Aufklärungsdämmerung
Nietzsches Wahrheit des Scheins I
Aufklärungsdämmerung
Nietzsches Wahrheit des Scheins I
Nietzsches bekannteste Formulierung, wonach Gott tot sei, zeigt nicht nur eine antireligiöse Stoßrichtung. Sie weist vor allem darauf hin, dass in der Moderne konstitutive Selbstverständlichkeiten keine traditionelle Geltung mehr besitzen. Indem das kulturelle Verständnis von Wahrheit ins Wanken geraten ist, ist nicht nur diese oder jene Wahrheit fraglich geworden, sondern das Verständnis von dem, was überhaupt Wahrheit ist. Damit gerät die Aufklärung unter den Druck, die Fragen zu finden, auf die sie die Antwort sein soll. Es ist dieser Abgrund einer unheimlichen Fraglichkeit, aus dem Nietzsches Denken versucht, Auswege zu zeigen, die lebbar sind. Im ersten Teil seines Textes Aufklärungsdämmerung erzählt Michael Meyer-Albert vom aufgeklärten Zweifel der Aufklärung an ihr selbst.
„O ihr Genossen meiner Zeit! fragt eure Ärzte nicht und nicht die Priester, wenn ihr innerlich vergeht! Ihr habt den Glauben an alles Große verloren· so müßt, so müßt ihr hin, wenn dieser Glaube nicht wiederkehrt, wie ein Komet aus fremden Himmeln.” (Hölderlin, Hyperion)
I. Im Schatten Gottes
Ein zeitgenössisches Denken besitzt die Form des Flanierens. Die Arbeit des Begriffs wird dabei beurlaubt und eine teilnehmende Wahrnehmung tritt an seine Stelle. Flanieren ist ein aktives Vergessen der Texte, dem sich, wenn es glückt, die Welt als der Versuch zu einem Essay neu entdeckt. Mitunter stößt man dabei aber auch auf wortwörtliche Funde. So wurde der Verfasser auf seinen aphilosophischen Weltstreifzügen neulich von einem Graffito überrascht. Auf einer wenig ansprechenden Leipziger Hauswand stand der folgende Spruch:
„Gott ist tot.“ (Nietzsche)
„Nietzsche ist tot.“ (Gott)
Man könnte diese tiefsinnige Lakonie auf Nietzsches legendärste Formulierung als eine elegant-trotzige anti-atheistische Antwort abtun, wenn darin nicht auch eine statistische Wahrheit stecken würde. Derzeit leben etwas mehr als acht Milliarden Menschen auf dem Planeten. Von ihnen gehören etwa 2,4 Milliarden der christlichen, zwei Milliarden der islamischen und gut eine Milliarde der hinduistischen Religion an. Knapp eine Milliarde Menschen sind überzeugte Atheisten. Rein statistisch gesehen müsste daher der dominierende Wahrheitsbegriff der Menschheit metaphysisch konstituiert sein. Auch im Jahr 2024 nach Christi Geburt sollte, folgt man den Daten, der Ausspruch von Jesus „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“1 zumindest eine Viertelwahrheit für die Menschheit bedeuten.
Es lässt sich aber bestreiten, dass ein Verbleiben in den offiziellen Bindungen einer Religion gleichzusetzen wäre mit der Wirkungsmacht einer Religion. Für die westliche Hemisphäre und die Bereiche ihrer kulturellen Einflüsse hat sich ein anderer Wahrheitsbegriff etabliert. Nicht mehr eine religiöse Offenbarungswahrheit trägt hier die Kultur. Entscheidend ist einerseits die seit dem 17. Jahrhundert aufkommende Ausrichtung an wissenschaftlich geprüften objektiven Beobachtungsdaten und ihrem Siegeszug in technischen Apparaturen und andererseits das sich durch verschiedene Formen regulierende Gespräch der Subjekte als Mitsprache im öffentlichen Raum.
Diese Wahrheit jenseits einer göttlich formierten Wahrheit stellt allerdings einen epochalen Umbruch dar, dessen Wirkungen Symptome einer Krise zeigen. Den „transzendental obdachlos“ (Georg Lukács) gewordenen Subjekten zeigt sich die Welt als, wie Max Weber sagte, „entzauberte“. Nietzsche weist mit Blick auf den gesamten Zeitraum der Neuzeit daher auf eine sich beschleunigende Dezentrierung des Humanen hin, in der sich das Gefühl des Nihilismus ausbreitet: „Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen, – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? in’s Nichts? in’s ‚durchbohrende Gefühl seines Nichts‘?“2
Der Grund für den postkopernikanischen Nihilismus liegt für Nietzsche in den unausgestandenen und meist nicht einmal verstandenen Entwertungen von tragenden Verständnissen, die metaphysisch konstituiert waren: „Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!“3
Diesem Befund Nietzsches lassen sich unterstützend zwei weitere dunkle Wahrheiten anfügen. Die Wissenschaft zeigte sich spätestens mit den Atombombenabwürfen im August 1945 als verführbare Magd der Politik. Ihre seit der Neuzeit vollbrachten Leistungen, die negativ in der Neutralisierung von aufgeheizten theologischen Dogmenkämpfen bestand und welche sich positiv in der Entdeckung der Welt als erforschbarer Raum von Komplexität manifestierte, werden davon überschattet. Und auch der Glaube an die Wahrheit des Diskurses wurde eingetrübt. Seit den demokratischen Massenagitationen im Tugendterror der Französischen Revolution richtete sich gegenüber dem Wahrheitsbegriff der räsonierenden Öffentlichkeit der Verdacht der Herrschaft des Mobs auf. Alexis de Tocquevilles Wendung von der „Tyrannei der Mehrheit” und Heideggers Formulierung „Diktatur des Man“ weisen auf die irreversiblen illiberalen Potenziale auch der demokratischen Wahrheitsprozeduren hin.
Damit liegt über der Epoche der Globalisierung ein epistemologisches Zwielicht. Gott, die Wissenschaft und das Gespräch mögen nicht tot sein. Sie sind aber alle in der Stellung einer unhinterfragbaren Autorität angeschlagen. Die Zeit ist verurteilt zu einer unsicheren Gedankenfreiheit, die sich über kompetente Autoritäten selbst informieren muss. In ausdifferenzierter Komplexität wächst der Zwang, ein Experte in der Auswahl von Experten zu sein, die einen halbwegs über das informieren können, was ist. Was bleibt aber, stiften die Medien, denen man Glauben schenkt.
II. Könige und Kuriere
In den Tagebuchaufzeichnungen von Franz Kafka findet sich folgende aphoristische Parabel: Sie wurden vor die Wahl gestellt, Könige oder Kuriere zu sein. Nach Art der Kinder wollten sie alle Kuriere sein, deshalb gibt es lauter Kuriere. Und so jagen sie, weil es keine Könige gibt, durcheinander und rufen einander selbst ihre sinnlos gewordenen Meldungen zu. Gerne würden sie ihrem elenden Leben ein Ende machen, aber sie wagen es nicht wegen des Diensteides.4
Die Situation, die Kafkas kleines Stück beschreibt, verdeutlicht die Situation der chaotisch synchronisierten Medialwelt im globalen Zeitalter mit einer diskreten Erinnerung daran, was Medien in ursprünglichen Sinn waren. Damit ist nicht nur gemeint, dass Kafka das Verständnis von Medien von der Fixierung auf technische Apparaturen aufweicht. Technische Medien sind primär nur Verstärkungen der humanen Medialität. Menschen sind Boten, Abgesandte – altgriechisch „ángeloi“ – von Informationen und Passionen.
Kafkas Text zeigt aber auch, wie zentral für eine intakte mediale Hemisphäre der Glaube an die Teilnahme an Wesentlichem ist. Das moderne Vorurteil über diese Teilnahme liegt darin, dass sie unter einem kulturkritischen Verdacht steht. Das ist plausibel im Hinblick auf die hierarchische Ordnung der ältesten medialen Formationen. Kulturen waren von Anfang an geprägt durch Autoritäten, die mit dem Anspruch auftraten, dass durch sie das Göttliche rede. In der Form eines Priesterkönigtums legitimierten sie weltliche Macht durch geistige Nähe zum Überirdischen. Medien waren die Sendboten der objektiven Wahrheit und herrschten so von Gottes Gnaden.
Platons Konzept der Wahrheit besitzt insofern eine subversive Kraft, als es von den weltlichen Gottmedien verlangt fähig zu sein, ihre starke Beziehung nach ganz oben durch logische Kohärenz zu bezeugen. Statt der kryptischen Orakelworte und ihrem vermeintlich hohen Sinn versucht der philosophische Strukturwandel der Öffentlichkeit mediale Autorität durch Evidenz zu gewinnen. Statt der sozialen Macht soll der kompetente Sachverstand herrschen. Platons Philosophie beklagt den Fachkräftemangel in der Wahrheitswirtschaft. Kompetenteste Kompetenz solle daher dem „Philosophenkönig“ zugesprochen werden. Dieses Resultat des platonischen Nachdenkens weckt allerdings den Verdacht, etwas allzu pro domo zu sein. Darin liegt wohl einer der Gründe, warum es sich mit seiner politischen Marktreife schwer tat. Die erste Akademie wurde daher außerhalb der Stadtmauern Athens errichtet. Dass sie immerhin beinahe 1.000 Jahre (etwa 386 v. Chr. bis 529 n. Chr.) Bestand hatte, spricht für einen Standort der universitären Wahrheit als ferne Nähe zur Urbanität. Die Wahrheit der Agora und die Wahrheit der Akademie geraten durch eine wohltemperierte Distanz voneinander in eine produktive Spannung.
Kafkas tiefsinnige Parabel vergegenwärtigt nun eine Situation, in der Platons Konzept an seinem Erfolg zugrunde ging. Sie zeigt die Lage, die entsteht, wenn der emanzipatorische Schub von Platons Vorrang der Evidenz eine Autonomie freilegt, die die Kritik an allen höheren Autoritäten soweit treibt, dass das Konzept „Autorität durch Wahrheit“ insgesamt erschüttert wird. Keiner der Kuriere traut sich mehr zu, Sprachspiele von der Form „Königsworte“ zu spielen. Keiner will das Sagen haben, weil keiner ein hinreichender Experte ist. Ein Zuviel von philosophischer Reflexion lässt einen Abstand nehmen von der Idee eines Königtums, eines Philosophenkönigs und schon gar von einer Machtergreifung durch Selbstkrönung. Vollendeter Platonismus ist antinapoleonisch.
Für die Erschütterung des Glaubens an Wahrheit gibt es plausible Gründe. Die Aufklärung zwang alles vor den Richtstuhl der Vernunft. Sie zersetzte dadurch den kanonischen Bestand an klassischen Orientierungen. Vererbt wird so nicht mehr eine traditionell aufgespannte Welt, sondern der Impuls, durch das autonome Denken selbstständige Welten zu erschaffen. Mit den Deformierungen, die in der Wissenschaft und in der Wahrheitsfindung der Öffentlichkeit im Laufe der Zeit zu Tage traten, kam die Vernunft nun selbst wieder vor den Richtstuhl der Vernunft.
Im Hinblick auf den Tugendterror links des Rheines versuchten die teutonischen Denker schon wenige Jahre nach der Französischen Revolution eine Neuausrichtung der Aufklärung anzudenken. Dabei erlangte die Kunst die Rolle einer Ergänzung des kalt kalkulierenden Verstandes. Nur sie löse die soziale Frage, wie die Aufklärung vor ihrer Verwirklichung in terroristischer Willkür zu immunisieren wäre. Schiller etwa war davon überzeugt, „dass man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muss, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.“5 Erst eine erweiterte Charakter-Bildung macht aus Jakobinern Bürger. Die Veredlung des Menschengeschlechtes solle als ästhetisch forcierte „Ausbildung des Empfindungsvermögens“6 voranschreiten. Schillers Idee einer umfassenden Ästhetik mündete in dem Konzept einer schönen Politik. Verdorben wurden diese allzuschönen Ideen aber durch den realexistierenden Ästhetizismus des erhabenen Staates. Schiller war enthusiasmiert von der Möglichkeit einer sozialen Synthese durch die Freude: „Bettler werden Fürstenbrüder“ (An die Freude). Die Ernüchterung folgt durch die Realität, in der die Ernstfälle eine Mitsprache verlangen. Wenn eine Ernstfallpolitik regiert, dann kippt die Ästhetik des Sozialen in eine kitschige „Sympathie mit dem Tode“ (Thomas Mann). Im Mittelpunkt steht hier die heroische Aufopferung für das große Ganze. Im 20. Jahrhundert wütete in der Gestalt des Sozialismus und des Faschismus eine unschöne Politik des Erhabenen als neue Religion, die Aufklärung als letale Revolution verstand. Aus der Freude als Metaverfassung jedes Gemeinwesens wurde nun ein aggressiver Universalismus.
Mit diesen traurigen Resultaten begann die Aufklärung an sich selber zu zweifeln und zwar so sehr, dass sie sich selbst in Frage stellte. Weil die neuen Könige nur wieder Befehle und nicht Wahrheiten verbreiteten, flüsterten die Kuriere sich pausenlos die Botschaft zu, dass die da oben wohl alle nur Betrüger wären. Und zugleich verbreiten einige Kuriere das Gerücht, dass womöglich jedes Worthaben immer nur als herrische Macht und nicht als Macht der Kompetenz zu verstehen sei. Diese unfrohen Botschaften ersetzten das Königswort und gaben eine niederschmetternde, aber immerhin Halt verleihende Teilhabe an Wahrheit. Die Aufklärung fand so in immer feineren Kritiken an sich – zur Freude aller Fanatiker und Charismatiker des Autoritären – eine neue Sicherheit: „Aufklärung ist totalitär.“7 Komplementiert wurde diese dunkle Wahrheit durch eine negative Ästhetik, die die Erfahrung des „Nichtidentischen“ als einzigen Ausweg andeutet.
Nietzsches Denken versucht, diese Aufklärungsdämmerung in eine Philosophie der Morgenröte umzuwerten. Dafür setzt er an bei einer Rehabilitation von Schillers Idee einer Wahrheit der Kunst. Sein Ansatz liegt darin, dass er die Aufklärung über die Aufklärung um eine weitere Reflexionsstufe vorantreibt. Wenn Vernunft sich selbst vor den Richtstuhl der Vernunft stellt und sich in immer neuen hermeneutischen Zirkeln des Verdachtes immer hermetischer demontiert, warum nicht diese Spirale des Selbsthasses umkonfigurieren? In Nietzsches Denken wird so das Stellen der Vernunft vor den Richtstuhl der Vernunft insgesamt wieder vor den Richtstuhl der Vernunft gestellt. Kunst als „Kultus des Unwahren“ gewinnt als „gute[r] Wille[] zum Scheine“7 eine Bedeutung, die der Aufklärung neues Leben einhauchen soll. Auch wenn niemand mehr ein König ist, so gibt es immer noch das Königliche als Effekt einer noblen Lüge zur Vitalität. Wenn der Glaube an alle großen Wahrheiten verloren ist, so kann das Glauben an die Größe des intelligenten Lebens zu einer erhaben-schönen Wahrheit werden. Darin liegen politische Implikationen: Die Heroik des Erhabenen wird in einer ausbalancierten Sozialästhetik zu einer Bildungsoffensive entschärft, die an sich selbst arbeitet. Und die Politik der Freude findet ihren Realismus in einem Engagement für ein Ganzes als ein kooperatives System, das Freiräume eröffnet. Was wird aus Kurieren, wenn es keinen König und keinen Selbstmord braucht, sondern eine epistemologische Form der Ironie, damit sich ihr elendes Leben ändern kann?
Quellen
Adorno, Theodor W. & Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 2004.
Kafka, Franz: Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg. In: Max Brod & Hans Joachim Schoeps (Hg.): Beim Bau der chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlass. Berlin 1931, S. 225 – 249 (online).
Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Zürich 1998.
Fußnoten
1: Mt. 11, 27; Joh. 10,9; Röm. 5,1; Hebr. 10,20.
2: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 25.
3: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 108.
4: Vgl. Kafka, Betrachtungen, S. 234.
5: Schiller, Über die ästhetische Erziehung, 2. Brief, S. 405.
6: Ebd., 8. Brief, S. 430.
7: Adorno & Horkheimer, Dialektik, S. 12.