Der Entschluss zum Lebensdienste

Ein Versuch über die Bedeutung von Nietzsches Philosophie

Der Entschluss zum Lebensdienste

Ein Versuch über die Bedeutung von Nietzsches Philosophie

13.5.24
Michael Meyer-Albert
Nietzsche gilt gemeinhin als schriftstellerischer Philosoph, dessen aphoristische Nihilismen nicht nur den Tod Gottes beschwören, sondern der auch als postumer Meisterdenker die dunklen Seiten der deutschen Geschichte bestärkte. Demgegenüber möchte der folgende Text als Teil der Reihe Was bedeutet Nietzsche für mich? dazu einladen, Nietzsche neu lesen zu lernen als den Entdecker des allzuunbekannten philosophischen Kontinents eines mediterranen Existenzialismus.

Nietzsche gilt gemeinhin als schriftstellerischer Philosoph, dessen aphoristische Nihilismen nicht nur den Tod Gottes beschwören, sondern der auch als postumer Meisterdenker die dunklen Seiten der deutschen Geschichte bestärkte. Demgegenüber möchte der folgende Text als Teil der Reihe Was bedeutet Nietzsche für mich? dazu einladen, Nietzsche neu lesen zu lernen als den Entdecker des allzuunbekannten philosophischen Kontinents eines mediterranen Existenzialismus.

„Tritt hinaus aus deiner Höhle: die Welt wartet dein wie ein Garten.“1

Teutonische Bildungswege

Vor fast genau 100 Jahren hat Thomas Mann in seiner Rede Von deutscher Republik ein spätes Bekenntnis zur liberalen Moderne formuliert. Diese Politisierung beschreibt er als Teil eines umfassenden Bildungswegs, der exemplarisch sei für die Kulturgeschichte Deutschlands, dieser verspäteten Nation, die erst ab 1945 in Gestalt einer Art Liberalismus von außen ihr Ankommen in der politischen Moderne erfolgreich bewältigte. Rückblickend fasst Thomas Mann seine Entwicklung in einen Satz zusammen, der wie wenige luzide den deutschen Geist zur Sprache bringt: „Keine Metamorphose des Geistes ist uns besser vertraut als die, an deren Anfang die Sympathie mit dem Tode, an deren Ende der Entschluss zum Lebensdienste steht.“2

Genau dieser Bildungsweg findet sich auch im Schaffen Nietzsches. Aus dem hochbegabten Schüler und Studenten, der mit 24 Jahren 1869 zum Professor für klassische Philologie wurde und diese vielversprechende akademische Karriere aufgab, wurde ein Wagnerjünger, der sich von dem Meister aus Leipzig eine mystische Kulturrevolution erhoffte. Durch die Erfahrungen der realexistierenden „Weihefestspiele“ mit ihrer banalen Borniertheit und bornierten Banalität in Bayreuth 1876, brach für Nietzsche eine Welt zusammen. Aus dieser Krise entwickelte sich eine neue Hoffnung: Das Lebensideal des „freien Geistes“. Seitdem die todessympathischen Sirenen der Musik für Nietzsche zwar nicht schweigen, aber doch schief klingen, widmet er sich der Philosophie als einem Entschluss zum Lebensdienste. Ohne Wagners Musik muss das Leben kein Irrtum sein. Damit das Leben aber gut klingt, benötigt es eine helle Philosophie als Ersatzmusik. Nietzsches Denken ist die Kritik der Tragödie aus dem Geiste der Lebendigkeit. Im Folgenden möchte ich sehr kurz an vier grundlegende Dimensionen seines philosophierenden Vitalismus erinnern.

Der philosophierende Leib

Nietzsches Denken widerspricht der abendländischen Hierarchie, wonach der Leib dem Geist untergeordnet sei. Das klassische Verständnis der Wahrheit als etwas Unwandelbares, Substanzielles, Universelles wird von ihm invertiert. Daher bestimmt Nietzsche sein Denken als Negation von Platons Philosophie. Diese Wendung zum Konkreten ist im 19. Jahrhundert durch Kierkegaards christlich-existenzialistische Ideen und die junghegelianische Praxisphilosophie gegen Hegels Arbeit am begrifflichen System formuliert worden. Nietzsche geht darüber aber hinaus. Seine Erdung der Philosophie endet nicht in einem Sprung in den Glauben oder in revolutionären Agitationen. Geerdet wird das Denken für ihn vielmehr in der nervösen Weltoffenheit des Leibes. Philosophie ist somit ein Effekt einer Leibspannung, die sich medial in Begriffen artikuliert und zugleich ihre Artikulationen als Rückwirkungen auf den Leib reflektiert. Das führt zu einer Philosophie, die ihre Ambitionen zu einer umfassenden Systematik aufgibt. Aus dem Traktat und der Abhandlung wird der Essay und der Aphorismus. Die Kohärenz der Argumentationen und Definitionen wird dabei konstitutiv somatisch. Die Arbeit des Begriffs ist immer auch die Arbeit an der Metapher, am Ton, an der Stimmung. Für die geistige Leiblichkeit der „Denkend-Empfindenden“3 gilt: Philosophie wird zum Stil und Stil wird zur Philosophie. Es geht nicht nur darum, richtig zu denken, sondern vor allem darum, dass das richtige Denken richtig fasziniert. Denken, das nicht über sich selbst erstaunt, ist nicht wert, gedacht zu werden. Ein Ideenreich ist nur so viel wert, wie es den Reichtum der Welt zu steigern vermag.

Schein statt Sein

Nietzsches Leibdenken lebt den „Weg der Verzweiflung“ (Hegel), er philosophiert nicht nur darüber. Philosophie vollzieht sich für ihn als existenzielle Auseinandersetzung mit dem seelischen Schmerz, der immer dann auftritt, wenn eine Welt zerbricht, von der man glaubte, dass sie alles bedeutete. Nietzsche denkt, weil das, was ist, zu wenig ist als Bindung und zu viel ist als Dissonanz. Die Widersprüche sind zu groß. Der modus operandi dieser posthegelianischen somatischen Dialektik ist eine „Kunst der Transfiguration“. Die zentrale Stelle dazu findet sich in einer späten Vorrede zu der Fröhliche Wissenschaft:

Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch durch ebenso viele Philosophien hindurchgegangen: er kann eben nicht anders, als seinen Zustand jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umsetzen – diese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie.4  

Nietzsche verklärt sich mit dieser Idee sein leidendes Leben zu einer epochalen Exemplarität. Er transfiguriert so sein Dasein im Ganzen in eine philosophische Existenz. Aus dem Philologen wird damit durch seine transfigurierten Verzweiflungen ein Philosoph. Und nur als Philosoph, als Angehöriger einer Lebensform, die es erlaubt, immer wieder sein Leben als Erkenntnisobjekt in eine gedankliche Ferne zu rücken, schafft es der ehemalige Musterschüler, Musterstudent, Musterwagnerjünger am Leben zu bleiben: „Noch lebe ich, noch denke ich: ich muss noch leben, denn ich muss noch denken.“5 Nietzsche lesen heißt, an einer Philosophie Teil zu nehmen, die Tragik in Ironie verwandelt.

Die existenzialistisch geerdete, unphilosophische Offenheit von Nietzsches Philosophie entwirft schließlich einen neuen Begriff der Wahrheit. Weil das Leben von lebensgefährlichen Wahrheiten umstellt ist, die es nicht einfach hinter sich lassen kann, sondern erkennend durchstehen muss, muss der Schein das Leben aus einer demoralisierenden Agonie retten. Schein schafft Sein, um zu sein. Wahrheit wird zu einer Wahrheit zweiter Ordnung, wie Luhmann sagen würde. Interessant ist es, dass sich Nietzsches Begriff der Wahrheit mit dem Begriff des Lebens in der Biologie in einer wesentlichen Einsicht überschneidet: Leben benötigt Abgrenzungen als Zellmembran gegenüber einer Umgebung und als verschiedenartige Räume in einer Zelle. So gesehen könnte man Nietzsches Scheinwahrheit als kulturelle Fortsetzung der naturalistischen Evolution begreifen. Seine Philosophie stellt konzeptionelle Kompartimente bereit, deren Membran der Illusionen und verklärenden Deutungen eine permeable Selektivität ermöglicht. Philosophie als Schein des Abstandes hält Wahrheit auf Abstand und erlaubt so das Sein einer unwahrscheinlichen Vitalität. Nietzsches Antwort auf die kulturelle Umgebung einer allzuentzauberten Welt: Der Mut zum Leben nach dem Tod Gottes entspringt aus dem Zauber eines übermütigen Denkens: „[S]o machen/ Meine alten sieben Sachen/ Mir zu sieben neuen Muth.“6 Damit wird etwa eine Außenwelt, die vom Gottestod und pseudoreligiösen Kompensation (Wagnerkult, Kommunismus, Faschismus) dominiert ist, durch eine Innenwelt, die auf Selbstinteressierung durch philosophische „Selbstheterogenisierung“ (Novalis) setzt lebbar. Daher ließe sich mit Nietzsche Gottfried Benns berüchtigte Zeilen aus Eure Etüden: „Dumm sein und Arbeit haben:/ das ist das Glück“, umformulieren: Intelligent sein und an sich glauben können: das ist das Glück. Der Rest ist Kritik.

Die Kritik der ressentimen Vernunft

Die Rolle des Kulturkritikers, mit der Nietzsche zunächst und zumeist identifiziert wird, ist eigentlich ein Effekt der weltoffenen Nervosität Nietzsches. Er ist zu durchlässig für die Welt, um ohne Philosophie leben zu können. Seine Kritik ist eine Immunreaktion.

Anders als in Heideggers Denken, in dem Stimmungen ontologisch gedeutet werden, versteht Nietzsche Stimmungen als kulturelle Artefakte. Gefühlszustände sind Gefühlszüchtungen.  Als von der Kultur verstimmter Kulturkritiker bestimmt Nietzsche die Grundverstimmung Europas als Ressentiment. Ressentiment ist der rachelustige Neid von unlebendigem Leben auf erfolgreiche Vitalität. Als Alltagsphänomen: Am Rande der Tanzfläche stehen und anstatt in Tanzstimmung zu kommen, anfangen über die Tänzer, die Musik, die Beleuchtung etc. herzuziehen. Nietzsche sieht in dieser Dynamik die wesentliche Gefühlszüchtung Europas. Diese „Verschwörung der Leidenden gegen die Wohlgeratenen und Siegreichen“7 verläuft als Schuldzuschreibung: „Ich leide: daran muss irgend jemand schuld sein – also denkt jedes krankhafte Schaf.“8

Entscheidend für Nietzsche ist es, dass diese Schuldsuche aktiv gefördert wird. Nietzsche erkennt im Typus des Priesters den Berufsressentimen, der die Masse der Frustrierten gegen das Bestehende und das Diesseitssein an sich durch Umdeutungen mobilisiert. Dafür wird der Wert Gerechtigkeit als Verklärungsmoral für die Agitationen instrumentalisiert. Erfolge werden mit edler Entrüstung als Ausbeutungen diffamiert. Der Erzressentime ist für Nietzsche Paulus. Auch wenn Nietzsches eigene Schuldzuschreibungen gegen das Christentum selbst wieder überspannt wirken: Seine Idee einer kulturellen Herstellung von Vergeltungsgefühlen aus den zwei Komponenten Frustrationsmasse und Agitationsradikale, die sich in einer militanten Gerechtigkeitsmoral verfestigen, besitzt eine vor allem für die Diagnose des 20. Jahrhunderts interpretatorisch unausgeschöpfte Macht. Daraus ist zu lernen, was im 21. Jahrhundert nicht mehr sein sollte, damit das mit der Moderne erreichte und von Francis Fukuyama beschriebene Ende der Geschichte nicht zu Ende geht.

Nietzsches Denken als umgekehrter Paulinismus bleibt aktuell, um den toxischen Schein von ressentimen „Wahrheiten“ zu dekonstruieren. Es wird im 21. Jahrhundert insbesondere wichtig, um nach dem Wüten der letalen Universalismen im letzten Jahrhundert eine Vorstellung von lebensfähigen Universalismen für die globale Welt zu entwickeln. Philosophisch bietet Nietzsche somit einen Ausweg aus der Kritikindustrie der Kritischen Theorie mitsamt ihrer intellektualisierten „Sympathie mit dem Tode“ und ihrer verwalteten Empfindlichkeit gegen das Bestehende.

Lebenskunst der Zukunft

Letztlich mündet Nietzsches Denken aber nicht in ein Denken. Seine Idee, Leben anstelle von Wahrheit ins Zentrum der Philosophie zu rücken, wird konsequent darin, dass Philosophie in Lebenskunst aufgeht. Die Kritik am Ressentiment verwirklicht sich in einem gelebten Jasagen als Existenzästhetizismus. Dieser drückt sich für Nietzsche in acht Aspekten aus:

a. Nietzsches philosophischer Hedonismus ist postklassizistisch nicht mehr nur an dem Wert Selbsterkenntnis orientiert. Er transfiguriert die sokratische Selbsterkenntnis zu einer dankbaren Selbstzufriedenheit. Dahinter steckt eine prophylaktische Distanzierung von den Automatismen der ressentimen Verstimmung: „Denn Eins ist Noth: dass der Mensch seine Zufriedenheit mit sich erreiche [...]! Wer mit sich selbst unzufrieden ist, ist fortwährend bereit, sich dafür zu rächen: wir anderen werden seine Opfer sein“9.

b. Für die Erreichung der eigenen Zufriedenheit ist es wesentlich, dass der physiologische Ort des Denkens gepflegt wird: Ausreichender Schlaf, gute Ernährung, aber auch eine besonnene Musikdiät – wenig Wagner, viel Bizet hören! – sind dafür sinnvoll.

c. Nietzsche betont insbesondere den Wert der selektiven Blindheit für eine umfassende Lebensbejahung. Nur durch bewusstes Wegsehen, Nichtsehen, Nichtinformieren stabilisiert sich ein Raum für sympathetische Weltwahrnehmungen. Der Empathische weiß in seiner Empathie für Empathie, dass es eine Überforderung des Empathischen gibt, die Empathie vergröbert, sentimental ungenau werden lässt oder zu einer Sucht nach Betroffenheit führt. Nur eine Weltvermeidungswelt lässt Weltoffenheit zur Welt kommen: „Wegsehen sei meine einzige Verneinung!“10

d. Immer wieder mahnt Nietzsche auch vor einem unreflektierten Fleiß und einer „athemlosen Hast der Arbeit“11. Das Otium einer vita contemplativa verlangt nach „einer entschlossenen Trägheit“12. Erst als bewusstes Management von Langeweile entsteht die Möglichkeit von erstaunlicher Lebendigkeit.

e. Für eine geistreiche Faulheit ist es wichtig, die stoische Selbstbeherrschung immer wieder zu verlieren und sich den Impulsen anvertrauen zu können, die in einem ihr Wesen treiben. Als „ewiger Wächter seiner Burg“13 ist man „verarmt und abgeschnitten von den schönsten Zufälligkeiten der Seele“ (ebd.).

f. Nietzsches Lebenskunst bietet so eine breite Abflugbahn für geistige und seelische Höhenflüge aller Art. Leben soll sich dabei in immer neuen Reflexionen und Transfigurationen in weitere, dauerhaftere und umfassendere Zustände entwickeln. Es verläuft so idealerweise durchzogen von den Adern hoher Gefühle, als „ein beständiges Wie-auf-Treppen-steigen und zugleich Wie-auf-Wolken-ruhen“14.

g. Daraus entsteht ein stabiles Lebensgefühl, in dem das Absurde der Existenz in eine schöne Offenheit umgestimmt wurde. Nietzsche denkt so, vor Camus über Camus hinaus, die Idee eines mediterranen Existenzialismus. Die Verzweiflung im „Schweigen der Welt” (Camus), in der „Seinsverlassenheit“ (Heidegger), im „Ekel“ (Sartre) vor der Kontingenz wird darin aufgehellt zu dem „Himmel Zufall“15.

h. Zuletzt verkörpert sich für Nietzsche Lebenskunst in einer schöpferischen Pädagogik. Die Lebensreichen reichen ihren Reichtum weiter. Ihre frohe Botschaft lautet: Auch du lebst in Strandnähe. Das Großartige ist zugänglich. Sei dem Leben gut, denn die Chance zum Leben ist da.

So mündet der „Entschluss zum Lebensdienste“ bei Nietzsche in einen mediterranen Existenzialismus. Ihn zu lesen bedeutet, die „Sympathien mit dem Tode“ zu entdecken und verachten zu lernen, an sich und an anderen. Und es bedeutet, den Appell der hellen Vernunft zu folgen und sich den Anmutungen des glänzenden Lebens anzuvertrauen, die jedem immer wieder offenstehen. Die letzte Transfiguration: Über seinen eigenen ressentimen Schatten springen „hinein in seine Sonne”16.

Quellen

Mann, Thomas: Von deutscher Republik. In: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Von deutscher Republik. Politische Schriften und Reden in Deutschland. Frankfurt a. M. 1995, S. 23–41.

Fußnoten

1: Also sprach Zarathustra, Der Genesende, 1.

2: Von der deutschen Republik, S. 22.

3: Die fröhliche Wissenschaft, 301.

4: Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede, 3.

5: Die fröhliche Wissenschaft, 276.

6: Die fröhliche Wissenschaft, Vorspiel, 1.

7: Zur Genealogie der Moral, III, 14.

8: Zur Genealogie der Moral, III, 15.

9: Die fröhliche Wissenschaft, 290.

10: Die fröhliche Wissenschaft, 276.

11: Die fröhliche Wissenschaft, 329.

12: Die fröhliche Wissenschaft, 42.

13: Die fröhliche Wissenschaft, 305.

14: Die fröhliche Wissenschaft, 288.

15: Also sprach Zarathustra, Vor Sonnen-Aufgang.