Diskurs, Macht, Wahn
Michel Foucaults Nietzsche-Interpretation revisited
Diskurs, Macht, Wahn
Michel Foucaults Nietzsche-Interpretation revisited


Jüngst erlebte die geisteswissenschaftliche Szene eine kleine Sensation: Im Nachlass Michel Foucaults (1926–1984), eines der bedeutendsten Vertreter des Poststrukturalismus, stießen seine Herausgeber auf ein ausgearbeitetes Buchmanuskript mit dem Titel Le discours philosophique, an dem der bekennende Nietzscheaner 1966 gearbeitet hatte. 2024 erschien es bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung. In dieser umfassenden Analyse des philosophischen Diskurses seit Descartes kommt Nietzsche eine entscheidende Rolle zu. Paul Stephan nimmt dieses Ereignis zum Anlass, sich die bis heute einflussreichste Nietzsche-Interpretation des 20. Jahrhunderts noch einmal genauer anzusehen.

I. Foucault – der Denker unserer Zeit
Daran, dass Foucault ein Nietzscheaner war, besteht kaum ein Zweifel. So hält Jan Rehmann in der ersten Auflage seiner kürzlich neu erschienenen und auch ins Englische übersetzten1 Studie Postmoderner Links-Nietzscheanismus fest: „Foucault hat sich von Beginn bis zum Ende seines Schreibens so durchgängig und häufig als Nietzscheaner bekannt, dass sein ‚fundamentaler Nietzscheanismus‘ in der Literatur kaum umstritten ist.“ (S. 19) Er untermauert dies anhand folgender Collage von Foucaults Selbstbekenntnissen in Sachen Nietzsche:
„Nietzsche war eine Offenbarung für mich“ (1982), „wir brauchten seine Figuren […] des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr, um aus dem Schlaf der Dialektik und der Anthropologie aufzuwachen“ (1963), „eine Einladung, die Kategorie des Subjekts in Frage zu stellen und es ihm selbst zu entreißen“ (1978), seine Ankündigung des Endes des Menschen „hat für uns einen prophetischen Wert angenommen“ (1966), seine „Präsenz ist immer wichtiger“ (1975), „Nietzsche und Heidegger, das war der philosophische Schock“, „aber schließlich hat sich ersterer durchgesetzt“ (1984).2
Ähnliche Huldigungen könnte man auch den Werken von Foucaults philosophischen Mitstreitern Jacques Derrida und Gilles Deleuze entnehmen, die sich gleichermaßen am Projekt des „Poststrukturalismus“ beteiligten, doch Foucaults Interpretation ist es, die den geläufigen Blick nicht nur auf Nietzsche, sondern auch die Welt, weit über den akademischen Diskurs hinaus am entscheidendsten beeinflusst hat. Der beste Beweis: Die Allgegenwart des von ihm federführend mitgeprägten, wenn auch in den verschiedenen Phasen seines Schaffens höchst unterschiedlich definierten, Worts „Diskurs“ selbst.
Foucault gab nicht zuletzt 1966 gemeinsam mit Deleuze die französische Übersetzung von Giorgio Collis und Mazzino Montinaris Neuedition von Nietzsches Schriften heraus, die heute als wissenschaftlicher Standard und Meilenstein in der „Entnazifizierung“ Nietzsches gilt.3 Sie machte insbesondere Nietzsches vermeintliches Hauptwerk Der Wille zur Macht, aus dem Deleuze in seiner Studie Nietzsche und die Philosophie von 1962 noch exzessiv zitiert hatte, als Fiktion Elisabeth Förster-Nietzsches und ihrer Mitarbeiter kenntlich und ersetzte es durch eine heterogene Pluralität zahlloser Nachlassfragmente. Besonders wirkmächtig war jedoch Foucaults Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie von 1971, eine Art Programmschrift seiner Nietzsche-Interpretation wie auch seines eigenen philosophischen Projekts: Nietzsche wird hier als radikaler Kritiker aller fixen Sinngefüge dargestellt, als fröhlicher Nihilist, der insbesondere dem Mythos eines einheitlichen Subjekts qua seiner Auflösung in kontingente historische Kräftespiele ein Ende bereitet habe.
Ich habe in den letzten Jahren wiederholt Seminare zu Foucaults Schriften und vor allem seiner Nietzsche-Interpretation an unterschiedlichen Hochschule und Universitäten unterrichtet und stieß dabei immer wieder auf einen bemerkenswerten Sachverhalt: Trotz der offenkundigen Leerstellen in seiner Theorie – wie insbesondere, wie er diese Theorie selbst aus dem Mahlstrom der Macht zu retten vermag, und ob er nicht implizit selbst normative Maßstäbe, einen Begriff von Wahrheit und sogar von Subjektivität voraussetzt –, werden seine Thesen von den Studenten meist ohne größere Einwände, wenn auch ohne regelrechte Begeisterung, „geschluckt“ und gegen die von mir oft vorgebrachte Kritik verteidigt. Und mir geht es – nach jahrelanger Beschäftigung mit Foucault – auch selbst so: Obwohl ich rational einsehe, dass er als Philosoph zweitrangig ist – in hoffnungslosen Selbstwidersprüchen befangen und in allem Originellen eigentlich nur ein Adept Nietzsches und Heideggers –, verspüre ich bei der Lektüre seiner Schriften eine eigentümliche Vertrautheit, die in einem merkwürdigen Kontrast zu Foucaults radikaler Rhetorik steht, und die nicht bloß das Resultat meiner Lektüre ist.
Wir leben, zumal, wenn wir uns im Diskurs – dieses verfluchte Wort! – der Sozial- und Kulturwissenschaften und von allem, was sich irgendwie als „kritisch“ und „links“ versteht, bewegen, in einem Dispositiv – also einer strategischen Diskursformation, so nennt’s der Meister –, das von Foucault so grundlegend wie von wohl keinem anderen Denker geprägt worden ist. Niemand entwickelte eine so reine, mit der Alltagsintuition so kompatible Version des „Postmodernismus“, der das kulturelle Klima bis in die Gegenwart bestimmt. Niemand, außer vielleicht die erwähnte Schwester, erreichte, im Guten wie im Schlechten, so viel für die Popularisierung Nietzsches und sein Fortwirken; und das, nachdem ihn seine Vereinnahmung durch die Nazis und Faschisten nach 1945 eigentlich so grundlegend desavouiert hatte. Wenn wir Nietzsche lesen, lesen wir ihn stets durch die Brille Foucaults – ja, wir gehen durch die Welt mit Foucaults Augen, er ist derjenige Theoretiker, der wie kein zweiter unsere Zeit definiert.
Das ist nicht unbedingt im Sinne eines Kausalzusammenhangs gemeint. Foucault war vor allem ein guter Diagnostiker, der in geradezu chamäloenhafter Weise, in dieser Hinsicht dem „Seismographen“ (Ernst Jünger) Nietzsche nicht unähnlich, die Grundstimmungen seiner Zeit erfasste und auf, zumindest halbwegs, plausible Begriffe brachte; Begriffe wie „Diskurs“, „Macht“, „Wahn“, „Genealogie“, „Dispositiv“ und viele andere, die nicht primär aufgrund ihrer theoretischen Kohärenz oder philosophischen Tiefe plausibel wirken, sondern eben genau, weil sie jenen Stimmungen entsprechen. Und es sind eben jene Stimmungen einer erschöpften, ihrer einstigen Ideale überdrüssig gewordenen Moderne, die unsere Zeit bis heute bestimmen, selbst wenn wir seit einigen Jahren ein gewisses Revival der objektiven Wahrheit jenseits des referenzlosen Flimmerns der Diskurse (Stichwort: Klima und Corona) und der von Foucaults Mitstreiter François Lyotard so genannten „großen Erzählungen“, deren Ende das „postmoderne Wissen“ definierten, erleben – man denke nur an den neu entdeckten Stolz auf den „freien Westen“ oder die Wiederbelebung längst tot geglaubter nationalistischer und imperialistischer Narrative. Wir leben sicherlich nach der Postmoderne, doch über dieses „Danach“ wurde noch nicht final entschieden. Gerade deswegen lohnt es sich, Foucaults „neues Buch“ einmal genauer in den Blick zu nehmen.

II. Zwischen System und Rausch – Eine eigenwillige Philosophiegeschichte
Foucault verfasste das über 400 Seiten lange unvollendete Manuskript Der Diskurs der Philosophie laut den Herausgebern im Jahr 1966. Es ist schon gespenstisch, das „neue Buch“ eines Toten in den Händen zu halten, der sich zumal, ähnlich wie Kafka, gegen jede posthume Edition seines Nachlasses verwehrte. Gespenstisch ist es allerdings vor allem deswegen, weil es so vertraut wirkt, gerade so, als hätte man es schon einmal gelesen. Das liegt nicht bloß daran, dass Foucault in ihm natürlich frühere Thesen aufgreift und spätere vorwegnimmt; es hat vor allem den Grund, dass er dort seinerseits eine „große Erzählung“ entwirft – dass man offenbar „großer Erzählungen“ bedarf, um das Ende derselben zu untermauern, gehört zu den oft thematisierten Grundparadoxien der Postmoderne –, die 1966 radikal, provokant und skandalös gewesen sein mag, doch 2025 längst Konsens ist, fast ein wenig langweilig und bieder wirkt, jedenfalls abgedroschen.
Langeweile stellt sich beim Lesen zumal ein, da das Buch für Foucaults Verhältnisse – seine Schriften überzeugen nicht zuletzt durch ihre polemisch, witzige und ausgeklügelte Rhetorik, mit der er die erwähnten Stimmungen bewusst mobilisiert und seine intellektuellen Unsauberkeiten übertüncht – äußerst technisch und trocken geschrieben ist. Meine persönliche Hypothese: Vielleicht wollte sich der damals noch nicht „angekommene“ Foucault damit gewissermaßen um einen permanenten Lehrstuhl für Philosophie bewerben. Von Gesellschaftskritik und insbesondere der späteren durchaus mit emanzipatorischen Anliegen zu vereinbarenden Machtkritik, die man heute mit Foucault im Allgemeinen verbindet, enthält das Buch kaum eine Spur, man hat, der Form wie dem Inhalt nach, eher das Gefühl, einen der spröden Wälzer des Systemtheoretikers Niklas Luhmann in den Händen zu halten und bisweilen klingt Foucault hier eher wie Hegel als Nietzsche.
Aufgrund des mitunter sehr technischen und für Laien kaum zugänglichen Charakter des Buches hier nur einige seiner Leitgedanken: Um 1640 – Stichwort: „Cogito ergo sum“ (Descartes) – entwickelte sich eine neue Ordnung des Wissens, innerhalb der die Philosophie eine völlig neue Rolle spielte. Eigentlich kann man Foucault zufolge die Philosophie vor und nach Descartes überhaupt nicht miteinander vergleichen, da beide Diskurse zwar über dieselben Gegenstände sprächen, dies aber in einem ganz anderen Modus täten: Die Philosophie sei vor Descartes Subdisziplin eines einheitlichen Kosmos des Wissens gewesen, nun trete sie Literatur und Wissenschaft als eigenständiger Modus der Wissensproduktion gegenüber. Diese neue „klassische“ Philosophie versuchte, universelle Wahrheit und partikulare Position eines Subjekts zu verbinden. Sie unternahm dies auf unterschiedliche Weisen, wobei Foucault, der vor allem in seinem Spätwerk immer wieder nachzuweisen versucht, wie unterschiedliche Diskurse interagieren und Teil von übergreifenden Machtgeflechten sind, überraschenderweise postuliert, dass sich diese Weisen logisch und notwendig aus Descartes’ Leitsatz ergäben und es keinerlei Wechselwirkung zwischen der Philosophie und den anderen Diskursen gegeben habe.
Von Descartes bis Husserl hätten die Philosophen versucht, eine universelle Wahrheit zu artikulieren, die zugleich die individuelle Wahrheit eines einheitlichen Subjekts ist. Dieses Projekt sei nach nur 300 Jahren an sein Ende gekommen: Das „Ereignis Descartes“ sei durch das „Ereignis Nietzsche“ abgelöst worden. Wenn es um die genaue Definition dieses Ereignisses geht, kippt Foucault von seinem sonst sehr technischen in einen sehr pathetischen und blumigen Stil, wie man ihn aus seinen Schriften eher gewohnt ist. Er beruft sich auf Georges Bataille, einen seiner wichtigsten „Lehrmeister“, und den Erfinder des „Theaters der Grausamkeit“, Antonin Artaud, beide überzeugte Nietzscheaner, und preist Nietzsche als eine Art Messias eines „radikale[n] Neuanfang[s]“ (S. 202), eines „zweite[n] Morgen[s]“ (ebd.) der Philosophie. Er bezieht sich vor allem auf Ecce homo und erblickt in Nietzsches Schriften ein Denken, in dem das einheitliche Subjekt durch eine „Vielheit von Subjekten“ (S. 212), einen „große[n] Pluralismus“ (S. 213), „eine nicht entzifferbare Vielheit von Masken oder Gesichtern“ (ebd.) ersetzt werde, in dem sich Philosophie und Literatur, Philosophie und Wahnsinn und sogar Philosophie und Religion aneinander annäherten: „[I]n diesem Sinne wird der philosophische Diskurs vom religiösen Diskurs nicht so weit entfernt sein: aber keine Exegese; das Wort Christi selbst.“ (S. 208)
Nüchterner fährt Foucault dann damit fort, dieses Projekt in den Kontext des allgemeinen linguistic turn – also die ab 1945 in den Geisteswissenschaften bestimmende Wendung vom Bewusstsein hin zur Sprache – zu stellen und versucht sich darin, die Methodologie einer „Archäologie“ als Analyse des „Diskurs-Archivs“ einer Kultur zu entwickeln, die er freilich abbricht. Vielleicht ist ihm selbst aufgefallen, dass zwischen einer solchen „Archäologie“ als minutiöser, seriös daherkommender Diskursanalyse und einem an Bataille und Artaud anknüpfenden Lob der Desubjektivierung und des anarchischen Mythos Welten liegen. Und wie erwähnt ist hier auch von „Macht“ noch keine Rede: Es waren womöglich erst die Ereignisse von 1968, die Foucault dazu brachten, seine Diskursanalyse entsprechend zu (re)politisieren und wieder stärker an seine ersten Werke Wahnsinn und Gesellschaft (1961) und Die Geburt der Klinik (1963) anzuknüpfen.

III. Was kommt nach der Postmoderne?
Freilich sind diese drei Grundtendenzen – Diskursanalyse, Kritik der Macht, Lob der Desubjektivierung – in Foucaults Denken ohnehin nicht besonders gut vermittelt. Doch das macht vielleicht genau seinen Erfolg aus. Ganz wie bei Nietzsche kann sich jeder seinen Foucault zusammenbasteln und er selbst scheint sich, wie man unschwer erkennen kann, wenn man seine zahlreichen Interviews betrachtet, in der Rolle des vieldeutigen Theoriedandys und schillernden Provokateurs auf dem schmalen Grat zwischen edginess und Machtposition im akademischen Betrieb gefallen zu haben. Im Mainstream wirkt er vor allem als Stichwortgeber einer „unideologischen“ Kulturwissenschaft ohne existenzphilosophischen, marxistischen oder psychoanalytischen Ballast, in linken Kreisen als – vielleicht sogar anarchistischer – Kritiker an repressiven Machtstrukturen, Künstlern und Künstlerphilosophen gilt er als Fortsetzer Batailles.
Die Grundstimmung, der Foucault Ausdruck verleiht: Man will kritisch sein und weist „repressive“ Ideologien zurück, doch möchte sich darum ebenso wenig mit allzu viel „metaphysischem“ Ballast bepacken, wie es noch die letzten großen „Systemlebauer“ des 20. Jahrhunderts in der Generation vor Foucault wie Adorno, Sartre, Bloch und Heidegger taten, in wie gebrochener Form auch immer. Foucault entpuppt sich so als recht präziser Vordenker dessen, was man heute als „linksliberalen Mainstream“ bezeichnet und ermöglicht in seiner Vieldeutigkeit je nach Bedarf mal mehr mal weniger radikale Anknüpfungen. Sein weitgehender Verzicht auf starke, nicht bloß ästhetisch motivierte, Werturteile lässt es ohnehin zu, seine Analysen stets sowohl als bloße Beschreibungen als auch als Kritiken zu lesen, selbst wenn von seinem Tonfall meist eine gewisse Wertung impliziert wird. Ein bisschen Kritik, ein bisschen Zynismus; ein bisschen Liberalität, aber bloß keine Systemkritik; individuelle „Lebenskunst“, aber bitte keine anspruchsvolle Ethik der Authentizität; Faszination an der Desubjektivierung, aber bitte nur in Kunst und Literatur … Foucault: Der führende Ideologe des juste milieu unserer Zeit.
Wie kommen wir nun über diese Ideologie hinaus und durchschauen sie, vielleicht sogar von Foucault selbst inspiriert, ihrerseits als Dispositiv der Macht, das uns unterdrückt und in unseren Lebensmöglichkeiten beschneidet? Was kommt nach der Postmoderne? Und sollten wir uns überhaupt nach „nachpostmodernen“ Zuständen sehnen? Vielleicht werden wir die Postmoderne als die Ära Foucaults und Deleuzes einmal mit ebenso viel sentimentaler Wehmut betrachten wie Nietzsche bisweilen das 18. Jahrhundert Rousseaus und Voltaires …4 Erst, wenn die faszinierten Pfaffen wieder die Waffen für die Kriege eines neuen Imperialismus segnen werden,5 werden wir den fröhlichen Nihilismus der Postmoderne vielleicht wieder zu schätzen wissen, doch dann mag es zu spät sein …
Oder ist ein anderer Ausweg möglich, der jenseits der Alternative von repressiven „großen Erzählungen“ und großer Erzählung über das Ende der großen Erzählungen liegt? Ein Weg dorthin mag eine unbefangene Relektüre der Schriften Nietzsches sein. Wenn Nietzsche etwa im Zarathustra verkündet: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch“6, ist das nicht im Sinne einer Reartikulation und vielleicht sogar Radikalisierung des klassischen Humanismus zu verstehen anstatt im Sinne eines „Tods des Menschen“, wie ihn Foucault Nietzsches Schriften als Diagnose wie Appell entnehmen zu können glaubte? Und der „letzte Mensch“, den Zarathustra dem Übermenschen gegenüberstellt, ist das nicht genau der selbstzufriedene, ohne „große Erzählungen“ lebende „Postmensch“ der Postmoderne? Sind sie nicht diejenigen, von denen es heißt: „[F]rech in kurzen Lüsten, und über den Tag hin warfen sie kaum noch Ziele“7, und sind sie nicht „die Buntgesprenkelten […][,] die ihr Gemälde seid von Allem, was je geglaubt wurde“8, Maskenmenschen ohne Identität, für die gerade der späte Nietzsche nur Verachtung übrig hatte? In Ecce homo scheint er gerade nicht die Desubjektivierung zu predigen, sondern sich im Gegenteil geradezu krampfhaft um eine „Selbstvertheidigung“9 als Abwehr des einsetzenden Wahns zu bemühen und ein kühnes Programm zu verkündigen, das geradezu antipostmodernistisch wirkt:
Meine Aufgabe, einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen grossen Mittag, wo sie zurückschaut und hinausschaut, wo sie aus der Herrschaft des Zufalls und der Priester heraustritt und die Frage des warum?, des wozu? zum ersten Male als Ganzes stellt –, diese Aufgabe folgt mit Nothwendigkeit aus der Einsicht, dass die Menschheit nicht von selber auf dem rechten Wege ist, dass sie durchaus nicht göttlich regiert wird, dass vielmehr gerade unter ihren heiligsten Werthbegriffen der Instinkt der Verneinung, der Verderbniss, der décadence-Instinkt verführerisch gewaltet hat.10
Auch der späte Nietzsche möchte nicht, wie Foucault in besagtem Essay behauptet, ein Wissen, das bloß dem Zerschneiden, jedoch nicht dem Verstehen dient (vgl. S. 180), sondern seine zerschneidende Kritik ist an ein primär bejahendes Projekt rückgekoppelt, das durchaus als Fortsetzung von demjenigen der Aufklärung begriffen werden kann: Die Menschen sollen sich in moralischen Fragen nicht mehr der bevormundenden Herrschaft von Natur und Ideologie unterwerfen, sondern endlich auf der Grundlage der Einsicht in ihre natürlichen Triebkräfte eine menschenfreundliche autonome Moral entwickeln. Man mag mit der konkreten Ausgestaltung dieser Moral in Nietzsches Spätwerk nicht einverstanden sein, doch dieses – ja bewusst offen formulierte – Programm bleibt zukunftsweisend. Es zeugt von wenig interpretatorischer Redlichkeit, darin bloß den Ausdruck eines ironisch-satirischen Maskenspiels zu erblicken, selbst wenn Nietzsches Gestus in Ecce homo grotesk wirken mag. Vielleicht wirkt er ja nur bizarr und größenwahnsinnig aus der Perspektive unserer eigenen Kleingeistigkeit und aufgrund der Verkümmerung unserer utopischen Phantasie?
Mit anderen Worten: Eine auf Nietzsche gestützte Neomoderne statt Postmoderne, das wäre vielleicht eine Alternative zu den ideologischen Radikalisierungen, die sich zu allem Überfluss auch noch auf Nietzsche berufen, und dem fortgesetzten postmodernen Skeptizismus, der ihnen gegenüber ohnmächtig bleibt? Oder handelte es sich dabei nicht nur wieder um ein neues „Dispositiv der Macht“, aus deren Fängen es ja, so der späte Foucault, ohnehin kein Entrinnen gäbe? Eine Frage, die wir nicht der Welt stellen, sondern die sie uns stellt …

Quelle des Artikelbilds: https://www.flickr.com/photos/kongniffe/5340624604
Literatur
Foucault, Michel: Der Diskurs der Philosophie. Berlin 2024.
Ders.: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Schriften. Dits et Ecrits. Bd. 2. Hg. v. Daniel Defert & François Ewald. Frankfurt a. M. 2002, S.166–191.
King, Matthew & Matthew Shape: On Jan Rehmann’s Deconstructing Postmodern Nietzscheanism: Foucault & Deleuze. In: Historical Materialism, online.
Rehmann, Jan: Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion. 1. Aufl. Bonn 2004.
Ders.: Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion. 2. Aufl. Kassel 2021.
Fußnoten
1: Vgl. für eine umfangreiche Rezension und Würdigung dieser Übersetzung Matthew King & Matthew Shape, On Jan Rehmann’s Deconstructing Postmodern Nietzscheanism (Link).
2: Ebd.
3: Vgl. dazu auch die Anmerkungen Jonas Pohlers in seinem Bericht über die vergangene Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft auf diesem Blog (Link).
4: Vgl. etwa Jenseits von Gut und Böse, Aph. 245.
5: Und eigentlich ist ja schon längst so weit …
6: Vorrede, 5.
7: Also sprach Zarathustra, Vom Baum am Berge.
8: Also sprach Zarathustra, Vom Lande der Bildung.
10: Ecce homo, Morgenröthe, 2.