Boomer, Zoomer, Millennials

Wie unterscheiden sich die jeweiligen Perspektiven auf Nietzsche?

Boomer, Zoomer, Millennials

Wie unterscheiden sich die jeweiligen Perspektiven auf Nietzsche?

23.9.24
Hans-Martin Schönherr-Mann, Paul Stephan & Estella Walter
Diesmal im vertraulichen Du unterhielt sich Paul Stephan mit Hans-Martin Schönherr-Mann, unserem ältesten Stammautor, und unserer jüngsten Stammautorin, Estella Walter, über unsere unterschiedlichen Generationserfahrungen und darüber, was von dem modischen Diskurs über die unterschiedlichen „Generationen“ überhaupt zu halten ist. Wir sprachen über den Poststrukturalismus, die ökologische Frage und die Vielfältigkeit möglicher Anschlüsse an Nietzsche.

Diesmal im vertraulichen Du unterhielt sich Paul Stephan mit Hans-Martin Schönherr-Mann, unserem ältesten Stammautoren, und unserer jüngsten Stammautorin, Estella Walter, über unsere unterschiedlichen Generationserfahrungen und darüber, was von dem modischen Diskurs über die unterschiedlichen „Generationen“ überhaupt zu halten ist. Wir sprachen über den Poststrukturalismus, die ökologische Frage und die Vielfältigkeit möglicher Anschlüsse an Nietzsche.

Paul Stephan: Liebe Estella, lieber Hans-Martin, wir haben uns heute im virtuellen Raum getroffen, um über die „Generationenfrage“ zu sprechen. Ein „Millennial“, ich selbst, eine „Zoomerin“ und ein „Boomer“. Der Diskurs um diese verschiedenen „Generationen“ ist ja im Augenblick en vogue, in den sozialen Medien kommt man an entsprechenden Memes und Videos ja kaum vorbei, auch das Feuilleton ist voll davon. „Zoomerin“, „Boomer“ –würdet ihr euch selbst so bezeichnen?

Hans-Martin Schönherr-Mann: Wahrscheinlich bin ich, etwas zu alt für die Baby-Boomer, eher gehöre ich zu den Prä-Baby-Boomern. Ich bin andererseits auch zu jung für die richtigen Achtundsechziger – 1968 wurde ich 16 –, eher ein Post-Achtundsechziger, der von der Erfahrung der 68er-Zeit aber politisiert und intellektualisiert wurde. Die Generation meiner jungen Lehrer, etwa eine Dekade älter als ich, war teilweise von Nietzsche und Hesse beeinflusst. Ob die noch zur „unpolitischen Generation“ der frühen Bundesrepublik gehörten, ist mir nicht klar. Aber mit Nietzsche und Hesse entwickelten sie ein individuelles Verständnis ihrer Lage, so dass sie sich nicht mehr als Teil einer Gemeinschaft verstanden, wie es dagegen seit dem 19. Jahrhundert selbstverständlich gewesen war.

Estella Walter: Lieber Paul, lieber Hans-Martin, ich selbst stehe etwas ratlos vor der Generationenfrage, vielleicht weil meine Altersgruppe gerade mittendrin steckt und eine Reflexion entsprechend schwierig ist. Das (vermehrte) Interesse an Generationen als diagnostisches Werkzeug ist aber auf jeden Fall sehr spannend. Entsprechend verstehe ich mich auch nicht als zugehörig zu der meiner Altersgruppe zugeordneten Generation. Vielmehr sehe ich es als eine mitunter recht sperrige Schablone, die in manchen Analysen Sinn ergibt und in anderen nicht. In jedem Fall scheint mir Nietzsche selbst eher wenig die Gen Z zu beeinflussen als vielmehr Denker*innen, die sich auf ihn beziehen wie etwa Michel Foucault und Judith Butler oder auch öffentliche Personen wie Jordan Peterson.

PS: Ich selbst denke, dass es so etwas wie „Generationserfahrungen“ und sich daraus ergebende gemeinsame Merkmale von bestimmten Alterskohorten auf jeden Fall gibt. In manchen Stereotypen über die „Millennials“ kann ich mich wiederfinden, in anderen weniger. Aber natürlich müsste man, wissenschaftlich gesehen, ergänzen, dass andere prägende Faktoren wie soziale und lokale Herkunft, Geschlecht, Ethnizität etc. ebenso eine Rolle spielen. Und ich glaube ja auch daran, dass die Individuen nie vollständig von diesen zahlreichen Faktoren determiniert werden, sondern ihre Identität auch immer das Produkt einer individuellen Wahl ist – erst recht, wenn man um diesen Generationsdiskurs weiß und sich von den jeweiligen Stereotypen bewusst distanzieren kann; oder eben auch nicht.

SM: Dem kann ich nur zustimmen. Aber wir stellen uns ja hier der Generationenfrage. Andere Faktoren sind dann wichtig, wenn sie diese Frage tangieren. Meine Generation, soweit sie politisch war, stand Nietzsche aus marxistischer Perspektive eher ablehnend gegenüber. Anfang der siebziger Jahre war die Neuedition von Giorgio Colli und Mazzino Montinari auch noch nicht so verbreitet und bekannt – in Nicht-Nietzscheaner-Kreisen –; der erste Band auf Deutsch erscheint 1967, die Kritische Studienausgabe vollständig erst 1980. Aber es gab auch in meiner Generation eher künstlerisch orientierte Zeitgenossinnen, die sich auch auf Nietzsche beriefen. Ich kann freilich nicht mehr sagen, inwieweit dabei die diversen neuen Auslegungsfragen schon eingingen. Wahrscheinlich waren sie eher von den älteren Hesse-Fans dazu inspiriert worden.

Jene, die künstlerisch orientiert waren, haben wahrscheinlich sein Kunstverständnis des Dionysischen reflektiert. Vor allem hat sich ja durch die Rockmusik ein solches Element massiv verbreitet, verbunden natürlich auch mit Drogenerfahrungen, die jedenfalls teilweise auf eine Bewusstseinserweiterung oder zumindest neue Erfahrungen zielten, die man dann auch mit dem Zarathustra in Verbindung bringen kann: neue Werte erfinden. Die Politischen in meiner Generation waren sicher von Marx und Adorno beeinflusst und folgten noch der dort verbreiteten Ablehnung Nietzsches beruhend auf jener Auslegung, die Nietzsches Schwester befördert hatte. Wenn man sich vom französischen Existentialismus beeinflussen ließ, dann kam man Nietzsche wieder näher. Aber die Nähe zwischen beiden war nicht allzu bekannt.

PS: Was Nietzsche angeht, würde ich auch sagen, dass für meine Generation andere Denker weitaus wichtiger sind. Foucault und Butler auch, aber viele lasen auch Adorno und Marx sowieso in ihren prägenden Jahren. Besser als „Millennial“ gefällt mir das Attribut „Generation Bildungsstreik“, auch wenn es natürlich nicht meine gesamte Alterskohorte bezeichnet. Aber ich denke, alle, die um 2010 herum studiert haben und halbwegs politisch interessiert waren, wurden irgendwie von der großen Bildungsstreikbewegung geprägt. Zu Nietzsche kamen wir erst über Umwege und immer aus einer politischen Perspektive heraus, auch wenn seine Gedanken zum Bildungssystem teilweise mit unseren Forderungen nach einer echten Bildung statt bloßer Ausbildung korrespondierten. Teilweise diente Nietzsche aber auch als Sprungbrett, um ein wenig aus der starken Politisierung des Diskurses auszubrechen und die Dinge aus einer eher existenzialistischen, individuellen und künstlerischen Perspektive heraus zu bedenken.

EW: Einen gemeinsamen Nenner zu finden, wer unter den Studierenden (außerhalb der Uni stoße ich eher selten auf jemanden, der Bezugspunkte zu Nietzsche hat) sich für Nietzsche interessiert, ist nicht so leicht. Ich denke, ähnlich wie bei dir, Paul, stößt man eher durch Umwege oder Zufälle auf seine Werke. Natürlich gibt es die (links-)politisch Orientierten, die vom Poststrukturalismus her kommen, dann gibt es aber auch die Lehnstuhl-Philosophiestudierenden, die sich strikt fachlich für ihn interessieren und solche, meistens aus der analytischen Philosophie, die Nietzsche wenn überhaupt als literarischen Zeitvertreib, nicht als Gegenstand der philosophischen Auseinandersetzung betrachten.  Selbstverständlich finden sich hier und da auch jene, die Nietzsche zum Selbsthilfe-Guru verkommen lassen. Das mag unter anderem daran liegen, dass Nietzsche eine derart breite Projektionsfläche bietet, vor allem rhetorisch ist für jeden ein passender Slogan dabei. Seine Ambiguität macht ihn ja gerade so interessant.

Für die die Gen Z betreffenden Geschehnisse, die Zeuge unserer widersprüchlichen Zeiten sind (Klimawandel, reaktionäre Spaltung der Gesellschaften, Identitätspolitik, kolonialer Hangover, globale Ausbeutungsverhältnisse usw.) ist Nietzsches eigene Widersprüchlichkeit unleugbar von Aktualität, sie ist wie ein Spiegel, eine Konfrontation mit uns selbst. Allerdings spielt er in der politischen Auseinandersetzung mit all diesen Geschehnissen und den Umgang mit ihnen eine geringe Rolle. Anders als Marx oder Adorno verbleibt er meistens in den Seminaren und Lehrbüchern, selten schafft er es auf die Straße.

SM: Zunächst noch zur Bildung: Meine Generation und die von 68 forderten fleißig Reformen – man denke an die Parole: „Unter den Talaren der Muff von 1.000 Jahren.“ Aber sie bekamen letztlich eine Verschulung, die sie dann später selber umsetzten. Das hat wenig mit Nietzsche zu tun, höchstens der damit verbundene Anspruch auf Selbstentfaltung, der diesen Generationen durch die alte Uni verstellt schien – welch ein Irrtum, bot die alte dazu immer noch mehr Möglichkeiten als die späteren reformierten Unis. Die Politischen unter uns hatten denn auch mit einer Spaltung der Gesellschaft kein Problem. Die erschien immer schon gespalten und die heutige Rede davon ist eine merkwürdige Romantisierung nach der Integration von Linken und Grünen in den Politikbetrieb. Meine Generation der Siebziger orientierte sich ökologisch – da passte höchstens eine gewisse Naturromantik zu Nietzsche. Ich habe Nietzsche in den Achtzigern dann als Wissenschaftskritiker ökologisch gelesen – eine Lesart die bis heute niemandem gefällt. Aber es gab auch eine politische Richtung, die sich vom dogmatischen Marxismus abkehrte, die ich vielleicht „spontaneistisch“ nennen möchte und die über die Poststrukturalisten auf Nietzsche kam. Wie schnell sich Foucaults genealogische Wende der siebziger Jahre danach verbreitete, ist fraglich. Ende der Siebziger aber dürfte sie durchgesickert sein. Trotzdem hat sich Nietzsches und Foucaults Moralkritik wohl eher wenig verbreitet. Schließlich boomte in jenen Jahrzehnten die Ethik. Da wollte kaum jemand eine Kritik an der Ethik hören, zu der ich im Anschluss an Nietzsche und Foucault bis heute neige.

EW: Mit der poststrukturalistischen Leseart bin ich vertraut, wie aber genau lässt sich Nietzsches Wissenschaftskritik ökologisch lesen?

SM: Nach Nietzsche erfasst man die Natur nicht, wie sie wirklich ist. Dann muss man umso vorsichtiger mit ihr umgehen. Ökologische Technik wäre dann nicht die Antwort, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass die Wissenschaften wirklich erzählen, was da passiert.

EW: Verstehe. Das Argument scheint mir mittlerweile aber doch verbreitet. Oder zumindest die Skepsis gegenüber einem technologischen Lösungsansatz in Anbetracht limitierten Wissens über die Natur.

SM: Dann könnte die Letzte Generation aber nicht behaupten, sie wäre die letzte, die noch was gegen die Klimaveränderung tun könnte – jedenfalls mit Nietzsche kann die Klimaveränderung nicht mehr als eine Prophezeiung sein. Die Grünen sind längst szientistisch und technizistisch.

PS: „Skepsis“ ist ein gutes Stichwort. Die „Millennials“ scheinen eine sehr skeptische und zögerliche Generation zu sein. Ob im Privaten, im Politischen, im Philosophischen: Man will sich nicht festlegen und sich alle Optionen offenhalten. Das treiben wir manchmal bis zum Exzess. Die vorhergehenden und nachfolgenden Generationen scheinen mir oft mehr Mut und Entschlossenheit aufzuweisen.

Das drückt sich meines Erachtens in der Dominanz von Foucault in meiner Generation aus. Zumindest die Geisteswissenschaften und der feuilletonistische Diskurs stehen ganz im Bann eines seichten Postmodernismus. Ein bisschen Hedonismus, ein bisschen Relativismus, viel Skepsis, aber doch auch kein regelrechter Skeptizismus. Ein bisschen wie South Park oder Vice. Dazu passt Nietzsche eigentlich, aber nur ein bestimmter, stets durch den Blickwinkel der Postmoderne gelesener Nietzsche. Ich denke, um uns aus unserer generationellen Lähmung zu befreien, müssen wir diese Denkweise hinter uns lassen. Eine Wiederentdeckung Nietzsches – aber sicher auch des echten Foucault beispielsweise, der von seinem common sense-Zerrbild natürlich sehr verschieden ist – könnte dabei helfen.

EW: Diese Denkweise, von der du spricht, zieht sich durch die Generationen. Das Gefühl der Machtlosigkeit und Lähmung, der Bedeutungslosigkeit in Anbetracht der verzweifelten Lage, ist nicht weniger in den darauffolgenden Generationen zu beobachten. Es ist eben der Nihilismus des „letzten Menschen“ von dem Nietzsche spricht. Die Politisierung z. B. der Gen Z mag dem widersprechen, schließlich fordert sie ja Veränderung und Neuaufbrüche. Doch muss auch dort auf die Wege und Methoden geschaut werden. Aktivismus findet auf den sozialen Medien statt, der hört sich allerdings eher nach moralischen Schreien an, die die materielle Basis der Probleme nicht berühren. Gleiches gilt für Aktivismus, der auf den Straßen stattfindet: Demonstrationen in der Größenordnung, wie wir sie kennen, sind hauptsächlich von symbolischer Natur. Subversive Störungen und Unterbrechungen einiger kleinen Gruppen provozieren zwar einen Aufschrei, ändern langfristig allerdings wenig, sofern sich keine kollektive Organisierung daraus entwickelt.

Zu Hans-Martins Einwand möchte ich noch kurz anmerken: Da stimme ich dir zu. Allerdings gibt es durchaus immer wieder Stimmen, die technologische Lösungsansätze, solange sie noch kapitalistischen Gesetzen folgen, kritisieren. Damit verbinde ich auch den Einwand, dass die Natur eine unberechenbare und unser Wissen über sie ein notwendig eingeschränktes ist. Sie der Technologie, deren Entwicklung zumal an profitmaximierende Gesetze gebunden ist, zu unterwerfen, birgt Gefahren. Wobei das vielleicht ein anderer Aspekt ist …

Was für ein ökologisches Vorgehen würdest du denn vor dem Hintergrund der epistemologischen Probleme vorsehen? Irgendwo muss man ja anfangen, wenn auch nicht unter wissenschaftlicher und technischer Vorherrschaft.

SM: Beide Einwände sehe ich aus der Perspektive meiner Generation freilich anders. Mir scheint eher eine politische Selbstherrlichkeit zu herrschen und der Skeptizismus in der Bevölkerung ist kein philosophischer, der wirklich an den Wissenschaften im Stile von Nietzsches Morgenröthe zweifeln würde. Die Leute wissen nicht mehr wohin die Reise geht, weil sich ein Zweifel am Fortschritt verbreitet hat. – Andererseits erwarten immer noch viele ihr Heil von den Institutionen, kehrt hier doch eine Staatsgläubigkeit wieder. Ich kann das generationenmäßig nicht zuordnen. Aber in den Führungspositionen sitzen noch meine Generation und die nachfolgende und die bestimmen die öffentliche Meinung, die freilich die neuen Medien nicht mehr kontrolliert – daher das Gejammere. Zugleich denken alle Generationen, dass sie keine Macht und keinen Einfluss haben. Dazu sollte man doch bei Foucault nachschauen. Jeder und jede beeinflusst das Geschehen. Aber die Intellektuellen, nicht zuletzt Nietzsche beschweren sich permanent, dass sie so einflusslos wären, dabei wissen sie es doch genau. Aber auch der Intellektuelle ist nur ein einzelner Mensch und Expertenherrschaft erlaubt ihm noch weniger Einfluss als die Herrschaft von Staat und Kapitalismus. Der Kapitalismus ist mit der Umwelt besser umgegangen als der ehemalige Sozialismus. Alternativen sind nicht in Sicht. Da halte ich es doch lieber mit dem Nietzsche-Rezipienten Heidegger. Der Mensch ist nicht Herr des Seins. Mit vermeintlicher Tatkraft entstehen mindestens so viele Probleme wie diese löst. Statt Handeln fordert Heidegger Denken. Wenn die Wissenschaften freilich die Frage nach dem Sinn von Sein stellen, wären sie nicht mehr so erfolgreich. Aber vielleicht wäre das das Gebotene. – Man muss die 11. Feuerbach-These umdrehen: Wer die Welt verändern will, muss sie erst anders verstehen. Und genau das hat Marx gemacht, Nietzsche freilich auch. Wer war einflussreicher? Mit der Idee der ewigen Wiederkunft des Gleichen womöglich heute Nietzsche.

EW: Den meisten von dir angesprochenen Punkten stimme ich tatsächlich zu. Deshalb ja meine Einschätzung, dass das Gefühl der Machtlosigkeit ein generationsübergreifendes Phänomen ist und sich selbst immer neuen Stoff zur Selbstbestätigung gibt. Dann folgt als Konsequenz der propagierten, vermeintlichen, Ohnmacht die Suche nach neuen Göttern (Staat, Identität, Kapital, Wahrheit etc.). – Denken und Handeln schließen sich meines Erachtens aber nicht aus. Wer sich ins Innere vergräbt und lediglich in platonischen Wolken lebt, wird sich ebenso wenig verändern wie jene, die sich vom gedankenlosen Handlungszwang treiben lassen. („Handeln“ darf hier allerdings nicht im Sinne einer rationalen Ursache-Wirkungskette verstanden werden).

Du bist mir aber noch eine Antwort auf die Frage schuldig geblieben, was für ein ökologisches Vorgehen du vor dem Hintergrund der epistemologischen Probleme vorsehen würdest.

SM: Das ist letztlich die Frage, welchen Stellenwert man der ökologischen Problematik einräumt, die momentan doch große Beachtung findet. Und viel ist auch seit den siebziger Jahren passiert. Das ging von linken Bürgerinnen aus meiner Generation aus. Viele haben Bioläden aufgemacht. Man sollte dem eher individuell als staatlich begegnen. Das scheint mir nachhaltiger. Staatsmänner, auch Frauen, können das nicht. Die Bürgerinnen müssen es selber machen und den Staat veranlassen, sie dabei zu unterstützen. Aber politische Probleme sind nicht monokausal, sondern es gibt viele verschiedene, die genauso wichtig sind. Ich denke, dass man dabei von Nietzsche viel lernen kann. Aber es ist klar, das betrifft primär Intellektuelle, wiewohl Nietzsche sicher einer der wenigen Philosophen ist, der auch außerhalb der Philosophenzunft rezipiert wird.

PS: Ja, da scheint es mir auch wieder eine generationelle Differenz zu geben. Bei meiner Generation nehme ich es so wahr, dass für uns, jedenfalls um 2010 herum, die ökologische Frage vollkommen nachranging gewesen ist. Da haben wir uns nicht so sehr drum geschert, sondern eher um die erwähnte Frage nach einem guten und gerechten Bildungssystem, die Friedensfrage (Stichwort Irak-Krieg) und der uns möglich erscheinende Kollaps des Finanzsystems in Folge der Krise von 2008. Ein wenig komisch, im Nachhinein betrachtet. Vielleicht wollten wir uns damit auch von den Älteren abgrenzen, denen diese Problematik so wichtig war. Und wir waren, bei aller Politisierung, doch auch sehr individualistisch drauf und hätten nicht im Traum daran gedacht, auf unsere Billigflüge quer durch Europa und Fleisch zu verzichten – das sind alles Themen, die erst ein wenig später aufkamen, auch wenn meine Generation in dieser Hinsicht inzwischen „aufgeholt“ hat, wenn man so sprechen mag.

Den letzten Aspekt, den du aufgebracht hast, Hans-Martin, finde ich aber auch noch wichtig, hervorzuheben. Ich kenne sehr viele Menschen, die niemals studiert, aber Nietzsche gelesen haben und etwas mit ihm anzufangen wissen. Da gleicht er ein wenig Kafka, auch Marx. Das sind alles Autoren, die „populär“ sind. Man darf die Geschichte der Nietzsche-Rezeption nicht bloß als Geschichte seiner akademischen Kommentierungen schreiben, sondern muss sie viel breiter erzählen, sonst nimmt man nur die Spitze des Eisbergs in den Blick.