„Ein Göttertisch für göttliche Würfel und Würfelspieler!“

Nietzsches Übermensch zu Besuch in der Gründerszene

„Ein Göttertisch für göttliche Würfel und Würfelspieler!“

Nietzsches Übermensch zu Besuch in der Gründerszene

15.10.24
Natalie Schulte
Nietzsches Übermensch ist tot. Kaum einer kann noch etwas mit dieser obskuren Idee anfangen. Möchte man meinen. Und doch begegnen einem im aktuellen Startup-Milieu zahlreiche Versatzstücke aus Zarathustras Verheißung. Was hat es damit auf sich? – Natalie Schulte widmet sich anlässlich von Nietzsches 180. Geburtstag diesem eigenartigen Fortleben einer der bekanntesten Konzepte des Philosophen. Ein Plädoyer dafür, sich Nietzsches Idee trotz ihrer vergangenen und gegenwärtigen Missdeutungen doch noch einmal genauer anzusehen.

Nietzsches Übermensch ist tot. Kaum einer kann noch etwas mit dieser obskuren Idee anfangen. Möchte man meinen. Und doch begegnen einem im aktuellen Startup-Milieu zahlreiche Versatzstücke aus Zarathustras Verheißung. Was hat es damit auf sich? – Natalie Schulte widmet sich anlässlich von Nietzsches 180. Geburtstag diesem eigenartigen Fortleben einer der bekanntesten Konzepte des Philosophen. Ein Plädoyer dafür, sich Nietzsches Idee trotz ihrer vergangenen und gegenwärtigen Missdeutungen doch noch einmal genauer anzusehen.

Hinweis der Redaktion: Längere englische Zitate haben wir in den Fußnoten selbst ins Deutsche übersetzt.

Nietzsches Übermensch kann einem wie ein Atavismus vorkommen. Wer würde heute noch ein derart verschrobenes, abgehobenes, inhumanes Überhöhungsprojekt ernst nehmen? Wen erschaudert es nicht bei der Proklamation, die Menschheit auf ein neues, sich selbst transzendierendes Niveau heben zu wollen? Wir haben, gerade in Deutschland, mehr als genug schlechte Erfahrungen gemacht mit übertriebenen und unrealistischen Ideen, die sehr realistische, furchtbare Folgen zeitigten. Der Übermensch gehörte den Nationalsozialisten, dem Rassenwahn und biologistischen Schicksalsglauben. Schlimm genug, dass Nietzsche auch für diese Apostel kommender Herrlichkeit als Stichwortgeber dienen konnte. Das haben wir hinter uns.

I. Über-uns-Hinaus

Aber haben wir das? Blättert man durch die Ratgeberliteratur dieser Tage, zeitgenössischer noch: klickt man sich durch die neueren Moneymaking-Videos auf YouTube, kommt dem Nietzsche-Leser unerwartet vieles seltsam vertraut vor. „The fastest route to success is to accept that you with your current sense of self and your current identity and how you perceive yourself and how the world presents itself to you through your lens and your Paradigm, you’re not capable of bringing about the future, that you want to bring about. [...] We don’t achieve goals, we achieve characters. We achieve identities“1, heißt es etwa bei Charlie Morgan, einem der bekanntesten Influencer und jungen Multimillionäre, die in den sozialen Medien ihrem Publikum die Geheimnisse des Reichtums enthüllen. „Es war ungemütlich, es war außerhalb der Komfortzone, aber es hat mich wachsen lassen; und ich glaube, es liegt in der Natur des Menschen, wachsen zu wollen“2, predigt Alexander Müller, Mitgründer und -inhaber von Greator, der mit allein über 800.000 Youtube-Abonnenten einflussreichsten Bühne für Speaker und Coaches in Deutschland, und kann mit diesen Worten an zarathustrische Weisheit rühren: „Steigen will das Leben und steigend sich überwinden“3. „Geh in deine Vision, auch wenn es manchmal wehtun wird. Am Ende aber wirst du gewachsen sein, für deinen nächsten Schritt. Hin zu einem glücklicheren, erfolgreicheren und erfüllteren Leben“4, fügt Müller an großartigen Versprechungen hinzu.

Das Über-sich-Hinauswachsen nicht als Teil eines umfassenderen Bildungsprozesses, als Begleiterfahrung einer sinnerfüllten, gesellschaftsrelevanten Tätigkeit mit zahlreichen Herausforderungen, und nicht als Selbstaufgabe und Ichüberschreitung hin zum Nächsten im Sinne christlicher Caritas. Nein, das Über-sich-Hinauswachsen als reiner Selbstzweck, als Sinnquelle schlechthin, als Prinzip und Meta-Programm, als Unterziele setzende höchste Instanz, schlicht als zarathustrisches Lebensprinzip. Diese radikale Kernannahme finden wir nicht mehr in der Politik. Aber sie hat es in das Entrepreneur-Milieu der 2020er geschafft und prägt in einem neuen, modernen Gewand mit spirituellem Flair eine ganze Generation von Unternehmern.

II. Die Häutung des Übermenschen

Dass der äußere Erfolg ein Spiegel des inneren Entwicklungsstandes sei, diese Überzeugung beobachtet man als eines der Basisaxiome in der Szene. Nur konsequent scheint es daher, dass mangelnder ökonomischer Erfolg ein sicherer Beweis für innere Zurückgebliebenheit darstellt. „Das Unternehmen ist der Spiegel der Unternehmerpersönlichkeit. Beide können sich nur gemeinsam entwickeln. Wenn Ihr Unternehmen wächst, haben Sie zwei Möglichkeiten. Entweder Sie wachsen mit und Sie haben Erfolg. Oder Ihr Unternehmen wächst Ihnen über den Kopf und Sie gehen unter.“5 Das wäre natürlich schlimm. Aber keine Sorge! Mit den Angeboten aus der Speaker- und Coachings-Szene wirst du dich selbst verwandeln, Seelentiefe, intensivstes Glück und selbstgewählten Sinn und – ganz nebenbei als dann schon unausweichliches Nebenprodukt – Reichtum erzeugen. Mit letzterem ist im Übrigen nichts Innerliches gemeint, sondern ganz profan: Dinge, Statussymbole, Komfort und Geld. Ein Geist ohne Wohlwollen könnte unterstellen, letzteres sei für viele noch immer der eigentliche Antrieb für ihre „innere Suche“. Aber selbst von solchen wird für das Erreichen ihrer Ziele mehr als bloßes Erlernen von Skillsets und fleißiges Üben gefordert. Ja, mehr sogar noch als eine organische Transformation.  

Notwendig ist die Hingabe an die Verwandlung selbst. Denn jeder ist so weit gekommen, wie es ihm seine aktuelle Persönlichkeit erlaubt. Jeder bekommt, was er verdient, ließe sich auch formulieren. Aber kann denn der wahre Entrepreneur jemals irgendwo sein Ende, seinen Hafen, seine finale Gestalt finden? Nein, denn sein Wesen liegt in der Wesensveränderung, im ständigen Abstoßen eines alten Ichs zugunsten einer neuen, fähigeren Version. „You must commit psychological suicide. You, the person you are right now, is not capable of this, because if you were, you would have it.“6 Das alte Ich muss untergehen, denn es war zu schwach, um mehr von der Welt zu bekommen, als es bekam. Kein Glück, kein Heil, kein Geld.

Nicht die Träume vom Eigenheim oder vom Vermächtnis treiben die Protagonisten dieser Ideologie an, wie das bei vorangegangen Generationen der Bourgeoisie zumindest proklamiert worden war, sondern das Innerste selbst wird Gegenstand der Bearbeitung, des Kampfes, wird zum Glutzentrum für das eigene Schicksal. Das sich selbst transzendierende, immer wieder in den Untergang führende, schickende, stoßende Ich, das die Selbsttötung in diesem Sinne bejaht, den Untergang bejaht, das Leben als Wachsen des Einen aus dem Anderen, Sterbenden hervor bejaht – was ist dies anderes als der Übermensch, der von sich fordert: „Verbrennen musst du dich wollen in deiner eignen Flamme: wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist.“7

Dürften wir die wagemutige These vorbringen: Über den Übermenschen muss nicht mehr gesprochen werden, weil er sich längst verwirklicht hat? Verwirklicht zwar nur in einer kleinen Klasse, aber doch gerade in derjenigen, die das größte gestalterische, wirklichkeitsformende Potential verkörpert. Denn was nicht systemisch ausgelagert ist an technische, juristische, institutionelle Strukturen und Entitäten, was überhaupt noch einzelnen Menschen an innovativer Macht gegeben ist, bei wem anderes ließe sich diese stärker konzentriert finden als bei Unternehmern?

III. Zeitgenössische Abenteurer

Keiner schreibt sich das Scheitern-Wollen so prominent auf die Fahnen, das Abenteurertum, das Ausprobieren und Spielen wie die Kaste der Entrepreneure. Und niemand ist so wenig gefangen in organisatorischen Strukturen und Mechanismen, ins Maschinelle großer Konzerne und politischer Betriebe wie sie. Nirgendwo sonst wird so viel ausprobiert, gewagt, verloren und gewonnen wie dort: „As entrepreneurs, we make bets everyday. We are gamblers – gambling our hard-earned money on labor, inventory, rent, marketing, etc., all with the hopes of a higher pay out. Oftentimes, we lose. But sometimes, we win and win BIG.“8 Auch Nietzsches Übermensch wagt alles und riskiert, zu Grunde zu gehen, wenn das Abbruchunternehmen alles in den Staub wälzt, was überkommen und überholt erscheint, und doch richtet sich sein Blick stets auf dasjenige, was neu errichtet werden kann: „[M]ag doch Alles zerbrechen, was an unseren Wahrheiten zerbrechen – kann! Manches Haus gibt es noch zu bauen!“9 Ja, je höher der Einsatz, desto größer und edler das Unternehmen, die Tat: „Das ist die Hingebung des Grössten, dass es Wagnis ist und Gefahr und um den Tod ein Würfelspielen“ (ebd.)

Nichts wird in der Startup-Szene so hoch geschätzt wie das Spagat aus Mut, Commitment und Gelassenheit. Der wahre Spieler geht hohe Risiken ein, „gibt alles“ für den Gewinn – und geht lachend vom Feld, wenn er bemerkt, dass er verloren hat. So skizziert man den idealen Unternehmer, mit solcher „Enthobenheit” wünscht sich Zarathustra den neuen Menschen: „[W]er von euch kann zugleich lachen und erhoben sein? Wer auf den höchsten Bergen steigt, der lacht über alle Trauer-Spiele und Trauer-Ernste. Muthig, unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig – so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann.“10

Das Ziel wird bloßes Mittel für den Entrepreneur, eine nahezu willkürliche Setzung, die im Grunde lediglich dazu dient, einen bestimmten Lebensstil zu verwirklichen, nämlich den des ständigen Über-Sich-Hinaus. Die persönliche „Mission“, von der in Manager-Seminaren oft genug die Rede ist, muss weder Weltfrieden noch der „Wohlstand der Nationen“ sein, von dem noch die Vordenker des Kapitalismus wie Immanuel Kant und Adam Smith träumten, sondern darf durchaus bewusst als nur temporäres Vehikel für eigene Transformationsschübe und Höchstleistungen postuliert und geglaubt werden. Man lässt sich darauf ein, wie man sich auf eine Partie Schach einlässt. Man muss das Gewinnen-Wollen ernst nehmen. Aber egal ob man am Ende als Sieger oder Verlierer aufsteht, darf man das Spiel doch nicht ernst genommen haben. Das Brett wird geräumt, die Figuren wieder aufgebaut, eine neue Runde, genauso ernst, genauso unernst.

Eine nahezu übermenschliche Autonomie-Erfahrung, darf man anmerken, geht damit einher. Prinzipien werden aufgestellt, das eigene Handeln mit einer Rigorosität an ihnen ausgerichtet, als seien sie auf Gesetzestafeln gemeißelt und vom Himmel diktiert, Hauptsache es ist das eigene Selbst, das sie zum Gesetz erhoben hat: „Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu? Kannst du dir selber dein Böses und Gutes geben und deinen Willen über dich aufhängen wie ein Gesetz! Kannst du dir selber Richter sein und Rächer deines Gesetzes?“11 Diese Gesetze gelten für den nietzscheschen Übermenschen wie für den Unternehmer nur so lange, als sie das Ego an seine Grenzen und über sie hinaus führen. Ist ein Plateau erreicht – und ja, das meint bei letzteren durchaus ein finanzielles Plateau –, wird es Zeit, die alten Steinklumpen zu zerbrechen. Sie engen nur ein und müssen durch aktualisierte Gravuren ersetzt werden, die ein neues Ich erfordern. Ein Ich, das ein höheres Dollar-pro-Monat-Level freischalten wird.

IV. Kampfgefährten statt Moral

Dabei bleibt, ganz gleich, wie viele Weiterbildungen über „ethisches Wirtschaften” die Protagonisten der Gründerszene auch besuchen mögen, Moral, wie sich leicht vermuten lässt, ein klar externes, fremdes Element. Zwar soll das eigene Produkt immer „ein Problem lösen” und könnte damit im aristotelischen Sinne „gut” genannt werden. Aber das Spektrum der „Probleme“, die der gewiefte Geschäftsmann zu lösen sich anschickt, reicht vom Bedarf an neuen Technologien für Herzklappen über eine schnellere, bargeldlose Zahlungsabwicklung bis hin zu „Bedürfnissen“ nach pornographischem Material. Die Grenzen des Machbaren legt das Gesetz fest, nicht die Moral. Zwar würden viele Jungunternehmer zweifellos auch keine Waffen, Sklaven oder Drogen handeln, wenn die juristischen Rahmenbedingungen legerer wären, aber diese persönliche moralische Einschränkung ist kaum eine, die von dem Überzeugungssystem ihrer Ideologie irgendeine nennenswerte Stütze erhält.

Als moralinfrei könnte man auch die Lehre des Übermenschen begreifen. Zwar soll die alte Moral mit ihren lebensverneinenden Idealen überwunden werden, wohin es aber gehen soll, bleibt zum größten Teil unbestimmt. Woran derjenige leidet, der zum neuen Ideal hinstrebt, ist nicht das Leiden an der Ungerechtigkeit oder am Bösen in der Welt, nein es ist der Ekel ob der Kleinheit des Menschen, „dass ihr Bestes so gar klein ist! Dass ihr Bösestes so gar klein ist!“12 Der Übermensch soll „der Erde treu“13 bleiben, nicht den Genuss abwerten, er kann sogar Selbstsucht, Herrschsucht und was sonst bisher unter negativen Zeichen stand aufwerten. Und um die Neuwertung dreht sich auch das Gesamtprojekt: „Schätzen ist Schaffen, hört es, ihr Schaffenden! Schätzen selber ist aller geschätzten Dinge Schatz und Kleinod. Durch das Schätzen erst gibt es Werth: und ohne das Schätzen wäre die Nuss des Daseins hohl. Hört es, ihr Schaffenden!“14. Wer aber ist besser dazu geeignet, den Dingen ihren Wert, ihren Preis zu verleihen, als der Kapitalist, der Börsenspieler, der Jungunternehmer? Die Preise werden nicht durch Ding, Welt oder Natur bestimmt, man erinnere sich, „die Natur ist immer werthlos“15, sondern der Wert wird von den Menschen in die Natur hineingelegt, man könnte auch sagen, er wird erfunden.

Analog zieht sich die Mitmenschlichkeit im Unternehmermilieu angesichts der abstrakten Forderungen der Moral auf einen reduzierten Modus Operandi zurück. Es gehört zu den zentralen, unendlich oft iterierten Mantras, dass der Einzelne den Menschen ähnelt, mit denen er am meisten Zeit verbringt: „Erfolg zu haben ist ganz einfach. Was wäre, wenn ich dir sage, dass du den Schlüssel dazu direkt vor Augen hast? Ja, ganz wortwörtlich! Schau dir einfach deine Umgebung näher an: Mit wem lebst du zusammen? Mit wem arbeitest du? Ist dein Umfeld voller positiver Energie? Mit wem verbringst du deine Freizeit?“16

Wie der Übermensch, so hat der Unternehmer nach solchen zu suchen, die gleichen Geistes Kinder sind. Wer auf demselben Weg von Verwandlung zu Verwandlung dahin galoppiert, der kann Freund und Bruder sein, denn dann kann man einander erkennen, kann sich befruchten und inspirieren, kann sich aufhellen in den dunklen Stunden des Zweifels, mehr aber noch: kann den anderen zu höheren, größeren Taten ermutigen. Freundschaft, das heißt, das Potential im anderen schlummern sehen, und es mit ihm zusammen erwecken. Dann wächst man gemeinsam, jeder für sich in seinem Abenteuer begriffen, und doch mit einer starken, wohlgesinnten Hand und Stimme in der Nähe. Was man möchte, sind  „Gefährten [...], die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen – und dorthin, wo ich will. [...] Gefährten sucht der Schaffende und nicht Leichname, und auch nicht Heerden und Gläubige. Die Mitschaffenden sucht der Schaffende, Die, welche neue Werthe auf neue Tafeln schreiben“17.  

Und was ist mit denen, die das nicht so sehen? Den Compagnons von früher, denjenigen, die nicht von derselben Ideologie des Geldverdienens durch spirituelle Erweckung überzeugt sind? Die vielleicht andere Lebenshaltungen verkörpern und anderes wertschätzen? Und die von Freundschaft etwas mehr erwarten als ein gegenseitiges Anfeuern beim Sprint auf dem Hamsterrad? Nun, auch hier soll man vorübergehen, nicht mit Missgunst, sondern einen Segen murmelnd und in Freiheit. Keinesfalls aber sollte man sich an diese Menschen ketten. Man hat sie hinter sich gelassen. Was gelten jetzt ihre Sorgen und Ratschläge, vielleicht gar ihre leeren Bemerkungen, man habe sich in eine oberflächliche Selbstoptimierungsmaschine verwandelt? Was wissen sie schon? Im Grunde sind sie schwach. Und den Schwachen soll man kein Arzt, keine Krücke sein. Sie werden es einem nicht danken. Kette dich nicht an die Lahmen, lass sie zurück, umgebe dich mit Personen auf deinem „Niveau“, das heißt im Unternehmermilieu: mit möglichst identischer Weltanschauung.

Wer, der schon mal durch Zarathustras Zeilen geschwommen ist, würde darin nicht des Meisters letzte Lektion erblicken, nämlich dem Mitleiden zu entsagen?18 Es gilt, nicht denjenigen ein Lehrer sein, die zu schwach sind, um die Lehren des Übermenschen zu verinnerlichen und zu verkörpern, sondern allein weiterzugehen und ernst zu machen mit dem Vorsatz: „Und wen ihr nicht fliegen lehrt, den lehrt mir – schneller fallen! –“19

V. „Price is what you pay, value is what you get“20 (Warren Buffett)

Aber, so dürfen wir annehmen, die meisten der Jungunternehmern, ja selbst der Coaches, Berater und Speaker haben Nietzsche doch nie gelesen, haben vom „Übermenschen“ kaum mehr als das Wort gehört. Wie kann es sein, dass so viele ihrer Überzeugungen und Phrasen exakt dem zarathustrischen Ideal zu entsprechen scheinen? Hat sein Konzept einen geheimen Weg ins kollektive Unterbewusste gefunden und sich seine eigene Nische, „seine“ Menschen gesucht, zu denen es reden kann? Ist, um die Frage vom Beginn zu wiederholen, vom Übermenschen kaum mehr die Rede, weil er sich verwirklicht hat?

Zugleich aber muss man doch zögern, beim Anblick der Prediger der Geld-durch-Glück-Botschaft nietzschesche Träume verwirklicht zu sehen. Ist das die Elite, die er erhoffte? Eine Gemeinschaft geldgieriger Glückssucher? Von der Bühne bellen im besten Scheinwerferlicht hochbezahlte Redner ihre Heilsversprechen. Auf Fuckup-Nights erzählen Unternehmer lachend von ihren schlimmsten Fehlversuchen, ihren übelsten Bankrotten. In Fitness-Centern brüllen Freunde einander motivierende Wahrheiten zu. Wenn du es hier schaffst, schaffst du’s überall.

Ist Zarathustra, der Künder des Übermenschen, nicht selbst – entgegen eigener Selbstbekundung – viel zu sehr Philosoph, um sich mit einem derart dürftigen Materialismus zufrieden zu geben? Und hat nicht der Übermensch als Idee einen ganz anderen, geistigen Kern als das bloße Sich-Überbieten? Wir wollen nicht nur lapidar einwenden, dass übermäßiger Besitz vom Proklamierer des Übermenschen als Fußfessel angesehen wird und das Ideal des Geldes von vornherein verpönt erscheint: „– wahrlich nicht zu einem Adel, den ihr kaufen könntet gleich den Krämern und mit Krämer-Golde: denn wenig Werth hat Alles, was seinen Preis hat“21, sondern vor allem betonen, dass dem Wertschätzen ein ganz anderer Gehalt zukommt, sowie der Sinn der Erde mitnichten materialistisch zu verstehen ist. Neue Werte sollen ins Leben gerufen werden, weil die bisherigen sich als nihilistisch erwiesen haben. Die sinnen- und leibfeindlichen Ideale des Christenthums sind überholt, weil die Gottesthese unglaubwürdig geworden ist, die Menschen, die Gott als Erfindung und Projektion enttarnten, haben aber noch die alten Werte in einer minderwertigen, mittelmäßigeren Version beibehalten. Nun, wo es keinen Gott mehr gibt, der noch glaubwürdig sein kann, wo das irdische Leben alles ist, versucht man es sich behaglich, sicher und gesund im Leben einzurichten. Gegen diese Behaglichkeit, Ideallosigkeit und Verkleinerung der Idee der Menschheit wendet sich das zarathustrische Ideal. Auch die Werte der Entrepreneure sind sicherlich keine der Genügsamkeit, daher könnte man sie gar mit dem zarathustrischen Ideal verwechseln, sofern man in diesem nur das „Über-sich-hinaus“ nur das schlichte Selbstgesetz erkennen will. Nichtsdestotrotz hat das „Immer weiter“ und „Immer mehr vom selben“ einen nihilistischen Kern. Dort, wo allem ein Zahlwert gegeben wird, wird Ungleiches gleich gemacht. Geld wird akkumuliert, ohne dass die Akteure noch sagen könnten, wozu dieses Geld gut wäre. Sie können es noch „setzen“ und „verspielen“, es in einem Leben einfach auszugeben, wäre schon eine Herausforderung. Die gestalterische Kraft kann ohne eine Antwort auf die Frage, wie die Welt gestaltet werden soll, nur nach einem „Mehr“ gieren, das alle anderen Bereiche des Lebens verkrüppeln lässt.22 Der Mensch braucht neue Werte und Sehnsüchte, an die er glauben kann, er braucht also eine Antwort auf die Frage „wozu?“. Diese Frage kann in einem säkularen Zeitalter nur der Mensch beantworten. Kann er dies aber als Einzelner, ist der Übermensch überhaupt ein Einzelner? Dies ist eine komplexe Frage. Häufig wird der Übermensch als Egomane begriffen, der in vollkommener Selbstherrlichkeit den Platz einnimmt, den vorher Gott innehatte. Keine Moral, kein übergeordnetes Gesetz kann ihm noch diktieren. Gibt es denn ein inneres Gesetz?

VI. Die Kannibalen des Kapitalismus

Kommen wir auf die Motivation zurück, die Zarathustra, den Verkünder des Übermenschen, zu den Menschen führt, so sehen wir ein Motiv, das wir keinesfalls unbeachtet lassen sollten. Als Zarathustra davon abgeraten wird, zu den Menschen zu gehen, sie würden ihm nicht zuhören und nicht verstehen, ihm vielleicht gar gefährlich werden, erwidert Zarathustra: „Ich liebe die Menschen.“23

Mag auch vieles vom Menschen wie reine Selbstermächtigung zu Gunsten eines reicheren, wohlgemerkt seelisch reicheren Ichs wirken, sollte man dennoch nicht außer Acht lassen, dass Zarathustra den Menschen ein Geschenk bringen will. Nur wenn man dies ignoriert, können die Worte, Mantras und Aphorismen in der vibrierenden Szene der jungen Entrepreneure frappierend ähnlich klingen wie die Tugenden des Übermenschen. Das Vernichten überkommener Ichs, das Erwachsen von Neuem als Prinzip, der frische Wagemut, das spielerische Gemüt, das sich einlässt, aber auch wieder entlässt, das in höchster Autonomie ohne Moral eigene Gesetze entwirft, die ihm dienen, nicht denen es selbst dient. Der Übermensch, der nie in festen Formen stecken bleibt, genauso wenig, wie er an geliebten Menschen festhält, wo er ihnen entwachsen ist. Der, wo ihm Übel geschieht, ohne Missgunst dem Leben oder den Menschen gegenüber jede Schwierigkeit als eine Herausforderung bejaht, als Chance zu wachsen, als ein Sprungbrett für die nächste Ebene. Der Dankbarkeit empfindet. Der, zuletzt, ohne Scham und Schuld genießt, weil er weiß, dass kein Gott und kein Gericht auf ihn wartet.

Und doch muss man bei genauerem Hinsehen erkennen, dass Nietzsche selbst dort missverstanden wird, wo er nicht zitiert wird. Der Übermensch wird in der Avantgarde der jungen Kapitalisten nicht ausdrücklich erwähnt. Aber viele Versatzstücke ihrer Ideologie sind aus dem geistigen Inventar von Nietzsches Philosophie entnommen. Doch nur in einer reduzierten, angepassten, verformten Version. Das wahre und einzige Ziel der Ökonomie unserer Tage – daran hat sich seit Marx wenig geändert – bleibt die Kapitalakkumulation. Sie mag sich immer wieder neue, zeitgemäße Gewänder anlegen, mag neue Moden erfinden und kulturelle Strömungen aufnehmen und allerlei unterschiedliches Vokabular integrieren, ihr Wesen bleibt sich doch stets gleich. Und ihre Subjekte, die Exekutanten ihrer Mechanismen, passen ihr eigenes Innenleben zur bestmöglichen Verwendbarkeit – aus ihrer Sicht für den „Erfolg“ – um jeden Preis an die Erfordernisse des Systems an.

Nietzsches Übermensch aber trägt ein anderes Versprechen in sich. Eine Vorstellung von Menschheit und menschlicher Entwicklung, die mit den Missständen und Missverständnissen einer mehrfach verknoteten geistigen Tradition aufgeräumt hat und mit Freiheit eine eigene, gottlose Zukunft zu beginnen imstande ist. Um diese zu beschreiten, wäre es aber vielleicht eine gute Idee, doch noch einmal über den Übermenschen zu sprechen.

Literatur

Beck, Tobias: Unbox your life! Bewohnerfrei: Das Geheimnis für deinen Erfolg. Offenbach 2018. 7. Auflage 2022.

Hormozi, Alex: $100M Offers. How To Make Offers So Good, People Feel Stupid Saying No. Ebook, Aquisition.com 2021.

Merath, Stefan: Der Weg zum erfolgreichen Unternehmer. Wie Sie und Ihr Unternehmen neue Dynamik gewinnen. Offenbach 2008. 21. Auflage 2021.

Morgan, Charlie: I told myself I was rich until it came true. Online: https://youtu.be/IUxn7vT104Y (veröffentlicht am 19.03.2023, abgerufen am 26.5.2024).

Müller, Alexander: It’s In You. Visionen, Erfolg, erfülltes Leben. Ebook, München 2024.

Fußnoten

1: Morgan, I told myself I was rich until It came true, Minute 21:16 & 22:14. Übersetzung: „Der schnellste Weg zum Erfolg ist es zu akzeptieren, dass du mit deinem gegenwärtigen Selbstverständnis und deiner gegenwärtigen Identität und wie du dich wahrnimmst und wie sich die Welt dir durch deine Linsen präsentiert und deinem Paradigma, dass du nicht in der Lage dazu bist, die Zukunft herbeizuführen, die du herbeiführen willst. [...] Wir verwirklichen keine Ziele, wir verwirklichen Persönlichkeiten. Wir verwirklichen Identitäten.“

2: Müller, It’s In You, Position 198.

3: Also sprach Zarathustra, Von den Taranteln.

4: Müller, It’s In You, Position 215.

5: Merath, Der Weg zum erfolgreichen Unternehmer, S. 59.

6: Morgan, I told myself I was rich until It came true, Minute 20:58. Übersetzung: „Du musst psychologischen Selbstmord begehen. Du, die Person, die du jetzt bist, ist dazu nicht in der Lage, denn wenn du es wärst, dann hättest du es schon.“

7: Also sprach Zarathustra, Vom Wege des Schaffenden.

8: Hormozi, $100M Offers, S. 11. Übersetzung: „Als Unternehmer schließen wir jeden Tag Wettten ab. Wir sind Spieler – wir setzen unser hartverdientes Geld auf Arbeitskraft, Inventar, Miete, Marketing etc., alles in der Hoffnung, dass es sich auszahlen wird. Oft verlieren wird. Aber manchmal gewinnen wir und gewinnen VIEL.“

9: Also sprach Zarathustra, Von der Selbst-Ueberwindung.

10: Also sprach Zarathustra, Vom Lesen und Schreiben.

11: Also sprach Zarathustra, Vom Wege des Schaffenden.

12: Also sprach Zarathustra, Von den alten und neuen Tafeln, 2.

13: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3.

14: Also sprach Zarathustra, Von tausend und Einem Ziele.

15: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 301.

16: Beck, Unbox your life!, Position 102.

17: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 9.

18: Vgl. Also sprach Zarathustra, Das Zeichen.

19: Also sprach Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 20.

20: Übersetzung: „Preis ist, was man bezahlt; Wert ist, was man erhält.“

21: Also sprach Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 12.

22: Vgl. Also sprach Zarathustra, Von der Erlösung.

23: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 2.