Kafkas und Nietzsches vor dem Staat flüchtender Mensch
Oder: Frau-Werden nach Deleuze & Guattari
Kafkas und Nietzsches vor dem Staat flüchtender Mensch
Oder: Frau-Werden nach Deleuze & Guattari
Kafka und Nietzsche eint die Auseinandersetzung mit Staat und Bürokratie. Deleuze & Guattari, deren Werke sich auf beide stützen, entwickeln eine unpolitische Antwort auf die fatale politische Situation, nämlich Verwandlungen nach Kafka, ein über sich Hinauswachsen nach Nietzsche, was man als Fluchtlinien aus einer bevormundenden Gesellschaft verstehen kann.
I. Kafka, „der größte Theoretiker der Bürokratie“
Kafka sympathisierte mit den Sozialisten. Nietzsche träumte von einer Herrschaft eines politischen Genius, den er jedoch in seiner zeitgenössischen Politik vermisste, so dass man in seinem Werk viele staatskritische Stellen findet, vor allem im Zarathustra. Just dieses Buch schätzte Kafka, über den Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem monumentalen Werk Tausend Plateaus 1980 schreiben: „Kafka ist der größte Theoretiker der Bürokratie […].“1 Das zeigt sich vor allem in seinen beiden Romanen Der Prozess und Das Schloss.
Aber Kafka ist für Deleuze & Guattari kein Kritiker der Bürokratie. Vielmehr bemerken sie 1975 in ihrem Buch über Kafka: „Was Kafka so gefährlich macht, ist gerade die Kraft seiner Nicht-Kritik.“ (S. 84)
Ihr gemeinsames Werk hat Projekt-Charakter. Es beginnt 1972 mit dem Anti-Ödipus endet 1991 mit Was ist Philosophie?, dazwischen liegt Tausend Plateaus – und eben das wichtige Buch über Kafka: Für eine kleine Literatur. Kafka spielt hier auch generell eine wichtige Rolle, wie auch Nietzsche. Sie verbinden beide als Herausforderer des modernen Staates.
Sie sind wie Nietzsche scharfe Kritiker des Staates und wie Kafka wollen sie das nicht einfach begrifflich ausbuchstabieren, sondern in der Art und Weise darstellen, wie sie selbst schreiben; vor allem die Tausend Plateaus haben etwas Kafkaeskes, beschreiben etwas äußerst Skurriles, nämlich die Herrschaft des Staates, auf skurrile Weise. Am Anfang von Kafkas Der Prozess wird die Hauptfigur K. verhaftet, weiß aber nicht warum, verliert K. dadurch seine Bodenhaftung, bestimmt er nicht mehr über sich selbst, wird somit deterritorialisiert. Jeder Mensch im modernen Staat sieht sich einer Macht gegenüber, die ihn beherrscht; er gehört sich somit nicht selbst. Im Schloss heißt es: „Es begannen die sinnlosen Bittwege zum Vorsteher, zu den Sekretären, den Advokaten, den Schreibern, meistens wurde er nicht empfangen, und wenn er durch einen Zufall doch empfangen wurde […][,] wurde er äußerst schnell abgewiesen und nie wieder empfangen.“ (S. 239)
Man kann sich dafür Erklärungen ausdenken und sich damit abfinden. Aber das, was dem Menschen geschieht, lässt sich mit solchen Erklärungen nicht verständlich machen, mögen ihm die Juristen das Recht erklären oder Politiker ihr Tun umschreiben oder Soziologen die Gesellschaft darstellen. Dass man den Staat für selbstverständlich hält, ist nicht selbstverständlich. Wie bemerkt ein Staatsvertreter zum anderen über K.: „[…], er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht, und behauptet gleichzeitig, schuldlos zu sein.“2
Andererseits wird der Mensch von den politischen und sozialen Mächten zu einem bestimmten Funktionieren genötigt, das ihm in gewisser Hinsicht Halt gibt, so dass das Leben wie gewohnt weitergeht. K. kommt im Prozess nicht ins Gefängnis, sondern wird wieder zur Arbeit in der Bank genötigt und derart reterritorialisiert.
II. „aus dem Denken eine Kriegsmaschine machen“
Kafka führt damit die Absurdität des Lebens im modernen Staat vor, dem er sich selbst ausgeliefert sieht; das man gar nicht auf den kritischen Begriff bringen kann, das man derart nicht erfasst. Allein man muss es nüchtern – kafkaesk – vorführen, was für das Recht letztlich viel entlarvender ist. Wie erläutert im Prozess ein Geistlicher: „[M]an muss nicht alles für wahr halten, man muss es nur für notwendig halten.“ (S. 160)
Nietzsche sieht das ähnlich wie Kafka: „Lieber Nichts wissen, als Vieles halb wissen! Lieber ein Narr sein auf eigne Faust, als ein Weiser nach fremdem Gutdünken!“3 Nicht die Weisheit der Experten übernehmen, die durch wissenschaftliche Erzählungen die Absurditäten moderner Staatlichkeit vergessen lassen, sondern lieber sich selbst diverse Reime auf das Absurde machen.
Gegenüber dem herrschenden bürokratischen Denken bleibt für Deleuze & Guattari nur eins, nämlich „aus dem Denken eine Kriegsmaschine machen, das ist ein eigenartiges Unternehmen, dessen genaue Verfahrensweisen man bei Nietzsche studieren kann […].“4 Denn: „Das Schlimmste aber sind die kleinen Gedanken. Wahrlich besser noch bös getan, als klein gedacht!“5 Nietzsche ist ein Skeptiker moderner Wissenschaften, die die Natur höchstens anders interpretieren, aber nicht erklären können, weil Erklärung als solche nur eine Illusion ist, indem man eine Wirkung durch etwas anderes ersetzt, die Ursache, also schlicht eine Sache durch eine andere, auch wenn man sich noch so sehr darum bemüht, Verbindendes zwischen beiden zu finden.
Nietzsche hinterfragt die vermeintlichen Gewissheiten und erschüttert damit die politischen und sozialen Verbindlichkeiten. Das bezeichnen Deleuze & Guattari als Kriegsmaschine, die sie auch bei Kafka bemerken: „Bewusst zerstört Kafka alle Metaphern, alle Symbolismen, jede Bedeutung und jede Designation“6, damit die Bedeutungen, die jeder Staat regelmäßig durchsetzt, um das Denken seiner Untertanen lenken zu können. Wie schreibt Nietzsche im Nachlass: „Die meisten Menschen spüren gelegentlich, dass sie in einem Netz von Illusionen hinleben. Wenige aber erkennen, wie weit diese Illusionen reichen.“7
Das Szenario in Kafkas Erzählungen und Romanen zeigt die Absurdität der bürokratisch beherrschten Wirklichkeit. Was ein Verbrechen ist, bestimmt das Gesetz, beispielsweise in vielen Ländern immer noch Homosexualität oder Abtreibung, die auch in Deutschland nur unter bestimmten Bedingungen straffrei bleibt – exakt die absurde Situation im Prozess: „Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war?“ (S. 165) Und die meisten Menschen erkennen das an, ob als gerecht oder als positive Rechtsetzung.
Die Hinrichtungsmaschine in der Strafkolonie schreibt dem Opfer mit Nadeln das Urteil in die Haut, das das Opfer nach Stunden anfängt auf seiner Haut als Worte zu erkennen: „Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. […] Es geschieht ja nichts weiter, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund, als horche er. […] unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden.“ (S. 108) Nietzsches Zur Genealogie der Moral liefert dazu die Vorlage: „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtniss […].“8 Dann verdanken sich die Moral wie die wissenschaftliche Erkenntnis der Gewalt.
III. Nietzsche: „es gibt kein solches Allgemeines!“
Die wissenschaftliche Erkenntnis beruht darauf, dass sie die Welt sprachlich adäquat wiedergibt, ähnlich wie ein Bild einen Sachverhalt zeigt, wobei man dabei unterstellt, dass ein Bild den Sachverhalt nicht verfremdet oder ihm womöglich erst einen Sinn verleiht. Dem widersprechen Deleuze & Guattari: „Das Denken ist wie ein Vampir, es hat kein Bild, um daraus ein Modell oder eine Kopie zu machen.“9 Die Welt lässt sich nicht einfach sprachlich erfassen. Vampire haben bekanntlich kein Spiegelbild. Ob bei Kafka oder Nietzsche, die Sprache hat den ontologischen Status eines Phantoms: Sie sagt, was ist; doch damit sagt sie nicht das, was ist, sondern immer nur, was sprachlich sein soll. Sie macht aus dem, was ist, immer etwas anderes, etwas Sprachliches.
Für Deleuze & Guattari hat Kafka selbst einen vampirischen Charakter. Sie bemerken: „Er durchwacht die Nächte und schließt sich tagsüber in seinem Büro-Sarg ein […]. Kafka-Dracula hat seine Fluchtlinie in seinem Zimmer, auf seinem Bett […].“10 Die Eingangsszene aus Der Prozess spiegelt Kafkas Lebenssituation, sich durch Lohnarbeit freie Zeit zum Schreiben zu erarbeiten. So findet das Leben in der Nacht statt, der Tag ist dagegen ein Grab.
Der Staat bestimmt das Weltbild seiner Untertanen. Also sprach Zarathustra: So „[…] ist der Staat ein Heuchelhund; […] redet er gern mit Rauch und Gebrülle, – dass er glauben mache, […] er rede aus dem Bauch der Dinge.“11 Derart gibt der Staat vor, zu wissen, wie die Dinge sind, immer schon und heute umso mehr. Und Zarathustra spricht weiter: „Denn er will durchaus das wichtigste Thier auf Erden sein, der Staat; und man glaubt’s ihm auch.“ (Ebd.) Kafka glaubt es ihm nicht, schon gar nicht, dass der Staat „aus dem Bauch der Dinge“ spricht. Vielmehr spricht er die Sprache der Bürokratie.
Deleuze & Guattari buchstabieren aus, was Nietzsche aphoristisch andeutet:
Es mag sein, dass, ob geistig oder weltlich, tyrannisch oder demokratisch, kapitalistisch oder sozialistisch, es stets nur einen Staat gegeben hat, den Heuchelhund Staat, der mit Rauch und Gebrülle redet. Nietzsche spricht aus, wie dieser […] verfährt: kraft eines beispiellosen Terrors, demgegenüber das alte System der Grausamkeit, die primitiven Formen der Dressur und der Erziehung ein Kinderspiel darstellten. […] Die Erde wird am Ende ein Irrenhaus.12
Wie dem Staat das gelingt, ohne dass es die Untertanen bemerken, beschreibt Nietzsche um die Jahreswende 1887/88: Der Staat ist die
organisirte Unmoralität […] / wie wird es erreicht, dass er eine große Menge Dinge thut, zu denen der Einzelne sich nie verstehen würde? / – durch Zerteilung der Verantwortlichkeit – des Befehlens und der Ausführung / – durch Zwischenlegung der Tugenden des Gehorsams, der Pflicht, der Vaterlands- und Fürstenliebe […] / Die Kunstgriffe, um Handlungen, Maaßregeln, Affekte zu ermöglichen, welche, individuell gemessen, nicht mehr „statthaft“ sind, – auch nicht mehr „schmackhaft“ sind […].13
Indem der Staat die Funktionen des Anführens und des Ausführens teilt, haben die Ausführenden keine Verantwortung mehr für das, was sie tun, und begehen schreckliche Taten, die sie selbst nie verantworten könnten. Im Prozess heißt es: „Durch seinen Dienst auch nur an den Eingang des Gesetzes gebunden zu sein, ist unvergleichlich mehr, als frei in der Welt zu leben. Der Mann kommt erst zum Gesetz, der Türhüter ist schon dort.“ (S. 160)
Kafka führt vor, wie es möglich ist, dass die Menschen das nicht bemerken. So schreiben Deleuze & Guattari:
Die berühmten Texte im Prozess (dazu die Erzählungen In der Strafkolonie, Beim Bau der Chinesischen Mauer usw.) präsentieren das Gesetz als reine Leerform, ohne jeden Inhalt und ohne erkennbaren Gegenstand: Es erscheint nur als Urteilsspruch, und dieser wird nur in einer Strafe erkennbar.14
Das Gesetz begegnet den Menschen nur durch seine Wirkungen. Dabei behauptet der Staat von sich, das Allgemeinwohl zu verkörpern. Wie kommentiert das Nietzsche: „‚Das Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des Einzelnen‘ . . . aber siehe da, es gibt kein solches Allgemeines!“ 15
Jedenfalls gibt es keine inhaltlichen Bestimmungen des Allgemeinwohls oder der Allgemeinheit mehr. Universalismus lässt sich nur formal bestimmen. Dazu schreiben Deleuze & Guattari: „Kant […] zufolge entspringt das Gesetz nicht mehr einem präexistenten Guten, das ihm Inhalt verliehe, sondern es ist nur noch reine Form, die das Gute als solches bestimmt: Gut ist, was das Gesetz verkündet, und zwar in denselben formalen Bedingungen, unter denen es sich selbst verkündet.“16 Kants Rechtsprinzip beruht auf der allgemeinen Geltung von Gesetzen, was nur in ihrer Form und nicht an ihrem Inhalt liegt: Gesetze müssen allgemein gelten. Was sie inhaltlich aussagen, macht sie nicht zu Gesetzen. Gehorchen muss man ihnen nämlich, weil sie Gültigkeit haben, die sich auf Gewalt stützt, nicht weil sie richtig oder gerecht sind.
Was Nietzsche dazu schreibt, kann dann auch nicht mehr verwundern: „Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ‚Ich der Staat, bin das Volk.‘“17 Damit beansprucht der Staat, das Allgemeinwohl zu vertreten. Der Staat bestimmt, was das Volk ist. Dabei behauptet er, dass das Volk kein von ihm geschaffenes und bestimmtes Konstrukt ist, sondern naturgegeben.
IV. „Substitution der Liebe durch den Liebesbrief“
Doch für die staatliche Gewalt ist dessen Maschinenwesen verantwortlich. Die Bürokratie arbeitet wie eine Maschine, an der die Menschen angeschlossen werden. Deleuze & Guattari schreiben 1975: „Was einem bei Kafka Angst (oder Freude) macht, ist […] die amerikanische Technokratie-Maschine und die sowjetische Bürokratie-Maschine und die faschistische Totalmaschinerie.“18 Der Staat und die Maschinen, auf die er sich stützt, sind die Bedrohung für den Menschen. Im Zentrum steht neben der Bürokratie das Recht, das die Menschen nicht schützt, sondern diese bedroht. Im Anti-Ödipus heißt es: „Niemand hat eindrucksvoller als Kafka dargestellt, dass dem Gesetz nichts von einer immanenten, natürlich-harmonischen Totalität anhaftet, dass es vielmehr als enthobene formale Einheit wirkt, […].“ (S. 255) Auch der Rechtstaat macht einen kafkaesken Eindruck.
Das Individuum kann sich davor eigentlich nur zurückziehen. Nietzsche hat das bereits ähnlich gesehen: „Geht eure Wege! Und lasst Volk und Völker die ihren gehn! – dunkle Wege wahrlich, auf denen auch nicht Eine Hoffnung mehr wetterleuchtet!“19 Nietzsche fordert dazu auf, sich nicht an der Politik zu beteiligen, nicht zuletzt, weil deren Wege nur kafkaesk erscheinen. Deleuze & Guattari kommentieren das:
Die etablierten Mächte haben die Erde besetzt und Volksorganisationen geschaffen. Die Massenmedien und die großen Volksorganisationen wie Parteien oder Gewerkschaften sind Reproduktionsmaschinen […]. Die etablierten Mächte haben uns in einen zugleich atomaren, kosmischen und galaktischen Kampf getrieben. Vielen Künstlern ist diese Situation schon seit langem bewusst, zum Teil schon, bevor sie wirklich da war (zum Beispiel Nietzsche).20
In der Tat sagt Nietzsche für das kommende Jahrhundert den Kampf um die Erdherrschaft voraus. Und worauf das hinausläuft, weiß schon Zarathustra: „Staat, wo der langsame Selbstmord Aller – ‚das Leben‘ heißt.“ 21 Der schnelle Selbstmord findet auf den Schlachtfeldern statt, der langsame im Kontor oder in der Familie. Kafka wird von Frauen gleichermaßen angezogen wie abgestoßen; denn er fürchtet sich vor der Familie, ist die Ehe schließlich Gesetz, ein Vertrag, der die Grundlage aller Liebesbeziehungen im 19. Jahrhundert sein soll und der doch die Lust abtötet.
So flieht Kafka vor der Institution Ehe. Deleuze & Guattari bemerken: „Substitution der Liebe durch den Liebesbrief? Deterritorialisierung der Liebe. Substitution des gefürchteten Heiratsvertrags durch einen Teufelspakt.“22 Nicht zu heiraten, lieber zu schreiben, befreit die Liebe aus den Fesseln der Familie und damit auch aus der staatlichen Zwangsorganisation, die den Menschen in die Familie einbindet. Warum weint Gregors Schwester in Die Verwandlung? „Weil er nicht aufstand und den Prokuristen nicht hereinließ, weil er in Gefahr war, den Posten zu verlieren und weil dann der Chef die Eltern mit den alten Forderungen wieder verfolgen würde?“23
In Das Urteil (1913) gehorcht der Sohn und begeht auf Geheiß des Vaters Selbstmord. Die Familie erscheint in den Werken Kafkas als Ort der Unterwerfung, des Opfers und des Leidens. Wie kann man sich dem entziehen? Indem man nicht mehr so schreibt, wie es sozial anerkannt wird, sondern so, dass die Zusammenhänge sich nur schwer erschließen lassen, weil sie so verwickelt und absurd entworfen werden, wie sich die Realität dem kühlen Blick darbietet. Das Rhizom lässt sich als Labyrinth der sprachlichen Zeichen verstehen, so dass man nicht verstanden wird, aber jemanden in ein chaotisches Textgewebe verwickelt: Kafkas Geliebte, Kafkas Leser, Kafkas Feinde, nämlich Bürokraten und Wissenschaftler. So schreiben Deleuze & Guattari: „Die Briefe sind ein Rhizom, ein Netzwerk, ein Spinngewebe. […], und seine Kraftquelle liegt weit entfernt in dem, was seine Briefe ihm zutragen. Er fürchtet nur zwei Dinge: das Kreuz der Familie und den Knoblauch der Ehe.“24 Die Einleitung zu Tausend Plateaus hat den Titel Rhizom, ein Text, der auch separat erschienen ist.
V. Kafka: „Das Gericht will nichts von dir“
Auch Zarathustra propagiert den Menschen jenseits des Staates und damit auch jenseits der Familie, in denen er immer nur dienendes Rädchen im Getriebe ist, das sich auswechseln lässt. In Die Verwandlung stellt sich heraus, dass die Eltern vom Sohn gar nicht so abhängig sind, wie sie ihm vorgaukelten, um ihn zu fleißiger Arbeit zu motivieren. Der Übermensch entsteht nicht im Staat und nicht in der Familie. Nietzsche proklamiert:
Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise. Dort wo der Staat aufhört, – so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen?25
In der Gemeinschaft, und sei es nur die der Konzertbesucher, ist der Mensch nur Nächster, nicht einmalig und nicht unersetzbar, sondern einer unter vielen.
Wie gelangt man dorthin, wo man Mensch ist? Durch eine experimentelle Philosophie, wie diejenige Nietzsches, und dadurch, dass man sich mit Kafka verwandelt, nämlich Tier wird. Mensch sein bzw. Untertan sein, ist nicht ersprießlich. Deleuze & Guattari schreiben:
Wir glauben nur, dass Kafka Experimente protokolliert, dass er nur Erfahrungen berichtet, ohne sie zu deuten, ohne ihrer Bedeutung nachzugehen […]. Ein Mensch, der schreibt, ist niemals „nur ein Schriftsteller“: Er ist ein politischer Mensch, und er ist ein Maschinenmensch, und er ist ein experimentierender Mensch (der aufhört, Mensch zu sein, um versuchsweise Affe zu werden, oder Käfer, Hund, Maus, irgendein Tier […]).26
Gregor entzieht sich der Familie und der Arbeit, indem er sich in einen Käfer verwandelt. Er macht aus sich etwas anderes als das, was der Staat von ihm verlangt. Er übersteigt sich, indem er Chaos verbreitet, wie es Nietzsche fordert:
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren! Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.27
Kafka hat noch Chaos in sich, indem er kein Kritiker des Staates ist, sondern schlicht Berichterstatter, der nüchtern festhält, wie er auf die Menschen wirkt, welche Gedanken sich K. im Prozess oder Gregor in der Verwandlung macht. Die Verwandlung, das Tier-Werden ist für Deleuze & Guattari eine Flucht aus den sozialen Verhältnissen, ein politischer Akt, wenn Politik nur noch den Sinn hat, die Interessen des Staates durchzusetzen, wenn das aber keinen Sinn für den Menschen hat. Deleuze & Guattari begreifen Kafkas Schriften als eine politische Antwort: „Das Wesentliche am Tier ist für Kafka der Ausweg, die Fluchtlinie, auch ohne sich von der Stelle zu rühren, selbst wenn man im Käfig bleibt. Nicht die Freiheit, sondern ein Ausweg. Nicht ein Angriff, sondern eine lebendige Fluchtlinie.“28
Nietzsche hat diese Sachlage antizipiert: „Oh meine Brüder, ist jetzt nicht Alles im Flusse? Sind nicht alle Geländer und Stege in’s Wasser gefallen? Wer hielte sich noch an ‚Gut‘ und ‚Böse‘?“29 Es gibt keine obersten ethischen Werte mehr, nur noch solche die der Staat und das Gesetz erlassen, wodurch für die Menschen eine Situation entsteht, aus der sie nur fliehen können, und zwar dadurch, dass sie sich in Tiere verwandeln, weil die Menschen unter der Regie des Staates ja keine Menschen sind, die mit Nietzsche noch wesentlich wären. Sie sind unwesentlich, so dass man anders als sie werden muss.
Da bietet sich das Tier-Werden als Fluchtlinie an. Deleuze & Guattari schreiben:
Das Tier-Werden ist eine bewegungslose Wanderung auf der Stelle, die sich nur in Intensität erleben und begreifen lässt […]. Das Tier-Werden hat nichts Metaphorisches an sich. Es ist kein Symbolismus und keine Allegorie.30
Insofern hat es weder eine bürokratische noch eine wissenschaftliche Wahrheit. Nein, so etwas hat es doch nie gegeben! Oder Kafka beschreibt, was alltäglich der Fall ist, wenn die Menschen entweder krank oder verrückt werden, wie es Deleuze & Guattari in ihrem Projekt Kapitalismus und Schizophrenie vorführen. Verrückt-Werden erscheint als eine ähnliche Fluchtlinie wie Tier-Werden.
Es war die Zeit, als die zweite Frauenbewegung Fahrt aufnahm. Statt Tier-Werden besteht die Möglichkeit des Frau-Werdens, das für Kafka in Das Schloss eine andere Perspektive entwickelt. Deleuze & Guattari schreiben:
Alle gemeinsam bezeugen in ihrem Verlangen – in dem, das sie selber erfüllt, und in dem, das sie bei anderen wecken – die tiefe Identität von Justiz, Verlangen und junger Frau oder Mädchen. Das junge Mädchen gleicht dem Gericht: Es ist prinzipienlos, reiner Zufall. „Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst“[31]. Im Dorf unterm Schloss geht die Redensart: „Amtliche Entscheidungen sind scheu wie junge Mädchen“.32
Die Justiz ist unberechenbar wie kapriziöse junge Frauen, die sich ihren Verehrern notorisch entziehen, diesen ständig Schwierigkeiten bereiten.
Doch Deleuze & Guattari erkennen darin eine Fluchtlinie für Männer, das Frau-Werden, schon in der Zeit der bürgerlichen Frauenbewegung. Den männlichsten Literaten wie D. H. Lawrence oder Henry Miller attestieren sie just eine solche Neigung. Politik heißt dann nicht mehr Parteipolitik, auch nicht Bürgerprotest, sondern Fluchtlinien aus solchen Organisationen und sich verwandeln, um Verwirrung zu stiften: Frau-Werden! Oder heißt das Mensch-Werden, wenn aus feministischer Perspektive die Menschlichkeit eher von Frauen verkörpert wird als von Männern? Dafür spricht jenseits aller Kritik am Patriarchat, dass die Frauen die Kinder in die Welt setzen. Wenn Frauen liebesfähiger als Männer sind, sollten daher letztere ersteren nacheifern? Würde das Männer verwandeln?
Quellen
Deleuze, Gilles & Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie Bd. 1 (1972). Frankfurt a. M. 1979.
Dies.: Kafka. Für eine kleine Literatur (1975). Frankfurt a. M. 2019.
Dies.: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus (1980). Berlin 1992.
Kafka, Franz: Das Schloss (1926). Berlin 2010.
Ders.: Der Prozess (1925). Frankfurt a. M. 1960.
Ders.: Die Verwandlung (1915). Sämtliche Erzählungen, Frankfurt a. M. 1970.
Ders.: In der Strafkolonie (1919). In: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt a. M. 1970.
Fußnoten
1: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus, S. 291.
2: Kafka, Der Prozess, S. 11.
3: Also sprach Zarathustra, Der Blutegel.
4: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus. S. 518.
5: Also sprach Zarathustra, Von den Mitleidigen.
6: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 32.
7: Nachgelassene Fragmente 1870 5[33].+
8: Zur Genealogie der Moral, Abs. II, 3.
9: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus, S. 519.
10: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 42.
11: Also sprach Zarathustra, Von den grossen Ereignissen.
12: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus, S. 247.
13: Nachgelassene Fragmente 1887 11[407].
14: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 60.
15: Nachgelassene Fragmente 1887 11[99].
16: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 60.
17: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.
18: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 18.
19: Also sprach Zarathustra, Tafeln, 21.
20: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus. S. 471.
21: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.
22: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 41.
23: Kafka, Die Verwandlung, S. 62.
24: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 42.
25: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.
26: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 12.
27: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 5.
28: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 49.
29: Also sprach Zarathustra, Tafeln, 8.
30: Deleuze & Guattari, Kafka. S. 50.
31: Kafka, Der Prozess, S. 161.
32: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 88.