„Frieden um mich“

Eine ungewöhnliche Weihnachtsbotschaft

„Frieden um mich“

Eine ungewöhnliche Weihnachtsbotschaft

16.12.24
Paul Stephan
In unserem letzten Artikel vor der Pause zum Jahreswechsel untersucht Paul Stephan in einem close reading einen bemerkenswerten Aphorismus Nietzsches, in dem dieser sich mit dem berühmten Weihnachtssegen „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ auseinandersetzt. Wie beim Auspacken eines mehrfach verhüllten Geschenks versucht er, die unterschiedlichen Bedeutungsschichten dieses Textes freizulegen, um Nietzsches genaue Positionierung deutlich hervortreten zu lassen. Ob man am Ende eine leuchtende Wahrheit in der Hand hält oder der Karton leer bleibt, mag der Leser für sich entscheiden. Wir wünschen jedenfalls allen unserer Leserinnen und Leser mit Nietzsche: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander!“

In unserem letzten Artikel vor der Pause zum Jahreswechsel untersucht Paul Stephan in einem close reading einen bemerkenswerten Aphorismus Nietzsches, in dem dieser sich mit dem berühmten Weihnachtssegen „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ auseinandersetzt. Wie beim Auspacken eines mehrfach verhüllten Geschenks versucht er, die unterschiedlichen Bedeutungsschichten dieses Textes freizulegen, um Nietzsches genaue Positionierung deutlich hervortreten zu lassen. Ob man am Ende eine leuchtende Wahrheit in der Hand hält oder der Karton leer bleibt, mag der Leser für sich entscheiden. Wir wünschen jedenfalls allen unserer Leserinnen und Leser mit Nietzsche: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander!“

Zeichnung von Robert Linke. Mit herzlichem Dank an den Künstler.

I. Die „goldene Loosung“

Die goldene Loosung. – Dem Menschen sind viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sich wie ein Thier zu gebärden: und wirklich, er ist milder, geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Thiere sind. Nun aber leidet er noch daran, dass er so lange seine Ketten trug, dass es ihm so lange an reiner Luft und freier Bewegung fehlte: – diese Ketten aber sind, ich wiederhole es immer und immer wieder, jene schweren und sinnvollen Irrthümer der moralischen, der religiösen, der metaphysischen Vorstellungen. Erst wenn auch die Ketten-Krankheit überwunden ist, ist das erste grosse Ziel ganz erreicht: die Abtrennung des Menschen von den Thieren. – Nun stehen wir mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen und haben dabei die höchste Vorsicht nöthig. Nur dem veredelten Menschen darf die Freiheit des Geistes gegeben werden; ihm allein naht die Erleichterung des Lebens und salbt seine Wunden aus; er zuerst darf sagen, dass er um der Freudigkeit willen lebe und um keines weiteren Zieles willen; und in jedem anderen Munde wäre sein Wahlspruch gefährlich: Frieden um mich und ein Wohlgefallen an allen nächsten Dingen. – Bei diesem Wahlspruch für Einzelne gedenkt er eines alten grossen und rührenden Wortes, welches Allen galt, und das über der gesammten Menschheit stehen geblieben ist als ein Wahlspruch und Wahrzeichen, an dem Jeder zu Grunde gehen soll, der damit zu zeitig sein Banner schmückt, – an dem das Christenthum zu Grunde gieng. Noch immer, so scheint es, ist es nicht Zeit, dass es allen Menschen jenen Hirten gleich ergehen dürfe, die den Himmel über sich erhellt sahen und jenes Wort hörten: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen an einander.“ – Immer noch ist es die Zeit der Einzelnen.1

Mit diesem Aphorismus beendet Nietzsche den zweiten Teil des zweiten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches, der überschrieben ist mit Der Wanderer und sein Schatten. Im Rückblick bezeichnet Nietzsche dieses Buch als das Dokument einer großen persönlichen Krise:

Damals – es war 1879 – legte ich meine Basler Professur nieder, lebte den Sommer über wie ein Schatten in St. Moritz und den nächsten Winter, den sonnenärmsten meines Lebens, als Schatten in Naumburg. Dies war mein Minimum: „Der Wanderer und sein Schatten“ entstand währenddem. Unzweifelhaft, ich verstand mich damals auf Schatten…2

Es ist unschwer zu erkennen, dass sich im zweiten Band seiner ersten großen Aphorismensammlung eine Wandlung vollzieht. Der erste Band des „Buches für freie Geister“, der 1878 erschien, steht noch ganz im Lichte einer aufgeklärten und individualistischen geistigen Libertinage. Gewidmet ist die Erstausgabe dem Aufklärer Voltaire, der hundert Jahre zuvor verstorben war. In den beiden Nachträgen zu diesem Buch – Vermischte Meinungen und Sprüche und eben Der Wanderer und sein Schatten –, die zunächst als separate Bücher 1879 und 1880 erschienen und erst 1886 zusammen mit dem ersten Band als ein Buch publiziert wurden, schlägt er in der Tat andere, ‚dunklere‘ und nachdenklichere Töne an. Die Selbstreflexivität nimmt zu, der Stil wird paradoxaler. Nietzsche wird immer mehr der zweifelnde ‚Hämmerer‘ seiner späteren Schriften.

Dieser Schlussaphorismus ist nun jedoch bemerkenswert ‚licht‘. Im ersten Abschnitt des Aphorismus, bis zum zweiten Gedankenstrich, vertritt er sichtlich das Programm eines aufklärerischen Humanismus. Der Mensch soll das Tier in sich überwinden und „milder, geistiger, freudiger, besonnener“ werden. Zarathustras Ideen der „Selbstüberwindung“ und des „Übermenschen“ deuten sich hier an, doch ohne die ‚dunkle‘ Wendung, die Nietzsche ihnen später geben sollte.

Es folgt dann, bis zum nächsten Gedankenstrich, die These, die man eigentlich als Nietzsches ‚Grundansicht‘ bezeichnen könnte und der er vom Frühwerk an bis zum Spätwerk die Treue halten sollte: dass sich der Mensch, um sein ureigenstens Potential zu realisieren, von den „Ketten“ der traditionellen Metaphysik und Moral befreien muss, die ihn bislang erdrückten und im Zustand der Animalität verbleiben ließen.

Diese Wendung überrascht, rechtfertigen sich jene „Irrthümer“ doch genau damit, einen Bruch zwischen Tier und Mensch zu erzeugen. Bereits die biblische Geschichte vom Sündenfall erzählt davon, wie dieser Bruch in die Welt kam. Nietzsche dreht diese gewohnte Perspektive hier diametral um – wie vermag er das zu rechtfertigen?

Es folgt bis zum nächsten Gedankenstrich jedoch keine Antwort auf diese naheliegende Frage, sondern eine neue Wendung in Nietzsche Argumentation, indem er eine weitere seiner Kernthesen anführt: dass sich nicht jeder Mensch gleichermaßen in seinem Sinne geistig befreien dürfe. Dieses Leben ohne moralische Fesseln soll den „veredelten Menschen“ vorbehalten bleiben. Sein Wahlspruch ist – auch dies ein typisches Stilmittel Nietzsches – eine Variation der Weihnachtsverkündigung, wie sie noch heute jedes Jahr in den Kirchen am Heiligen Abend verlesen wird.

Am Ende des Aphorismus wird diese, allerdings auch wieder leicht variiert, zitiert. Im klassischen Wortlaut der Luther-Bibel, mit dem Nietzsche natürlich bestens vertraut war – hier in der Version von 1912, die ihm weitgehend entspricht – lautet die Losung: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ (Luk. 2, 14) Es handelt sich um eine kollektive Prophezeiung der „Menge der himmlischen Heerscharen“ (Luk. 2, 13) an die Hirten als Repräsentanten des einfachen Volkes.

Allerdings – und womöglich war das Nietzsche bekannt – folgt die originale Luther-Bibel einer mittlerweile als veraltet geltenden Lesart des griechischen Originaltexts. Die neuste Version dieser Übersetzung von 2017 lautet daher etwas anders: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Es geht hier also nicht mehr um ein Gnaden- und Friedensversprechen an wirklich alle Menschen, sondern nur ein Friedensversprechen an diejenigen, denen das „Wohlgefallen“ Gottes zu Teil wird.

Blättert man im Lukas-Evangelium ein Kapitel nach vorne, wird deutlich, wie diese Einschränkung gemeint sein könnte, denn dort heißt es im berühmten Lobgesang Marias (in der Übersetzung von 2017): Gottes „Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Luk. 1, 50–53) Es geht also im Neuen Testament nicht unbedingt um ein seichtes ‚Gott hat alle Menschen lieb‘, sondern eine revolutionäre Botschaft: Gott hat nur die Menschen ‚lieb‘, die an ihn glauben, und die nicht „hoffärtig“ sind. Insbesondere ausgenommen werden hier, wie auch an zahllosen anderen Stellen des Buches, die Reichen und Mächtigen. – Aus dieser Perspektive klingt Nietzsches erste Umkehrung des Segens sehr „hoffärtig“: Der freie Geist möchte nur um sich Friede und in Einklang mit den Dingen leben, die ihn umgeben.

Auch dies wirft wieder Fragen auf. Wieso genau ist es für diese Losung noch nicht an der Zeit? Was müsste geschehen, damit sie als Ideal aufgestellt werden könnte? Und wie ist es zu erklären, dass Nietzsche einerseits einen Bruch mit allen bisherigen Idealen verkündet, diesen jedoch zugleich relativiert, insofern er das utopische Ziel des Christentums ja sogar gutheißt? – Dass Nietzsche sich dieses Ziel zu eigen macht, wird dadurch unterstrichen, dass er mit dieser Formel – „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander!“ – eine Postkarte beendete, die er am 23. 12. 1878 an seinen Studenten und Vertrauten Adolf Baumgartner schickte.3

II. Friede oder Wohlgefallen aneinander!

Zwei Nachlassfragmente aus den 1880er Jahren verdeutlichen, dass Nietzsche die heiklen Fragen, die dieser Aphorismus aufwirft, aber offen lässt, beantworten wird, indem er sich stärker als hier vom Ziel des Christentums distanziert. „Frieden und den Menschen ein Wohlgefallen“ erscheint ihm nun als Losung der „décadence“, die sich in der Unfähigkeit zum Widerstand gegenüber anderen äußere, in Toleranz, Mitleid und Nachsicht. An die Stelle dieser Moral der Schwäche soll nun eine Ethik der Stärke und Härte treten, die in keiner Weise mehr den „Frieden“ und das „Wohlgefallen an einander“ im Sinne hat, es sei denn im Sinne der ersten Losung.4

Er vertritt nun offensiv die Amoralität:

„Die Krankheit macht den Menschen besser“: diese berühmte Behauptung, der man durch alle Jahrhunderte begegnet, und zwar im Munde der Weisen ebenso als im Mund und Maule des Volks, giebt zu denken. Man möchte sich, auf ihre Gültigkeit hin, einmal erlauben zu fragen: giebt es vielleicht ein ursächliches Band zwischen Moral und Krankheit überhaupt? Die „Verbesserung des Menschen“, im Großen betrachtet, zum Beispiel die unleugbare Milderung Vermenschlichung Vergutmüthigung des Europäers innerhalb des letzten Jahrtausends – ist sie vielleicht die Folge eines langen heimlich-unheimlichen Leidens und Mißrathens, Entbehrens, Verkümmerns? Hat „die Krankheit“ den Europäer „besser gemacht“? Oder anders gefragt: ist unsere Moralität – unsere moderne zärtliche Moralität in Europa, mit der man die Moralität des Chinesen vergleichen möge – der Ausdruck eines physiologischen Rückgangs?… Man möchte nämlich nicht ableugnen können, daß jede Stelle der Geschichte, wo „der Mensch“ sich in besonderer Pracht und Mächtigkeit des Typus gezeigt hat, sofort einen plötzlichen, gefährlichen, eruptiven Charakter annimmt, bei dem die Menschlichkeit schlimm fährt; und vielleicht hat es in jenen Fällen, wo es anders scheinen will, eben nur an Muth oder Feinheit gefehlt, die Psychologie in die Tiefe zu treiben und den allgemeinen Satz auch da noch herauszuziehn: „je gesünder, je stärker, je reicher, fruchtbarer, unternehmender ein Mensch sich fühlt, um so „unmoralischer“ wird <er> auch“. Ein peinlicher Gedanke! dem man durchaus nicht nachhängen soll! Gesetzt aber, man läuft mit ihm ein kleines, kurzes Augenblickchen vorwärts, wie verwundert blickt man da in die Zukunft! Was würde sich dann auf Erden theurer bezahlt machen als gerade das, was wir mit allen Kräften fordern – die Vermenschlichung, die „Verbesserung“, die wachsende „Civilisirung“ des Menschen? Nichts wäre kostspieliger als Tugend: denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital: und „Jeder Jedermanns Krankenpfleger“ wäre der Weisheit letzter Schluß. Freilich: man hätte dann auch jenen vielbegehrten „Frieden auf Erden“! Aber auch so wenig „Wohlgefallen an einander“! So wenig Schönheit, Übermuth, Wagniß, Gefahr! So wenig „Werke“, um derentwillen es sich noch lohnte, auf Erden zu leben! Ach! und ganz und gar keine „Thaten“ mehr! Alle großen Werke und Thaten, welche stehn geblieben sind und von den Wellen der Zeit nicht fortgespült wurden – waren sie nicht alle im tiefsten Verstande große Unmoralitäten?… 5

Es gilt nun: entweder Frieden oder „Wohlgefallen an einander“. Wenn die Menschen sich friedlich verhalten, wenn sie geschwächt sind, können sie kein authentisches wechselseitiges Wohlgefallen empfinden.

Dies wirkt wie ein Versuch, den Aphorismus aus Der Wanderer und sein Schatten wenigstens nachträglich argumentativ zu unterfüttern. Das Christentum scheiterte an seinem Ideal, weil es zwei kontradiktorische Forderungen erhebt. Damit ist es freilich nicht nur „noch nicht“ realisierbar, es ist niemals realisierbar und taugt noch nicht einmal als Ideal. Als ein solches kann nur die individuelle Forderung an den einzelnen gelten, mit sich selbst in Einklang zu kommen und seine unmittelbare Umgebung wertzuschätzen. Doch auch diese möchte Nietzsche eben nicht an alle gerichtet wissen, sondern nur an die starken Naturen, die es auch wert sind, sich selbst zu bejahen. Die Schwachen sollen sich ruhig selbst verneinen und in Unfrieden mit sich und ihrer Umgebung leben – ihre Natur prädestiniert sie ohnehin dazu.

Der revolutionäre Ursinn des Weihnachtssegens bekräftigt Nietzsches Vorbehalte ja nur. Offenkundig geht es hier um das, was Nietzsche in Zur Genealogie der Moral als „Sklavenmoral“ bezeichnen wird: Die Starken sollen niedergehalten und gezähmt werden, um allgemeinen Frieden zu ermöglichen. Doch das Christentum verkennt, dass dadurch nur eine langweilige, graue, „nihilistische“ Welt entsteht, in der es am Menschen nichts mehr zu bejahen gibt. Anstatt das Tierische im Menschen zu transzendieren, werden die Menschen in Haustiere verwandelt.

III. Unweihnachtlich – allzuweihnachtlich?

Sicher ist an Nietzsches Gedanken etwas dran. Jeder kennt soziale Kontexte, in denen alle furchtbar nett zueinander sind, aber eigentlich keine wirklichen zwischenmenschlichen Resonanzen entstehen können, gerade weil zu diesen auch Konflikt und Ehrlichkeit gehört. In ihnen herrscht oft eine dumpfe, stickige Atmosphäre, wie auf einem Familienfest. Viele erleben Weihnachten wahrscheinlich genau so, als Inbegriff der christlichen Lüge und Heuchelei. Sollen sich diese Menschen doch erst einmal selbst lieben und mit sich selbst ins Reine kommen, ehe sie andere mit ihrem „Mitleid“ beschenken!

Doch der Nietzsche von Der Wanderer und sein Schatten macht es sich noch nicht so einfach wie der spätere. Es geht hier nicht um von Natur aus starke Individuen, sondern anscheinend solche, die in einem Bildungsprozess „veredelt“ worden und mithin wirklich Herr ihrer geheimen Begierden und Triebe geworden sind; die „stark“ in dem Sinne sind, dass in ihnen kein Rest an unsublimierter Animalität verblieben ist. Bei denen, im Sinne Freuds, wo „Es“ war, „Ich“ geworden ist. Erst sie könnten auch anderen gegenüber wirklich friedlich sein, ohne sich selbst belügen zu müssen. Sie sind also anderen gegenüber friedlich nicht, weil sie es sollen, sondern weil sie es wirklich wollen. Wird dieses Ideal jedoch allen aufgezwungenen, auch denen, die noch nicht bereit dazu sind, führt es nur zu Verlogenheit und innerer Zerrissenheit. Man ist nett zu allen, doch in Wahrheit voll von Aggressionen – für die man sich dann wiederum selbst hasst.

Nietzsche hält es in diesem Aphorismus jedoch noch für möglich und sogar für erstrebenswert, dass sich alle Menschen in diesem Sinne „veredeln“ und derart mit sich selbst und ihrer Umgebung im Reinen sind, dass ein wirklicher Frieden auf der Welt herrschen könnte. Dann erst könnten sich die Menschen wahrhaft gegenseitig wertschätzen. Und Friedlichkeit und Wertschätzung wären nichts mehr, was man moralisch verordnen müsste, sondern was sich aus diesem aufgeklärten, mit sich selbst einigen, authentischen Bewusstsein von selbst ergeben würde.

Das wäre also schlussendlich Nietzsches ‚frohe Botschaft‘ zur Weihnachtszeit: Respekt, Mitleid, Nächstenliebe und alle anderen Ideale des Christentums lassen sich nicht moralisch vorschreiben oder einfordern; sie müssen aus echter Selbstbejahung und Selbstbeherrschung heraus erwachsen. Wahre Moralität muss von innen kommen. Das Christentum betrügt die Menschen in Nietzsches Darstellung, indem es eine solche Moralität ohne eigene Anstrengung verspricht. Es müssen nur die ‚bösen Menschen‘ beseitigt werden, dann ist alles gut. Doch Friede kann nur um sich verbreiten und andere wahrhaft wertschätzen, wer den inneren Frieden aus eigener Kraft gefunden hat und wer sich selbst wertschätzt. – Doch ist das überhaupt so antichristlich und erinnert nicht vielmehr das Christentum an seinen eigenen Kern? Es ist jedenfalls eine sehr andere Botschaft als diejenige, die man an Weihnachten üblicherweise zu Ohren bekommt.

Fußnoten

1: Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten 350.

2: Ecce homo, Menschliches, Allzumenschliches 1.

3: Brief Nr. 785.

4: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1888 23[4].

5: Nachgelassene Fragmente 1886 4[7].