Nietzsche gegen die Körperleugner
Ein Gespräch mit dem Philosophen und Youtuber Jonas Čeika
Nietzsche gegen die Körperleugner
Ein Gespräch mit dem Philosophen und Youtuber Jonas Čeika
Nachdem er auf unserem Blog bereits das Buch How to Philosophize with a Hammer and Sickle und den Youtube-Kanal von Jonas Čeika besprach (CCK Philosophy) (Link) interviewte Henry Holland den US-Amerikaner über die Blockaden der akademischen Philosophie, Nietzsches Relevanz als Denker am „Leitfaden des Leibes“ und über Spannungen zwischen seinem Anspruch als Antiphilosoph und seiner sozialen Position.
Henry Holland: Jonas, könntest du den Lesern hier in Deutschland und der Schweiz, die deinen einflussreichen philosophischen Youtube-Kanal vielleicht nicht kennen, etwa über deinen Werdegang erzählen und wie es dazu kam, dass du nun über Nietzsche und die Linke schreibst und aufklärst? In deinem 2021 erschienenen Buch How to Philosophize with a Hammer and Sickle, das bislang leider noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, gehst du die Frage nach, warum die heutige akademische Philosophie so sehr von einem entpersonalisierten Ansatz dominiert ist. Und du verfolgst sogar diesen Trend bis in die 1950er Jahre zurück, als „[Senator Joseph] McCarthys akademische Handlanger [...] die akademische Philosophie von der ehrgeizigeren Aufgabe eines kritischen und reflektierten Selbstverständnisses abdrängten.“1 Hier wurde eine entpersonalisierte Philosophie absichtlich als Methode eingesetzt, um das Risiko einer linken „Subversion“ der Akademie zu verringern. Siehst du auch deine Entscheidung vor sechs Jahren, deine Zeit in den Aufbau deines inzwischen viel beachteten Youtube-Kanals zu investieren, anstatt einer konventionellen akademischen Karriere den Vorzug zu geben, in dem gleichen Kontext? Hing die Entscheidung mit deinem Verständnis davon ab, wie die akademische Philosophie die Menschen heute im Stich lässt?
Jonas Čeika: Ich habe während meines Bachelor-Studiums in Philosophie an der NTNU [Technisch-Naturwissenschaftliche Universität Norwegens] mit meinem Youtube-Kanal angefangen. Damals interessierte ich mich sowohl für linke Politik als auch für die im 20. Jahrhundert geschriebene Kulturtheorie — und mein Kanal fing erst dann an populär zu werden, als ich eine Video-Antwort auf Jordan Petersons Verständnis der postmodernen Philosophie produzierte.2 Ohne das Wissen und die Erkenntnisse, die ich in der akademischen Welt sammelte, wäre mein Kanal mit Sicherheit unmöglich gewesen, denn erst dort beschäftigte ich mich mit Politischer Philosophie und mit Kulturtheorie.
Dennoch frustet es mich, diese Neigung zu einer hyperfokussierten thematischen Konzentration in der akademischen Philosophie – ein Symptom für den allgemeinen Trend zur Spezialisierung in der spätkapitalistischen Arbeitsteilung. Die überwältigende Flut an verfügbaren Informationen zwingt Wissenschaftler·innen dazu, sich auf ein sehr begrenztes Fachgebiet zu spezialisieren. Sicherlich ist das oft ein notwendiger Schritt; aber mit der Reduzierung aller Wissenschaftler·innen auf ihre Rolle als hochgradig abgegrenzte Spezialist·innen bleibt wenig Raum für Analysen der gesellschaftlichen Totalität und der breit angelegten sozialen Verhältnisse, wie sie von Marx und Nietzsche durchgeführt wurden. Diese zwei Persönlichkeiten unterlagen den üblichen akademischen Zwängen nicht. Die Spezialisierung geht oft auf Kosten des größeren Zusammenhangs.
Ein bedeutungsvolleres Problem ist jedoch die Abschottung der akademischen Intellektuellen von der breiteren Gesellschaft. Auch hier stellen Nietzsche und Marx Ausnahmen dar, aber selbst hoch akademische Philosophen der frühen Moderne, wie etwa Kant und Hegel, hatten immensen Einfluss auf das Denken der breiteren Gesellschaft. Heutzutage erreichen Philosoph·innen nur noch selten diese Art von Einfluss, und wenn sie ihn haben, dann oft aufgrund von Faktoren außerhalb der akademischen Welt. In den 2020er Jahren tendieren Wissenschaftler·innen — teilweise aufgrund der oben erwähnten sehr engen Schwerpunktsetzung — immer mehr dazu, fast nur noch für andere Wissenschaftler·innen zu schreiben. Spezialist·innen schreiben also vor allem für andere Spezialist·innen. Dadurch entstehen umzäunte akademische Blasen, in die Menschen ohne höheren Universitätsabschluss nur schwerlich irgendeinen Eingang finden können. Wenn man aber über die Schriften von Philosoph·innen forscht, die eine umfassende Umgestaltung der Gesellschaft oder der Kultur anstrebten, denn wirkt es wie eine Verfälschung, wenn man ihr Werk lediglich zum Gegenstand einer akademischen Nische verkommen lässt. Theorie mittels Youtube zu präsentieren ermöglichte es mir, Millionen von Menschen zu erreichen, was in der gewöhnlichen, formellen Rolle eines Wissenschaftlers höchst unwahrscheinlich gewesen wäre. Darüberhinaus befreite dieses Medium mich von den akademischen Zwängen einer einengenden Spezialisierung. Das soll nicht heißen, dass Youtube nicht seine eigenen Zwänge und Fallgruben hat, beispielsweise aufgrund des dort verwendeten Algorithmus’ oder aufgrund der anderen Mechanismen, welche die Reichweite einzelner Videos bedingen. Aber die Möglichkeit, ein größeres Publikum als sonst zu erreichen, gab mir dennoch einen anderen Sinn für die Bedeutung meiner philosophischen Studien, als ich ihn sonst gehabt hätte.
HH: Das Erscheinen von Domenico Losurdos monumentaler intellektueller Biografie Nietzsches 2020 in englischer Übersetzung war ein schwerwiegendes Ereignis der neueren anglophonen Nietzsche-Forschung und lag nur ein Jahr vor der Veröffentlichung deines eigenen Buches. (Die deutsche Übertragung, Nietzsche, der aristokratische Rebell, kam bereits 2012 im Argument Verlag heraus.) Auch wenn du dich nicht direkt mit Losurdos Argumenten in deinem Buch auseinandersetzt – da diese in der Hauptphase deines Schreibens an dem Buch ja noch nicht zur Verfügung standen –, hat Losurdos Arbeit denn in der Zwischenzeit doch Veränderungen in deiner Art Nietzsche zu lesen bewirkt?
JC: Sekundärliteratur zu Nietzsche gibt es ohne Ende. Als Losurdos Buch mir erstmals gewahr wurde, war ich bereits in der Endphase meines Schreibens und hatte nicht die Zeit, eine Replik an Losurdo auf organische Weise in meinem Buch zu integrieren.
Ich bewundere die Nietzsche-Forschung von Losurdo, finde sie aber gleichzeitig ziemlich reduktiv. Jeder Philosoph ist eine Art Vielheit, die aus verschiedensten Blickwinkeln angegangen werden kann, und was als wesentlich oder eben zufällig bezüglich einer Philosophie eingestuft wird, hängt von dem Blickwinkel ab, den man zu einem bestimmten Zeitpunkt einnimmt. Losurdo versucht, Nietzsche auf einen solchen Ausgangspunkt zu reduzieren, nämlich auf seine Ablehnung des Sozialismus und der Politik der Arbeiterklasse. Sicherlich ist das ein produktiver Gesichtspunkt, aber keineswegs der einzige, und durch eine solche Reduktion geht immer etwas verloren, besonders bei einem so facettenreichen Philosophen wie Nietzsche. Ein Beispiel: Losurdo kontextualisiert Nietzsches Werdegang im Lichte seiner Reaktion auf die Pariser Kommune, die nach Losurdos Ansicht allen seinen späteren Werken einen im Wesentlichen antisozialistischen Charakter verlieh. Die Idee ist, dass der Antisozialismus nicht nur einer von vielen Aspekten seines Werks ist, sondern die Grundlage für alle reifen Werke Nietzsches darstellt. Aber das greift zu kurz. In einem von Nietzsches Notizbüchern aus dem Jahr 1877, das er einige Jahre nach den Ereignissen der Pariser Kommune schrieb, äußerte sich Nietzsche, wahrscheinlich aufgrund seiner Freundschaft mit Malwida von Meysenbug, positiv über den Sozialismus, den er als „die höchste Moralität” beschrieb.3 Zu der Zeit verwendete er den Begriff „Moralität“ nicht in einem pejorativen Sinne. Von Losurdos Standpunkt aus kann diese Notiz nur als inkohärent oder inkonsistent mit seinem restlichen Werkkorpus abgelehnt werden, aber genau das macht einen solchen Ansatz reduktiv. Er ist eben nur einer von mehreren möglichen Blickwinkeln und kann deswegen die Bedeutung, die Wirkung und die Verwendungsmöglichkeiten von Nietzsches Schriften nicht vollständig erfassen.
Die Gesamtheit Nietzsches Philosophie als eine spezifisch antisozialistische Philosophie darzustellen ist mehr als nur reduktiv. Sie schränkt außerdem auch neue und kreative Möglichkeiten ein, die Nietzsches Werke bieten. Wie ich an anderer Stelle beschrieb, ist mein Nietzsche-Buch eher als Ereignis und weniger als Darstellung intendiert. Und die Ereignisse, die seine Schriften hervorbringen können, übersteigen bei weitem ihren ursprünglichen politischen Kontext.
HH: Schon früh in Hammer and Sickle kennzeichnest du Nietzsche als einen Philosophen der individuellen, menschlichen Körper. Du schlägst vor, dass diese Schwerpunktsetzung Nietzsche zu einer Ausnahme unter den kanonischen, westlichen Philosophen macht, die den Körper mehrheitlich ignoriert oder schlechtgeredet haben. Und obwohl du darauf hinweist, dass französische Philosophen, im Nachspiel zu 1968, den Körper doch erfolgreich in die Philosophie hineingeholt haben, betonst du auch, wie die angloamerikanische Tradition diese Innovation weitgehend übersehen hat. Du porträtierst diese letztere Tradition als eine, in der der Körper selten als Mittelpunkt des Handlungsvermögens bzw. des agency verstanden wird. Magst du etwas zu den Schnittstellen zwischen Nietzsche, dem Körper und agency erzählen? Und auch etwas darüber wie reagiert wird, wenn du Nietzsche als Philosophen des Körpers in zeitgenössische Polemiken und Debatten einführst? Beispielsweise ist die Trans*politik, die primär an Universitäten des Globalen Nordens ausgefochten wird, u. a. auch eine Politik des Körpers. Wie bringst du dieses Phänomen im Einklang mit deinem Verständnis, dass das anglophone universitäre Milieu weiterhin den Körper als solchen marginalisiert?
JC: Obwohl der Körper in breiten Teilen der angloamerikanischen academia durchaus theoretisiert wird, ist es von Belang, dass ein Großteil dieses Theoretisieren aus literary theory departments4 oder Soziologie-Instituten stammt, nicht aus Instituten für Philosophie. Manchmal stammt dieses Theoretisieren sogar aus Fakultäten für Kunst oder aus politischem Aktivismus auf Unigeländen. Viele Veränderungen sind auch in den behäbigen Philosophie-Instituten anzutreffen. Aber unter angloamerikanischen Philosophinnen und Philosophen gibt es immer noch einen großen Rückhalt für die Idee, dass Philosophie schlussendlich ein unkörperliches Unternehmen ist. Viele Fachbereiche, die auf anglophone, analytische Philosophie konzentriert sind, agieren weiterhin intellektuell ziemlich beschränkt – mindestens bezüglich welcher Stil und welche Inhalte überhaupt zugelassen werden.
Der Trans-Kampf ist deswegen interessant, weil er als Schnittstelle zwischen Körper und „Gender“ zu deuten ist: Gender verstanden hier sowohl als einen Satz gesellschaftlicher Geschlechtsnormen als auch als eine Ideologie. Dieser Kampf ist besonders fruchtbar, wenn er mit materiellen Anliegen, und Anliegen bestimmter sozialen Klassen, in Beziehung gesetzt wird. Beispielsweise wenn es um den Zugang zur Gesundheitsvorsorge und zu Wohnraum für Trans-Menschen geht. Hier fungiert der Körper als eine Art Übertrager, um die gesellschaftliche Situation metaphorisch darzustellen, welcher das Partikularinteresse (Gender-Identität) mit universalen Interessen (das Bedürfnis nach Gesundheit und Obdach) verknüpft.
HH: Sowohl für dich als auch für Linke, die auf „der anderen Seite“ der Nietzsche-Debatte stehen, bleibt es aufschlussreich, was dieser Philosoph uns über Lohnarbeit und die Anliegen spezifischer Klassen erzählen kann. Du resümierst, zum Beispiel, dass Nietzsches Rente – von der Universität Basel ab dem fünfunddreißigsten Lebensjahr bezogen, nachdem er krankheitsbedingt seine Stelle dort verließ –, es „ihm ermöglichte, den Rest seines Lebens zu verbringen, ohne Lohnarbeit oder Kommerz betreiben zu müssen.“5 Außerdem legst du nahe, dass diese Position „außerhalb“ des Lohnarbeitssystems und der Geschäftswelt ihm außerordentliche Einsichten ermöglichte. Sue Prideaux, Autorin der 2018 erschienenen Nietzsche-Biografie I am Dynamite!, weist jedoch darauf hin, dass Nietzsche lediglich sechs Jahre lang, also bis 1885, diese Rente empfing, und dass sie substantiell, jedoch kein Vermögen war: 3.000 Schweizer Franken jährlich.6 Diese eingegrenzte Bezugszeit veranlasste William Schaberg zu der These, dass das Schreiben für Nietzsche doch eine Lohnarbeit war, die er kommerziell vorantrieb.7 Seine Hauptverleger, Ernst Schmeitzner und E. W. Fritzsch, zahlten Nietzsche ein Pauschalhonorar von gewöhnlich 30 oder 40 Reichsmark pro Druckbogen, zusätzlich zu seinen Tantiemen aus den spärlichen Verkäufen.8 Dieses Stückarbeitshonorar, welche das Äquivalent von circa 37 Franken derselben Zeit, oder grob gerechnet über 1% seiner Jahresrente darstellte, bot Nietzsche, so Schaberg, einen großer Anreiz zum Schreiben. Nietzsches „magere Verkaufszahlen“ waren zudem auch weitaus höher als die der meisten US-amerikanischen oder deutschen Universitätsphilosophen zu ihren Lebzeiten im 21. Jahrhundert: 22.900 Exemplare von Nietzsches Werken wurden bis 1893 verkauft.9
Tragen solche Missverständnisse zu einer Fehlcharakterisierung Nietzsches als ein außerordentlich privilegierter Mensch bei, der von den Einschränkungen der Lohnarbeit nicht betroffen war? Und magst du dich zu Daniel Tutts Behauptung positionieren, dass Nietzsche vordergründig an
eine Klasse von Lesern appelliert, die ein ambivalentes und oft abschätziges Verhältnis zur Arbeiterklasse und zum Klassenkampf im weiteren Sinne haben. Nietzsche neigt dazu, diejenigen anzusprechen, die kollektiv in der marxistischen Klassentheorie als das Kleinbürgertum bezeichnet werden, und die eine widersprüchliche Klassenposition einnehmen, die durch ihre Nicht-Beziehung zur produktiven Arbeit definiert ist.10
Diese Behauptung steht augenscheinlich im Widerspruch zur Umfrage, die 1897 für die Leipziger Arbeiterlesesaal durchgeführt wurde. Diese ergab, dass Nietzsches Texte weitaus häufiger von Arbeiterinnen und Arbeitern ausgeliehen wurden als die von Marx, Lassalle und Bebel.11 Schaden solche zwanghaften innerlinken Debatten, welche produktive gegen nicht-produktive Arbeit ausspielen, dem Aufbau breiterer Allianzen für die Aufhebung des Kapitalismus? Und könntest du dieselbe Debatte wieder auf Nietzsche zurückführen?
JC: Es stimmt, Nietzsches Rente lief bei weitem nicht bis zu seinem Lebensende. Aber als er ab 1885 keine weiteren Zahlungen erhielt, hatte er lediglich drei Jahren seiner Karriere als Autor mit regelmäßigen Veröffentlichungen vor sich. Wir können also doch sagen, dass der Großteil seiner Karriere von seiner Rente mitgetragen wurde — und dass diese privilegierte Position zum sozial distanzierten Charakter vieler seinen Schriften beitrug. Selbst nachdem seine Rente auslief, wurde er von Freunden und seiner Familie finanziell unterstützt. Er musste sich also nie ernsthafte Sorgen um sein Auskommen machen.
Aus seiner persönlichen Perspektive ist es wohl wahr, dass Nietzsche mehr als nur symbolische Summen vom Bücherverkauf verdiente. Dennoch blieben diese Verkaufszahlen gelegentlich so dürftig, dass sein Werk kein Interesse bei den Verlegern erwecken konnte. So etwa beim vierten Teil vom Zarathustra, den seinen Verleger nicht interessierte, weil er die kommerziellen Chancen des Buches als arg niedrig einstufte. Deswegen legte Nietzsche immer wieder sein eigenes Geld im Verlegen seiner Bücher an. Und er schickte in der Regel kostenlose Exemplare an einen kleinen Kreis ihm persönlich bekannter Leser·innen. Es zeugt vom Wert, den er seinen Schriften beimaß, dass er bereit war Geld zu verlieren, um sie in Umlauf zu bringen.
Obwohl ich nicht bezweifle, dass Nietzsches Tantiemen für ihn persönlich von großer Bedeutung waren, es handelte sich dabei sicherlich nicht um eine Kapitalanlage. Aus diesen Gründen würde Nietzsche sicherlich nicht als produktiver Arbeiter im strengen marxistischen Sinne gelten – obwohl er als Warenhändler betrachtet werden könnte! Das macht aber seine Arbeit keineswegs weniger bedeutend. Vielleicht sogar im Gegenteil. Seine sehr unkonventionelle Schriftstellerei erforderte ein hohes Maß an Unabhängigkeit und profitierte davon, dass sie weder für die Verlage unbedingt profitabel war noch vom Kapital in Auftrag gegeben wurde.
Wie du richtig anmerkst, kann Daniel Tutts Behauptung der dominanten Kleinbürgerlichkeit von Nietzsches ersten Lesern angesichts dessen, wie beliebt Nietzsches Werken unter den Arbeitern waren, so nicht standhalten. Ich bezweifele auch die Gültigkeit von Tutts Kennzeichnung des Kleinbürgertums als einer Klasse, die in einer „Nicht-Beziehung zur produktiven Arbeit“ steht. Das Kleinbürgertum ist sehr wohl in der Lage, produktive Arbeit zu verrichten, und kann sich daher genauso auf diese beziehen wie das Großbürgertum.
In anglophonen marxistischen Kreisen wird gerade recht hitzig über produktive im Gegensatz zur unproduktiven Arbeit debattiert. Die schädlichste Art, diese Diskussion zu führen, ist die moralisierende, die diese ökonomischen Kategorien zu Werturteilen verklärt. Das verwandelt sie von Kategorien, mit den Marx und Engels die Funktionsweise des Kapitalismus erklärt haben, in Kategorien moralischer Bewertung. Dies führt oft zu einer reaktionären Verdinglichung der Lohnarbeit. Produktive Arbeiterinnen und Arbeiter sind diejenigen, die Mehrwert schaffen — nicht weniger, aber auch nicht mehr. Das hat nichts mit Kategorien der Gerechtigkeit oder der Vornehmheit zu tun. Und sogenannte nicht-produktive Arbeiter, ebenso wie Arbeitslose, spielen in vielen Fällen eine positive Rolle im Klassenkampf und in der emanzipatorischen Politik.
HH: Um unseren vielen Gesprächsfäden zusammenzuführen: Betrachtest du Philosophie und andere Peer-to-Peer-Bildung, die über YouTube-Videos vermittelt wird, als einen Mikrokosmos des Akzelerationismus? Könnte dieses Medium die traditionellen Widersprüche des Lernens in kapitalistischen Gesellschaften überwinden? Bis heute üben eine winzige Anzahl festangestellter Professoren einen großen Einfluss auf die philosophischen und auch auf gesellschaftspolitischen Debatten aus. Während die meisten Studierende und Laien diese Diskurse, mittels derer sie sich bilden sollen, als solche erleben, in denen sie niemals eine Stimme haben können – und die sie daher nicht zu beherrschen brauchen. Kannst du über deine Erfahrungen mit dem Aufbau deiner Patreon-Community von mittlerweile rund 1.000 Mitgliedern sprechen, die ein oder fünf oder zehn Dollar monatlich beitragen, um dir deinen Lebensunterhalt zu sichern während deiner umfangreichen Arbeit bei der Recherche und Produktion der Videos? Wie würdest du dieses Modell mit Nietzsches eigenen Erfahrungen und Strategien beim Aufbau seiner Lesergemeinschaft vergleichen? Sind die intellektuellen Freiheiten, die dir dieses Arbeitsmodell bietet, deine primäre Motivation für die Wahl? Oder bist du vor allem durch die erfahrene Möglichkeit motiviert, Hunderttausende mehr Menschen erreichen zu können, als du sie in einer traditionellen Rolle als Hochschullehrer oder Professor erreicht hättest?
JC: In Hammer and Sickle bezeichne ich das „technologische Erhabene“ als ein neues Potenzial, das uns der Kapitalismus zur Verfügung gestellt hat.12 Und ich zweifle nicht daran, dass die dadurch ermöglichte Geschwindigkeit der Kommunikation unglaublich wertvoll ist und selbst unter den gegenwärtigen katastrophalen Bedingungen neue pädagogische, kulturelle und ästhetische Möglichkeiten eröffnet hat – einschließlich neuer Räume für Philosophie und Theorie, die nicht an ein Territorium oder eine akademische Institution gebunden sind. Man kann meine Patreon-Community mit Nietzsches Lesergemeinschaft vergleichen, aber sie unterscheiden sich eindeutig durch die Geschwindigkeit des Feedbacks und das Tempo der Interaktion zwischen Autor und Publikum. In manchen Situationen sogar durch die diffusere Grenze zwischen Sender und Empfänger, die zeitweilig aufgehoben wird. Bei der Arbeit im Internet gefällt es mir recht gut, dass ich die Gedanken und Diskussionen, die meine Beiträge einleiten, sofort mitverfolgen kann. Diese dienen wiederum als Inspirationen für neue Videos. Deswegen sehe ich mich als viel stärker von meinem Publikum beeinflusst und weniger von ihm isoliert als Nietzsche, was sowohl positive als auch negative Konsequenzen mit sich bringt.
Schon vor der Entwicklung des Internets stellten sich einige Gesellschaftstheoretiker eine künftige horizontale Form der Kommunikation und des kulturellen Austauschs vor, in der die Grenze zwischen Sender und Empfänger zugunsten der sozialen Gegenseitigkeit aufgehoben würde. Das Internet hat dies in größerem Umfang als je zuvor möglich gemacht. Dieses gesamte emanzipatorische Potenzial wurde jedoch blockiert und auf einige mächtige multinationale Konzerne konzentriert, die im Bündnis mit verschiedenen Regierungen all dieses immense Potenzial auf Werbung, das Sammeln von Daten und Überwachung ausgerichtet haben. Ich denke, wir können uns kaum vorstellen, welche Möglichkeiten ein sozialisiertes Internet noch für uns kreieren könnte.
Jonas Čeika ist ein in Norwegen lebender Schriftsteller. Er hat Philosophie an der NTNU (Technisch-Naturwissenschaftliche Universität Norwegens) studiert und 2018 hat den „CCK Philosophy“ Kanal auf Youtube gegründet, der nun von über 283.000 Interessierten abonniert wird. Weiterhin ist Čeika als Drehbuchautor und Produzent für seinen Kanal tätig. Neben zahlreichen Videos, in denen es um die Schnittstellen zwischen Politik, Philosophie und Kritischer Theorie geht, gehört zu seinen Buch- und anderen Publikationen How to Philosophize with a Hammer and Sickle: Marx and Nietzsche for the Twenty-First Century (London 2021).
Henry Holland (geb. 1975) ist Literaturübersetzer, aus dem Deutschen ins Englische, und lebt in Hamburg. Darüber hinaus schreibt und forscht er zur Ideen- und Kulturgeschichte und veröffentlichte 2023 zu Ernst Bloch und Rudolf Steiner in German Studies Review. Zusammen mit dem Religionswissenschaftler Aaron French (Universität Erfurt), arbeitet er an einer kritischen, englischsprachigen Steiner-Biographie. Mehr zu Hollands wissenschaftliche Arbeit und Kulturpolitik erfährt man auf seinem Blog, German books, reloaded, oder in Print-Zeitungen. Er ist Mitglied und im Vorstand vom Hamburger writers’ room: Der Arbeitsraum für literarisch Schreibende in Europa.
Quellen
Čeika, Jonas: How to Philosophize with a Hammer and Sickle. Nietzsche and Marx for The Twenty-First Century. London 2021.
Pfannkuche, August: Was liest der deutsche Arbeiter? Aufgrund einer Enquete beantwortet. Tübingen 1900.
Prideaux, Sue: I am Dynamite! A Life of Nietzsche. London 2018.
Schaberg, William: The Nietzsche Canon. A Publication History and Bibliography. Chicago 1995.
Tutt, Daniel: How to Read Like a Parasite. Why the Left Got High on Nietzsche. London 2024.
Fußnoten
1: Čeika, How to Philosophize, S. 40.
2: Anmerkung HH: Čeikas „Peterson“-Video wurde seit seiner Veröffentlichung im Jahr 2018 über ein Million Mal angeklickt.
3: Anmerkung HH: Der vollständige Satz von Nietzsche lässt allerdings auch gegensätzliche Lesarten offen: „Der Socialismus [sic] beruht auf dem Entschluss die Menschen gleich zu setzen und gerecht gegen jeden zu sein: es ist die höchste Moralität“ (Nachgelassene Fragmente 1876, Nr. 21[43]).
4: Anmerkung HH: nicht identisch mit deutschsprachigen literaturwissenschaftlichen Fakultäten, aber ähnlich.
5: Čeika, How to Philosophize, S. 71.
6: Vgl. Prideaux, Dynamite, Kapitel 10, E-Book-Location 16.55.
7: Schabergs Buch enthält zahlreiche Beispiele dafür, wie Nietzsche das Honorar für jede Publikation mit seinen Verlegern neu aushandelte und wiederholt Unzufriedenheit mit der Höhe der Honorare ausdrückte. Vgl., um nur zwei solche Beispiele zu erwähnen, The Nietzsche Canon, S. 48 und 56.
8: Zum Beispiel schrieb Schmeitzner Nietzsche am 21. 9. 1883 (vgl. Schaberg, The Nietzsche Canon, S. 96), dass er 40 Reichsmark für jeden der 7,5 Druckbogen erhalten sollte, die „Zarathustra II“ enthalten würden. Es hilft an dieser Stelle sich zu vergegenwärtigen, dass ein Druckbogen im Allgemeinen 16 Buchseiten umfasste.
9: Für weitere Informationen über den Verkauf von Nietzsches Büchern, siehe die Rezension von Schabergs Buch hier.
10: Daniel Tutt, How to Read Like a Parasite, S. 153.
11: Vgl. August Pfannkuche, Was liest der deutsche Arbeiter?
12: Vgl. Čeika, How to Philosophize, S. 209.