Was bedeutet Nietzsche für mich?

Was bedeutet Nietzsche für mich?

12.3.24
Paul Stephan
In der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ werden unsere Stammautoren in den nächsten Wochen ihren je persönlichen Zugang zu Nietzsche und seinem Denken vorstellen. Unser leitender Redakteur Paul Stephan macht den Anfang und berichtet darüber, wie er als Jugendlicher Nietzsche entdeckte – und sich heute nicht mehr unbedingt als „Nietzscheaner“ versteht.

In der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ werden unsere Stammautoren in den nächsten Wochen ihren je persönlichen Zugang zu Nietzsche und seinem Denken vorstellen. Unser leitender Redakteur Paul Stephan macht den Anfang und berichtet darüber, wie er als Jugendlicher Nietzsche entdeckte – und sich heute nicht mehr unbedingt als „Nietzscheaner“ versteht.

Wie wahrscheinlich für viele war Nietzsche auch für mich einer der ersten Philosophen, den ich gelesen habe. Mit etwa 14 Jahren begann ich mich für die Bücher zu interessieren, die bei meinen Eltern im Regal standen und die einen Hauch des Subversiven versprühten. Das waren so gut wie keine philosophischen Werke, die interessierten meine Eltern eher weniger. Das einzige eigentlich philosophische Werk, das bei uns im Bücherregal stand – wenn auch ungelesen – war Kants Kritik der reinen Vernunft, die mich allerdings in jenem Alter nur bedingt interessierte. (Nur seine Widerlegungen der Gottesbeweise las ich mir als Schüler einmal durch und sie bestärkten mich in meinem Atheismus.) Und es gab dort sogar eine Freud-Ausgabe, in der ich als Pubertierender hin und wieder neugierig blätterte.

Mit etwa 12 Jahren allerdings hatte ich bereits, ich weiß nicht mehr wie, Sofies Welt von Jostein Gaarder in die Hände bekommen. Über diese Lektüre hatte sich bei mir ein gewisses Interesse für Philosophie entwickelt und ich war zum ersten Mal mit Nietzsches Ideen in Berührung gekommen und fasziniert von ihnen gewesen. Es war eine fundamentale Alternative zu der mir vertrauten Sichtweise, vor allem zum Christentum meiner Eltern. Das war in jener Zeit eigentlich mein Hauptthema: Die kritische Auseinandersetzung mit der damaligen christlich-konservativen Ideologie meiner Eltern und die Suche nach Alternativen zu ihr. Ich interessierte mich eigentlich für alles, was davon abwich. Ich las etwa begeistert Feuerbachs Das Wesen des Christentums, Schriften von und über Marx, zum Buddhismus. Meine literarischen Helden wurden schnell – nachdem ich Tolkiens und Rowlings Welten durchquert hatte – Kafka und Hesse. Hesse sogar noch eher als Kafka. Die Anspielungen auf Nietzsche in seinen Werken und die Lektüre einer Hesse-Biographie, in der Nietzsches Einfluss auf ihn hervorgehoben wurde, nahmen mich endgültig für Nietzsche ein.

Mein erstes Buch war, soweit ich mich entsinne, Also sprach Zarathustra. Auch die Geburt der Tragödie las ich früh, weil ich mich auch sehr für die griechische Antike interessierte. Heute kaum zu wiederholende Lektüreerfahrungen, alles war aufregend und neu. Ich verstand mich als Freigeist im Sinne Nietzsches, als nietzscheanischer Marxist oder marxistischer Nietzscheaner. Viele meiner damaligen Freunde hatten eine ähnliche Sicht auf die Welt. Ich erinnere mich, dass einer von ihnen, dem ein Freund seinen Liebeskummer klagte, diesem lakonisch empfahl, doch einfach den Zarathustra zu lesen, dann würde er schon darüber hinwegkommen.

Ich denke im Nachhinein, doch schon einige Jahre älter, dass meine Freunde und ich ein Stück weit zum Opfer von Nietzsches manipulativer Rhetorik wurden. Nietzsche – vor allem in der Rolle seines Propheten – suggeriert dem Leser, schon qua Lektüre seiner Schriften „etwas Besonderes“ zu sein, aus der „Herde“, der „tumben Masse“ herauszustechen. Er appelliert an seinen Narzissmus. Ich denke, dieser Aspekt seiner Schriften ist einer der Hauptgründe für ihren Erfolg und das, was Nietzsche in gewisser Hinsicht wirklich „gefährlich“ macht. Nicht unbedingt politisch, sondern psychologisch: Er liefert eine Ideologie, die es einem ermöglicht, sich im eigenen Narzissmus zu vergraben und verstärkt ihn dadurch. Man wird Teil einer Art, paradoxen, Gemeinde von „freien Geistern“ – um nicht zu sagen: „Genies“ –, die einzig der Name „Nietzsche“ eint, wie es vielleicht in unschuldigeren Zeiten derjenige Klopstocks tat. Man bewundert Nietzsche, doch in Wahrheit nur sich selbst und die eigene „Individualität“, „Kreativität“, „Originalität“. Man versteht Nietzsches Texte eigentlich nicht – man geht in ihnen auf, lebt mit ihnen.

Diese Phase bzw. diese Stimmung kommt mir im Nachhinein sehr unangenehm, sogar ein wenig peinlich vor, doch ich denke, es war eine wichtige Durchgangsphase und Nietzsche kann gerade durch diesen Aspekt seiner Schriften enorme kreative und intellektuelle Potentiale in seinen Lesern entfesseln. Sie ermutigen dazu, „anders“ zu sein, Dinge zu denken und zu tun, die man sich vorher nicht getraut hätte, sie führen zu einer bisweilen rauschartigen Enthemmung des eigenen Gefühls von Größe. Und sollte dieses Gefühl von der Mitwelt nicht bestätigt werden, sollte man im Gegenteil gekränkt werden, bietet Nietzsche sofort das passende Heilmittel: „Was scheren dich diese Marktplatzmenschen – du weiß doch, dass du besser als sie bist?“ Es war nicht zufällig Nietzsches Freundin und, womöglich, Geliebte Lou Andreas-Salomé, die 1921 die wegweisende psychoanalytische Studie Narzißmus als Doppelrichtung veröffentlichte und darin die produktive Funktion des Narzissmus für Künstler und Denker – „Schaffende“ – aufdeckte. Ja: Man muss wohl, frei nach Nietzsche, einen Hauch Narzissmus in sich tragen, um etwas Bedeutendes in Kunst oder Philosophie hervorbringen zu können; vielleicht sogar in allen anderen Lebensbereichen.

Doch mittlerweile bin ich, wie man so sagt, „reifer“ geworden und diese ganze Denkweise stößt mich ab. Nietzsche heilt den Narzissmus seiner Leser nicht, sondern bekräftigt ihn und bietet allenfalls eine „Schiefheilung“ an, indem er ihn immer tiefer in eine narzisstische Denkstruktur verwickelt. Ich bin jedoch mittlerweile fest davon überzeugt, dass wahre künstlerische, philosophische und vor allem menschliche Größe aus einer ganz anderen Richtung kommt. Rousseau schätze ich mittlerweile höher als Nietzsche, sogar Christus höher als Dionysos. Ein Christ könnte an Nietzsche leicht vorbeigehen und sich mitleidig denken: „Dieser arme verwirrte Mensch; hat er noch nichts davon gehört, dass Christus vor 2.000 Jahren auferstanden ist? Er ist wahrhaftig auferstanden!“ – Die großen Künstler, Heiligen, Denker – wenn „Größe“ überhaupt ein Wert an sich ist, auch das bezweifle ich mittlerweile – waren vielleicht auch selbstbezogene Egoisten, doch in ihrem Egoismus öffneten sie sich zugleich für etwas Höheres, das aus ihren Werken zu uns spricht; egal, ob man das nun „Gott“ oder anders nennen möchte. Sie sprechen nicht als Einzelne, sondern als Gattungsmenschen. Sie meinen nicht, sie denken.

Doch mit all dem treffe ich Nietzsche selbst nicht. Denn sobald man einmal den eigenen Narzissmus in Frage gestellt hat und in Nietzsches Texten nicht mehr nur eine Quelle der Selbstbestätigung findet, kann man seine Philosophie wirklich entdecken und wird feststellen, dass sie noch viel mehr und Anderes zu bieten hat. Dass man Nietzsche zuvor eben nicht verstanden hatte. Das narzisstische Potential ist in seinen Texten ebenso verborgen wie das Gegenteil, wenn man sie nur genau liest. Nietzsche wäre seinerseits allenfalls ein mediokrer Sonderling wie Max Stirner oder Arthur Schopenhauer – deren Fans mir diese Bemerkung verzeihen mögen (ich schätze beide Autoren sehr, doch messe sie eben an dem höchsten Maß) – geblieben, wenn er diesen Schritt nicht selbst gegangen wäre, wenn er nicht den Schritt ins Offene, hinein in die Selbstüberwindung gewagt hätte.

Es blieb für Nietzsche jedoch beim Traum vom Übermenschen. Er konnte den Schritt nicht endgültig gehen. Doch genau das macht ihn uns so nah und sein Denken so vertraut, wenn wir es recht verstehen: Diese Zerrissenheit zwischen Selbstbezug und Öffnung, zwischen Niedrigkeit und Höhe, zwischen „letztem Menschen“ und „Übermensch“, die in seinen Texten selbst so wortreich und schroff immer wieder ausgetragen wird. Wir werden bei ihrer Lektüre die Zeugen eines inneren Kampfes, der in der Weltliteratur seinesgleichen sucht – und der eben, so möchte ich behaupten, auch unser Kampf ist oder zumindest eine bestimmte Stufe der intellektuellen Reife markiert, durch die wir alle hindurchgehen müssen.

Es gibt für mich daher auch keinen Anlass, Nietzsche zu verwerfen oder mich von ihm loszusagen. Nachdem Nietzsche kein „Götze“ mehr für mich ist, ist er nun einfach ein Mensch und wird dadurch erst als Denker und Schriftsteller interessant.  Unter diesen steht er für mich noch immer in der vordersten Reihe, auch wenn ich mich manchmal frage, ob Hegel nicht eigentlich subversiver als Nietzsche ist, in einer Zeit, in der „Gott ist todt“1 und „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“2 schon längst als Kalendersprüche – oder eben Instagram-Memes – taugen. Doch selbst, wenn man in Hegels Systemidee unser Ideal sehen wollte, muss man doch anerkennen, dass Nietzsche unsere Realität ist. Ihn zu verdammen, wäre Selbstverleugnung; ihn zu heiligen wäre Selbstverdummung.

Wenn ich etwa Rousseau lese, bin ich bisweilen gerührt, geradezu mitgerissen von dem reinen Pathos seiner Schriften, seinem tiefen Glauben an das Gute, an die Menschheit, an die „Natur“. Doch ich weiß, dass man heute nicht mehr so denken, nicht mehr so schreiben könnte. Manche Texte Nietzsches hingegen wirken so, als wären sie erst gestern verfasst worden. Sein „Wahn“ ist der Wahn einer Epoche, die noch nicht beendet ist. Er vermag es nicht, eine Heilung anzubieten, doch er ist der erste aufrichtige Chronist, Zeuge und Seher dieses Wahns. Wir, die wir auf der Suche nach Heilung sind, individuell wie kollektiv, müssen uns immer wieder in diesen Strudel stürzen getreu seiner eigenen Maxime „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“3. Wir dürfen nur nicht darin ertrinken.

Ideen wie der „Übermensch“, die „schenkende Tugend“, die „ewige Wiederkunft“, der „letzte Mensch“, der „Nihilismus“ … Die Vision einer Welt ohne Gott und ohne Wahrheit. Die Geschichte als ewiger Kampf zwischen Dionysos und Apoll, Herren und Sklaven, Ressentiment und Herrlichkeit, Mann und „Weib“ – all das sind vielleicht unwahre Ideen, doch darum noch lange keine toten, keine widerlegten. Man muss sie immer wieder durchdenken, immer wieder neu nach Auswegen und Schlupfwinkeln suchen, sich immer wieder neu von ihnen faszinieren lassen.

Insofern kann ich durchaus die Polemik von Denkern wie Georg Lukács und Wolfgang Harich gegen Nietzsche teilen. Ja, in Nietzsche steckt viel „Böses“, viel geradezu Lächerliches, er ist ein philosophischer Feind der Vernunft. Doch ich bin ebenso von Carl Schmitt belehrt – und dieser Satz könnte auch von Nietzsche selbst stammen: „Der Feind ist unsere eigne Frage als Gestalt.“ – Und ich füge dem mit Nietzsche selbst seine vielleicht weisesten Worte hinzu:

„Freunde, es giebt keine Freunde!“ so rief der sterbende Weise;
„Feinde, es giebt keinen Feind!“ – ruf’ ich, der lebende Thor.4

Fußnoten

1 Die fröhliche Wissenschaft, 125.

2 Zur Genealogie der Moral, III, 24.

3 Götzen-Dämmerung,Sprüche und Pfeile, 8.

4 Menschliches, Allzumenschliches I, 376.