Nietzsche im Kreuzfeuer des Kulturkampfs
Zwei aktuelle Perspektiven im Vergleich
Nietzsche im Kreuzfeuer des Kulturkampfs
Zwei aktuelle Perspektiven im Vergleich
Dass Nietzsche in seiner Wirkungsgeschichte quer durch alle politischen Lager hindurch gelesen und vereinnahmt wurde, ist hinreichend bekannt. Doch wie steht es mit unserer Gegenwart? Paul Stephan untersucht die Schriften von zwei Autoren, die in etwa so alt sind wie er selbst, Mitte/Ende 30, und deren Blickwinkel auf Nietzsche unterschiedlicher kaum sein könnte: Während der französische Publizist und Youtuber Julien Rochedy Nietzsche zum Vordenker eines rechten Kulturkampfs erklärt, bringt ihn der deutsche Philosoph und Politikwissenschaftler Karsten Schubert für eine linke Identitätspolitik in Anschlag. Unseren Autoren überzeugen beide Positionen nicht so recht, sie bewegen sich vielmehr ganz im Rahmen der herrschenden Simulation von Politik als Kulturkampf, der es die Besinnung auf die wirklich drängenden Lebensprobleme der gegenwärtigen Menschheit entgegenzusetzen gälte.
Zusammenfassung
Nietzsche verortete sich selbst in äußerst vielfältiger und widersprüchlicher Weise zu politischen Fragen. Es ist daher kein Wunder, dass sein Denken in der Folge von den unterschiedlichsten politischen Fraktionen vereinnahmt wurde, von Anarchisten bis hin zu Nazis. Daran hat sich bis heute wenig geändert, wie zwei kürzlich erschienene Publikationen unterstreichen: Nietzsche – der Zeitgemäße von Julien Rochedy (2020/2022) und Lob der Identitätspolitik von Karsten Schubert (2024). Während der ehemalige Front-National-Politiker und Publizist Rochedy in Nietzsche einen politisch unkorrekten Kritiker der linken Identitätspolitik und einen Vordenker der rechten erblickt, versteht ihn der erklärte „Linksnietzscheaner“ Schubert genau als einen Inspirator einer linken. Beide eint bemerkenswerterweise ihre starke Bezugnahme auf den späten Nietzsche und seine machttheoretische Analyse des Dualismus von „Herren-“ und „Sklavenmoral“ in der Genealogie der Moral, aus der allerdings vollkommen unterschiedliche Konsequenzen ziehen: Rochedy plädiert für eine neue Herrenmoral, Schubert gibt die Kritik an der Sklavenmoral preis.
Ausgehend von seiner eigenen Studie Links–Nietzscheanismus. Eine Einführung (2020), in der er selbst für einen linken Nietzscheanismus plädiert, vergleicht Paul Stephan diese beiden Ansätze und zeigt ihre jeweiligen Schwächen auf. Rochedy gelingt es trotz aller Bemühungen nicht, sich hinreichend vom historischen Faschismus und der Konservativen Revolution als dessen intellektuelle Avantgarde zu distanzieren, er bleibt vollends in einer partikularistischen Position verhaftet. Schuberts Gegenentwurf eines „partikularistischen Universalismus“ krankt indes daran, dass er zum rechten Partikularismus keine wirklich radikale Alternative aufzuzeigen vermag. Er verbleibt in derselben Logik identitätspolitischer Kulturkämpfe, der Simulation von Politik als Spektakel der Symbole, an der unsere Gegenwart krankt. Zeitgenössischer Rechts- wie Linksnietzscheanismus erweisen sich als unfähig, eine radikale Alternative zum bestehenden globalen Kapitalismus aufzuzeigen und die wesentlichen Zukunftsfragen der Menschheit auch nur zu stellen. Sie bleiben so hinter dem Niveau von Nietzsches „großer Politik“ am „Leitfaden des Leibes“ zurück. Politischer Realismus heißt heute, utopisch zu fühlen, zu handeln und zu denken und nicht, sich an der „ewigen Wiederkunft“ von „Herren-“ und „Sklavenmoral“ zu beteiligen.
Kompletter Artikel
I. Nietzsche zwischen den Stühlen der politischen Moderne
Nietzsche versucht in seinen Schriften bekanntlich, eine un-, ja, antipolitische Position einzunehmen. Egal ob Konservative, Sozialisten, Feministinnen, Liberale, Nationalisten, Antisemiten … alle bekommen gleichermaßen ihr Fett weg und werden als Opfer der „modernen Ideen“1 gebrandmarkt. Dies hält ihn allerdings nicht davon ab, immer wieder positive Vorschläge zur Lösung der drängenden politischen Fragen seiner Zeit zu unterbreiten oder wenigstens Ansätze politischer Utopien zu skizzieren, die allerdings vage und mithin in ihrem politischen Gehalt uneindeutig bleiben: vom „Übermenschen“ über wilde Phantasien von neuen sozialen Hierarchien, „einer neuen Sklaverei“2, bis hin zur Verklärung der polnischen Adelsrepublik der frühen Neuzeit zum anarchischen Idealstaat.3 Nietzsche wird so paradoxerweise für nahezu alle politischen Ideologien der Moderne höchst anschlussfähig: Weil er sich von allen gleichermaßen distanziert, projizieren alle ihre eigenen Vorstellungen in ihn. Man muss an eine begehrte – oder besser: sich begehrt machende – Frau denken; oder in den Worten, die Nietzsche der femininen Figur des „Lebens“ in den Mund legt: „[I]hr Männer beschenkt uns stets mit den eignen Tugenden – ach, ihr Tugendhaften!“4 Nietzsche als Verführer.
In jüngster Zeit dominiert die breite Debatte ein relativ „gemäßigtes“ Bild von Nietzsche als Individualisten und Kritiker aller Ideologien – was ihn allerdings auch wieder sehr dem gegenwärtigen postmodernen Zeitgeist anpasst, der die „großen Erzählungen“, von denen Jean-François Lyotard schon 1979 sprach,5 für abgeschafft erklärt und es lieber bei pragmatischer Realpolitik im Namen möglichst unverbindlicher Werte belässt. Nietzsche als „zahmes und civilisirtes Thier, […] Hausthier“6 des linksliberalen Mainstreams. Aus dem „Unzeitgemäßen“ von einst wurde der Zeitgemäße von heute.
Spannender – und womöglich: näher an Nietzsches eigenen Intentionen – ist es dagegen, Nietzsche für radikale politische Projekte in Anschlag zu bringen, die sich genau gegen diesen Mainstream wenden. Wie plausibel ist das? Welches Potential lässt sich Nietzsches Schriften in dieser Hinsicht entnehmen? Und führt uns Nietzsche in dieser Hinsicht eher nach rechts oder nach links?
Ich selbst habe 2020 ein zweibändiges Buch mit dem bescheidenen Titel Links–Nietzscheanismus. Eine Einführung publiziert, dass genau solche Fragen anhand einer Untersuchung von Nietzsches eigenen Schriften (Band 1) und seiner, rechten wie linken, Wirkungsgeschichte (Band 2) zu beantworten sucht. Dort halte ich mich mit einer eindeutigen Verortung Nietzsches eher zurück, doch verweise auf die Potentiale, die er für eine linke Theorie und Praxis der Gegenwart heute haben könnte, etwa in seinem Plädoyer für einen heroischen Individualismus, in seiner Akzentuierung der Leiblichkeit und der Naturabhängigkeit des Menschen, in seiner Kritik eines ressentimenthaften, kleingeistigen Linksseins in Gestalt der „Sklavenmoral“, in seiner Ermunterung zu Aufbruch und utopischem Denken (Stichwort: „Übermensch“), in seiner scharfen Diagnose des Nihilismus der modernen Kultur, in seiner Wertschätzung authentischer Leidenschaftlichkeit und unbekümmerter Kreativität. Und vieles weitere. „Links–Nietzscheanismus“ kann für mich keine Ideologie sein – daher auch der Gedankenstrich –, sondern eher eine Haltung, die Individualismus und Freigeistigkeit mit dem Kampf für universelle Werte – den Nietzsche oftmals, wenn auch nicht immer, ablehnt – verbindet („Universalismus“ – das heißt für mich im Kern: Links-Sein7). Eine Haltung, die, wie die Geschichte des Links–Nietzscheanismus zeigt, zu den unterschiedlichsten praktischen und theoretischen Konsequenzen führen kann, sei es in Gestalt der anarchistischen Ansätze Gustav Landauers und Emma Goldmans, des nietzscheanischen Marxismus Ernst Blochs und der Frankfurter Schule oder dem „Links-Dionysmus“ Georges Batailles und der Surrealisten. Zentral ist jedenfalls der Individualismus der links–nietzscheanischen Akteurinnen und Akteure, ihr Streben nach der Verbindung von individueller und kollektiver Befreiung, das sie immer wieder in Konflikt mit dem Mainstream der linken Parteien und Institutionen brachte.
In der Zwischenzeit sind zwei bemerkenswerte weitere Schriften zu derselben Thematik erschienen. Uns verbindet, dass wir in etwa derselben Generation angehören, auch wenn unser Werdegang ein sehr unterschiedlicher ist, und uns dieselbe Frage stellen: Was folgt in der heutigen gesellschaftlichen Situation aus Nietzsches Philosophie für die politische Theorie und Praxis? Und uns eint, dass wir uns um Antworten bemühen, die vom genannten linksliberalen Mainstream abweichen. Doch da hört die Gemeinsamkeit schon auf. Karsten Schubert fordert in seinem jüngst erschienen Buch Lob der Identitätspolitik auf der Basis seiner zahlreichen in den letzten Jahren zu diesem Themenfeld publizierten Artikel8 aus seinem „Linksnietzscheanismus“ (ohne Strich) heraus genau eine Parteinahme für das, was ich, jedenfalls in Teilen, als „Ressentiment-Linke“ bezeichnen würde. Für den französischen Publizisten, Julien Rochedy, zeitweise führendes Mitglied in der Jugendorganisation des Front National, ist in seinem Buch Nietzsche – der Zeitgemäße, erschienen im französischen Original schon 2020 und 2022 ins Deutsche übersetzt, klar, dass Nietzsche ein Rechter war und mithin ein Vordenker einer „Identitätspolitik“ ganz anderer Art.
II. Ein neuer rechtsradikaler Nietzsche aus Frankreich
Rochedys Buch ist eine recht kompakte Einführung in Nietzsches Denken, eine populärphilosophische Schrift, die weitgehend ohne Quellennachweise auskommt und an einigen Stellen auch sachliche Fehler enthält.9 Sie basiert auf dem dreistündigen Vortrag Nietzsche : vie et philosophie, den Rochedy 2019 auf YouTube hielt und der 1,5 Millionen Zuschauer erreichte (Link). Man sieht: Der ehemalige führende FN-Funktionär, der generell sehr stark auf den sozialen Medien präsent ist und in der Zwischenzeit weitere Bücher publizierte, ist kein intellektueller Einzelgänger, sondern im Milieu der jungen radikalen Rechten eine populäre und einflussreiche Gestalt, dessen Thesen man schon allein aus diesem Grund unbedingt zur Kenntnis nehmen sollte, selbst wenn man mit ihnen nicht einverstanden ist.
Das Buch liest sich flott und ist mitreißend geschrieben, zumal Rochedy immer wieder Anekdoten aus seinem Leben und starke Aussagen zu aktuellen Fragen einflicht. Er erzählt die wichtigsten Stationen in Nietzsches Leben nach und referiert den Inhalt seiner Schriften. Auffällig ist allerdings, dass er, von der Geburt der Tragödie abgesehen, die Schriften bis zur Fröhlichen Wissenschaft nur beiläufig streift. Mit dem dionysischen Ästhetizismus des Erstlingswerks kann er wohl noch etwas anfangen, doch wenig mit den Unzeitgemäßen Betrachtungen und mit dem aufklärerischen Pathos der drei ersten Aphorismenbände10, sie passen nicht recht in sein Nietzsche-Bild. So behauptet er sogar, Nietzsches Widmung des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches an Voltaire sei ironisch gemeint gewesen,11 die Unzeitgemäßen Betrachtungen tut er als „verfrühte Betrachtungen“ (S. 35) ab, die „fest im zeitlichen Kontext fußen und alles andere als ‚zeitlos‘ sind“ (ebd.). So richtig interessant wird Nietzsche für Rochedy erst ab der Fröhlichen Wissenschaft und vor allem in seinem Spätwerk, zu dem er dezidiert auch die von Nietzsches Schwester und ihren Mitarbeitern edierte umstrittene Collage Der Wille zur Macht zählt. Dieses sei Nietzsches, wenn auch „unvollendetes“, „Hauptwerk“ (S. 65), dem Rochedy eine „Metaphysik des Willens zur Macht“ (S. 68) entnimmt.12 Besonders ausführlich referiert er zudem die Kernthesen der Genealogie der Moral.
Rochedys Leitgedanke: Man soll den „Willen zur Macht“ als wesentliches Grundprinzip allen Seins anerkennen und auf dieser Grundlage eine machtbejahende Lebenshaltung entwickeln. „Antirassismus, Feminismus, Progressivismus und Sozialismus“ (S. 97) sind für ihn nichts weiter als „Degeneration[en] und Perversion[en]“ (S. 74) desselben, Ideologien, die eine herrschaftsfreie Gesellschaft zwar versprächen, aber notwendig stets neue Hierarchie einführen müssten. Er folgert daraus: Weg mit der Heuchelei – und fordert ein neues europäisches Machtbewusstsein, eine Ethik der Männlichkeit und Stärke, um den umliegenden Großmächten etwas entgegensetzen zu können und der „Dekadenz“ im Inneren zu entkommen.
Rochedy knüpft damit dezidiert an die Nietzsche-Interpretation der „Konservativen Revolution“ an, zu der rechte Intellektuelle gezählt werden, die während der Weimarer Republik bereits mit ähnlichen Argumenten gegen dieselbe gehetzt haben und mal mehr mal weniger offen für einen faschistischen Sturz der verhassten Demokratie eintraten wie Julius Evola, Martin Heidegger oder Ernst Jünger. Doch es finden sich auch deutliche Anspielungen auf Thomas Manns nationalistische Schriften während des Ersten Weltkriegs, Alfred Baeumler und nicht zuletzt Oswald Spengler, der ähnlich wie Rochedy den „Untergang des Abendlands“ prophezeite, wenn es nicht zu einer „lebensbejahenden“ Renaissance der „Herrenmoral“ käme13.
Freilich bemüht sich Rochedy um eine Distanzierung von der „alten Rechten“. Er wirbt für ein geeintes Europa – freilich in entschiedener Abgrenzung vom „dekadenten“ Projekt der EU – und kritisiert Imperialismus und Militarismus, spricht sogar von der „absurde[n] Gewalt in zwei Weltkriegen“ (S. 111). Rochedy möchte eine Alternative zum Kommunismus bzw. der linken Ideologie allgemein aufzeigen, aber auch zur Postmoderne, ohne darum eine faschistische Position zu vertreten.
Allerdings fällt diese Abgrenzung zum historischen Faschismus angesichts der offenkundigen ideologischen Nähe zu ihm eher halbherzig aus. Wie will Rochedy ihn auch kritisieren, wenn er alle Werte der Moderne – Menschenrechte, Demokratie, soziale Gerechtigkeit etc. – als Dekadenzphänomene und Auswüchse der „Sklavenmoral“ zurückweist? Er träumt von genau derselben Eruption der von der Zivilisation gebändigten Gewalt und archaischen Männlichkeit. Im „neuen Europa“ sollen eindeutig weiße heterosexuelle Männer an der Spitze stehen und allen anderen ein allenfalls inferiorer Status zugebilligt werden. Und wenn man dann Sätze liest wie „Ist […] ein sauber ausgeführter Uppercut an das Kinn des Gegners zwingend weniger ‚klug‘ als das verbale Gegenargument?“ (S. 154), kommen wirklich Zweifel an dem bürgerlich-seriösen Image auf, um das sich Rochedy in seiner öffentlichen Selbstdarstellung sichtlich bemüht. Sein „neues Europa“ muss man sich wohl als Kopie von Putins Russland vorstellen, eine autoritär gelenkte Demokratie, in der vielleicht basale Bürgerrechte – zumindest solche, die der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ökonomie dienen – und formal sogar demokratische Institutionen fortbestehen, in der jedoch in Wahrheit alles dafür getan wird, um eine kleine Elite von „Herrenmenschen“ an der Macht zu halten.
III. Nietzsche als Vordenker der linken Identitätspolitik
Es überrascht wenig, dass die linke Identitätspolitik und alles, was damit verbunden ist – political correctness, wokeness, cancel culture etc. – Rochedy ein besonderer Dorn im Auge ist. Nietzsche ist für ihn ein politisch Unkorrekter par excellence, dessen „Zeitgemäßheit“ sich gerade daraus ergibt, uns dabei zu helfen, uns gegen diese Ideologie zu immunisieren und eine entschlossene Gegenwehr zu organisieren. Ein von Rochedy immer wieder bedientes Feindbild ist dabei die gegenwärtige intellektuelle linksliberale postmoderne Elite, über deren vermeintliche Leibfeindlichkeit und körperliche Verwahrlosung er sich immer wieder lustig macht, wenn er etwa schreibt:
Heutzutage würden Typen wie Platon [der ein breitschultriger Athlet gewesen sein soll; PS] in Saint-Germain-des-Prés, an der Sciences Po oder in der Umgebung der Rue d’Ulm in Paris zweifellos mit abschätzigen Blicken bedacht, denn niemand vermag mehr zu glauben, dass die Gestalt eines Boxers aufgeklärter und klüger sein könnte als ein schmächtiger Soziologe oder schlabbriger Journalist mit Eierkopf.14
Spricht aus solchen Sätzen nicht selbst das Ressentiment? – Und dies ist nur eines von zahlreichen Beispielen für verbale Provokationen in Rochedys Buch.
Der promovierte Philosoph und Politologe Karsten Schubert dürfte Rochedy jedenfalls als mustergültiger Angehöriger dieser „Elite“ erscheinen (womit natürlich nicht gesagt werden soll, dass ich mich hier Rochedys Polemik auch nur im Ansatz anschließen möchte!15). Er hat bislang eine solide akademische Karriere hingelegt, arbeitet derzeit als assoziierter Forscher an der HU Berlin und dies mit dezidiert linken Positionen. Sein neustes Buch Lob der Identitätspolitik liest sich in jedweder Hinsicht als ein diametraler Gegenentwurf zu Rochedys Thesen.
Es fängt schon mit der Form an: Schuberts Buch ist recht trocken geschrieben. Es geht ihm nicht darum, den Leser mit Witz und Polemik mitzureißen, sondern mit guten Argumenten zu überzeugen. Schubert bemüht sich redlich um eine nüchterne Argumentation und verwendet in dem Buch viel Raum darauf, seine Begriffe klar zu definieren und die Positionen seiner Gegner fair wiederzugeben. Die Zielgruppe des Buches ist offenkundig ein akademisch gebildetes Publikum. Seine Laudatio fällt überraschend leidenschaftslos aus. Muss sich Rochedy den Vorwurf der Unsachlichkeit gefallen lassen, krankt Schuberts Monographie eher umgekehrt daran, durch ihren akademischen Stil vielfach allzu belehrend daherzukommen und ihren Zweck der Überzeugung so zu verfehlen.
Die Pointe von Schuberts Buch ist es nun, dass er zahlreiche auch von Rochedy dargelegten rechtsnietzscheanischen Argumenten aufgreift und sie in seiner Studie auch ausführlich referiert. Er wendet sie allerdings im Sinne eines erklärten „Linksnietzscheanismus“: Er stimmt der nietzscheanischen Kritik am Universalismus der Moderne partiell zu und bezieht sich ausgerechnet ebenso wie Rochedy vor allem auf die Genealogie der Moral und die machttheoretischen Überlegungen des späten Nietzsches – freilich stets aus der Brille Michel Foucaults, seines wohl wichtigsten Vordenkers, betrachtet –, doch greift diese Gedanken auf, um für eine Neubestimmung des Universalismus zu werben. Der klassische Universalismus der Aufklärungsphilosophie und des Liberalismus sei in der Tat zu blind für Machtbeziehungen und für die partikularen Standpunkte der Individuen gewesen. Diese Beschränktheit möchte Schubert nun durch einen „partikularistischen Universalismus“ überwinden, in dem es darum geht, den klassischen Universalismus zu „erden“, indem man immer wieder hinterfragt, inwiefern er seinem Anspruch wirklich gerecht wird und nicht in Wahrheit nur die bestehenden Privilegien machtvoller Gruppen unterstützt. Schubert gibt offen zu, dass es sich bei diesem „Linksnietzscheanismus“, im Gegensatz zum Rechtsnietzscheanismus, um eine eher lose Anknüpfung an Nietzsche handelt, ausgehend von den Klassikern der poststrukturalistischen Theorie.16
„Identitätspolitik“ bezeichnet für Schubert diesem Verständnis folgend das kontinuierliche und im Grunde unabschließbare Bemühen um die „Demokratisierung der Demokratie“. Immer neue unterdrückte Gruppen sollen im Sinne einer „radikalen Demokratietheorie“ ihren fairen Anteil am demokratischen Diskurs erhalten und so zu einer stetigen Transformation der demokratischen Institutionen beitragen, die immer inklusiver werden sollen. „Identitätspolitik“ ist also für Schubert durchaus der partikulare Kampf von bestimmten sozialen Gruppen (Frauen, Homosexuelle, Schwarze, queers etc.) um mehr demokratische Mitsprache und kulturelle Anerkennung, doch da es sich um die vom herrschenden Diskurs bislang vernachlässigten Gruppen handelt, ist in diesem Fall der partikulare Kampf zugleich universell. Für Schubert ist damit zugleich nicht jede Interessenpolitik gleich gut, er unterscheidet zwischen einer regressiven „Interessenpolitik“, die dem Ausbau und Erhalt der eigenen Privilegien dient – darunter würde auch die von Rochedy angestrebte Renaissance der „Herrenmoral“ fallen – und einer wahrhaften progressiven „Identitätspolitik“, die sich damit zugleich bestimmten normativen Maßstäben unterwirft, was ihre Ausgestaltung und ihre Strategie betrifft. Schubert möchte der realexistierenden Identitätspolitik mit seinem „Lob“ also dezidiert keine „carte blanche“ (S. 167) ausstellen, sondern vielmehr Kriterien entwickeln, wie sie ausgehend von ihrem eigenen Anspruch von innen heraus kritisiert werden kann – wobei zugleich klar ist, dass Schubert die meisten Formen realexistierender Identitätspolitik, inklusive Sprachregelungen (political correctness), cancel culture und anderen oft kritisierten Problemfeldern, gutheißt.
Gegen eine moralische Kritik an der so verstandenen Identitätspolitik führt Schubert genau ins Feld, dass die Identitätspolitik letztendlich einerseits eben doch moralischen Zwecken diene, andererseits jedoch eine entschlossene Machtpolitik nun einmal nötig sei, um die Anliegen der marginalisierten Gruppen auch gegen den Willen einer privilegierten Mehrheit durchzusetzen. Er macht dabei keinen Hehl daraus, dass Identitätspolitik in vielen Fällen bedeutet, dass Angehörigen von privilegierten Gruppen etwas weggenommen wird – doch dies sei eben im Sinne des Ziels der „Demokratisierung der Demokratie“ notwendig, um die viel schwerwiegendere Unterdrückung der benachteiligten Gruppen zu überwinden. Dass Identitätspolitik darum notwendig teils wütende Abwehrreaktionen, „Ressentiment“, der Privilegierten provozieren muss, reflektiert Schubert sehr klar.
Was Schubert in diesem Zuge erklärtermaßen aufgibt, ist die Kritik der „Sklavenmoral“, die für ihn auf einem falschen naturalistischen Verständnis von „Stärke“ und „Schwäche“ basiere und nur dazu diene, die Privilegien der Privilegierten zu legitimieren. Dasjenige, was Nietzsche „Sklavenmoral“ nennt, sei eigentlich kein Problem, sondern „bildet tatsächlich den generellen Kern des Politischen“ (S. 72). Es gebe in Wahrheit weder lebensbejahende Herren auf der einen noch lebensverneinende Sklaven auf der anderen Seite, sondern einfach nur nüchtern zu betrachtende Machtkonstellationen, auf deren Veränderung im Sinne einer vertieften Demokratie es ankomme – und wo gehobelt wird, fallen nun einmal Späne.
IV. Jenseits von korrekt und unkorrekt
Schuberts und Rochedys Herangehensweise an Nietzsche ähnelt sich in bemerkenswerter Weise. Sie interpretieren zunächst beide Nietzsche im Kern als Theoretiker der Macht, ausgehend vor allem von den Analysen des Spätwerks und nicht zuletzt der Genealogie der Moral. Gegen den Moralismus des Mainstreams und dessen durchschaute Illusionen plädieren sie für einen entschlossenen Machtkampf, um die eigene Identität zu pushen: Hier das weiße „Abendland“ mit klar definierten geschlechtlichen Rollenbildern, dort das „queere“ Anderssein. Freilich gibt es einen zentralen Unterschied: Schubert hält am Universalismus, am linken Projekt, dezidiert fest, Rochedy möchte von all dem nichts wissen. In Schuberts Analyse betreibt er eine regressive Interessen-, keine emanzipatorische Identitätspolitik.
So unterschiedlich, ja: entgegengesetzt, diese Sichtweisen auch sind, sie fußen doch auf einer geteilten Erfahrung, die ohne Zweifel auch diejenige des späten Nietzsche ist: die Entwertung aller Werte in einer als nihilistisch durchschauten Realität, vor deren Hintergrund die offiziellen Moralismen als Heuchelei erscheinen. Freilich ziehen dabei, auch darin mit Nietzsche einig, weder Schubert noch Rochedy daraus die Konsequenz des Zynismus: Sie wollen vielmehr beide an Werten festhalten, in dem einen Fall dezidiert partikularistische, in dem anderen Fall universalistische. Auch die „Herrenmoral“ ist eben eine Moral. In dieser allgemeinen Grundhaltung beanspruchen wohl beide zu Recht den Titel „Nietzscheaner“ und verleihen einem Lebensgefühl Ausdruck, das weit verbreitet sein dürfte. Ein Gefühl der Orientierungslosigkeit und der Suche nach neuer Orientierung – die aus der Sicht beider nur durch die Unterwerfung unter eine kollektive Ideologie gelingen kann und durch dem Teilhaben an einer Gemeinschaft. Den modischen Individualismus unserer Zeit und die entsprechenden Nietzsche-Ratgeber für den Hausgebrauch lehnen beide gleichermaßen ab.
Was ich nun selbst in meinem erwähnten Buch entwerfe, erscheint mir eine qualitativ verschiedene Alternative zu diesen beiden Ansätzen zu sein. Sowohl Schubert als auch Rochedy bewegen sich vollkommen im Denkkosmos des späten Nietzsche und seiner – wie experimentell und perspektivisch auch immer gebrochenen – Metaphysik der Macht. Beide bewegen sich realitätsnah in den Bahnen der bestehenden Gesellschaft, deren adäquater ideologischer Ausdruck diese Metaphysik ist. Sie vollziehen die ewige Wiederkehr des Kampfes von „Herrenmoral“ und „Sklavenmoral“. Ihr Kampf zielt letztendlich darauf ab, innerhalb des bestehenden Systems für die „eigenen Leute“ eine bessere Position innerhalb der Hierarchie klarzumachen: hier die anständigen europäischen Jungs und Mädels, dort die kosmopolitischen queers. Doch sind das nicht alles ausgetretene Pfade, role models, die uns von der Kulturindustrie selbst nahegelegt werden? Der woke Intellektuelle und der „mutige“ politisch Unkorrekte als Scheinkontrahenten, deren Spiegelfechtereien man nur entkommt, indem man den Kampf in eine ganz anders geartete Arena versetzt.
Was sowohl Schubert als auch Rochedy abgeht, ist die Einsicht in die ökonomischen Wurzeln der Entfremdung, mit einem Wort: Marx. In Rochedys Buch spielt er noch nicht einmal als Antipode eine Rolle, Schubert muss ihn als Linker irgendwie eingemeinden, doch ist in diesem Zuge gezwungen, aus dem Kapitalismuskritiker Marx den Vordenker einer Identitätspolitik der Arbeiterklasse machen, ihn also völlig umdeuten.17 Ebenso wenig interessieren sie, anders als Nietzsche, die materialistischen Fragen von Leiblichkeit und Ökologie.18 Sie sind, im schlechten Sinne, Kulturalisten und spiegeln damit das eigentliche Problem der gegenwärtigen Politik: Dass es eigentlich nie um die wirklich entscheidenden Fragen – ökonomische Verteilung, Eigentumsverhältnisse, Ökologie – geht, sondern mehr oder weniger an der Oberfläche kratzende Nebenschauplätze, um die sich dann aber der politische Diskurs einzig und allein dreht (Immigration, Gendersprache, Quotenregelungen, Normen der politischen Korrektheit …). Nietzsche selbst schrieb:
Alle Fragen der Politik, der Gesellschafts-Ordnung, der Erziehung sind dadurch bis in Grund und Boden gefälscht, dass man die schädlichsten Menschen für grosse Menschen nahm, – dass man die „kleinen“ Dinge, will sagen die Grundangelegenheiten des Lebens selber verachten lehrte…19
Damit soll nicht gesagt werden, dass die genannten Themen per se zweitrangig seien, doch es gelte sie eben, im Gesamtzusammenhang der kapitalistischen Weltgesellschaft zu analysieren und nicht vor dem Hintergrund der kulturalistischen Analyseraster „Nihilismus vs. Rettung des Abendlands“ (Rochedy) oder „Privilegierte vs. Nichtprivilegierte“ (Schubert), die in ihrer Grobschlächtigkeit wenig zu einem genauen Verständnis dieser Konflikte beitragen. Von der Unterdrückung der Frauen ist offensichtlich nicht nur eine kleine Minderheit betroffen, doch es gelte genau zu bestimmen, welchen ökonomischen Interessen die forcierte Öffnung des Arbeitsmarkts für Frauen dient und zu welchen Zusatzbelastungen diese führt, anstatt sich blindlings auf die Seite „Frauen zurück an den Herd“ vs. „Frauen auf den Arbeitsmarkt“ zu schlagen. Ähnlich verhält es sich mit den globalen Migrationsströmen, die nur als Bestandteil der nach wie vor fortbestehenden Ausbeutung des globalen Südens durch den Norden zu verstehen sind und dem gleichzeitigen „Heißhunger“ der Industrien der kapitalistischen Staaten nach Arbeitskräften. Verbleibt man in der Denkschablone „Grenzen zu“ vs. „offene Grenzen für alle“, verliert man auch hier die Möglichkeit einer differenzierten und nuancierten Analyse dieser Problematik – und erst recht der Entwicklung überzeugender realpolitischer Strategien in dieser Frage: Die rechte Perspektive blendet aus, dass die Massenimmigration eben durchaus einer gewissen ökonomischen Notwendigkeit entspricht und müsste erst einmal aufzeigen, wie sie sich eine Aufrechterhaltung des Wohlstands der westlichen Nationen ohne dieselbe überhaupt vorstellt; die Perspektive des radikalen Linksliberalismus verdrängt, dass sie eben durchaus bestimmten Kapitalinteressen dient, die es vor allen Fragen moralischer oder politischer Bewertung erst einmal zu verstehen gelte.
Diese kulturalistische Selbstverdummung ist notwendiger Ausdruck der scheinbaren Ohnmacht, in der wir uns befinden: Der allgemeine Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrer neoliberal eingerichteten Gestalt wird mehr oder weniger fraglos hingenommen,20 Handlungsmacht allenfalls noch angesichts solcher kulturellen Fragen und moralischer Scharmützel erlebt. Insofern müssen sich Schubert und Rochedy gleichermaßen vorwerfen lassen, ihren eigenen Anspruch, eine konsequente Machtpolitik anzuregen, zu verfehlen: Sie geben sich vielmehr mit der gesetzten „kleinen Politik“ zufrieden, ohne wirklich die Dimension der von Nietzsche eingeforderten „großen Politik“, der radikalen Utopien und Alternativen,21 in den Blick zu nehmen. Sie bleiben beide in dem stecken, was Nietzsche im Zarathustra als den „Lärm der grossen Schauspieler“22 bezeichnet und mahnt: „Hin zum Throne wollen sie Alle: ihr Wahnsinn ist es, – als ob das Glück auf dem Throne sässe!“23
Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um in genau dieser Entgegensetzung von „politischen Unkorrekturen“ und „Woken“ ein Spektakel zu erblicken, das letztendlich vor allem einem nutzt: den wirklich Mächtigen. Ein banales Beispiel: Der gegenwärtige Feminismus zerfleischt sich gerade in bitter ausgetragenen, oftmals bis zu körperlicher Gewalt ausartenden, Kleinkriegen zwischen Anhängern des queeren Feminismus und des traditionellen, der von einer biologisch determinierten Wurzel von Geschlechtlichkeit ausgeht. In diesen verortet sich, wie man vermuten wird, auch Schubert in sehr polemischer und einseitiger Weise auf Seiten des queeren Feminismus24 – und wenn sich Rochedy in diesem Konflikt überhaupt positionieren würde, dürfte seine Präferenz klar sein. Doch ohne dass dieser Streit künstlich zu diesem Zweck angezettelt worden wäre, ist doch klar, dass er objektiv nur darauf hinausläuft, die feministische Bewegung zu spalten, zu schwächen und handlungsunfähig zu machen. Und dieselben Mechanismen lassen sich in allen möglichen anderen Bereichen beobachten.
Was es dagegen in Anschlag zu bringen gelte, wären kreative und lebensbejahende Visionen eines nichtkapitalistischen (und natürlich auch: nichtpatriarchalen, nichtrassistischen, mit der Natur versöhnten …) Lebens, die stark und überzeugend genug sind, die Vereinzelung und die kulturelle Spaltung, die so kennzeichnend für unsere Zeit sind, zu überwinden und die uns dazu bringen, uns auf die wirklich wichtigen Fragen – die von Nietzsche so genannten „kleinen Dinge“ zu fokussieren. Nietzsche zählt zu ihnen: „Ernährung, Ort, Clima, Erholung, die ganze Casuistik der Selbstsucht“25, die für alle Menschen wichtigen „Grundangelegenheiten des Lebens“, die der globale Kapitalismus in der heutigen Zeit stärker bedroht als jemals in der Geschichte zuvor: Selbst in den kapitalistischen Kernstaaten wie den USA und Großbritannien werden Hunger und Mangelernährung – von dem absurderweise gleichzeitigen Problem der massenhaften Obesitas ganz zu schweigen – wieder zu massenhaften Problemen,26 für die gewaltsame Aufrechterhaltung der repressiven Grenzregime werden immer größere Ressourcen aufgewandt bei stetig anwachsendem Emigrationsdruck, die Folgen des Klimawandels werden immer deutlicher, die Kulturindustrie verlagert den kapitalistischen Leistungsdruck immer mehr in unsere schwindende Freizeit „hinein“, „Selbstsucht“ ist nur erwünscht, wenn es diejenige der Reichen ist …
Ich meine damit keine irgendwie geartete Bündnispolitik, sondern eher die kognitive und vor allem auch emotionale Fokussierung auf wichtigere Fragen, als sie uns von der linken und der rechten Identitätspolitik (ob letztere nun eine „echte“ Identitätspolitik ist oder nicht) vorgegeben werden. Von einer solchen Bewegung träume ich, die linken wie auch rechten Identitätspolitiker torpedieren sie gleichermaßen.
Nietzsche schreibt in der Fröhlichen Wissenschaft hellsichtig:
Denke ich an die Begierde, Etwas zu thun, wie sie die Millionen junger Europäer fortwährend kitzelt und stachelt, welche alle die Langeweile und sich selber nicht ertragen können, – so begreife ich, dass in ihnen eine Begierde, Etwas zu leiden, sein muss, um aus ihrem Leiden einen probablen Grund zum Thun, zur That herzunehmen. Noth ist nöthig! Daher das Geschrei der Politiker, daher die vielen falschen, erdichteten, übertriebenen „Nothstände“ aller möglichen Classen und die blinde Bereitwilligkeit, an sie zu glauben. Diese junge Welt verlangt, von Aussen her solle – nicht etwa das Glück – sondern das Unglück kommen oder sichtbar werden; und ihre Phantasie ist schon voraus geschäftig, ein Ungeheuer daraus zu formen, damit sie nachher mit einem Ungeheuer kämpfen könne. Fühlten diese Nothsüchtigen in sich die Kraft, von Innen her sich selber wohlzuthun, sich selber Etwas anzuthun, so würden sie auch verstehen, von Innen her sich eine eigene, selbsteigene Noth zu schaffen. Ihre Erfindungen könnten dann feiner sein und ihre Befriedigungen könnten wie gute Musik klingen: während sie jetzt die Welt mit ihrem Nothgeschrei und folglich gar zu oft erst mit dem Nothgefühle anfüllen!27
Nietzsches Schriften würde ich, davon ausgehend, für unsere Zeit die wesentliche Lektion entnehmen, uns – jeder und jede für sich und wir alle miteinander in Dialog und Streit – die Frage zu stellen, was für uns echte Notwendigkeiten sind. Es kann nicht um die autoritäre Setzung dessen gehen, was wesentlich und unwesentlich ist, sondern darum, überhaupt in diesen Prozess einzutreten und die Frage danach aufzuwerfen. Ich bin freilich zuversichtlich, dass ein solcher Prozess, wenn er überhaupt erst einmal in Gang käme, bestimmte Antworten zu Tage fördern würde, auf die wir uns alle einigen könnten; wesentliche Menschheitsprobleme, die ganz außerhalb dessen liegen, was uns der zeitgenössische Rechts- und Links-Nietzscheanismus gleichermaßen als „drängendste“ Fragen anzupreisen versuchen. Vielleicht wäre so eine Perspektive denkbar, die wirklich jenseits von Herren- und Sklavenmoral liegt; eine „Herrenmoral der Sklaven“.
Für den Hintergrund des Artikelbilds wurde diese Photographie verwendet.
Literatur
Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 2019.
Rochedy, Julien: Nietzsche – der Zeitgemäße. Dresden 2022.
Schubert, Karsten: Lob der Identitätspolitik. München 2024.
Stephan, Paul: Links–Nietzscheanismus. Eine Einführung. 2 Bd.e. Stuttgart 2020.
Fußnoten
1: Vgl. etwa Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 358.
2: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 377.
3: Vgl. zum letzteren Aspekt meinen entsprechenden Artikel auf diesem Blog.
4: Also sprach Zarathustra, Das Tanzlied.
5: Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen.
6: Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 11.
7: Eine Minimaldefinition, die auch Schubert und Rochedy teilen. – Im heutigen Sprachgebrauch werden die Begriffe „links“ und „rechts“ leider oftmals beliebig und ausgehend von bloßen Lifestylefragen verwendet – und dann natürlich, nachdem sie bis zur Unkenntlich entleert wurden, für obsolet erklärt.
8: Ich werde auf diese Artikel nicht im Einzelnen eingehen, da das Buch in wesentlichen Teilen auf ihnen basiert. Auf der Internetseite des Autors sind sie aufgelistet.
9: So teilt Rochedy etwa unkritisch die Nietzsche’sche Familienlegende von der polnischen Herkunft des Namens (vgl. S. 22 f. & mein in Fn. 3 erwähnter Artikel), behauptet, Richard Wagner habe sich erst 1872 zum „Nationalisten, Antisemiten und christlichen Reaktionär“ (S. 35) gewandelt und stellt es so dar, dass die akademische deutsche Philosophie noch in den 1870er Jahren vom Hegelianismus und nicht etwa vom Neu-Kantianismus dominiert worden sei (vgl. S. 38).
10: Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft.
11: Vgl. S. 38.
12: In Wahrheit brach Nietzsche die Arbeit an jenem „Hauptwerk“ ab und die Verfälschungen der Schwester sind weit gravierender als Rochedy einräumt. Vgl. die entsprechenden Hinweise hier.
13: Vgl. den entsprechenden Artikel von Christian Saehrendt auf diesem Blog.
14: S. 47.
15: Wieso soll es überhaupt besonders „leibesbejahend“ sein, sich krampfhaft um die Figur eines Boxers zu bemühen? Und die gegenwärtige kulturelle Elite scheint sich mir anders als in Rochedys Darstellung eher durch ihr extremes Bemühen um „Fitness“ und Hedonismus auszuzeichnen. Wirklich leibesbejahend ist es doch wohl, sich von solchen Körperbildern frei zu machen. – Und dass Nietzsche Rochedys Idealtypus eines boxenden Intellektuellen eher nicht entsprach, ist ohnehin offensichtlich. Ein leidenschaftlicher Boxer war übrigens ausgerechnet der linke Antifaschist Jean-Paul Sartre.
16: Vgl. S. 69.
17: Vgl. S. 25. Am Ende des Buches plädiert er dann für eine Erweiterung der Identitätspolitik um die Achse class (vgl. S. 183–187).
18: Bei Schubert kommen diese Themen nur am Rande vor bzw. der Leib nur aus dem beschränkten Blickwinkel der Foucault’schen Analytik der Macht, die sein vorgesellschaftliches Eigenleben notwendig leugnen muss (vgl. auch seine erwähnte Ablehnung der Psychologie). – Rochedy spricht zwar viel von einer Rückkehr zur Leiblichkeit, doch hat damit nur den „starken“, trainierten Leib im Sinne, selbst wenn er sich von einem allzu naiven Körperkult alla Arno Breker distanziert (vgl. S. 143). Auf ökologische Themen kommt er kurz zu sprechen (vgl. S. 156 f.), doch wichtiger als eine Erwähnung des Klimawandels ist ihm dabei eine Kritik der gesundheitsschädlichen Folgen der „sogenannte[n] Antibabypille“ (S. 157).
19: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 10.
20: Rochedy bezieht sich an einer Stelle sogar lobend auf die US-amerikanische Autorin Ayn Rand, eine der wichtigsten Vordenkerinnen des radikalen Neoliberalismus (S. 142).
21: Vgl. Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 1.
22: Von den Fliegen des Marktes.
23: Vom neuen Götzen.
24: Vgl. S. 169 f.
25: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 10.
26: Im Juni 2023 waren 17 % aller Haushalte im Vereinigten Königreich von moderater bis schwerer Nahrungsunsicherheit betroffen (Quelle), in den USA 2023 13,5 % aller Haushalte von Hunger (Quelle).
27: Aph. 56.