Splendid Isolation, Stiff Upper Lip
Nietzsche und die Tragik akademischen Außenseitertums
Splendid Isolation, Stiff Upper Lip
Nietzsche und die Tragik akademischen Außenseitertums
„Keep a stiff upper lip“, „halt die Oberlippe steif“, sagt man in England, wenn man seinen Gesprächspartner dazu aufrufen möchte, im Angesicht der Gefahr durchzuhalten und eine aufrechte Grundhaltung zu bewahren. Ein Rat, der sicherlich oftmals hilfreich ist. Um eine solche stoische Position muss man sich umso mehr als akademischer Außenseiter bemühen, der sich einerseits vom wissenschaftlichen Mainstream abgrenzt, andererseits jedoch auch auf seine Anerkennung angewiesen ist. In einer solchen delikaten Lage befand sich Nietzsche selbst, aber auch zahlreiche seiner Bewunderer. Ausgehend von mehreren solcher Außenseiterfiguren (neben Nietzsche selbst etwa Julius Langbehn und Paul de Lagarde) entwickelt Christian Saehrendt in diesem Beitrag eine Typologie der (vielleicht nicht immer ganz so) „glänzenden Isolation“ des akademischen Nonkonformismus.
I. Nietzsche, Lagarde, Langbehn
Wer gehört eigentlich zur seriösen akademischen Welt? Und wer bestimmt darüber? Das Aushandeln und Definieren der wissenschaftlich-akademischen Exklusivität ist ein dauerhaftes Problem, denn die Art der Auseinandersetzung mit dem „Außen“ prägt den akademischen Betrieb zugleich im Inneren. Friedrich Nietzsche wusste davon ein Lied zu singen, aber auch andere Intellektuelle seiner Zeit lebten und litten in „glänzender Isolation“, weil sie vom akademischen Betrieb als fachfremde Seiteneinsteiger, unprofessionelle Amateure, Dilettanten oder Hochstapler ausgegrenzt wurden.
Trost und Hoffnung der Isolierten war und ist die Tatsache, dass es ihresgleichen von Fall zu Fall gelingt, große publizistische Erfolge zu erringen und starke Beachtung der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen – was ihnen wiederum Neid und noch tiefere Abneigung des akademischen Betriebs einbringt. Beispielhaft verdeutlicht wird dies bei Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Oswald Spengler. Im Zeitraum 1880 bis 1930 bestimmten diese Kulturkritiker und Bestsellerautoren den geisteswissenschaftlichen Diskurs in Deutschland maßgeblich mit, obwohl sie allesamt akademische Außenseiter und sozial isolierte Exzentriker waren. Langbehn und Spengler bezogen sich stark auf Nietzsche, der als Wissenschaftskritiker und ebenfalls als akademischer Außenseiter seiner Zeit galt, und der wiederum vom Eigenbrötler Lagarde beeindruckt war.
Auch Nietzsche passte perfekt in das Schema des ungeselligen, charakterlich „schwierigen“ Privatgelehrten, der weder starke familiäre noch gesellschaftliche Bindungen hatte und vom akademischen Betrieb weitgehend gemieden wurde. Während Nietzsche erst posthum berühmt wurde, konnten die intellektuellen Außenseiter Langbehn und Spengler bereits zu Lebzeiten zu gleichwohl umstrittenen wie auch vielbeachteten Stars des Kulturlebens aufsteigen. Dabei surften sie auf den Wellen der Nietzsche-Rezeption. Während Langbehn vergeblich die Vormundschaft über den kranken Nietzsche zu erlangen versuchte, wurde Spengler in der Weimarer Republik zu einem wichtigen Exponenten der etablierten Nietzsche-Community1. In zwei biographischen Skizzen wird nun zunächst Lagarde als Prototyp des Wissenschaftsaußenseiters geschildert, bevor Langbehn als Nietzsche-Epigone in den Blick kommt. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Nietzsches Lebenswandel werden auf diese Weise deutlich.
Paul de Lagarde alias Anton Böttcher (1827-1891) war einer der bekanntesten Kulturkritiker im deutschen Kaiserreich gewesen. Sein Hauptwerk, die 1878 erstmals erschienenen Deutschen Schriften, verband moralische Kritik am Bildungswesen, an der Kultur und den Sitten mit einem extremen Nationalismus. Wurzeln seines Denkens waren Protestantismus und preußisches Ethos, Grundton seiner Schriften ein tiefer Kulturpessimismus, vorgetragen in einer „Art weinerlichen Heroismus.“2 Unter Wissenschaftlern war er wegen seines antiquierten Weltbilds und mangelnden Methodenbewusstseins umstritten. Fünfzehn Jahre musste er auf einen Lehrstuhl warten und unterrichtete zwischenzeitlich an Schulen, bis er 1869 eine Berufung an die Universität Göttingen erhielt. Seine Streitsucht galt als notorisch. Er stand u. a. im Briefwechsel mit Richard Wagner. Nietzsche war von Lagardes Schriften beeindruckt, las ihn aber auch kritisch, während Lagarde keinerlei Interesse an Nietzsche zeigte.3 In seinem letzten Lebensjahrzehnt näherte sich Lagarde der antisemitischen Bewegung um Nietzsches Schwager Bernhard Förster an. In der Nachkriegssituation ab 1919 setzte eine zweite Rezeptionswelle ein. Nun konnte Lagarde all jenen als bequemer Nietzsche-Ersatz dienen, denen Nietzsches Äußerungen zum Deutschen Reich und zum Judentum zu komplex und unpatriotisch erschienen.4 Mit Nietzsche verband ihn sein hoher Anspruch an sich selbst und sein enormes Arbeitspensum:
Freilich fehlte Lagarde die geistige Experimentierfreude des Philosophen, und seine hervorstechenden Charakterzüge wie Neid, Geiz und Verbitterung lassen die innere Verhärtung spüren. Den Groll gegen einzelne Kollegen trug er oft jahrelang mit sich, ehe er öffentlich explodierte, und längst vergangene Kränkungen durchlebte er innerlich immer wieder neu. […] Im Kampf gegen die eigene innere Leere, die sich in massiver Erschöpfung und Lebensüberdruss äußerte, sprach er sich mit lauter Stimme selbst Mut zu[.] […] Lagardes Schicksal zeigt, wie eng psychische Versehrtheit, gezielte Selbststilisierung und charismatische Wirkung zusammenhängen können.5
Julius Langbehn (1851-1907) hatte in Kiel und München diverse Fächer studiert, bevor er mit 29 Jahren promoviert wurde – damals ein fast „biblisches“ Promotionsalter. Anschließend führte er etwa ein Jahrzehnt lang ein unstetes Leben mit wechselnden Arbeitsstellen und Wohnsitzen. Im akademischen Betrieb konnte er nicht Fuß fassen. 1891 schickte er demonstrativ seine Promotionsurkunde in Fetzen zerrissen an die Alma Mater, die Universität München, zurück. Sein anonym verfasstes Essay Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen war sein einziger, wenn auch durchschlagender literarischer Erfolg. Das Buch verbreitete pangermanisches Sendungsbewusstsein und verband irrationalen Wissenschaftshass mit globalem kulturmissionarischem Eifer. Den Titel hatte er bewusst als Anspielung auf Nietzsches dritte Unzeitgemäße Betrachtung, Schopenhauer als Erzieher, gewählt. Langbehn übernahm Gedanken des jungen Nietzsche und integrierte sie in ein deutschnationales Weltbild. Spätere Werke Nietzsches lehnte er als „Verirrungen“ ab. Bald nach Erscheinen wurden Lagarde, Georg E. Hinzpeter, der Hauslehrer Wilhelms II., und gar Nietzsche selbst als Autoren des Rembrandt-Buches vermutet, dessen aphoristischer, gekünstelter Stil wie „ein ungeschickter Versuch, Nietzsches späte Prosa nachzuahmen“6 wirkte. Langbehn outete sich schon im Januar 1890 gegenüber dem von ihm verehrten Lagarde als Autor,7 bevor die wahre Verfasserschaft Langbehns allgemein bekannt wurde, und er erhielt den Beinamen „der Rembrandtdeutsche“. Der Erfolg des Buches war ein Ausdruck der damaligen mystischen Erwartungshaltung, die nach Propheten aller Art, vor allem aus dem Reich der Kunst, verlangte. Die stilistischen und gedanklichen Mängel im Text wirkten unter diesen Umständen vorteilhaft: Chaos und Absurdität konnten Tiefsinn und Hintergründigkeit vortäuschen, ständige Wiederholungen hatten einen hypnotischen Effekt, abweichender Satzbau und Interpunktion suggerierten einen individuellen „kreativen“ Ausdruck, mangelnde Argumente und Fußnoten entsprachen der schreibenden „Genialität“, die Nennung anerkannter Künstler und historischer Personen simulierte Belesenheit und verlieh Autorität. Viele bekannte Rezensenten schrieben ausführliche und positive Besprechungen. Häufig wurde Langbehn als Erbe des verstummten Nietzsche gesehen. Langbehn unternahm im Winter 1889/90 sogar einen Versuch, diesen zu heilen. Nachdem er das Vertrauen seiner Mutter erworben hatte, begleitete er Nietzsche wochenlang auf Spaziergängen, redete auf ihn ein, verleumdete seine Ärzte und Freunde und forderte schließlich gar die Vormundschaft über den Kranken.8 Fatal war, dass die Verbreitung von Langbehns Ideen mit der ersten nennenswerten Welle der Nietzsche-Rezeption zusammenfiel, so konnten beide als Propheten einer individualistischen Kunstreligion erscheinen und Langbehn sogar als Erbe des Philosophen und Wegweiser durch dessen Ideen betrachtet werden. Langbehn habe Nietzsche „weit mehr als es bis dahin der Fall war, unter das Volk gebracht“9, resümierte Erich F. Podach bereits 1932.
II. Mechanik der Ablehnung: Der akademische Betrieb im Konflikt mit Außenseitern
Anhand einiger formaler Kriterien lässt sich leicht feststellen, ob jemand zum etablierten Wissenschaftsbetrieb gehört: akademischer Grad und Affiliation, Publikationen in etablierten Zeitschriften und bei seriösen Verlagen, Präsenz bei wissenschaftlichen Tagungen, in Jurys, als Gutachter und in Berufungskommissionen.
Das bedeutet nicht, dass der Nichtintegrierte keine Ideen von außen in den Betrieb einbringen darf, aber er wird es viel schwerer haben, Gehör zu finden als jemand, der sich schon innen befindet. In früheren Zeiten, als die Zersplitterung der Disziplinen noch nicht so weit fortgeschritten war und viele als Privatleute Wissenschaft betrieben haben, war das noch einfacher.10
Das Aushandeln und Definieren der wissenschaftlichen Exklusivität ist ein permanenter Prozess im akademischen Betrieb. Die Umgangsweise mit Außenseitern, Minderheitsmeinungen und Laien bestimmt sein Binnenklima und seine Innovationsfähigkeit. Bei der Begutachtung von Außenseiterpositionen leiden die Insider unter einem grundsätzlichen Problem: bei vielen Forschern ist – im positiven Sinne – eine manische Fixiertheit anzutreffen, ein unbedingter Wille, ein Problem zu lösen oder eine Erklärung zu finden, oder ein stark fokussierter Flow, der sich bei Experimenten und Berechnungen einstellt. Die psychische Energie, die in die Forschung fließt, kann zugleich einen Tunnelblick und die Vernachlässigung sozialer Kontakte und Konventionen mit sich bringen. Dieser manchmal manische oder nerdige Habitus verbindet den seriösen Forscher mit einem psychisch beeinträchtigen Außenseiter: „Die gleiche unablässige geistige Arbeit lässt sich jedoch bei jedem beliebigen Paranoiker beobachten und es ist häufig schwierig, einen genialen Kreativen von einem Wirrkopf zu unterscheiden.“11 Zudem erfordert die Arbeitsweise des Wissenschaftlers eine ständige Verfeinerung und Vervollkommnung einmal aufgestellter Theorien, was zu einer Fixiertheit auf bestimmte Methoden und Ergebnisse führen kann, welche bisweilen im Alter in einen fortschrittshemmenden Starrsinn mündet:
Gewöhnlich versuchen anerkannte und mächtige Wissenschaftler, die gerade veraltende Vorstellungen vertreten, auf jede Weise andere Wissenschaftler zu bremsen und ihnen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, wenn diese einen neuen Weg beschritten haben.12
Leider gibt es für dieses Problem fast nur eine biologische Lösung, wie Nobelpreisträger Max Planck einmal konstatierte:
Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß ihre Gegner allmählich aussterben und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.13
Die Ablehnung von Wissenschaftsaußenseitern durch etablierte Forscher und Funktionäre basiert also oft auf einem „Fehlurteil des Kompetenten“, der nicht in der Lage ist, von seinen erworbenen Überzeugungen zu abstrahieren und der somit stur auf der Schulmeinung beharrt. Fachliche Autoritäten neigen dazu, Positionen, die ihren Theorien widersprechen, als irrelevant oder gar als unwissenschaftlich abzutun. Sie suchen in diesem Sinne nach Fehlern und Anzeichen von Unseriosität und werden vor allem bei formalen oder sprachlichen Details fündig, während sie die Argumente und theoretischen Inhalte des Gegners missachten:
Die Bedeutung solcher kleinen Unzulänglichkeiten rückt um so mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn eine Idee von Jemanden kommt, der nur geringes Ansehen geniesst, kaum Qualifikationsbeweise besitzt und vielleicht außerdem noch charakterlich auffällig, unangepasst, übermässig aggressiv und größenwahnsinnig, oder im Gegenteil allzu bescheiden und zurückhaltend ist. Der Wissenschaftler lässt sich folglich von seiner eigenen Kompetenz und Antipathie in die Irre führen und fällt schließlich ein negatives Urteil.14
Weil ein „Crank“ (=Wirrkopf, Querdenker) oder vornehmer „Maverick“ (=Außenseiter, aber auch „herrenlos“, also frei)
nicht zum Wissenschaftlerkorps gehört, sind Veröffentlichungen schwierig, die notwendig dilettantische Präsentation und der aggressive Ton rechtfertigen eine oberflächliche Analyse seiner Ideen und machen ihre Ablehnung wahrscheinlicher. Was folgt, ist eine Reihe von Diskriminierungen, die den Angegriffenen noch aggressiver machen, und die Wahrscheinlichkeit, als Verrückter abgelehnt und an den Rand gedrängt zu werden, steigt erheblich.15
III. Typologie des wissenschaftlichen Außenseiters
Endohäretiker kritisieren den Wissenschaftsbetrieb von innen, weil sie einen, wenn auch umstrittenen, Status innerhalb desselben besitzen, während Esohäretiker von außen an den Wissenschaftsbetrieb herantreten und von diesem in der Regel vollständig abgelehnt werden. In manchen Fällen verwandelten sich Endohäretiker, die den Wissenschaftsbetrieb durch Pensionierung, Ausschluss oder freiwilligen Austritt verließen, in Esohäretiker. Auch Nietzsche fällt in letztere Kategorie.
Wenn Häretiker auf eigene Faust und ohne Unterstützung der akademischen Bürokratie ihre Forschung fortsetzen wollen, ist dies nur möglich, wenn privates Vermögen oder außeruniversitäre Sponsoren zur Verfügung stehen. Nietzsche zehrte von der ihm zuerkannten Pension der Universität Basel, Lagarde versetzte das Erbe der Adoptivmutter in die Lage, parallel zu seiner Lehrtätigkeit an Schulen sechzehn wissenschaftliche Schriften und Bücher zu publizieren.16 Eine kleine Erbschaft nach dem Tod seiner Mutter hatte Spengler die Möglichkeit eröffnet, seine Unterrichtstätigkeit aufzugeben und als freier Schriftsteller seinen literarischen Ambitionen nachzugehen.17 Langbehn wiederum hatte mächtige Freunde und Förderer wie Wilhelm von Bode im Hintergrund, die ihm die Möglichkeit gaben, als Autor in Erscheinung zu treten.
Im Idealfall ist das Vermögen so groß und der gesellschaftliche Status derart etabliert, dass eine maximale Unabhängigkeit von wissenschaftlichen Institutionen möglich ist. Der englische Privatgelehrte Henry Cavendish (1731-1810), einer der bedeutendsten Naturforscher und reichsten Gelehrten seiner Zeit, war der Prototyp jenes finanziell unabhängigen, exzentrischen und oftmals interdisziplinär-universalistisch agierenden „Gentleman Scholars“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er besaß eine große Bibliothek, führte zahlreiche Experimente durch, mied aber den Kontakt zu Institutionen und Kollegen und hatte keinerlei Interesse, seine Ergebnisse zu publizieren. Er war vollkommen auf seine Studien fixiert, lebte isoliert auf seinem Anwesen ohne jegliche gesellschaftliche Ambitionen.
Doch nicht alle vom Wissenschaftsbetrieb Abgewiesene ruhen derart in sich wie Cavendish. Die meisten dürsten nach wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Anerkennung. Sie sind versucht, durch selbst finanzierte und herausgegebene Publikationen oder durch bezahlte Inserate sich Gehör zu verschaffen. Manche haben eigens Verlage, Zeitschriften, Editionsreihen oder gar Lexika geschaffen, um ihre Artikel und Thesen zu veröffentlichen. Mit den Self-Publishing-Plattformen, Youtube-Kanälen, Blogs und Books-on-demand-Optionen des Internetzeitalters scheinen heute die Möglichkeiten von akademischen Außenseitern, sich zu präsentieren, stark gewachsen zu sein. Allerdings ist damit keinesfalls Seriosität garantiert – im Gegenteil: im Selbstverlag Publiziertes gilt in der Wissenschaftscommunity weithin als Makel, während weiterhin etablierte Publikationsorte und Zitierkartelle existieren, die wissenschaftliche Außenseiter auf Distanz halten.
Eine durchaus nachteilhafte Wirkung auf die Innovationsfähigkeit und Vielfalt des Wissenschaftsbetriebs hat auch das heute gängige Peer-Review-Verfahren, die Prüfung von Forschungsanträgen und publizistischen Beitragseinreichungen durch anonyme akademische Kollegen, weil es sich dabei oftmals um Konkurrenten des Antragstellers handelt. Es versteht sich von selbst, dass es auf solche Weise und im Schatten der Anonymität für etablierte Wissenschaftler einfach ist, Außenseiter und Newcomer zu sabotieren und auszuschließen: „Man kann sicher sein, dass manche der bahnbrechendsten Arbeiten in der Vergangenheit nie erschienen wären, wenn man sie einer Peer Review nach heutigen Maßstäben unterzogen hätte.“18
Damals wie heute verlieren sich manche der Zurückgewiesenen in parawissenschaftlichen Communities und wissenschaftsfeindlichen Positionen. Ohne korrigierende Kontakte zu akademischen Kollegen versteigen sie sich in absurden Theorien. Andere weichen in populärwissenschaftliche Bereiche aus. Einige wenige von ihnen können mit populistischen oder sensationellen Thesen große Erfolge in den Medien und auf dem Buchmarkt feiern – und dann das dadurch erworbene symbolische Kapital einsetzen, um es im akademischen Betrieb doch noch zu einer gewissen Anerkennung zu bringen. In vielen Fällen wurden und werden die vom Wissenschaftsbetrieb Abgewiesenen von der Motivation angetrieben, die als Kränkung erlebte Zurückweisung zu kompensieren oder sich gar in gewisser Weise dafür zu rächen. Das erklärt die bisweilen überaus radikalen inhaltlichen Positionen und die polemische Aggressivität der Sprache, wobei dieser Verbalradikalismus als eine spezifische Form toxischer Männlichkeit gelten darf, etwa als eine Ersatzhandlung für nicht ausgelebte körperliche Aggressionen:
Spengler ist der Typus des gehemmten, vereinsamten und sozial isolierten Denkers, dem es gelingt, sich inmitten seiner Depressionen zu einem monumentalen Werk durchzuringen. Es gibt kaum einen Fall, wo das gängige psychologische Kompensationsargument plausibler wäre als hier: Der ohnmächtige, ängstliche und inhibierte Grübler erzeugt mit herrischem Sprachgestus eine Weltvision, die alles übergreift und jede persönliche Kontingenz bedeutungslos erscheinen lässt.19
Akademische Außenseiter wie Lagarde und Nietzsche-Adepten wie Langbehn und Spengler konnten vor mehr als hundert Jahren in Deutschland große Erfolge feiern – sie bestimmten den damaligen Kulturdiskurs maßgeblich mit. Doch ihre intrinsische Motivation, der Kern ihres Geschäftsmodells, basierte auf der Bewirtschaftung von Ressentiments. Als giftige Außenseiter machten sie Kulturpessimismus, Antisemitismus und Wissenschaftsfeindlichkeit populär. Eine fatale Langzeitwirkung der Schriften Langbehns und Spenglers war es zudem, dass sie Nietzsche ins rechtsextreme Diskursfeld rückten und damit seinen Missbrauch durch den Faschismus vorbereiteten.
Im Universum der akademischen Eigenbrötler und wissenschaftlichen Außenseiter strahlte auch Nietzsche als einsamer Stern. Mit der Übersiedlung nach Basel wird Nietzsche 1869 staatenlos. Ab Wintersemester 1875/76 ist er zudem arbeitslos, die Universität Basel beurlaubte ihn aus gesundheitlichen Gründen. Bereits zuvor hatte er sich durch die Publikation Die Geburt der Tragödie in der philologischen Fachwelt isoliert, wo sein Ansatz als zu künstlerisch gewertet wurde. Nach dem Ausscheiden aus dem Kreis der Wagner-Anhänger und nach dem durch gesundheitliche Gründe erzwungenen endgültigen Abschied vom akademischen Lehrbetrieb und der Pensionierung durch die Universität Basel führt Nietzsche ab 1879 ein ungebundenes Leben als akademischer Außenseiter und Freigeist. Er pendelt zwischen Italien, Frankreich, der Schweiz und Sachsen und lebt dabei recht sparsam, um mit seiner Rente publizistische Vorhaben finanzieren zu können: „Erzwungenermaßen scheint sich nun das Lebensideal zu erfüllen, das er als junger Professor in seinen Basler Vorträgen ‚Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten‘ gepriesen hatte, ‚allein und in würdevoller Isolation leben zu können.‘“20
Er reist und publiziert viel, bleibt aber ohne große öffentliche Resonanz, nur wenige Freunde und Insider kennen seine Schriften. Gentleman scholar Nietzsche erträgt seine splendid isolation mit stiff upperlip, und tröstet sich mit der Überzeugung, erst in 100 oder 200 Jahren verstanden zu werden.21
Artikelbild: Foto einer Schweizer Berglandschaft von Christian Saehrendt
Quellen
Di Trocchio, Federico: Newtons Koffer. Geniale Außenseiter, die die Wissenschaft blamierten. Frankfurt 1998.
Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche, Bd. III. München 1979.
Felken, Detlef: Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur. München 1988.
Gerhardt, Volker: Friedrich Nietzsche. München 1995.
Planck, Max: Wissenschaftliche Selbstbiographie. Leipzig 1948.
Podach, Erich F.: Gestalten um Nietzsche. Mit unveröffentlichten Dokumenten zur Geschichte seines Lebens und seines Werks. Weimar 1932.
Sieferle, Rolf Peter: Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen. Frankfurt a. M. 1995.
Sieg, Ulrich: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus. München 2007.
Sommer, Andreas Urs: Zwischen Agitation, Religionsstiftung und „hoher Politik“. Paul de Lagarde und Friedrich Nietzsche. In: Nietzscheforschung Bd. 4 (1998), S. 169–194.
Stern, Fritz: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Bern 1963.
Wuketits, Franz M.: Außenseiter in der Wissenschaft. Pioniere – Wegweiser – Reformer. Heidelberg 2015.
Fußnoten
1: Vgl. dazu ausführlich meinen Artikel über Spengler auf diesem Blog (Link).
2: Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 52.
3: Vgl. Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet, S. 168 ff.
4: Vgl. Andreas Urs Sommer, Zwischen Agitation, Religionsstiftung und „hoher Politik“.
5: Sieg, Deutschlands Prophet, S. 355–358.
6: Stern, Kulturpessimismus, S. 148.
7: Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 299.
8: Siehe zu dieser Episode Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche, S. 96-113 und Erich F. Podach, Gestalten um Nietzsche, S. 177-199.
9: Ebd., S. 197.
10: Wuketits, Außenseiter in der Wissenschaft, S. 35.
11: Federico Di Trocchio, Newtons Koffer, S. 22.
12: Ebd., S. 244.
13: Max Planck, Wissenschaftliche Selbstbiographie, S. 22.
14: Di Trocchio, Newtons Koffer, S. 100.
15: Ebd., S. 23.
16: Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 73.
17: Vgl. Detlef Felken, Oswald Spengler, S. 25 ff.
18: Wuketits, Außenseiter in der Wissenschaft, S. 36 f.
19: Rolf Peter Sieferle, Die Konservative Revolution, S. 106.
20: Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, S. 48. Vgl. Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, 5. Vortrag.
21: Vgl. Gerhardt, Friedrich Nietzsche, S. 57.