Gedanken Nietzsches häufig präsent. In ihrer kurzen Essayreihe erzählt sie von ihren Reiseerfahrungen mit und ohne Nietzsche.

Ankunft

Während ich im anschnalllosen, vor Schmutz starrenden und nach Rauch stinkenden Taxi durch die Straßen von Hanoi gefahren werde und durch die verschmierte Fensterscheibe (Öl, Butter?) nach draußen zu gucken versuche, bekomme ich leichte Zweifel, ob diese Verkehrszone eine glückliche Wahl gewesen ist. Nietzsche ist Wanderer gewesen, er hat herrlich verführerische Sätze über das Reisen zu Fuß geschrieben. Der Reiz des Wanderns hat mich allerdings nie ergriffen. Ich mag es nicht, Berge erst hoch- und dann wieder hinunterzutrotten. In den meisten Fällen blickt der Wandernde auch gar nicht nach oben zu all den farbenprächtigen, wogenden Baumwipfeln und dem azurblauen Himmel, sondern zu Boden. Zu den Steinen und Wurzelfallen, über die auch der außergewöhnlichste Vagabund nicht stolpern will. Noch viel schlimmer ist es, in Gesellschaft zu wandern oder auf gut besuchten Wanderpfaden. Immer den Blick auf den vorangehenden Wandererhintern frustriert mich dieses langsame Geeier bereits nach wenigen Minuten. Wandern in Gesellschaft bringt böse und misanthropische Gedanken hervor, die sich gegen die Schnelleren und Fitteren vor uns richten. Ich wäre auch nicht gern der Vordermann, wenn ich wüsste, dass jemand wie ich mit solchen Gedanken hinter mir ginge.  

Wandern zu Aussichtspunkten an schönen Sommertagen erinnert mich an Ameisenkolonien, die in eine hoch gelegene Sackgasse laufen – was suchen sie da oben? Da ist nichts zu fressen –, sich einmal umschauen – „Oh ist das schön, das hat sich aber gelohnt, gell?“ –, um dann wieder den Pfad hinunterzuwuseln, wieder der Vorderfrau hinterher, dann in eine Herberge und am nächsten Tag auf einen anderen Hügel. Ein reichlich sinnloses Unterfangen von einer angenommenen Vogelperspektive aus betrachtet, die ich auf Dauer nicht empfehlen will.

Rollende Sprachfamilie

Reisen mag ich allerdings gerne. Rollendes Reisen auf Rädern, genauer auf einem Fahrrad. Damit bekenne ich mich zu einer relativ neuen deutschen Tradition. Ihr seht im Ausland – gewöhnlicherweise europäisches Ausland – Fahrradreisende, gewöhnlich zwei schnaufende, schwitzende Gestalten im Fahrraddress, mit quietschorangenen Fahrradtaschen, Wasserflasche an der Mittelstange und Handy am Lenker. Dann könnt ihr euch sicher sein, dies sind Deutsche. Wenn nicht, dann ist’s ein Schweizer, also sowas wie ein idealer Deutscher, seltener kann man auch einen Österreicher, Belgier oder Luxemburger auf dem Fahrrad vorfinden, nur jemandem aus Liechtenstein bin ich noch nie begegnet. Dennoch neige ich zur Ansicht, dass es da etwas in der Sprache geben muss, das zur steten, zähen und sicherlich auch etwas monotonen Bewegung verführt. Der deutschsprachige Waldschrat hat seinen Tannenwald verlassen, die gepolsterte Fahrradhose angezogen und den Asphalt erobert.

Nun wird man zugegeben müssen, dass man auch hin und wieder mit dem Fahrrad Berge wird hochfahren müssen, sich genauso wie beim Wandern eher langsam fortbewegt und, wenn man zu zweit reist, es wieder eine Vorderfrau oder so gibt. Ja, das gebe ich zu und ich mag die Berge auf Fahrradreisen lieber von unten und von der Ferne aus, da kann ich sie prächtig genießen. Wenn man sich aber einmal zwangsweise die olle Steigung hinauf gequält hat, dann darf man sie immerhin hinterher hinunterheizen und seine Gedanken frei fliegen lassen.

Fließender Verkehr

Vielleicht, so denke ich allerdings im Taxi, das hupend über eine rote Ampel fährt, hätte ich doch mehr auf Nietzsche hören und es nochmal mit dem Wandern probieren sollen, denn hanoianischer Verkehr verführt nicht gerade zur Selbstbeteiligung. Und ob es mir tatsächlich gelingen wird, lebend aus der Achtmillionen-Einwohner-Stadt mit dem Fahrrad herauszufahren, scheint mir keine Frage mehr zu sein, die ich unbedingt beantwortet haben möchte. Ampeln dienen eher dekorativen Zwecken, weit wichtiger ist das akustische Signal der Hupe: „Achtung hier komme ich“. Immerhin ist der Verkehr in der Innenstadt langsam, denn alles, was sich bewegt, egal ob Fußgänger (in der Regel Touristen), Fahrradfahrer (gewöhnlicherweise ärmere Händler), Rollerfahrer (die dominanteste und größte Menge), Autofahrer (privilegiert, aber leider zu wenig wendig, um sich gegen die Lückenfahrer durchzusetzen), bewegt sich auf der Straße. Es gibt zwar auch Bürgersteige in Hanoi, aber die dienen zum Parken und wenn sie nicht zugeparkt sind, werden sie von den dahintergelegenen Geschäften als zusätzlicher Verkaufs- und Sitzraum belegt. Möchte man eine Straße überqueren, halte man sich an folgende Regel: Laufe langsam und gleichmäßig in den fließenden Verkehr hinein, bleibe nicht stehen und kehre nicht um, der Verkehr wird einfach um dich herum weiter fließen und dich am Leben lassen (wahrscheinlich).  

Verkehrsindividualisten und Geisterfahrer

Für Nietzsche herrschen in Asien die Regeln eines Ameisenstaates, in dem jeder seine Rolle und Stellung kennt, der voll ist von willfährigen, gleichgeschalteten Arbeitssklaven. Zwischen China und Vietnam und anderen asiatischen Staaten hat Nietzsche nicht unterschieden. Am liebsten schreibt er von China und der „Chineserei“, was soviel bedeutet wie Mittelmäßigkeit, Mangel an Individualität sowie Bescheidenheit und andere seiner Meinung nach verwerfliche Tugenden.1 Halten wir uns nicht mit der Tatsache auf, dass Nietzsche mitnichten ein Philosoph der politischen Korrektheit gewesen ist. Er wäre es heute nicht und sofern man sich vorstellt, dass es auch damals eine Stimmung gab, die diesem Begriff entsprochen hat, so hat Nietzsche auch zu seinen Lebzeiten den gesellschaftlich angepassten und anständigen Tonfall verpasst. Asien beginnt für ihn, so lassen einige Aphorismen vermuten, in Russland und dann hört Asien lange nicht auf. Viele Differenzen gibt es nicht. Asien ist eine Metapher und keine Realität. Würde Nietzsche das heutige Hanoi besuchen kommen, die Realität würde ihn überraschen. Das sich selbst als kommunistisch begreifende Land – und auch bei Kommunismus bzw. Anarchismus denkt Nietzsche an Gleichschaltung – besteht aus Verkehrsindividualisten. Jeder ist anders, jeder trifft seine Entscheidungen. Soviel Individualismus aushalten zu können, ist für einen Europäer schwer. Müsste man sich nicht zumindest über die „Geisterfahrer“ im Verkehr beschweren und sie lautstark zurechtweisen, diejenigen, die mit ihrem vollbeladenen Gefährt oder ihrem Motorroller einfach in die entgegengesetzte Richtung fahren, weil sie gleich links abbiegen wollen? Aber wie soll man schimpfen, wie sich beschweren, wenn die Hupe, jenes volltönende Instrument der Zurechtweisung, seines ursprünglichen Zweckes beraubt und zu einem bloß deskriptiven Hinweis degradiert wurde?

„heute dies, morgen jenes“

Individualistisch ist auch das Set an Berufen, das die Vietnamesen wählen können. Vormittags ist er Klempner in einer Motorrollerwerkstatt, abends ist er Koch. Sie arbeitet als Friseuse, aber nur ein paar Stunden, denn ihr Geschäft ist auch bestens ausgestattet, um hervorragend dem Beruf einer Schlosserin nachzukommen. Fußmassage im Hinterzimmer, Teeladen im Eingangsbereich, alles kein Problem. Vielfalt statt Einheit, das gilt umso mehr in kulinarischer Hinsicht. Es gibt endlose Stände vom am Abend aus dem Boden schießenden „Minirestaurants“. Aus irgendwelchen Geschäftsräumen in Hinterzimmern von Werkstätten, Kleiderläden, Schuhgeschäften werden Plastikstühle und -tische auf die Straße gestellt. Gaskocher, Töpfe, Lebensmittel und Zutaten desgleichen. Überall steigt Rauch und Dampf diverser exotischer Gerichte auf. Welche Formulare, Genehmigungen, Bescheide, Zertifikate und Sonderzulassungen müsste man sich im guten alten Europa besorgen, um sowohl Werkstatt als auch Restaurant sein zu dürfen? Eins davon ist kompliziert genug. Denn in einem Land, das aus seiner Normalbevölkerung Angestellte machen möchte, ist die „Kleinunternehmerin“ nicht gern gesehen. Wer hier wohl Steuern zahlt? Und wenn ja, für was? Was auf diese Art dem Staat entgeht, das möchte man in unseren Breiten auch nicht zur Selbsternährung tolerieren.  

Phantasie ab dem ersten OG

Als Balanceakt zwischen Traumerfüllung und auf Dauer gestelltem Provisorium könnte man auch all die Privatbauten begreifen. Es gibt zwar eine typische Architektur, schmale, lange, hohe Gebäude, die sich, kollektivistisch gesehen, gut und gern in Reih und Glied anordnen ließen, die aber beständig durch ihre künstlerisch individuelle Gestaltung aus dem Gleichmaß heraustanzen wollen: Dort der schmiedeeiserne Balkon, hier eine in einen Erker eingelassene Jungfrau Maria, drüben das Marmorimitat, hüben die zimtfarbenen Säulen. Vor die sorgfältig und phantasievoll gestaltete Fassade ist im Erdgeschoss die hinsichtlich Vielseitigkeit und Hässlichkeit nicht zu überbietende Garage gestellt, der beständige Beweis dafür, dass „form follows function“ keineswegs zu einer ansprechenden Ästhetik führt. Pragmatismus auf der Erde, Phantasie ab dem ersten Ober- bis zum Dachgeschoss. Die vietnamesische Vertikale, hätte die vielleicht Nietzsche gefallen?

Brücken aus Konfekt

Es gibt, so muss ich einsehen, immer ein Problem beim Dialog mit Verstorbenen. Wie kann man sich denn sicher sein, dass er kein Selbstgespräch ist? Wo enden unsere Interpretationen und wo beginnen die Projektionen? Ich hätte gern eine Spezialistin gefragt. Und Vietnam wäre vermutlich ein geeignetes Land dafür gewesen. Denn die Kontaktpflege zu verstorbenen Ahnen mittels Altar und Opfergaben ist allgegenwärtig. Wenn die Brücke zwischen den Reichen Jenseits und Diesseits aus Obst, Dosentee und Süßigkeiten errichtet ist, vielleicht kann dann bei so viel genussreicher Materialität das Jenseits gar nicht zu einer schalen, blassen und unglaubwürdigen Illusion verkommen?! Der Junge der Händlerin kniet ehrfürchtig vor dem Altar, betet oder verhandelt. Dann nimmt er die Drachenfrucht vom Altar fort und reicht sie mir als Geschenk der Toten. Da habe ich schlicht nicht zu fragen gewagt.

Die Bilder zu diesem Artikel sind Photographien der Autorin.

Fußnoten

1: Vgl. z. B.: M 206, FW 24, FW 377, JGB 267, GM I, 12.