Der Wille zum Kommentar
Ein Bericht über die diesjährige Tagung der Nietzsche-Gesellschaft
Der Wille zum Kommentar
Ein Bericht über die diesjährige Tagung der Nietzsche-Gesellschaft
Der fast vollständig vorliegende Freiburger Nietzsche-Kommentar ist mittlerweile zu einem unverzichtbaren Werkzeug der Nietzsche-Forschung geworden. In akribischer Kleinstarbeit trugen die Autoren jahrelang nützliche Hinweise zu nahezu allen Aspekten von Nietzsches Werken (Entstehungsgeschichte, Quellen, Anspielungen, Rezeptionen, Interpretationen …) zusammen und kommentierten sie Passage für Passage, mitunter Satz für Satz und Wort für Wort. Auf der Seite des de Gruyter-Verlag sind fast alle der bisher erschienen Bände kostenlos abrufbar (Link). Auch Laien finden hier einen wahren Schatz von Hintergrundinformationen und Erläuterungen. Die drei federführenden Mitarbeiter des Projekts – sein langjähriger Leiter Andreas Urs Sommer, Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann – nahmen seinen Abschluss zum Anlass, um dem Thema „Nietzsche kommentieren“ die diesjährige Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft zu widmen. Sie blickten dabei nicht nur zurück, sondern auch nach vorne.
I. Frühling im Herbst
Obwohl nun schon Mitte Oktober ist, hat sich für die Dauer des diesjährigen internationalen Nietzschekongresses in Naumburg an der Saale Frühlingswetter eingestellt. In diesem Jahr steht die fünftägige Veranstaltung unter dem Motto „Nietzsche kommentieren“. Auf dem Flyer (siehe das Artikelbild): Nietzsche sitzend und lesend; auf der Spitze eines Bücherberges, der nur durch eine Leiter erklimmbar ist. Das Bild stammt von dem Hallenser Künstler Michael Girod, der seit 2006 fast sämtliche Plakate der Jahrestagungen gestaltet hat.
Die Veranstaltung stand unter der wissenschaftlichen Leitung der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Sebastian Kaufmann und Prof. Dr. Katharina Grätz sowie des Philosophen Prof. Dr. Andreas Urs Sommer, die alle dem Nietzsche-Forschungszentrum der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angehören. Alle drei sind in zentralen Funktionen am Freiburger Nietzsche-Kommentar, der an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften angesiedelt ist, beteiligt. Sommer ist zudem Direktor der Nietzsche-Stiftung.
Der Kongress ist eine Kooperationsveranstaltung der Friedrich-Nietzsche-Stiftung, der Nietzsche-Gesellschaft und des erwähnten Forschungszentrums. Veranstaltungsort war das sowohl moderne und zugleich beschauliche Nietzsche-Dokumentationszentrum, das direkt an das mit Weinranken gezierte Nietzsche-Haus angrenzt, deren Blätter in diesem Herbst wunderbar grell-rötlich schimmern. Hier ist Nietzsche zwar weder geboren noch gestorben, doch verbrachte hier seit 1858 seine Jugend und einige Jahre während seiner geistigen Umnachtung.1 Heute liegen direkt in der Nähe, neben dem historischen Stadtkern, ein Spielplatz und eine KiTa.
Zur Einstimmung des Kongresses, der vom Mittwoch, dem 16. 10. 2024 bis Sonntag, dem 20. 10. 2024 stattfand, hielt Renate Müller-Bruck einen Vortrag über ihr im Sommer erschienenes Büchlein „… zitternd vor bunter Seligkeit“. Nietzsche in Venedig. Müller- Bruck ist profilierte Nietzsche-Kennerin und war unter anderem Mitarbeiterin bei Mazzino Montinari. Montinari initiierte ab Mitte der 60er zusammen mit Giorgio Colli die Kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken, Nachlassfragmenten und Briefen, die die Grundlage für die in den 80ern publizierte Kritische Studienausgabe bildet. Montinari ist mithin eine, wenn nicht die wesentliche Figur der kritischen Editionsgeschichte der Schriften Nietzsches. Der Kongress wurde am Donnerstag mit verschiedenen Grußworten, unter anderem vom Naumburger Oberbürgermeister Armin Müller, Sommer und Prof. Dr. Marco Brusotti, dem Vorsitzenden der Nietzsche-Gesellschaft eröffnet. Die Einleitung übernahm, nach dem Programm, Katharina Grätz.
II. Der (un)populäre Philosoph
Noch vor dem Kongress, im Gespräch mit einem mir bekannten belgischen Wirtschaftsmanager, taucht die Veranstaltung als Thema auf. Der gutvernetzte Manager fragt, ob Nietzsche in Deutschland sehr bekannt sei. Also wie bekannt. Bekannt wie etwa … Sigmund Freud?! In Belgien sei man mit Freud wohl vertrauter, schätzt er ein. – Nietzsche ist für ihn ein Philosoph, nicht mehr, nicht weniger. Darüber hinaus kann er nichts sagen. Kennt keine der Schriften, ist vage vertraut mit dem Begriff „Übermensch“ und schätzt ihn korrekt ins 19. Jahrhundert. – Ähnlich wird es dem Durchschnittsbürger gehen: Schon mal gehört, ein Titel und ein, zwei Begriffe lassen sich vielleicht richtig erraten.
Für Liebhaber ist diese Vorstellung ernüchternd. Nichtsdestotrotz gehört Nietzsche wohl zu den großen Philosophen, die auch im Ausland und der Popkultur ihren festen Platz im Pantheon der Denker und Schriftsteller eingenommen haben – seine Zitate sind Gemeinplätze und Bonmots geworden. Insofern lebt er weiter, wenngleich Nietzsche sich nie ganz so als Posterboy eignete wie etwa Che Guevara, Karl Marx oder Jesus.
Es ist eine traurige Wahrheit, dass er für den Großteil unserer heutigen modernen Mitbürger mehr oder weniger eine Randnotiz geblieben sein wird. Das hat er mit den meisten Größen der Literatur- und Philosophiegeschichte gemein.
Zwar bleibt die Marke Nietzsche in gewisser Hinsicht ein Bildungs- und Intellektuellenphänomen, doch gilt gerade für Nietzsche, dass diese Sphäre sich immer wieder als porös erweist. Im Internet feiert er als Thema von Videos, als Ikone mit dem Schnurbart oder Referenzfigur für die verschiedensten Prominenten und Interpreten oder diejenigen, die sich für solche halten, Erfolge. Das Internet kommentiert Nietzsche und das nur selten so, wie die Wissenschaft es sich wünscht. Aber später mehr zu der Frage seiner Digitalisierung. Für die postmoderne Philosophie ist seine Bedeutung enorm, ebenso für die modernen Künstler und in ihrem Anhang die Popkultur, was sicher auch mit dem provokativen und anstößigen Charakter seiner Schriften zu tun hat. Immer wieder pflegte er mit romantischem Ganzheitsanspruch die künstlichen Grenzen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen zu überschreiten. Für die Veranstaltung möchte ich mir die Vorträge, die eine gewisse Popularität versprechen, ansehen und Nietzsche getrost dem Prinzip Zufall überlassen, man nimmt es mir hoffentlich nicht übel.
III. Destruktionen, Aufklärungen, Editionen
Der erste Vortrag, den ich am Freitag anhöre, überrascht durch seine Jovialität. Der Nachwuchswissenschaftler Milan Wenner spricht über den Freiburger Nietzsche-Kommentar. Bereits der Langtitel des Kommentars deute eine Spannung zwischen historischer und kritischer Edition an. Anders, als es der Titel des Vortrags Von der Destruktion zur Dekonstruktion? Der Freiburger-Nietzsche-Kommentar als wissenschaftsgeschichtliches Phänomen vermuten lässt, geht es hier weder um Martin Heidegger noch um Jacques Derrida, sondern um die Frage, wie die Editionswissenschaft sich von ihren stark philosophisch gefärbten Anfängen – dazu später mehr – hin zu einer mehr analytischen, textwissenschaftlichen Ausrichtung entwickelt hat: „Das Subjekt [Nietzsche] ausscheiden“ aus dem Text, heißt Dekonstruktion bei Wenner, das technische „lyrische Ich“ und die „Texte als Gewebe vieldeutiger Stimmen“ freizulegen.
Gleich der zweite Vortrag, an dem ich teilnehmen möchte, ist mir nicht möglich in seiner vollen Länge anzuhören, da sich an den Vortrag Wenners derart lebhafte Diskussionen in dem ohnehin überfüllten Raum entspannen, dass für mich nichts anderes übrigblieb, als zu bleiben. Die Stimmung ist allgemein heiterer und offener als von einem wissenschaftlichen Kongress zu erwarten gewesen wäre. Die Kürze der Sektionsvorträge von 20 Minuten mitsamt 10-minütiger Diskussion geben der Veranstaltung ein angenehmes Tempo. Auch das Publikum ist diverser als man vermuten könnte: Interessierte (ich spreche mit einem Musiker, einer Yoga-Lehrerin, einem Mechaniker), Experten, Professoren, Lehrer, Wissenschaftler und solche, die es werden wollen, aus einer Vielzahl verschiedener Länder und jeden Alters.
Am Nachmittag folgt eines der Herzstücke. Dr. Sarah Bianchi, ebenfalls eine junge Wissenschaftlerin, die sich in ihrer Forschung sowohl mit Mikropolitiken bei Adorno und Foucault als auch kritisch mit den Implikationen des sogenannten Digital Enhancement beschäftigte, hält einen Vortrag mit dem Titel Essayistisch lesen. Macht, Aufklärung und experimentalphilosophische Geschichte nach Nietzsche. Kommentieren, so Bianchi, sei bereits eine Aufklärungspraxis und – mit Nietzsche gesprochen – nicht nur eine Frage der Subjektivität essayistischen Künstlertums, sondern auch eine der Genealogie. Eine durchaus kontroverse Ansicht, da, wie später auch aus dem Publikum eingeworfen, sich die Frage stellt, ob Nietzsches und ihm folgend die Methode Foucaults nicht gerade in einer Unterminierung der Aufklärungsphilosophie und ihrer Subjektivitätsnarrative bestünde. Bianchi bezieht sich auf aktuelle französische Romanciers, u. a. Annie Ernaux und Édouard Louis. Es ginge darum, durch essayistisches Schreiben Diskursräume für Marginalisiertes zu schaffen und damit zur „Entlarvung von Ideologien“ beizutragen. Sowie zur Möglichkeit von „affekt- und machtsensiblen“ Positionen jenseits der „digitalen Perfektionslogik“ beizutragen, die im Gegensatz zu der oft prädisponierten Selbsthilfe- beziehungsweise Ratgeber-Literatur „kein therapeutisches oder naturalistisches, also triebbasiertes Verständnis, sondern ein machtbasiertes“ der Subjekte eröffneten.
Anschließend an den Vortrag Bianchis folgt eine Laudatio und Podiumsdiskussion mit Sommer, Kaufmann, Müller-Bruck und Grätz. Mit vor schweizerischem Charme und sanfter Ironie nur so spritzender freier Rede – dazu in druckreifen Lettern – erinnert Sommer an Prof. Dr. Karl Pestalozzi und Prof. Dr. Annemarie Pieper. Ersterer war unter anderem Präsident der Stiftung des Nietzsche-Hauses in Sils Maria2 und beteiligt an der Weiterführung der Kritischen Gesamtausgabe, letztere ihres Zeichens Mitherausgeberin der Kritischen Gesamtausgabe der Briefe und des Jahresbuchs der Nietzsche-Gesellschaft. In seiner Laudatio memoriae schildert Sommer Pestalozzi als integren und unwahrscheinlich gebildeten Repräsentanten der Universität Basel. Pieper hingegen als feministische und unangepasste Vorkämpferin in der Philosophie, deren akademiekritischen Roman Die Klugscheißer GmbH er mit einem langen Schmunzeln nicht unerwähnt lässt. Pieper verstarb im Februar diesen Jahres, Pestalozzi bereits im Sommer des vorherigen.
Aus der an den Vortrag anschließenden Podiumsdiskussion mit einem Titel, der auf den berühmten Essay Nietzsches rekurriert, Vom Nutzen und Nachteil des Nietzsche-Editierens für das (akademische) Leben, entschlüsselt sich, so erzählt mir auch Grätz beiläufig, das Motto des Kongresses. Es handelt sich um das Projekt einer „neuen kritischen Edition des Nachlasses“, das von Kaufmann näher erläutert wird. Mit einer digitalen genetischen Edition, für die Prof. Dr. Paolo d‘Iorio in Form der Website nietzschesource.org bereits einen Prototyp vorlegte, soll an die Vorarbeiten Montinaris und Collis angeschlossen werden. Die neue Ausgabe soll sich noch näher an den Originalen bewegen und eine digitale zitierfähige Quelle schaffen. Wie Kaufmann darlegt, beruhen Teile der Colli-/Montinari-Ausgabe auf Konjekturen – also herausgeberischen Eingriffen –, die den heutigen editionswissenschaftlichen Standards nicht mehr entsprächen. Dazu gehören stilistische „Korrekturen“, die nicht ohne interpretatorische Momente seitens der Editoren auskamen, sowie Probleme mit dem kritischen Apparat, die zu beheben das Projekt sich vornimmt.
In vielen Vorträgen nicht unerwähnt blieben auch die exemplarischen Jahre misslungener Editionspraxis seitens des Nietzsche-Archives unter der Ägide Elisabeth Förster-Nietzsches, deren Verwaltungspraktiken man, wenngleich sie nicht ohne Breitenwirkung blieben, als durchaus missbräuchlich bezeichnen kann. Eine nichtzitierfähige Quelle sei und bleibe – auch wenn sie in Teilen des internationalen Publikums noch immer unkritisch als genuines Werk Nietzsches gelte und als solches publiziert werde – das Buch Der Wille zur Macht, herausgegeben von der Schwester selbst und Nietzsches engem Vertrauten Heinrich Köselitz alias Peter Gast. Wie alle Redner nicht müde werden zu betonen: ein editorisches Konstrukt, eine sehr freie Interpretation der Editoren. Zugespitzt: Ein „philologischer Mumpitz“, der unter „falscher Flagge [dem Namen ‚Nietzsche‘]“ segelte, heißt es in einer der Reden an diesem Abend; und noch nicht einmal der einzige seiner Art.
Die Kritik lasse sich aber, so Kaufmann, auch auf heute übertragen. So entstand aus dem ungeordneten Sammelsurium der „Mythos des vermeintlichen Nachlasses“, der auch durch Colli und Montinari weiter befeuert wurde. Es stelle sich die ganze Palette editionswissenschaftlicher Fragen: Wie steht es mit der Reihenfolge, der Autorisierung; aber auch der korrekten Aus- und Bewertung z. B. der Frage, ob der Nachlass überhaupt als gleichrangiges Werk zu beurteilen sei? Selbst die Colli-/Montinari-Ausgabe unterliege so einer Interpretationsgeschichte und einem Filterungsprozess, den die neue Nachlass-Ausgabe auszugleichen suche und um die Möglichkeiten digitaler Editionsarbeit erweitern möchte. Das Projekt konnte bisher allerdings keinen Finanzier finden.
III. Geistesgegenwärtige Blütenlesen
Der Samstag ist noch frühlingshafter und wärmer, eine angenehme Brise weht – wieder: die Schönheit der roten Weinranken des Nietzsche-Hauses.
In dem Vortrag Die Blütenlese – ein unendlicher Kommentar stellt Dr. Catarina Caetano da Rosa, stellvertretende Leiterin des Dokumentationszentrums, ein Projekt vor, in dem sie Fundstellen über Nietzsche in der Sekundärliteratur und Hinweise auf solche penibel exzerpierte. Eine Sammlung aus Zitaten zweiter Hand, Bildern und Erwähnungen, die auf der Website des Dokumentationszentrums zu finden ist. Da Rosa erinnert dazu an die Liste von fantastischen Tiergruppen, die Michel Foucault in seiner Ordnung der Dinge von Jorge Luis Borges zitiert. Kurz gesagt handelt es sich zwar um mehr als ein eigenwilliges Kunstprojekt, vorläufig jedoch auch noch um kein rezeptionswissenschaftliches Vorhaben im strengen Sinne. Die experimentelle Sammlung veranschauliche ein „fragmentiertes Profil“ des Philosophen und den „Impulsgeber“ Nietzsche. In dem Raum im ehemaligen Studierzimmer im ersten Stock des Nietzsche-Hauses hängen einige poppige T-Shirts, die wie ein Querschnitt der Ikonografie des Philosophen wirken. Sie unterstreichen noch einmal seinen popkulturellen Einfluss, der sich nicht immer mit der Realität oder den historischen Kontexten decken muss.
Am Abend wird die große Verleihung des Internationalen Friedrich Nietzsche-Preises an Prof. Dr. Renate Reschke, eine Koryphäe der Nietzsche-Forschung, die insbesondere als eine der wenigen in der DDR zu Nietzsche forschte, gefeiert. Dotiert ist der Preis mit 15.000 €. Sie erhält Glückwünsche, Grußworte und Geschenke ihren Kollegen und dem Bürgermeister. Abgerundet wird der Festakt mit einer Laudatio von Prof. Dr. Christoph Türcke. Der Abend wird musikalisch mit einer Darbietung der Kompositionen Nietzsches mit Gesang und Klavier untermalt.
Reschkes eigener Vortrag unter dem Titel Vom Dilemma der Geistesgegenwart und dem fehlenden Sinn für Geschichte. Zur fortgesetzten Aktualität Nietzscheanischer Kulturkritik kennzeichnet eine wunderbar pessimistische Gegenwartsdiagnose – im Sinne von Nietzsches Zeit, aber auch unserer eigenen. Eigentlich, so Reschke, hätte sie lieber über das Thema „Warum ich keine Nietzscherianerin bin“ gesprochen, hatte sich aber dann doch für das vorliegende entschieden. Reschke setzt sich kritisch mit dem Begriff der „Geistesgegenwart“ und seinem Verhältnis zur Historie auseinander. Den enorm dichten und in Teilen polemischen Vortrag zusammenzufassen, erscheint mir an dieser Stelle weder möglich noch zielführend, vielmehr sei Reschkes wunderbar natürlicher Stil hervorgehoben, der ohne große Allüren auskommt. Nur selten wird sie ganz konkret: Aus ihr spricht das Philosophische, insofern bleibt ihr Vortrag in gewisser Hinsicht enigmatisch und im Raum der Abstrakta. Ihre Kritik richtet sich nicht nur gegen die Massenkultur moderner Medien, die eher dazu neigten, Gegenwart erstarren zu machen (Maschinenkultur, Beschleunigung usw.), sondern auch gegen das eigene Milieu, wobei auch die (politische) Rolle Nietzsches im vergangenen Ost-West-Konflikt, in dem er lange (für beide Systeme) als enfant terrible galt, nicht unberührt bleibt. Schöner konnte es wahrscheinlich nur Nietzsche selbst ausdrücken: „Nein, wir lieben die Menschheit nicht“3.
IV. Zwei Geister
Was sich am Ende des Kongresses glasklar darstellt, ist, wie eng Interpretation, Kritik und Editionswissenschaften beieinander liegen. So spielen, wie insbesondere der Streit um Elisabeth Förster-Nietzsches Verwaltung des Nachlasses anzeigt, immer wieder politische, ökonomische, aber auch private Interessen eine Rolle.
Für den Schluss ein letztes Bild: Zwei Gespenster, in Form zwei sich ausschließender methodologischer Lager, schienen den Kongress immer wieder heimzusuchen. Das eine, das an dem Konzept, der Figur und Persönlichkeit, einem authentischen Nietzsche sowie einer ihm eigenen Philosophie festhalten will, und das andere, dem es um die wissenschaftliche Analyse, technische Strukturen sowie die historischen und geistesgeschichtlichen Einflüsse in seinem Denken geht. Das Bild vom Kampf der wissenschaftlichen Liebe zur Wahrheit mit der theatralen Liebe zum Schein will man am Schluss nicht bemühen. Lieber verweile ich noch einen Moment beim Sonnenlicht und dem Wandel der Farben des Herbstes.
Jonas Pohler wurde 1995 in Hannover geboren. Er studierte Germanistik in Leipzig und schloss das Studium mit einem Master zum Thema „Theorie des Expressionismus und bei Franz Werfel“ ab. Er arbeitet jetzt in Leipzig als Sprachlehrer und engagiert sich in der Integrationsarbeit.
Bis auf das Artikelbild sind die Bilder zu diesem Artikel Photographien des Autors.
Fußnoten
1: Anm. d. Red.: Vgl. zum Nietzsche-Haus und seiner Geschichte auch diesen Artikel von Lukas Meisner auf diesem Blog.
2: Anm. d. Red.: Vgl. dazu den Artikel von Christian Saehrendt auf diesem Blog (Link).
3: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 377.