Nietzsche als Kritiker kapitalistischer Entfremdung

Nietzsche als Kritiker kapitalistischer Entfremdung

27.5.24
Lukas Meisner
Im vorletzten Teil der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ kommt Lukas Meisner zu einem auf den ersten Blick überraschenden Resultat: Nietzsche und Marx üben beide fundamentale Kapitalismuskritik und Nietzsche kann dazu dienen, die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie durch eine nicht minder radikale Kritik der moralischen Ökonomie zu vervollständigen.

Im vorletzten Teil der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ kommt Lukas Meisner zu einem auf den ersten Blick überraschenden Resultat: Nietzsche und Marx üben beide fundamentale Kapitalismuskritik und Nietzsche kann dazu dienen, die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie durch eine nicht minder radikale Kritik der moralischen Ökonomie zu vervollständigen.

Man darf zum Beispiel bei dem geldsammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Thätigkeit nicht fragen: sie ist unvernünftig. Die Thätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik. – Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sklaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sklave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter.1

Anhand dieses Zitats wird, entgegen allen hermeneutischen Gerüchten, deutlich, dass sich Nietzsche gut als Kapitalismuskritiker eignet. Mehr noch – und das dürfte die akademischen Geister nun vollends verwirren – verteidigt Nietzsche in ihm die Vernunft gegens Kapital. Der Bankier ist unvernünftig, weil das einstige Mittel, Geld, ihm zum Selbstzweck, Kapital wurde, womit eine Inversion von Mittel und Zweck, kurz: Entfremdung, stattfand. Geld jedoch kann man nicht essen, woran schon der Mythos von König Midas gemahnt; Gewinnstreben folglich wird zum lebensabgewandten Wahn, der kollektiv die Atomisierten befällt. Der Bankier ist damit ein Repräsentant der Unvernunft und der Leibesferne gleichermaßen, wie einstmals nur der Priester es war – was sich auch an den Auswirkungen des Finanzmarkts als neuer Kultstätte ablesen lässt. Die vermeintlich – mit dem Nietzscheaner Max Weber gesprochen – rationalste bzw. rationalisierteste Verkehrsform der Gesellschaft ist für Nietzsche damit im Herzen unvernünftig, eben weil sie gegen das Leben gewandt ist. Weiter mit Weber: Zweckrationales Handeln als solches, das sich von substanzieller Vernunft verabschiedet hat, wird irrational, weil es sich, von der Frage nach Möglichkeit und Ziel abgeschnitten, in der eigenen Funktion verfängt und nur mehr nach Gespenstern jagt. Es ist ersichtlich: Nietzsche war nicht nur Zeitgenosse Marxens, sondern kritisierte auch dieselbe Gesellschaft wie jener, nämlich die kapitalistische. Mehr noch kann er uns heute dazu verhelfen, so manche marxistische Einsicht weiter zu vertiefen. So wies er beispielsweise nach, wie hinter dem vermeintlichen Egoismus seiner Klasse – der Repräsentanten protestantischer Ethik – letztlich das Super-Ego der Ichschwäche steckt, und wie der zur Schau gestellte Luxus der Oberschicht, da diese hinter ihrer Performance alle Persönlichkeit verliert und dergestalt menschlich verarmt, zur Askese herabkommt. Hier, nicht zuletzt, setzte Freuds Rezeption Nietzsches an, die ihn jedoch bürgerlich zurückübersetzte: In die absolute Notwendigkeit des Verzichts für alle Kultur. Nietzsche dagegen steht gerade für eine Kultur des Leibes und eine Kultivierung der Lust statt deren Unterdrückung, wobei diese gleichsam, als „große Gesundheit“ (Nietzsche), Vernunft miteinschließen muss, statt von ihr verstoßen zu bleiben.  

Was im Eingangszitat als die „Dummheit der Mechanik“ bezeichnet wird, lässt sich insofern auch marxistisch als „automatisches Subjekt“ begreifen, als welches das Kapital fungiert. Unter seinem Bann dient nicht die Wirtschaft uns, sondern wir ihr, weshalb wir auch nicht arbeiten, um zu leben, sondern leben, um zu arbeiten. Die Welt kurzum steht Kopf, weil sie kopflos ist, d. h. von anonymer Struktur beherrscht. Das Ergebnis: „Sklavenmoral“ grassiert, und zwar überall, alle betreffend, besonders beherrschend jedoch die Herrschenden, die Erfolgreichen, die Schönen, Mächtigen und Starken, denn die sind am tiefsten verstrickt ins falsche Bewusstsein ihrer Erhabenheit, die, dem ungeachtet, doch bloßer Schein bleibt. Gegen diesen Schein argumentiert das Eingangszitat, dass auch Lohnsklaverei noch Sklaverei ist, dass die Moderne nicht so freiheitlich ist, wie sie sich gibt, und dass Staatsmänner, Kaufmänner, Beamte, Gelehrte – d. h. die „hohen Tiere“ aus Politik, Wirtschaft, Staat und Kulturbetrieb – nicht minder Sklaven sind als ihre einstigen Pendants der griechischen Antike. Die vermeintlich nietzscheanische, im Eigentlichen Schumpeter’sche, Anbetung des Unternehmers als Genie, als Schöpfer, als heroisches Individuum erfährt in Nietzsche selbst somit eine peinliche Widerlegung: Gerade hinter der Feier der Individualität steckt das dividuelle Prinzip, denn die Persona, noch jene der Macht, ist, der lateinischen Wurzel des Wortes entsprechend, bloße Charaktermaske, und impliziert damit die tiefe Ohnmacht jener Menschen, die sie zu tragen haben. Aus diesem Blickwinkel wird Nietzsche zu einem Entfremdungstheoretiker par excellence. Wie gegen seine modernistischen Schüler Freud, Weber oder Joseph Schumpeter muss er, um zu werden, wer er ist, jedoch auch vor seinen anderen, späteren, postmodernen Epigonen verteidigt werden – ganz, wie Adorno einst Bach „gegen seine Liebhaber“ zu verteidigen hatte. Wie es einst, Bataille zufolge, galt, Nietzsche vor den Faschisten zu bewahren, so gilt es heute, ihn vor seiner weiteren Eingemeindung in die postmoderne Ideologie zu beschützen. Dies bedarf durchaus einer rettenden Kritik – hier soll es jedoch vor allem darum gehen, die emanzipatorischen Aspekte des Nietzscheschen Denkens herauszustellen.

Klarzustellen bleibt hierfür, dass, worauf Nietzsche in der Lesart der Poststrukturalisten weitgehend reduziert wurde – Tod des Subjekts, Transhumanismus, Postkritik –, ihn nicht nur massiv verkürzt, sondern vollends verkehrt. Gehen wir die Schwundstufen des postmodernen Nietzscheanismus kurz durch, die jene Verkehrung popularisiert haben. Statt als Totengräber des Subjekts lässt sich Nietzsche, gerade jener der mittleren Periode, weit überzeugender als Individualist, Existenzialist oder Anarchist verstehen, dem, romantisch geprägt, kaum etwas wichtiger ist als qualitative Individualität, selbst-bewusste Resistenz und ichstarke Devianz – d. h. als all das, was Postmoderne verabscheuen, verleugnen bzw. im toten Winkel der Geschichte zu entsorgen versuchen. Ebenso fordert Nietzsche einen neuen Menschen, der sich seine eigenen Ziele selbst steckt, statt, in ein geupdatetes Jenseits zur Menschheit abgeglitten – d. h. transhumanistisch an die Hinter-Welten raunender Theo- bzw. Technokratie und ihrer Theodizee verloren –, den letzten Menschen als ziellosen, willenlosen, frei collagier- und programmierbaren Frankenstein zu vergötzen. Und auch die Postkritiker, die sich auf Nietzsche berufen, sind zurückzuweisen, lassen sich seine Aphorismen doch kaum anders, denn als solche eines begnadeten Kritikers und stilsicheren Polemikers verstehen. Diese Wahl der Form hat überdies inhaltliche Gründe. Die nietzscheanische Affirmation des Lebens schließlich erfordert die Negation eines ganzen Ressentiment-Systems, das nur im Vergleichen, Konkurrieren, Besiegen den eigenen Wert sieht und erst in der Abwertung der anderen die eigene Aufwertung mobilisiert. Wer kurzum das Leben liebt, muss die lebensfeindlichen Kräfte hassen; wer es bejaht, muss diese verneinen; wer leben will, kritisiert. Damit sind Affirmation und Kritik eine Dialektik, statt, wie die fröhlichen Zyniker der Postkritik es sich einreden, Antipoden zueinander. Kurzum, Nietzsche ist kein Totengräber des Subjekts, kein Transhumanist und kein Postkritiker, sondern deren leibgewordene Negation, gerade weil er die Affirmation des Lebens so ernst nimmt.

Entgegen postmoderner Neuformatierungen Nietzsches ist dieser vielmehr als kapitalismuskritischer Entfremdungstheoretiker lesbar, der, zutiefst christlich sozialisiert, damit nicht zuletzt – wie auch Marx – in der Tradition eines Ludwig Feuerbach steht. Nicht trotz, sondern gerade wegen ausgiebigen Hegelrügen dem Junghegelianismus verwandt, sieht Nietzsche in der kapitalistischen Moderne – zu der die Postmoderne als décadence des letzten Menschen und seiner Sklavenmoral selbstverständlich dazugehört – die Metaphysik am Werk, und zwar von der modernen Wissenschaft bis zur modernen Ökonomie. Während erstere sich szientistisch zur einzigen Wahrheit aufspreizt, um ihre positivistischen Verkürzungen zur absoluten Wesensschau des Universums zu deklarieren, ist letztere nie nur politische, sondern immer schon moralische Ökonomie. Denn Schuld und Schulden, finanzielle und ethische Negativbilanz, sind für Nietzsche nicht voneinander zu trennen, wie er in seiner Genealogie der Moral verdeutlicht. Damit ist Kapitalismus als Religion zu verstehen, wie Walter Benjamin betonte, und nicht als schon vernünftiges oder aufgeklärtes System. Moderne Ökonomie und Wissenschaft, Kapitalismus als Religion und szientistischer Positivismus werden darüber hinaus mittels moderner Technologie zur Naturausbeutung verbunden, die innere wie äußere Natur gleichermaßen verheert.

In ihnen allen zusammen sieht Nietzsche eine realnihilistische Gewalt am Werk, deren Negation des Lebens nur die Selbst- und Neubestimmung des Menschen jenseits seiner Entfremdung stoppen könnte. In diesem Sinn denkt er antikapitalistisch, ja, mitunter über den gleichermaßen materialistischen Marx hinaus, da er sich die Frage der Subjektivierung kapitalistischer Objektivität zentral stellt. Nietzsches Antwort: Der Idealismus, seine Realabstraktionen und sein „Identitätsprinzip“ (Adorno), die im Tauschwert des Kapitals und in der Selbstzwecklogik des Kapitals angelegt sind, erzeugen in ihren Subjekten drei Tendenzen – eine zum Positivismus, eine zum Nihilismus und eine zum Moralismus. Alle drei sind erst zusammen zu verstehen, und Kulturkritik gibt es nur als solche, die politische als moralische Ökonomie in sich involviert – d. h. als dezidierte Kapitalismuskritik.

Marxens Version dieser Kritik ist sicherlich die am weitesten entwickelte, komplexeste und wichtigste bis in unsere Zeit. Doch Nietzsche kann sie ergänzen, indem sein Werk zeigt: Auch der Positivismus ist eine Form der Entfremdung, des verdinglichenden Denkens, und zwingt Wissenschaft, indem sie verbürgerlicht wird, in den Szientismus. „Wissenschaftlicher Sozialismus“ erhält so eine andere, eine ambivalentere Bedeutung. Der Nihilismus wiederum lässt sich als Subjektivierungsform des Spätkapitalismus begreifen, nachdem das Kapital die einstigen bürgerlichen Werte unter der eigenen Entwicklung vergrub, sodass sich nihilistische Antibürgerlichkeit – ob nun in modernistischer oder postmoderner Manier – nicht länger gegen den Kapitalismus richtet, sondern in einer ihr selbst unbewussten Wahlverwandtschaft zum Kapital steht. Und auch der Moralismus ist keine wirkliche Alternative zu besagtem Ineinander von Positivismus und Nihilismus, weil hier nicht wirklich das Primat der Politik jenes der Wirtschaft ersetzt. Vielmehr ergibt sich aus der politischen Ohnmacht das moralisierende Ressentiment, das somit in Kontinuität steht zum falschen Sein und kein besseres Sollen mehr aufweist, das dieses noch sprengen könnte.

Ismen waren Nietzsche, als Systemgegner, stets zuwider: das Positive des Lebens fand er erstickt im Positivismus; das kritische Moment der Negation verkommen zur unbelangbaren, weil unbestimmten Apologie des Nihilismus; und Moral, die ihrerseits doch auch dem Schutz der vulnerablen Leiber und der einen Erde, die wir beleben, dienen könnte, verkehrt im Moralismus inquisitorischer Gesten, die nichts aufwerten als die eigene Nichtigkeit zerstreut Vereinzelter. Was im Sinne Nietzsches im 21. Jahrhundert darum zu verfassen wäre, ist eine Genealogie des Moralismus, die gleichsam eine Genealogie des Positivismus und Nihilismus zu sein hat, und als solche eine historische Befragung jener gesellschaftlichen Objektivität, die positivistische, nihilistische, moralistische Subjektivierungsweisen erzwingt – um die Hinterfragung der kapitalistischen Totalität in all ihren Facetten zu leisten.

Nietzsches Werk arbeitet nicht gegen das Subjekt, die Menschen oder die Kritik, sondern gegen das – qua Verwertung entwertende – Prinzip des Kapitals, das Leiber zerstört, Leben nimmt und unseren Lebensraum bedroht. Zumindest lautet so die interessantere Lesart seines Oeuvres, die weitaus emanzipatorischer ist als jene der Postmoderne.      

Fußnoten

1: Menschliches, Allzumenschliches, Bd. I, Aph. 283.