Ein Tag in Nietzsches Zukunft
Bericht über die Tagung Nietzsches Zukünfte in Weimar
Ein Tag in Nietzsches Zukunft
Bericht über die Tagung Nietzsches Zukünfte in Weimar
Vom 7. bis 11. Oktober 2024 fand in Weimar die von der Klassik Stiftung Weimar organisierte Veranstaltung Nietzsches Zukünfte. Global Conference on the Futures of Nietzsche statt. Unser Stammautor Paul Stephan war am ersten Tag vor Ort und gibt einen Einblick in den gegenwärtigen Stand der akademischen Diskussionen um Nietzsche. Seine Frage: Wie ist es um die Zukunft der akademischen Nietzsche-Forschung bestellt, wenn man sie aus der Perspektive von Nietzsches eigenem radikalen Verständnis von Zukunft heraus betrachtet?
„Die Zukunft, das Wunderbar-Unbekannte der Zukunft ist der einzige Gegenstand des Nietzscheschen Festes.“1
Zusammenfassung
Nietzsche ist einer der großen Denker der Zukunft. „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ lautet der Untertitel von Jenseits von Gut und Böse und schon in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung konzipiert Nietzsche die Zukunft als primäre Zeitform, von der her sich Vergangenheit und Gegenwart erst adäquat verstehen lassen.
Was liegt also näher als „Nietzsches Zukünften“ – ein Plural, den er auch immer wieder selbst gebraucht – eine eigene Konferenz zu widmen? Ich wohnte dem ersten Tag der Tagung Nietzsches Zukünfte bei, veranstaltet von der Klassik Stiftung Weimar. Sie dauerte vom 7. bis zum 11. Oktober und versammelte erwiesene Nietzsche-Expertinnen und -experten aus der ganzen Welt, die aufgefordert waren, ihre jeweilige Perspektive auf Nietzsches Zukunft aus dem Kontext der Erfahrung ihres Heimatlandes heraus darzulegen.
Nach Grußworten von Ulrike Lorenz, der Präsidentin der Stiftung, und Helmut Heit, Leiter des Kollegs Friedrich Nietzsche, der die Konferenz gemeinsam mit seinen Assistentinnen Corinna Schubert und Evelyn Höfer organisiert hatte, folgte ein Panel, bei dem die Nietzsche-Forscher David Simonin aus Frankreich, Hans Ruin aus Schweden und Martine Prange aus den Niederlanden als Repräsentanten ihrer jeweiligen Herkunftsländer über die beiden gestellten Fragen sprachen. Im nächsten Panel referierten die südafrikanische Forscherin Vasti Roodt und Willow Verkerk aus Kanada. Den Abschluss des ersten Konferenztages bildete ein Panel, bei dem die vier Herausgeber der Nietzsche-Studien, des vielleicht wichtigsten Organs der internationalen akademischen Nietzsche-Forschung, Christian Emden, Helmut Heit, Vanessa Lemm und Claus Zittel, miteinander diskutierten.
Weitgehend einig waren sich die meisten Vortragenden, dass Nietzsches Zukunft in der Weiterführung der poststrukturalistischen Nietzsche-Interpretation liege und in philologischen, textimmanenten Zugangsweisen.2 Man müsse sich auf die Texte Nietzsches einlassen, um ihr radikales Potential zu erfahren, das vor allem in der Destruktion bestehender Wahrheiten und Gewissheiten bestehe. Immer wieder wurde die Vieldeutigkeit, Rätselhaftigkeit und Komplexität von Nietzsches Werk betont, das man keinesfalls auf bestimmte „Lehren“ reduzieren könne.
Mich überzeugte diese Sichtweise nur bedingt. Handelte es sich hier wirklich um einen Ausblick in Nietzsches Zukunft oder eher ein Resümee der letzten 20 Jahre Nietzsche-Forschung? Ist Nietzsche wirklich einfach nur ein Ironiker, Maskenspieler und Fallensteller – oder begeistert er nicht gerade immer wieder durch seine inhaltlich bestimmten Aussagen, die es neben allem Widersprüchlichen und Doppeldeutigem doch auch gibt – und von denen während der Tagung durchaus auch immer wieder die Rede war?
I. Nietzsches Zukünfte
Nietzsche ist einer der großen Denker der Zukunft. „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ lautet der Untertitel von Jenseits von Gut und Böse und schon in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung konzipiert Nietzsche die Zukunft als primäre Zeitform, von der her sich Vergangenheit und Gegenwart erst adäquat verstehen lassen: Wir brauchen eine Vorstellung davon, was sein wird, um zu verstehen, was war und was ist. – Ein wichtiger, um nicht zu sagen: zukunftsweisender, Gedanke, den später Heidegger in Sein und Zeit aufgreifen würde.
Nicht zuletzt der „Übermensch“ ist eine offene Utopie, deren philosophischen Gehalt man fast übersetzen könnte als „Zukunft um jeden Preis“. Nietzsches Einsicht: Der Mensch ist wesentlich ein Tier, das in der Zukunft lebt, das eine Vorstellung von ihr so sehr benötigt wie das täglich Brot, das zwischen Angst und Hoffnung schwankt. Doch er will den Menschen keine konkrete Zukunft vorschreiben, er denkt sie bewusst als radikal offen. Kein Wunder, dass er von ihr wiederholt im Plural spricht, wenn er etwa schreibt: „Hinaus, hinaus, mein Auge! Oh welche vielen Meere rings um mich, welch dämmernde Menschen-Zukünfte! Und über mir – welch rosenrothe Stille! Welch entwölktes Schweigen!“3
Nietzsche wendet sich damit gegen die gesamte von Platon her stammende Tradition in der Philosophie, die Wahrheit wesentlich als Wiedererinnerung, als Re–Konstruktion von etwas Vergangenem versteht. Für ihn ist Wahrheit wesentlich etwas, das aktiv mit Mut geschaffen werden muss, etwas, das noch nicht ist: „Muthig, unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig – so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann“4.
Jede Generation, jeden Einzelnen fordert Nietzsche immer wieder dazu auf, sich diese Wahrheit zu schaffen, das Unerhörte hörbar zu machen, das Ungesehene sichtbar, das Undenkbare denkbar. Kein Wunder, dass er der vielleicht wichtigste philosophische Vordenker der Avantgarden und radikaler politischer Bewegungen aller Art ist. Hegel wollte noch die Gegenwart begreifen und diese als Resultat der gesamten Weltgeschichte: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ Nietzsche hingegen ist der Philosoph der Morgenröte und des Aufbruchs – für ihn hat, wie zur selben Zeit für Marx, die eigentliche Geschichte noch gar nicht erst begonnen.
Mit dieser Philosophie des „Noch nicht“ inspirierte Nietzsche vor allem den unorthodoxen Marxisten Ernst Bloch, der diesen Aspekt von Nietzsches Denken so konsequent wie kein anderer Denker aufgriff und weiterdachte, zu einem ganzen System der Hoffnung und der Utopie ausbaute. Sicher gibt es auch Elemente in Nietzsches Werk – dies ist keine Überraschung – die dieser Betonung der Zukünftigkeit widersprechen: der Mythos der „ewigen Wiederkunft“, der keine echte Zukunft kennt, da es ja alles schon einmal gab; die eigenartige nostalgische Fixierung auf die „Herrenmoral“ als rückwärtsgewandter „Utopie“, die doch keine ist. Doch dieser Nietzsche hat eben keine Zukunft, gegen ihn gilt es den radikalen Abenteurer zu verteidigen, der hinaus aufs „offene Meer“5 und alle „Schatten“6 des toten Gottes hinter sich lassen wollte. Sicher kann man fragen, ob er nicht ‚zu weit‘ geht, ob das Neue nicht stets Elemente des Alten enthalten und in sich aufheben muss; doch das Pathos des Neuen ist es, das wesentlich ist, und das Nietzsche immer wieder gerade für junge Leserinnen und Leser interessant macht, die in seinen Schriften einen Katalysator ihres eigenen Aufbruchswillens erblicken.
Wie steht es mit diesen Gedanken in einer Zeit, die anscheinend „No future“ zu ihrem Slogan erkoren hat und die von schalen Heilsversprechen, Erschöpfung und Relativismus – Nietzsche würde sagen: Nihilismus – gekennzeichnet ist? In der sich die Jungen als „letzte Generation“ fühlen und die Alten schon allein aus demographischen Gründen immer mehr Macht haben und echten Fortschritt scheinbar blockieren? Gibt es noch eine Zukunft? Und wenn Nietzsche und Heidegger Recht haben, würde eine verneinende Antwort bedeuten: Dann gibt es auch keine Gegenwart und keine Vergangenheit. Und worin könnte in einer solchen posthistorischen Welt Nietzsches Zukunft bestehen?
II. „Nietzsches Zukünfte“ in Weimar
Mit der Erwartung, auf diese Fragen wenn nicht Antworten, so doch Fingerzeige zu erhalten, fuhr ich nach Weimar, um dem ersten Tag der Tagung Nietzsches Zukünfte beizuwohnen, veranstaltet unter den Fittichen von niemand geringerem als der Klassik Stiftung Weimar, einer der größten Kulturinstitutionen Deutschlands. Sie ging vom 7. bis zum 11. Oktober und versammelte erwiesene Nietzsche-Expertinnen und -experten aus der ganzen Welt, die aufgefordert waren, ihre jeweilige Perspektive auf Nietzsches Zukunft aus dem Kontext der Erfahrung ihres Heimatlandes heraus darzulegen.
Die Präsidentin der Stiftung, Ulrike Lorenz, verortete in ihrer Begrüßung die Tagung im Kontext ihres gesamten Wirkens und betonte, dass es sich um die Abschlussveranstaltung des Themenjahrs „Aufbruch“ handelte. Dieses habe man bewusst in das Jahr der Thüringer Wahlen gelegt, um, so ihre unausgesprochene Aussage, dem dann ja auch eingetretenen Wahlsieg der AfD etwas entgegenzusetzen.
Ein weiteres Grußwort sprach Helmut Heit, Leiter des Stabsreferats Forschung der Stiftung sowie des ihr ebenfalls angegliederten Kollegs Friedrich Nietzsche, eine Einrichtung, die sich eigens der Pflege und Fortführung der Weimarer Nietzsche-Tradition widmet. Er hat die Konferenz gemeinsam mit seinen Assistentinnen Corinna Schubert und Evelyn Höfer organisiert. Heit betonte, dass Weimar der Ausgangspunkt des „Ereignis Nietzsche“ gewesen sei, auch wenn der Philosoph hier nur seine letzten drei Lebensjahre, umnachtet und gepflegt von seiner Schwester, verlebt habe. Die mit der Schwester und ihrer umstrittenen Edition einiger Nachlassfragmente Nietzsches als Wille zur Macht verbundene Schattenseite dieses Erbes verschwieg er nicht, betonte jedoch zu Recht, dass die Weimarer Nietzsche-Rezeption bis zum Ersten Weltkrieg unter progressiven Vorzeichen stand und eng mit der kulturellen Avantgarde jener Zeit, vor allem dem Jugendstil, verbunden war. Ebenso wies er darauf hin, dass sich die Klassik Stiftung Weimar darum bemüht, Nietzsches hier zu einem Großteil lagernden Nachlass auf die Liste des immateriellen Weltkulturerbes der UNESCO setzen zu lassen. Über den diesbezüglichen Antrag sei jedoch noch nicht befunden worden.
Für die fortgesetzte Weiterwirkung jenes „Ereignisses“ machte Heit folgende Faktoren verantwortlich: dass Nietzsche immer wieder neue Multiplikatoren wie etwa die erwähnte Elisabeth Förster-Nietzsche, Georg Brandes, Lou Salomé, den chinesischen Schriftsteller Lu Xun, Heidegger, Foucault oder Judith Butler gefunden habe; die stilistische und inhaltliche Vielfalt von Nietzsches Philosophie; die Ästhetik seines Stils, die insbesondere Künstler immer wieder auf ihn aufmerksam gemacht habe; dass er immer wieder wichtige Fragen von wiederkehrender Relevanz auf anregende Weise angesprochen habe; dass er als radikaler Kritiker immer wieder die Jugend anspreche und Innovationen beflügele. Nietzsches Gegenwart sei noch immer unsere Zeit und Nietzsche habe sie kritisch auf den Begriff gebracht.
Es folgte ein Panel, bei dem die Nietzsche-Forscher David Simonin aus Frankreich, Hans Ruin aus Schweden und Martine Prange aus den Niederlanden als Repräsentanten ihrer jeweiligen Herkunftsländer über die beiden gestellten Fragen sprachen. Es zeichnete die Konferenz generell wohltuend aus, dass durch die Fokussierung auf diese beiden Probleme – Nietzsches Wirkung in den verschiedenen Kulturkreisen und seine Zukunft in ihnen – der rote Faden der Beiträge immer gut erkennbar war und sie sich stets klar aufeinander bezogen.
David Simonin betonte, wie früh, schon in den 1870ern, Nietzsche in Frankreich entdeckt worden sei, auch wenn er erst ab den 1960ern im Zuge des Poststrukturalismus – im Laufe der Konferenz meist als „French Theory“ bezeichnet7 – Einzug in die akademische Forschung erhalten habe. Er unterschied dabei drei Perspektiven auf Nietzsche in der heutigen französischen Diskussion: polemische, die Nietzsche und vor allem seine linken Interpreten teils vehement kritisieren; dialogische, die Nietzsche im Lichte gegenwärtiger kultureller Probleme interpretieren und aneignen; sowie philologische – er bezog sich hierbei besonders auf das Projekt nietzschesource.org –, die sich Nietzsche aus einer eher historisierenden, kontextualisierenden und werkimmanenten Sicht nähern. Die Zukunft Nietzsches läge aus seiner Sicht in letzterem Ansatz, zu dem er sich auch selbst bekannte. Er sprach davon, dass es bald vielleicht möglich sein könnte, Nietzsches Leben mit Hilfe von Virtual Reality-Technologien direkt und in 3D nachzuerleben und ihn etwa auf einer Zugfahrt durch die Schweizer Alpen zu begleiten.
Hans Ruin stellte die skandinavische Nietzsche-Rezeption vor. Diese sei bis weit in das 20. Jahrhundert hinein sehr fruchtbar und wichtig für die skandinavische Kultur gewesen, wobei Nietzsche vor allem als Vordenker progressiver und avantgardistischer – so genannter „kulturradikaler“ – Positionen angeeignet worden sei. Bis in die 1980er Jahre hinein habe es in Schweden jedoch keine Diskussion über Nietzsche gegeben, er verglich die damalige Situation sogar mit der Zensur in der DDR. Die schwedischen Übersetzungen von Nietzsches Werken seien bis auf diejenige des Zarathustra vergriffen gewesen. Nietzsches Einfluss auf die skandinavische Kultur sei verdrängt worden, Ruin sprach von einem „verborgenen Erbe“, das erst ab den 90er Jahren durch Forscher wie ihn selbst und Thomas H. Brobjer wiederentdeckt worden sei, die auch eine Neuübersetzung von Nietzsches Werken ins Schwedische bewirkt hätten. In den Nuller Jahren sei es in diesem Zuge zu einem Aufschwung der schwedischen Nietzsche-Forschung gekommen. Ruin bezeichnete es als Zeichen für die Gesundheit einer Kultur, wenn sie in der Lage sei, Nietzsches Texte zu lesen, zu verdauen und mit ihnen zu sprechen.
Martine Prange schließlich legte dar, dass Nietzsche für die Kultur und vor allem die Philosophie ihres Landes eine nur untergeordnete Rolle gespielte habe. Diese führte sie neben der generell geistfeindlichen, sehr „krämerischen“ Mentalität des Landes vor allem auf die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende „Amerikanisierung“ der niederländischen Kultur und Philosophie zurück, die mittlerweile so weit gehe, dass das Niederländische als Wissenschaftssprache durch das Englische fast vollständig verdrängt worden sei. Ebenso sei das niederländische Forschungssystem in den letzten Jahren extrem kompetitiv und marktförmig strukturiert worden, so dass für Forschungen zu geistesgeschichtlichen Themen kaum noch Fördermittel vergeben würden, überall gebe es nur angewandte Ethik. Die neue rechte Regierung habe die ohnehin knappen Forschungsmittel nun noch einmal gekürzt und malträtiere nun „Langzeitstudenten“ mit Strafgebühren, so dass Prange sich sehr pessimistisch zeigte, jedenfalls, was die akademische Nietzsche-Forschung in den Niederlanden betrifft. Sie betonte den engen Zusammenhang zwischen Forschung und Politik und verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass Trump nicht wiedergewählt werde. Mit dieser deutlichen Anklage der schlechten politischen Rahmenbedingungen für geistesgeschichtliche Forschung traf Prange einen Nerv und erhielt viel Zuspruch. Ruin sprach in der Diskussion gar von der Amerikanisierung Europas als kultureller „Dekadenz“.
Im nächsten Panel sprachen die südafrikanische Forscherin Vasti Roodt und Willow Verkerk aus Kanada. Roodt vertrat die Auffassung, dass Nietzsche kein politischer Denker gewesen sei in dem Sinne, dass seiner Philosophie kein Beitrag für den Aufbau einer gerechten demokratischen Gesellschaft zu entnehmen sei. Er sei ein Denker, der vor allem über persönliche Probleme spreche, indem er immer wieder auf die unseren expliziten Wertungen zu Grunde liegenden impliziten Hintergrundwertsetzung hinweise und zum unendlichen Projekt einer Kritik dieser Vorurteile aufrufe. Sie griff Nietzsches Unterscheidung von bloßer Gelehrsamkeit, die ihre Zwecke nicht selbst setzen könne, und echter zwecksetzender Philosophie auf und warnte vor der Dominanz der ersteren. Nietzsche rufe auch heute noch zu einem „rendezvous at questions and question marks“ auf.
Ihr Vortrag provozierte seinerseits einige kritische Rückfragen. Insbesondere blieb offen, wieso Nietzsches Kritik unserer unbewussten Wertsetzungen nicht auch auf politische Wertsetzungen angewandt werden könne. Roodt relativierte ihre Einschätzung in der Folge in der Diskussion auch ein wenig und betonte, dass sie aus der Perspektive einer instabilen Demokratie spreche, die noch in den Kinderschuhen stecke.
Willow Verkerks Vortrag war vor allem deswegen spannend, weil sie über eine breite internationale Erfahrung verfügt und unter anderem in Belgien, Kanada, Großbritannien und Japan geforscht hat. Sie unterschied zwischen einer eher europäischen Herangehensweise an Nietzsche, die in etwa dem entspricht, was Simonin „philologische“ Interpretation genannt hatte und einer eher englischsprachigen, die sie als „toolboxing Nietzsche“ bezeichnete, also ein in philologischer Hinsicht eher oberflächliches Herausgreifen einzelner Textstellen des Philosophen, um sie zur Unterfütterung eigener Überlegungen zu verwenden. Sie selbst verortete sich als feministische Forscherin, deren Hauptanliegen es sei, diese europäische Methode nach Kanada zu importieren.
Ein solches „toolboxing“ hätten schon Heidegger und die Vertreter der French Theory betrieben und aus dieser Brille näherten sich auch ihre Studenten Nietzsche meist, wobei sie besonders stark von Gilles Deleuzes und marxistischen Nietzsche-Interpretationen inspiriert seien. Als relevante Kernkonzepte Nietzsche benannte sie vor allem seine genealogische Methode, insbesondere in ihrer Weiterentwicklung durch Michel Foucault, den radikalen Feminismus Judith Butlers und die Critical Race Studies; seine Diagnose des Nihilismus bzw. des „letzten Menschen“, die in der jüngeren Zeit vielfach als Anklage des umweltbezogenen bzw. ökologischen Nihilismus verstanden werde; seine Kritik der Metaphysik und den daraus folgende Perspektivismus; seine Kritik des „souveränen Individuums“, dessen Autonomie ein Resultat von Disziplinierung sei, in der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral; und schließlich Nietzsches Auffassung vom Selbst als Verkörperung des Willens zur Macht, die Nietzsche zu einem Vordenker der Phänomenologie, speziell derjenigen Maurice Merleau-Pontys, und der Psychoanalyse mache. Als weitere Problemfelder, die mehr Aufmerksamkeit einer künftigen Nietzsche-Forschung verdienten, benannte Verkerk Nietzsches Einfluss auf den frühen Feminismus und Anarchismus. Sie verwies zudem darauf, dass Nietzsches Kritik des Mitleids in jüngster Zeit zustimmend in den Disability Studies aufgegriffen werde.
In der folgenden Diskussion wurde von verschiedenen Forschern betont, dass die intensive Vertiefung in Nietzsches Schriften an sich, unabhängig von allen Inhalten derselben, ein transformatives Bildungserlebnis sei, das bei einer rein instrumentellen Annäherung an sie verlorengehe. Verkerk berichtete etwa von den starken emotionalen Reaktionen, die Nietzsches Texte bei ihren Studenten immer wieder hervorriefen8 und die dazu einlüden zu hinterfragen, woher sie eigentlich rührten.
Zum Abschluss des offiziellen Teils des ersten Tages der Konferenz diskutierten noch die vier prominenten Nietzsche-Forscher Christian Emden aus den USA, Helmut Heit, Vanessa Lemm aus Großbritannien und Claus Zittel aus Stuttgart direkt zur Frage „Hat Nietzsches Philosophie eine Zukunft?“. Es handelte sich nicht zuletzt deswegen um eine illustre Runde, da es sich um die aktuellen Herausgeber der Nietzsche-Studien, des wahrscheinlich wichtigsten internationalen Organs der akademischen Nietzsche-Forschung, handelt.
Vanessa Lemm betonte, dass Nietzsche für ein ganz neues Verständnis von Philosophie und einen neuen philosophischen Lebensentwurf stehe. Er betrachte die Philosophie als grundsätzlich relationales Unterfangen, sei ein Denker der Relation. Claus Zittel stimmte ihr darin zu, dass Nietzsche ein Kritiker jedwedes absoluten Wahrheitsanspruchs gewesen sei. Diese perspektivistische und relativierende Denk- und Schreibmethode Nietzsches mache in einer Zeit grassierender ‚Absolutismen‘ seine große Aktualität aus. Er sei ein Denker der „Differenz“ (womit Zittel eines der Hauptschlagworte der poststrukturalistischen Philosophie aufgriff), der uns immer wieder zur Relativierung der eigenen Positionen bis zur radikalen Konsequenz auffordere, zur stetigen Selbstaufhebung. Er schärfe unser Bewusstsein dafür, dass Positionierungen immer nur transitorisch sein können, und diagnostiziere in seinen Schriften unterschiedliche Verfallslogiken, ohne eine Gegenposition zu artikulieren, treibe ein Spiel mit Mehrdeutigkeiten, Rätseln und Masken, das man nur recht verstände, wenn man Nietzsche im Original lesen könne.
Christian Emden pflichtete Zittel bei, dass Nietzsche keine Botschaft oder Lehre vermittele, sondern er vor allem ein Kritiker sei und darin sein Potential liege. Ähnlich wie zuvor Verkerk benannte er die genealogische Methode und die Diagnose des Nihilismus – verstanden als radikale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Werten überhaupt – als zentrale relevante Themen seines Denkens. Sie ergänzte noch die Frage nach dem Verhältnis von Normativität und Natur, wie sie das posthumanistische Denken bzw. der Neue Materialismus aufwerfe und die Frage danach, was Philosophie überhaupt sei.
Alle vier Herausgeber waren sich somit weitgehend einig darin, eine eher philologische, werkimmanente Lektüre Nietzsches zu favorisieren – Zittel warnte etwa vor einer „Flucht aus dem Text“ – und Interpretationen abzulehnen, die Nietzsches Texten Positionen entnehmen möchten. Nietzsche wolle scheitern und kein System schaffen, so Heit; das Scheitern sei die große Konstante in Nietzsches Leben, so Emden; Nietzsche habe erkannt, dass in der Moderne nur noch „falsche Götter“ möglich seien und die Lüge ihre Unschuld verloren habe, so Zittel. Sein berüchtigtes Spätwerk Ecce homo etwa sei eine reine Parodie, so Zittel weiter. Lemm sprach von der Gefahr politisierender Interpretationen Nietzsches und vom philologischen Ansatz als wichtigstem Gegenmittel gegen dieselben, als zentralem Fortschritt der Nietzsche-Forschung der letzten Jahrzehnte, der sich, wie Zittel ergänzte, um 2000 vollzogen habe. Wichtig an Nietzsche sei also vor allem seine Schreibweise, nicht so sehr, was er im Einzelnen schreibe – wobei die Herausgeber der Nietzsche-Studien einhellig zustanden, dass sie in ihrer Zeitschrift keine allzu experimentellen Texte abdrucken möchten.
Nietzsche erscheint so als Vordenker des „Antihumanismus“ und des Neuen Materialismus – so Lemm, die sogar davon sprach, dass die menschliche Intelligenz durch KI ersetzt werden sollte –; nicht als Überwinder des Nihilismus, sondern selbst als Nihilist, so Zittel und Emden, auch wenn er zugleich, so Emden und Heit, die Notwendigkeit von, wenn auch nie absoluten, Wertsetzungen für unsere menschliche Existenz betone.
Zuletzt wurde aus dem Publikum die Frage aufgeworfen, wo denn Nietzsches Philosophie nun eigentlich noch eine Zukunft habe. An der Universität? Diesbezüglich äußerten sich die Herausgeber der Nietzsche-Studien eher verhalten. Zittel empfahl, nicht aus Karrieregründen ein Forschungsthema zu wählen, das nicht zu einem passe, Lemm plädierte dafür, eine stärkere innerakademische und kulturelle Wertschätzung der Philosophie offensiv einzufordern.
III. Und nun?
Es handelte sich bei der Veranstaltung um ein Stelldichein des Mainstreams der aktuellen akademischen Nietzsche-Forschung, eine wechselseitige Bestätigung der eigenen Überzeugungen in familiärer Atmosphäre, die sich etwa darin zeigte, dass man sich meist duzte und mit Vornamen ansprach. Von den etwa 70 Zuhörern waren nahezu alle aus professionellen Gründen dort, selbst nach Studenten der umliegenden Universitäten suchte man vergebens. Kritisch könnte man sagen: linksliberale Anhänger des Postmodernismus unter sich. Aus der Sicht der anwesenden Forscher liegt die „Zukunft“ Nietzsches vor allem in der unbeirrten Fortsetzung der Gegenwart, einer textimmanenten, philologischen Lektüre Nietzsches in Anknüpfung an die Klassiker der „French Theory“ wie Foucault, Deleuze, Jacques Derrida, Butler oder jüngst Bruno Latour, den wichtigsten Verfechter des Neuen Materialismus.
Dagegen ist erst einmal nichts einzuwenden. Man möchte sich nicht ausmalen, wie eine Nietzsche-Konferenz aussähe, die von Ideologen der stärksten Partei Thüringens organisiert würde – man würde fast meinen, dass von zwei unterschiedlichen Philosophen die Rede sei. Nietzsche als radikaler Kritiker und Relativierer aller, vor allem rechter, Ideologien und „Wahrheiten“: Gerne! Mehr davon!
Besonders gut veranschaulichten diesen Blick auf Nietzsche die die Tagung visuell begleitenden Zeichnungen der deutsch-iranischen Künstlerin Farizane Vaziritabar. In einem karikaturhaften Stil hinterfragen sie immer wieder aufs Neue den Nietzsche-Kult vergangener Dekaden und seine (Selbst-)Heroisierung, ohne ihn darum jedoch ins Lächerliche zu ziehen. Er erscheint auf ihnen als Maskenspieler und Religionskritiker, als Vordenker der kritischen Philosophen des 20. Jahrhunderts von Sigmund Freud über Theodor W. Adorno und Jean-Paul Sartre bis hin zur „French Theory“. Als Titelbild der Tagung wurde indes, ganz dem Plädoyer Lemms entsprechend, ein KI-generierter Pop-Nietzsche gewählt.
Und doch sind Zweifel angebracht. Nietzsche kritisiert Skeptizismus, Nihilismus und nicht zuletzt die philologische Forschung in seinen Texten selbst immer wieder – auch wenn diesbezüglich natürlich wie stets das berühmte spöttische Diktum Kurt Tucholskys gilt: „Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen“. Wie Natalie Schulte, Tucholskys Bonmot aufgreifend, auf diesem Blog kürzlich betonte, sind Nietzsches Texte zwar mehrdeutig und oftmals verrätselt, aber darum auch nicht beliebig ausdeutbar. Seinen Perspektivismus verknüpft er mit der Aufforderung, eine „Rangordnung der Werthe zu bestimmen“9. Er ist nicht einfach nur Maskenspieler und Ironiker, sondern kritisiert an zahllosen Stellen die Maskerade und die Beliebigkeit der Moderne.10 Er möchte, dass sich Europa, dass sich die Welt, eine neue, selbstbestimmte Zukunft gestaltet,11 auch wenn er vage wird, wenn es um deren konkrete Gestalt geht. Ein Aufruf, der ja nicht bedeuten kann, es bei einem allgemeinen Hinweis auf die Relativität jeder Positionierung zu belassen, sondern der darauf hinausläuft, im Angesicht ihrer Relativität entschieden und mutig Positionen zu beziehen. Zukunft ist nicht zuletzt etwas, das ist Heidegger, Nietzsche und Bloch gleichermaßen zu entnehmen, das uns nicht einfach wie ein Gegenstand gegeben ist, sondern dass wir aufgerufen sind, aktiv zu gestalten: Wir sind es, die Nietzsche eine Zukunft geben oder nicht und es liegt an uns, als seinen Lesern und Interpreten, sie in verantwortungsvoller Weise zu gestalten, ohne dabei durch irgendeine Vergangenheit oder Gegenwart determiniert zu sein. Diese erhalten ihren Sinn vielmehr erst im Lichte dieses Entwurfs.
Diese Eindeutigkeit Nietzsches, die es in vielerlei Hinsicht neben aller „Differenz“ eben auch gibt, anzuerkennen, darin würde eher die Zukunft einer Nietzsche-Forschung liegen, die auch jenseits des eigenen Dunstkreises als relevant erschiene. Doch diese Anerkennung ist womöglich schwieriger und schmerzhafter als die ewig selbe Leier von Vieldeutigkeit, Ambiguität, Relativität etc., verweist sie doch nicht zuletzt auf Nietzsches problematisches politisches Erbe, auf das eingangs Heit und später vor allem, wenn auch eher subtil, Roodt hinwies. Die traurige, so von Roodt nicht ausgesprochene, aber doch überdeutlich angedeutete, Wahrheit: Womöglich wäre Nietzsche selbst eher ein Befürworter von politischen Projekten wie dem südafrikanischen Apartheidsregime als ihr Kritiker gewesen.
Es bräuchte nach Jahrzehnten der Philologisierung und Relativierung Nietzsches also wahrscheinlich eine erneute „inhaltistische“ – um einen Begriff Andreas Urs Sommers aufzugreifen, der bei der Konferenz ebenfalls sprach12 – Wende der Nietzsche-Forschung, die mit einer unzweideutigen politischen Positionierung im Sinne der politischen Ideale der Moderne, auf die Roodt hinwies, einhergeht. Sie sollte die mit diesen Idealen unvereinbaren Positionierungen Nietzsches schonungslos aufdecken und kritisieren, aber zugleich eben auch auf die wichtigen und zukunftsträchtigen Aspekte seines Denkens hinzuweisen, die diesen Positionierungen widersprechen und die bei der Konferenz zu Recht immer wieder benannt wurden. Denn belässt man es bei der reinen Skepsis, unterminiert man damit ja alle, auch die emanzipatorischen, Positionierungen; man unternimmt im Sinne der Emanzipation nur die halbe Arbeit der Kritik.
Dafür spricht zumal, dass während der Konferenz trotz aller Beteuerung von Nietzsches Vieldeutigkeit, Rätselhaftigkeit etc. es immer wieder die Inhalte seiner Schriften – wie etwa seine Einsichten zur Psychologie – waren, die auch von den Forschern selbst in den Vordergrund gerückt wurden. Ganz kann der „Textismus“ – so Sommers Ausdruck – dieses Moment also offensichtlich nicht tilgen, möchte er auch nur ein Körnchen lebensweltlicher Relevanz retten. Hic rhodus, hic salta! – Hier blüht die Rose eines erneuerten Nietzscheanismus, hier tanzt, ihr Forschenden!
Dieses Umdenken ist umso notwendiger, weil die Zukunft Nietzsches sonst wohl unweigerlich von anderen Kräften geschrieben werden wird als sich die Teilnehmer der Konferenz unisono wünschen würden. Nur am Rande wurde auf die Gefahr eines erneuerten Rechtsnietzscheanismus hingewiesen.13
Dies soll alles nicht die Verdienste der philologischen Nietzsche-Interpretation schmälern. Es soll vielmehr darauf hingewiesen werden, dass es, im Sinne eines hegelianischen Dreischritts, wohl an der Zeit ist, auf die zahllosen Vereindeutigungen Nietzsches, die bis in die 70er Jahre erfolgten, und die sukzessiven Veruneindeutigungen seiner Philosophie einen neuen Weg zu finden im Sinne einer informierten Vereindeutigung, die die Ergebnisse der philologischen Forschungen nicht ignoriert, sondern aufgreift, um einer erneuten Auseinandersetzung mit den Inhalten von Nietzsches Denken den Weg zu bereiten. Das von Verkerk erwähnte wachsende Interesse ihrer Studenten an marxistischen Nietzsche-Interpretationen – genauso wie an feministischen, rassismuskritischen oder solchen innerhalb der Disability Studies – erweckt Hoffnung, dass sich diese Entwicklung, als Antwort auf den erneuerten Rechtsnietzscheanismus, dessen Renaissance jenseits der universitären Nietzscheforschung schon längst stattfindet, ebenso unweigerlich vollziehen wird. Und ebenso notwendig wird sich der anscheinend noch unentschlossene Mainstream der akademischen Nietzsche-Forschung in dieser Hinsicht positionieren müssen. Ein erneuerter aufgeklärter Humanismus, wie ihn etwa Bloch in seiner spezifischen Synthese von Marx und Nietzsche verfocht, könnte die Frucht dieser Bemühungen sein, vielleicht gar ein kollektiver kultureller Aufbruch wie derjenige, der sich um 1900 in Weimar und ganz Europa, angespornt nicht zuletzt von Nietzsches Ideen – die damals ganz „naiv“ verstanden wurden – vollzog.
IV. Anekdotisches Nachspiel
Während der Pausen hielt ich mich immer wieder vor dem Tagungsort, dem Kulturzentrum mon ami im Herzen Weimars, auf. Passanten kommen und gingen und begutachteten neugierig, was dort heute denn los sei. Manche fragten auch einfach nur nach der Toilette, niemand blieb. Einer zitierte aus dem Kopf eine der zahllosen misogynen Stellen aus Jenseits von Gut und Böse14 und meinte feist: „Das ist frauenfeindlich – na und?“ Ob er wohl ein paar Wochen zuvor Höcke gewählt hat? Ob ihn die Teilnahme an der Konferenz im Sinne des erhofften „Aufbruchs“ vom Gegenteil überzeugt oder ihn zumindest zu einer Relativierung seiner Position gebracht hätte?
Auf der Heimfahrt begegnete ich dann einem Einheimischen, der sich als Dichter von recht originellen Rätselversen zu erkennen gab. Sie erinnerten mich teilweise ein wenig an Nietzsches Aphorismen. Stolz zeigte er mir auf dem Smartphone einen Fernsehbericht von einer seiner Lesungen und erzählte mir, dass er von seinen Büchern schon mehrere tausend Stück verkauft hatte. Ich schwieg lieber über die Verkaufszahlen der meinen und wahrscheinlich überbot er in Sachen Verkaufserfolg so gut wie alle der Forscher, die heute gesprochen hatten. Und noch nicht einmal das Weimarer Lokalfernsehen hat sich in Nietzsches Zukünfte verirrt.
Wie die Einsichten der Philosophie populär machen, ohne sie zu popularisieren? Das war vielleicht die eigentliche Hintergrundfrage der Konferenz und die schwindenden Forschungsgelder sind ja nur ein Ausdruck dieses Problems. Welche Zukunft hat die Philosophie? Hat die Philosophie als akademische Disziplin?
Doch vielleicht ist die Frage so auch falsch gestellt. Die Philosophie wird, sofern sie irgendeinen Wert hat, immer eine Zukunft haben. Wenn sie ihn nicht hat, müsste man mit Nietzsche darüber nicht trauern, sondern einsehen: „[W]as fällt, das soll man auch noch stossen! Das Alles von Heute – das fällt, das verfällt: wer wollte es halten! Aber ich – ich will es noch stossen!“15 Nietzsche wird immer seine Leserinnen und Leser finden, solange wir in einer Kultur leben, die der seinigen gleicht. Er, Platon, Hegel, Kant, so viele andere: Sie alle sind zu etwas vorgedrungen, das vielleicht sogar ewig gilt, solange es Menschen gibt. Selbst wenn es nicht so wäre, so müssen doch wir, als Philosophen, die sich selbst ernst nehmen, daran glauben. Und ebenso ist es mit der Zukunft des Humanum, mit der Zukunft der Demokratie bestellt. Hoffnung ist ein Prinzip, ein Prinzip, das sich selbst erfüllend Zukunft ermöglicht. Das Denken, das Hoffnung und Glauben vergiftet, kann keine Zukunft haben. Oder, in den Worten des frühen Nietzsche, gegen die Philologie gerichtet, einen bedeutenden Humanisten aus Weimar zitierend:
Historie aber, die nur zerstört, ohne dass ein innerer Bautrieb sie führt, macht auf die Dauer ihre Werkzeuge blasirt und unnatürlich: denn solche Menschen zerstören Illusionen, und „wer die Illusion in sich und Anderen zerstört, den straft die Natur als der strengste Tyrann.“16
Die Photographien zu diesem Artikel stammen von Paul Stephan. Das Artikelbild ist eine Zeichnung von Farizane Vaziritabar.
Literatur
Bataille, Georges: Nietzsche und die Faschisten. In: Wiedergutmachung an Nietzsche. München 1999.
Sommer, Andreas Urs: Was bleibt von Nietzsches Philosophie? Berlin 2018.
Fußnoten
1: Georges Bataille, Nietzsche und die Faschisten, S. 164.
2: Auf der Tagung wurde mehr oder weniger davon ausgegangen, dass diese beiden Interpretationsstränge letztendlich ein Strang seien. Bzw. es wurde unterstellt, dass beide Stränge letztendlich auf dieselbe Interpretation hinausliefen. Ich sehe hier allerdings durchaus eine gewisse Spannung, die man vertieft hätte diskutieren müssen. Der Begriff der „Philologie“ wurde zudem synonym mit „textimmanenter Lektüre“ gebraucht, was man auch bezweifeln könnte angesichts der Vielfalt philologischer Methoden.
3: Also sprach Zarathustra, Das Honig-Opfer.
4: Also sprach Zarathustra, Vom Lesen und Schreiben.
5: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 343.
6: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 108.
7: Wobei Simonin betonte, dass diese Theorieströmung mittlerweile gar nicht mehr so „french“ sei.
8: So sei ein männlicher Student bei der Diskussion einer scheinbar misogynen Passage in Tränen ausgebrochen und er habe verzweifelt gefragt „Wie kann man so etwas nur denken?“, während ein Kommilitone begeistert gemeint habe, dass Nietzsche doch vollkommen Recht habe in seiner Kritik des Feminismus.
9: Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 17.
10: Man denke nur an den berühmten Abschnitt Vom Lande der Bildung im Zarathustra. Einer seiner letzten Sätze lautet: „So liebe ich allein noch meiner Kinder Land, das unentdeckte, im fernsten Meere: nach ihm heisse ich meine Segel suchen und suchen“. Hans Ruin wies darauf hin, dass die schwedische Feministin Ellen Key einen fast gleichlautenden Satz aus einem anderen Abschnitt des Buches ihrem Hauptwerk Das Jahrhundert des Kindes voranstellte.
11: Heit verwies zu Recht auf die wichtige Stelle aus Ecce homo: „Meine Aufgabe, einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen grossen Mittag, wo sie zurückschaut und hinausschaut, wo sie aus der Herrschaft des Zufalls und der Priester heraustritt und die Frage des warum?, des wozu? zum ersten Male als Ganzes stellt“ (Morgenröthe, Abs. 2). – Hier berühren sich Nietzsche und Marx, hier wagt sich selbst noch der späte Nietzsche ganz weit in das Niemandsland der Utopie vor, orientiert sich ins Blaue hinein, von dem wenige Jahrzehnte später Bloch schrieb. Es ist keine fröhliche, sondern eine traurige Wissenschaft, in derartigen Lichtblicken eine reine „Parodie“ zu erblicken.
12: Vgl. Sommer, Was bleibt von Nietzsches Philosophie?, S. 28–41.
13: Simonin etwa sprach nur in einem Nebensatz von einigen französischen „Youtubern“, die neuerdings für eine rechte Nietzsche-Interpretation werben würden. Wenn er damit jedoch Autoren wie Julien Rochedy meint, deren Videos zu Nietzsche bisweilen Hunderttausende, wenn nicht Millionen, von Klicks erreichen – seiner Nietzsche-Interpretation werden wir in Kürze einen eigenen Artikel auf diesem Blog widmen –, dann wirkt das wie eine gehörige Untertreibung; Simonin dürfte froh sein, mit einem seiner zweifellos wissenschaftlich fundierteren Artikel auch nur ein paar Hundert Leser zu erreichen.
14: Es war, wenn ich mich recht entsinne, der 145. Aphorismus.
15: Also sprach Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 20.
16: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Abs. 7.