Der Abdruck des Erziehers

Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches I

Der Abdruck des Erziehers

Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches. Teil I: Vom Jünger zum Kritiker

28.1.25
Tom Bildstein
Es ist kein Geheimnis, dass einer der wichtigsten philosophischen Bezugsfiguren für Nietzsche der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) gewesen ist. Grund genug, der Geschichte der Schopenhauer-Rezeption Nietzsches in einem zweiteiligen Artikel nachzugehen. Im ersten Teil untersucht der Schopenhauer-Forscher Tom Bildstein wie sich der junge Leipziger Philologiestudent Nietzsche erst von Schopenhauers Hauptwerk Welt als Wille und Vorstellung (1818) begeistern ließ, um sich binnen weniger Jahre zum scharfen Kritiker des Frankfurter „Miesepeters“ zu wandeln. – Die Fortsetzung folgt in Kürze.

Es ist kein Geheimnis, dass einer der wichtigsten philosophischen Bezugsfiguren für Nietzsche der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) gewesen ist. Grund genug, der Geschichte der Schopenhauer-Rezeption Nietzsches in einem zweiteiligen Artikel nachzugehen. Im ersten Teil untersucht der Schopenhauer-Forscher Tom Bildstein wie sich der junge Leipziger Philologiestudent Nietzsche erst von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) begeistern ließ, um sich binnen weniger Jahre zum scharfen Kritiker des Frankfurter „Miesepeters“ zu wandeln. – Die Fortsetzung folgt in Kürze.

Teil I: Vom Jünger zum Kritiker

Nietzsche hat den Ruf eines Freigeistes. Das Bild, das die Nachwelt von ihm gezeichnet hat, ähnelt dem eines ungebundenen, selbstdenkenden und über die Wirklichkeit autonom urteilenden Philosophen. Das Bild kann jedoch täuschen, denn ganz frei von überlieferten Weltansichten und Wertvorstellungen war Nietzsche keineswegs. Sein freier Geist musste erst einmal zur Freiheit erzogen werden. Seine philosophische Erziehung verdankt Nietzsche vor allem einer Person: dem pessimistischen Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860). Dem Autor der Welt als Wille und Vorstellung (1818) widmet Nietzsche seine dritte Unzeitgemäße Betrachtung, die er unter dem Titel Schopenhauer als Erzieher (1874) veröffentlicht. Nietzsches Dialog mit seinem Erzieher beschränkt sich allerdings nicht nur auf diese Unzeitgemäße Betrachtung: Er zieht sich durch beinahe alle seine veröffentlichten Werke und kann zudem in zahlreichen Briefen und nachgelassenen Fragmenten nachvollzogen werden. Inwieweit wurde Nietzsches Philosophie durch Schopenhauer bestimmt und worin bestehen die zentralen Divergenzpunkte dieser beiden Denker?

I. Nietzsches erste Bekanntschaft mit Schopenhauer oder das Leipziger Schopenhauer-Erlebnis

Manche Bücher liest man aus purem Zufall. Zieht uns ein Buch dabei in seinen Bann, erhält das unvermutete Leseerlebnis zeitgleich einen mystischen Schein. Es kommt einem vor, als ob die Lektüre dieses einen Buchs in Wahrheit nicht vom Zufall, sondern vom Schicksal bestimmt sei. Eine ähnlich magische Wirkung hatte die erste, eher zufällige Schopenhauer-Lektüre auf den jungen Nietzsche. Als dieser zwischen Oktober 1865 und August 1867 – das genaue Datum ist nicht bekannt – in einem Leipziger Antiquariat stand und Schopenhauers Hauptwerk, Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) in seinen Händen hielt, flüsterte ihm, nach eigener Aussage, eine „dämonische“ Stimme zu: „Nimm dir dies Buch mit nach Hause“1. Zu Hause angekommen, ließ Nietzsche sich von diesem Monumentalwerk in den Bann ziehen: „So zwang ich mich vierzehn Tage hintereinander immer erst um zwei Uhr nachts zu Bett zu gehen und es genau um sechs Uhr wieder zu verlassen. Eine nervöse Aufgeregtheit bemächtigte sich meiner“ (ebd.).

Das Leipziger Leseerlebnis machte Nietzsche unverzüglich zum Schopenhauerianer. Der junge Student der klassischen Philologie fand sich in diesem Lebensabschnitt, d. h. mit Mitte 20, in den Texten Schopenhauers wieder. „[H]ier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt[,] Leben und eigen Gemüt in entsetzlicher Großartigkeit erblickte“ (ebd.), schreibt er in dem Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre (1867/68). Nietzsche wird sich von der Schopenhauerschen Philosophie, vor allem von ihrem Kernstück, der Willensmetaphysik, in seiner ersten Schaffensperiode, bis Mitte der 1870er Jahre, welt- und lebensanschaulich führen lassen. „[S]eitdem Schopenhauer uns die Binde des Optimismus vom Auge genommen“, schreibt Nietzsche 1866 in einem Brief an seinen Freund Hermann Mushacke, „sieht man schärfer. Das Leben ist interessanter, wenn auch häßlicher“2.  

II. Die Geburt der Geburt aus dem Geiste der Schopenhauerschen Metaphysik

Die Autorität Schopenhauers wird Nietzsche in seinen jungen Jahren nicht nur als Menschen, sondern auch als Philosophen bestimmen. Sein philosophisches Erstlingswerk, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), ist sowohl terminologisch als auch ideologisch durch Schopenhauers Philosophie tief geprägt. Die Geburt, die in ihrer zweiten Auflage von 1886 den Untertitel: Griechenthum und Pessimismus erhielt, kann als der Versuch Nietzsches verstanden werden, zum einen seine Gräkophilie, zum anderen seine Begeisterung für die Willens- und Musikmetaphysik Schopenhauers und ihrer kompositorischen Umsetzung durch Wagner dialektisch zu vereinen und gegeneinander auszuspielen. Den „ungeheure[n] Gegensatz“3 des Apollinischen mit dem Dionysischen, den Nietzsche zum zentralen Thema dieser Schrift macht, findet er im Schopenhauerschen Hauptwerk in der Opposition von Wille und Vorstellung vorgebildet. Die Musik wird Nietzsche „nach der Lehre Schopenhauer’s“, wie er selbst in der Geburt schreibt, insofern als die „Sprache des Willens“4 verstehen.

Nietzsches Begeisterung für seine Metaphysik und Ästhetik schlug jedoch zu keiner Zeit, wie der US-amerikanische Philosoph Paul Swift in Becoming Nietzsche (2005) – einer zwar älteren, aber immer noch sehr lesenswerten und kompakten Studie zu den frühen Inspirationsquellen Nietzsches5 – richtig anmerkt, in eine Apologetik der Schopenhauerschen Philosophie um. Nietzsche bedauert später selbst, dass er in seiner ersten philosophischen Schrift „mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Wertschätzungen auszudrücken suchte, welche dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, von Grund aus entgegen gingen!“6. Die Tatsache, dass er den ästhetischen und erkenntnistheoretischen Zugang zur Welt zu dieser Zeit nur mittels der durch Kant und Schopenhauer vererbten Begriffe zu denken vermochte, hinderte ihn daran, die Neuartigkeit seiner eigenen Betrachtungen zu erkennen. Um sein Denken frei entfalten und zu einer neuen Größe zu verhelfen, musste sich Nietzsche zunächst einmal kritisch mit diesem Grundgerüst auseinandersetzen.

III. Vom Erzieher zum philosophischen Gegner

Mit Schopenhauer als Erzieher veröffentlicht Nietzsche 1874 den dritten Teil seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen. Es handelt sich dabei um die einzige Schrift, die er seinem „erste[n] philosophische[n] Lehrer“7 direkt widmet. Schopenhauer wird in diesem Text, wie in beinah allen seinen Schriften bis dahin, noch überwiegend in das positive Licht eines „Vorbilds“ gestellt. Es ist allerdings das letzte Mal, dass Nietzsche einen rundum schonenden Umgang mit seinem „Erzieher“ haben wird. In Schopenhauer als Erzieher gibt sich Nietzsche noch als ein treuer Leser seines Meisters: „Ich gehöre zu den Lesern Schopenhauers, welche[,] nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, dass sie alle Seiten lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat“8. Diese besondere Faszination für die Schopenhauer wird er in dieser Schrift durch ihren „aus drei Elementen gemischten“ Eindruck: „seine[] Ehrlichkeit, seine[] Heiterkeit und seine[] Beständigkeit“ (ebd.) erklären.  

In Schopenhauer als Erzieher macht sich somit eine Wende in der Nietzsche-Schopenhauer-Beziehung bemerkbar. Das Interesse, das bis dahin eher seiner Philosophie galt, gilt jetzt mehr Schopenhauer als Philosophen und Menschen. Am 19. Dezember 1876 behauptet Nietzsche in einem Brief an Cosima Wagner, er „stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner [Schopenhauers; TB] Seite; schon als ich über Sch. schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hinweg sei; mir lag alles am Menschen9. Nietzsche ist zu dieser Zeit besonders von Schopenhauers außerakademischen Karriere und seiner Verachtung der unfreien und unauthentischen Universitätsphilosophie angetan. Er sieht die Rolle des neuen, durch Schopenhauer gegen seine Zeit erzogenen Philosophen darin, „der Richter der ihn umgebenden sogenannten Kultur“10 zu werden. Um dieser Devise in aller Konsequenz folgen zu können, ist Nietzsche nun bestrebt, seine eigene Integrität als Philosoph unter Beweis zu stellen. Das bedeutet allerdings auch, dass er, als unbeugsamer Richter der ambienten Kultur, Schopenhauers „gefährlichen“ Einfluss auf sie anprangern werden muss.  

IV. Nietzsche contra Schopenhauer

Dass Nietzsche nicht nur die Fähigkeit hat, sich mit Hingabe für einzelne Ideen und Denker zu begeistern, sondern auch dazu in der Lage ist, ehemals hochgeachtete Autoren und Gedanken nachher intensiv zu kritisieren, lässt sich spätestens aus seinen polemischen Schriften11 gegen seinen zweiten Erzieher12, dem Schopenhauerianer Richard Wagner, ableiten. Seine beiden Meister betreffend hofft Nietzsche, wie man in seinen nachgelassenen Fragmenten von 1884 lesen kann, dass die kommenden, ihrer Zeit und Kultur überlegenen Menschen, „endlich so viel Selbstüberwindung haben [werden], um den schlechten Geschmack für Attitüden und die sentimentale Dunkelheit von sich abzuthun, und gegen Richard Wagner ebenso sehr als gegen Schopenhauer <sich wenden>“13.  

Der Haltungswandel Nietzsches zu seinen Erziehern mag auf den ersten Blick überraschen: Lehnt er nun vollständig die Wurzeln seines eigenen Denkens ab? So radikal verfährt Nietzsche nun doch nicht. Schopenhauer und Wagner werden nicht einfach aus seinem Geist gestrichen: Statt mit ihnen zu denken, denkt Nietzsche nun gegen sie. Seine beiden Erzieher wird er sozusagen zu den idealen Widersachern – er nennt sie 1888 in einem Brief an den dänischen Essayisten Georg Brandes (1842–1927) seine „antagonistischen Meister“14 – seines eigenen kultur- und lebensphilosophischen Denkens ernennen. Schopenhauer wird darüber hinaus eine wichtige Rolle bei den terminologischen Überlegungen Nietzsches spielen, insofern die Grundbegriffe der Philosophie seines Erziehers den Ausgangspunkt der Festlegung der zentralen Termini seines eigenen Denkens ausmachen werden.

Fortsetzung folgt ...

Tom Bildstein (geb. 1999) lebt in Brüssel und ist seit 2023 Doktorand der Philosophie an der Université libre de Bruxelles (ULB). Er schreibt zurzeit an einer Dissertation in Französisch über die „Wege des Willens“ in der Philosophie Arthur Schopenhauers. Er ist darüber hinaus Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft und beschäftigt sich intensiv mit dem Problem des Dinges an sich bei Kant und Schopenhauer, das zugleich das Thema seiner Masterarbeit und eines mit Raphael Gebrecht (Bonn) geführten und im Blog der Schopenhauer-Gesellschaft veröffentlichten Gesprächs (Das Problem des Dinges an sich, 2023; Link) war. Zudem ist er Autor eines wissenschaftlichen Artikels: Nietzsche et „la grande erreur fondamentale de Schopenhauer“ (erschienen in der Zeitschrift Voluntas: Revista Internacional de Filosofia, 2024). 2024 gewann er den Essaypreis der Schopenhauer-Gesellschaft mit seiner Einreichung Der Mut zum Idealismus. Schopenhauers kompendiarischer Kantianismus.

Quellen

Nietzsche, Friedrich: Rückblick auf meine Leipziger Jahre. In:  Werke in drei Bänden. Autobiographisches aus den Jahren 1856–1869. München 1954. Link.

Swift, Paul A.: Becoming Nietzsche. Early Reflections on Democritus, Schopenhauer and Kant. Lanham 2005.

Quelle zum Artikelbild

Photographie Schopenhauers vom 3. 9. 1852, Link

Fußnoten

1: Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre.

2: Brief v. 11.07.1866; Nr. 511.

3: Die Geburt der Tragödie, 1.

4: Die Geburt der Tragödie, 16.

5: Vgl. insb. das zweite Kapitel derselben, „Nietzsche on Schopenhauer in 1867“.

6: Die Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik, 6.

7: Schopenhauer als Erzieher, 4.

8: Schopenhauer als Erzieher, 2.

9: Bf. Nr. 581 (Herv. d. Verf.).

10: Schopenhauer als Erzieher, 8.

11: Der Fall Wagner (1888) und Nietzsche contra Wagner (1889)

12: In einem Brief vom 13. Dezember 1875 an seinen lebenslangen Freund Carl von Gersdorff stellt Nietzsche Schopenhauer und Wagner zusammen als seine Erzieher dar (vgl. Bf. Nr. 495).

13: Fragment Nr. 26[462].

14: Bf. v. 19.02.1888; Nr. 997.