Sternenweh
Prolegomena einer Kritik der extraterrestrischen Vernunft
Sternenweh
Prolegomena einer Kritik der extraterrestrischen Vernunft


Am 12. April 1961 glückte dem sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin das Unglaubliche: Als erster Mensch in der Geschichte verließ er die schützende Atmosphäre unseres Heimatplaneten und umrundete in dem Raumschiff Wostok 1 die Erde. 2011 wurde der Jahrestag dieser „übermenschlichen“ Tat zum Internationalen Tag der bemannten Raumfahrt erklärt. Die Sterne sind nun nicht mehr so weit weg. Mit dem erreichten technischen Fortschritt erhält die Phantasie einer Expansion der menschlichen Zivilisation in den Weltraum eine konkrete Plausibilität. Der folgende Text versucht sich auf diese Ausblicke philosophisch einen Reim zu machen und beschreibt zuletzt den Ansatz eines möglichen Weltraumprogramms von Nietzsche her. Zu seinen Lebzeiten gab es zwar noch nicht einmal Flugzeuge, seine Konzepte lassen sich jedoch auf dieses Thema wie sooft trotzdem in produktiver Weise anwenden.
Redaktioneller Hinweis: Einige schwierige Fachbegriffe haben wir in den Fußnoten erläutert.
„Er hat des Adlers Auge für die Ferne,
Er sieht euch nicht! – er sieht nur Sterne, Sterne!“
Nietzsche, Ohne Neid
I. Earth Now
Einer der bekanntesten Appelle Nietzsches ist, „der Erde treu bleiben“.1 Damit drückt Nietzsche, wie eine moderne, philosophisch gestimmte thrakische Magd2, aus, dass es entgegen der metaphysischen Dynamik, die den Menschen mit dem Wahnsinn einer überirdischen, vermeintlich wahreren Wirklichkeit infiziert, darauf ankomme, das Humane mit dem Diesseits zu befreunden. Die besondere Schwierigkeit bestünde darin, dass es nach all den Jahrhunderten des kulturellen Trainings mit den Glaubenssätzen und Glaubensgefühlen zu einem Entzug führe, wenn dieses Training ausbliebe: „Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen!“3 Daher wirbt Nietzsche für eine Art philosophischen Gegenwahnsinn gegen den Wahnsinn der religiösen „Hinterwelten“ und als Stütze und Ermunterung für das Durchstehen des Gottesentzugs. Die wahre Enthüllung ist die Offenbarung der Leere und Feindseligkeit der Offenbarung, die den Reichtum des Lebens diffamierte. Solange Gott lebt, muss die Erde tot sein. Erst wenn Gott tot ist, kann die Erde anfangen zu leben. Apocalypse now als earth now.

II. Erdflucht
Seit einiger Zeit kommt es nun zu einer nachmetaphysischen Form der Untreue zur Erde. Drei Motive lassen sich dabei unterscheiden. Man könnte argumentieren – die Mehr-Wissen-Hypothese –, dass der Drang ins All eine simple Fortsetzung des Forschungsdrangs des Menschen sei. Wenn Aristoteles behauptet, alle Menschen strebten nach Wissen, so wäre das Streben in den Kosmos keine qualitativ andere Form der terrestrischen Versuche Wissen zu schaffen.
Dass nicht die szientistische, sondern die soziale Deutung der Weltraumfahrt plausibel ist, wird mit dem Hinweis auf die Pläne einer „multiplanetarischen“ Zivilisation, wie sie etwa kreative Unternehmer wie Elon Musk mit seiner Firma „Space X“ beeindruckend erfolgreich vorantreiben, bekräftigt.4 Es lassen sich in den unabstreitbar philantrophischen Intentionen dieser Form der Weltraumkolonisation, die ihren ersten Außenposten auf dem Mars errichten will, auch abgründigere Motive finden. Demnach ist es vor allem ein Fluchtmotiv vor einem Dritten Weltkrieg, womöglich forciert durch den Klimawandel oder aber auch durch die Auswirkungen der Künstlichen Intelligenz, die dazu drängt auf dem Mars – und nicht auf dem zu erdnahen und daher unsicheren Mond – eine Zufluchtsbasis für die menschliche Zivilisation zu errichten. Diese Form der Erdflucht – die Flucht-nach-vorne-Hypothese – ist mit weniger altruistischen Konnotationen belegt, da die Idee einer extraterrestrischen Arche Noah den unnoblen Eindruck macht, womöglich ein Exodus für eine reiche Elite zu sein. Zudem wirft unweigerlich der Schatten der Frage, wer über die Form des sozialen Miteinanders jenseits der Nationalstaaten und Rechtssysteme entscheidet, ein Zwielicht auf die Utopie einer „multiplanetarischen Menschheit“.
Eine dritte Deutung der Abkehr von der Erde – die Wir-wollen-nicht-allein-sein-Hypothese – geht eher von einem psychologischen Motiv aus. Sie unterstellt, dass der Hauptantrieb für die Expansion in die Leere des Alls eine Leere der Psyche sei. Vor allem die Neugier und die Sehnsucht nach anderem intelligenten Leben beflügelt dieses Weltraumverlangen. Das Fermi-Paradox aus dem Jahr 1950 – so viele Jahrmillionen hatte das Leben Zeit und doch empfangen wir keine Signale von anderen hochentwickelten Zivilisationen –, oder auch die Drake-Formel aus dem Jahr 1961 – sie gibt die Variablen an, die die Wahrscheinlichkeit bestimmen, mit der eine Kommunikation einer anderen zur Kommunikation fähigen und willigen intelligenten Zivilisation in unserer Galaxie möglich ist –, sind die prominentesten Beispiele einer theoretisierenden Einsamkeit, die sich nach anderem Leben sehnt. Ein erster konkreter Kontaktversuch bestand in der Arecibo-Botschaft, die Frank Drake zusammen mit Carl Sagan am 16. November 1974 von Puerto Rico aus ins All schickte. Dass derlei Bemühungen aber auch reichlich riskant sein könnten, darauf wiesen realkosmologische Kollegen vehement hin und kritisierten die naive Gesprächsbereitschaft der Arecibo-Botschaft: Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass Außerirdische friedlich seien. Die Weite des Alls sei ein Schutz vor unliebsamen Kontakten. Sie wirke, so grandios veranschaulicht in der zurecht sehr erfolgreichen Trisolaris-Trilogie (ab 2007) von Liu Cixin, wie ein „dunkler Wald“. Egal ob Tragik oder Glück: Die 100 Milliarden Galaxien im All mit ihren jeweils 100 Milliarden Sternen lassen es als sehr wahrscheinlich erscheinen, dass es irgendwo anderes intelligentes Leben gibt. Zugleich lässt aber die Ausdehnung des Universums es als sehr unwahrscheinlich erscheinen, dass eine Kommunikation möglich ist. Auch wenn wir nicht allein sind, sind wir allein.
Dass die Neugier den dunklen Wald zu betreten aber überwiegt, zeigte letztlich das Projekt Breakthrough Starshot, zehn Tage nach der Entdeckung eines erdähnlichen Planeten ausgerechnet in dem erdnächsten Sternsystem Alpha Centauri (4,34 Lichtjahre entfernt) im Jahr 2016 ins Leben gerufen und ironischerweise unterstützt von Stephen Hawking, einem der größten Physiker der letzten Jahrzehnte, der zu den Kritikern der Arecibo-Botschaft gehörte. Ziel ist es bei diesem „Sternenwagnis“ (Sagan), eine Art Kamera so stark zu beschleunigen, dass sie den Exoplaneten in einer relativ kleinen Zeitspanne erreichen kann, um von dort aus Daten zu übermitteln. Vielleicht sind wir dann doch nicht mehr ganz so allein.
III. Die Dialektik der Raumfahrt
Am 12. April 1961 gelang dem Kosmonauten Juri Gagarin an Bord des Raumschiffs Wostok 1 in rund 100 Minuten eine Umrundung der Erde. Zwei Jahre später schrieb Adorno in einen Text über Gustav Mahlers Lied der Erde:
Von [der Erde] heißt es [...], dass sie lange – nicht ewig – fest stehe, und der Abschied Nehmende nennt sie gar die liebe Erde, als die im Verschwinden umfasste. Sie ist dem Werk nicht das All, sondern was fünfzig Jahre später die Erfahrung des in großen Höhen Fliegenden einholen durfte, ein Stern. Dem Blick der Musik, der sie verlässt, rundet sie sich zur überschaubaren Kugel, wie man sie mittlerweile aus dem Weltraum bereits fotografiert hat, nicht das Zentrum der Schöpfung sondern ein Winziges und Ephemeres5 […].6
Natürlich muss Adorno als spin doctor einer anonymen Gnosis7 mit formvollendeten Sirenentönen seinen Spekulationen am Ende einen Dreh ins Negative und Entmutigende geben. Er resümiert: „Aber die sich selber ferngerückte Erde ist ohne die Hoffnung, die einst die Sterne verhießen. Sie geht unter in leeren Galaxen. Auf ihr liegt Schönheit als Widerschein vergangener Hoffnung, die das sterbende Auge füllt, bis es erfriert unter den Flocken des entgrenzten Raumes.“8
Gegen Adorno lässt sich aus seinen inspirierenden Gedanken allerdings auch eine philosophisch hoffnungsvollere Botschaft ableiten. Durch das Bedenken der Raumfahrt und nicht nur durch den emotionalen Flug mittels der Musik Mahlers zeigt sich eine „sich selber ferngerückte Erde“ als ephemere Entität. So wird durch den spekulativen Blick des Philosophen die Erde neu entdeckt. Durch das Fernrohr der Gedanken erscheint sie als verwundbare Seltenheit. Das Ganze ist das wahrhaft Verwundbare. Die Erde ist der kosmische safe space. Wenn der späte Heidegger von der Erde als dem „Irrstern“ spricht, so könnte Adorno die Erde als den „ephemeren Stern“ bezeichnen.
Die Dialektik der Raumfahrtprojekte besteht darin, dass ihre Wucht des positivistisch Allgemeinen die basale Fragilität des Lebensraums Erde als schonenswerte Besonderheit offenbart. Die expansive Bewegung ins Unendliche löst eine Besinnung aus, die das Verständnis von Heimat nun in planetarische Maßstäbe setzen kann. Die vollends verlassene Erde strahlt im Zeichen ephemeren Zuhauseseins. Der besinnliche Astronaut kann „unter den Flocken des entgrenzten Raumes“ das Globale als das Lokale denken. Von der ungeheuren atemlosen Kälte des Alls her erfahren wird die Erde zum „global village“ (McLuhan). So gewinnt der Transterrist eine nicht-bodenständige Bodenständigkeit. Sie könnte sich in einem weltoffenen Vorrang für das Autochthone verkörpern. Der Andere wird zum Einheimischen, der seine Fremde behalten darf.
Erst das Curriculum eines zeitweisen Kosmopolitismus befähigt zu einem nicht engstirnigen und nicht formalistischen Kosmopolitismus. Man könnte diesen Erdeignungstest oder terrestrische Matura als „Gagarium“ bezeichnen. Er verlangte für robustere Gemüte eine Flugstunde, für empathische Geiste könnte auch Mahlers Musik oder eine intensivierte philosophische Besinnung ausreichen. In einem so provozierten Jammern und Schaudern wird eine Katharsis ausgelöst: Die in Schrecken versetzende Fremde des bestirnten Himmels um einen gibt einen Sinn für Weltveränderungsideen und ihre strengen Sitten, die zu kategorisch gelebt werden, um für ein allgemeines Dekorum auf der „lieben Erde” zu taugen. Der Stresstest des Im-All-Seins wird so täglich neu bestanden dadurch, dass an Bord des „spaceship earth“ (Buckminster Fuller) alle Systeme nicht nur funktionieren, sondern dass ein ziviles Miteinander herrscht, womit eine Lebendigkeit ermöglicht wird, die sich wieder und wieder übertreffen kann. Nur wer weit weg war, besitzt „die Freiheit, frei zu sein” (Arendt). Erst wenn die „Hausfrömmigkeit“ (Goethe), die nur den Nächsten fördern will, die Weite einer „Weltfrömmigkeit“ erlangt, wird man zum fähigen Kosmonauten in koexistierenden und kokonkurrierenden Mitsprachewelten. Eigentlich hätte Gagarin, könnte man denken, angesichts des autoritären Sozialismus seines Heimatlandes, nach seiner Landung sofort in den liberalen Westen auswandern müssen.
IV. Der „asketische Stern“
Vermutlich wäre für Nietzsche eine zu einer neuen Treue verführende Untreue zur Erde – die Erfahrung des Alls als der Seitensprung, der die offene Ehe mit der Erde bekräftigt – eine verführerische Idee. Andererseits würde er in den Bestrebungen der dreifachen Erdflucht als Wissensdurst, als soziale Fluchtbewegung, als Ausdruck einer Einsamkeit immer noch die metaphysischen Mächte am Werk sehen. Die Dynamik in ein realexistierendes Jenseits auszuwandern, lässt den Reichtum des Diesseits zu unentdeckt. Der expansive Drang ins All zeugt von einer asketischen Sicht auf die irdische, allzuirdische Erden.
Gegenüber der Aktivität das erdliche Dasein mittels der Raumfahrt zu überwinden, ließe sich Nietzsches Ausbruchsprojekt zu den Sternen als geistige Expedition verstehen. Er ergänzt damit das Gagarium. Ihm kommt es darauf an, die metaphysische Schlacke einer jahrtausendealten Tradition aus den Gedanken und den Gemeinwesen loszuwerden. Nietzsches spekulativer Blick auf die Erde expliziert sie als „asketischer Stern“, als eine planetarische Strafkolonie von ressentimen Gläubigen, die sich das Leben aus metaphysischen Gründen schwer machen:
Von einem fernen Gestirn aus gelesen, würde vielleicht die Majuskel-Schrift unsres Erden-Daseins zu dem Schluss verführen, die Erde sei der eigentlich asketische Stern, ein Winkel missvergnügter, hochmüthiger und widriger Geschöpfe, die einen tiefen Verdruss an sich, an der Erde, an allem Leben gar nicht loswürden und sich selber so viel Wehe thäten als möglich, aus Vergnügen am Wehethun: – wahrscheinlich ihrem einzigen Vergnügen.9
Gegen diese ressentime Lebensform rebelliert Nietzsches Philosophie. Sie tut dies mit der Methode einer redlichen Reflexion. Diese Antiasketik gewinnt aber wieder eine eigene Asketik. In ihren schonungslosen Analysen wird auch an dem verklärenden Ast gesägt, auf dem man selbst sitzt. Es desillusioniert und deprimiert, wenn man die Masse an „Geist der Schwere“10 innewird, die man selber ist: Immer ist da ein Hoffen auf den Advent11, ein Hoffen auf die ultimative Gerechtigkeit des Jüngsten Gerichts, eine sich aufopfernde Empathie für ferne Ungerechtigkeiten, ein Misstrauen gegen die Werke und die Freiheit des Humanen als Erbsünde, ein kategorisches Verurteilen von Verfehlungen von bestimmten Geboten als absolutes Gutsein, eine tragische Trauer um die Ferne zum wahren Sein.

V. Sternwerdung
Nietzsche reflektiert die beschränkenden Effekte der befreienden Reflexion mit. Weil eine schonungslose Selbstanalyse als Dauerzustand zu einer antiasketischen Asketik wird, die leicht den Blick und das Gefühl auf ein Jenseits des asketischen Sterns verliert, braucht es einen guten „Willen zum Schein“12. Genau dieser Schein erscheint für Nietzsche, wie für Adorno, in der Kunst. Kunst gewinnt allerdings für den postwagnerischen Nietzsche eine erweiterte Bedeutung. Kunst wird Lebenskunst. Und Lebenskunst besteht für den freien Geist darin, sich selbst über das Denken in eine „künstlerische[] Ferne“13 zu sich selber zu versetzen. Philosophie ist die Kunst der Zäsur. Der fähige Denker versteht es, Schluss zu machen mit sich als ein Denken. Ein Mittel dafür ist es auch für Nietzsche, sich über seine kosmische Dimension klarer zu werden. Wie auch Adorno kommt Nietzsche zu der Einsicht, dass das bloße Vorhandensein von Leben in der Form des Menschen an sich schon ein unglaublicher kosmologischer Zufall sei. Die astrale Ordnung, in der wir leben und über das Leben nachdenken können, ist, blickt man auf die ungeheuerliche Weite des Alls um uns, eine Ausnahme.14
Dieser Aphorismus ist allerdings auch eine der Stellen, die eine fatale Ambiguität in Nietzsches Denken erkennen lässt. Einerseits folgt er in seinem mittleren und späten Denken der Marschroute, dass die Fragilität des Lebens geschützt werden muss. Das Sein ist zu hart, um es ohne Schein zu ertragen. Lebenskunst ist nötig, um hell zu leben.
Andererseits ergibt sich, wie etwas aus dieser kosmologischen Reflexion auch eine Sicht auf die Natur als eine brutale Chaotik, die eine eigene Brutalität als eine quasi naturhafte Handlung verstehen lassen. Wenn das Gesetz des Weltalls kalte Chaotik ist, dann kann ein rücksichtsloser Wille zur Macht als gesetzestreue Handlung begriffen werden. Vor allem der späte Nietzsche substanzialisiert zunehmend die zu verklärende Verletzlichkeit des wahrheitsfähigen Tieres falsch zu einer Ontologie des Chaos, die dann einen letalen Naturalismus der Macht legitimiert.
Nietzsche jedoch nur auf diese Lesart zu reduzieren, zeugt selbst wieder von einem philosophischen Willen zur Macht seiner Interpretation. Man verstellt sich so die Sicht auf Nietzsches zukunftsträchtiges Weltraumprogramm. In diesem geht es um eine existenzielle Umwertung der Werte des asketischen Sterns. Nietzsche hegt in seinem Denken die Hoffnung auf einen innerweltlichen Exodus aus der Welt. Es geht darum, sich selbst so zu erziehen, dass man jenseits von Lebensverdruss und ressentimer Vergeltungsgier für diesen Zustand eine intelligente Lebensfreude entwickelt. Ein bloßer Schutz des Ephemeren auf der ephemeren Erde reicht nicht. Es ist zu wenig, nur wokelinks ein behutsamer safe space für den Anderen zu sein und es ist zu wenig, nur wertekonservativ den beruflichen Verpflichtungen der Tagesforderungen gerecht zu werden. Beides wäre zu langweilig, würde in the long run Missvergnügen hervorrufen, was wieder zu den asketischen Intensitäten einer Moral des Verurteilens disponierte. Das Ephemere ist zu steigern zu einer geistig anregenden Lebendigkeit:
Heil euch, brave Karrenschieber,
Stets „je länger, desto lieber“,
Steifer stets an Kopf und Knie,
Unbegeistert, ungespässig,
Unverwüstlich-mittelmässig,
Sans genie et sans esprit!15
Nietzsches Utopie ist es, dass es einmal „Übermenschen“ gibt, die wie unaugustinische, unplatonische Außerirdische untragisch-munter, bei allem Wissen um die Abgründe die Erde bewohnen und sich gegenseitig mit einer „Mitfreude“ beleben, Lichtjahre entfernt von allen arischen Possen der Kraft. Anstatt zu fernen Sterne aufzubrechen, geht es darum, selber Stern zu werden. „Lass leuchten!“ (Peter Rühmkorf) Die Erde wird zum Lernstern, als Trainingscamp für einen planetarischen Esprit. In einem solaren Humanismus wird der Mensch zur Sonne, für sich und andere. Als Sonnenschein der Erde verwirklichen helle Leben dann paradoxerweise den christlichen Auftrag aus Matthäus 5, das „Licht der Erde“ zu sein. Ihr Ja zum Leben ist verbunden mit dem sicheren Willen, nie wieder auf dem asketischen Stern zu leben:
Wozu sollte er wieder hinab in jene trüben Gewässer, wo man schwimmen und waten muss und seine Flügel missfarbig macht! – Nein! Da ist es zu schwer für uns, zu leben: was können wir dafür, dass wir für die Luft, die reine Luft geboren sind, wir Nebenbuhler des Lichtstrahls, und dass wir am liebsten auf Aetherstäubchen, gleich ihm, reiten würden und nicht von der Sonne weg, sondern zu der Sonne hin! Das aber können wir nicht: – so wollen wir denn thun, was wir einzig können: der Erde Licht bringen, „das Licht der Erde“ sein! “16
Ohne eine solche solare Aufklärung wird man bei allen Weltraumexpeditionen – was nicht schwer ist vorherzusehen – immer nur die toxischen Prägungen des „Geistes der Schwere“ exportieren bis sie erfrieren „unter den Flocken des entgrenzten Raumes“17. Ohne eine antiressentime Aufklärung steht die Raumfahrt unter keinem guten Stern. Nur Sterne können zu den Sternen aufbrechen. Weil sie wissen, was sie wollen, besitzt ihr Wollen weniger toxische Nebenwirkungen:
Langsam bis in die Krone verfilzt;
Ausfälle nicht mehr zu leugnen.
Dabei weißt du genau, was du willst:
einmal dich richtig ereignen –18
Quellen
Adorno, Theodor W.: Mahler. Eine musikalische Physiognomik. In: Gesammelte Schriften Bd. 13. Frankfurt a. M. 1971, S. 149–319.
Bildquellen
Artikelbild: Sepdet (2018), Quelle: https://www.deviantart.com/sepdet/art/Jurij-Gagarin-743180694
Abb. 1: fiyonk14 (2020), Quelle: https://www.deviantart.com/fiyonk14/art/Yuri-Gagarin-837583118
Abb. 2: V.Vizu (2008), Quelle: Wikimedia
Abb. 3: NASA/Stephanie Stoll (2016), Quelle: https://www.flickr.com/photos/nasa2explore/26685986293/
Fußnoten
1: Vgl. Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3.
2: Eine thrakische Magd soll den ersten abendländischen Philosophen, Thales, der Legende nach verspottet haben, weil er bei der Beobachtung der faszinierendn Sterne in einen Brunnen gefallen war.
3: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 109.
4: Vgl. die Webseite von „Space X“.
5: Anm. d. Red.: Von altgriechisch ephēmeros; nur einen Tag lang dauernd, vergänglich.
6: Adorno, Mahler, S. 296 f.
7: Anm. d. Red.: „Gnosis“ meint die Überzeugung, dass die Welt, in der wir leben, nicht die Schöpfung Gottes, sondern eines untergeordneten, bösartigen „Demiurgen“ ist.
8: Ebd., S. 297.
9: Zur Genealogie der Moral, 3. Abh, Abs. 11.
10: Vgl. Also sprach Zarathustra, Vom Geist der Schwere.
11: Anm. d. Red: Der Begriff „Advent“ bezeichnet neben der ersten Ankunft Christi seine Wiederkunft.
12: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 230.
13: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 107.
14: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 109.
15: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 228.
16: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 293.
17: Adorno, s. o.
18: Rühmkorf, „Lass leuchten!“