Der Künstler als Egomane
Eine Abrechnung?
Der Künstler als Egomane
Eine Abrechnung?
Künstler kommen bei Nietzsche oft nicht gut weg. Sie stellen den Prototypen des unselbstständigen, wahrheitsfeindlichen und wirklichkeitsverneinenden Menschen dar, der ohne Selbstbeherrschung seinen eigenen Stimmungen ausgeliefert ist. Ein kindisches, dramatisierendes, jähzorniges und im Ganzen lächerliches Wesen, ein Egomane, dessen Handeln und Gehabe allein darauf ausgerichtet ist, um den Beifall der Anderen zu buhlen. Oder ist Nietzsche hier nicht ganz beim Wort zu nehmen? Sollte damit tatsächlich sein letztes Urteil über den kreativen Geist gefallen sein?
Vieles von dem, was Nietzsche am Künstler beschreibt, entwickelt er an der Figur Richard Wagner, mit dem ihn eine kurze, intensive, letztlich aber vor allem enttäuschende Bekanntschaft verbindet. Der Künstler und der Denker, so hätte für Nietzsche eine Zeit lang die ideale Freundschaft aussehen können. Aber nach dem Bruch mit Wagner hat Nietzsche viel Abfälliges über den Künstler als Typus zu sagen. Wie anders – zum Vergleich – gestaltet sich die Freundschaft zwischen Künstler und Denker in Narziß und Goldmund von Hermann Hesse, der sich ausführlich mit Nietzsche auseinandersetzt.
Eine der bekanntesten literarischen Dichotomien, welche den Typus des Künstlers demjenigen des Denkers gegenüberstellen, ist wohl Hermann Hesses Narziß und Goldmund. Hesse, einer der vielen Literaten, die sich im 20. Jahrhundert intensiv mit Nietzsches Werk auseinandersetzten, schrieb in seinem 1930 erschienenen Roman von der erfüllten Freundschaft zweier gegensätzlicher Gestalten – dem Denker Narziß und dem Künstler Goldmund. Ihre Bekanntschaft befähigt sie, in den Bereichen Fortschritte zu machen, die sie bisher vernachlässigt haben, emotionale Bindung bei Narziß, Selbstkenntnis bei Goldmund. Ihrem Wesen entsprechend ist ihre gemeinsame Zeit nur eine vorübergehende, denn Goldmund zieht es in die Welt, während das äußere Leben für Narziß als dem Typus des Introvertierten nur Last und Zumutung, er mithin im Kloster am besten aufgehoben ist. Die Bewunderung, welche die beiden Charaktere füreinander hegen, schließt sich stets als Kreis. Bewundert Goldmund zuerst Narziß’ Klugheit und Ernsthaftigkeit, so ist alsbald Narziß von dem schönen, lebendigen Knaben Goldmund hingerissen. Obwohl Hesse später schreibt, dass er seine beiden Charaktere nicht als bloß schematische Typen des Künstlers als Sinnenmensch und des Denkers als Geistmensch verstanden wissen will, sind sie doch scharf voneinander abgegrenzt.
Die Bedeutung ihrer Freundschaft fasst Narziß einmal hellsichtig zusammen: „Unser Ziel ist nicht, ineinander überzugehen, sondern einander zu erkennen und einer im andern das sehen und ehren zu lernen, was er ist: des andern Gegenstück und Ergänzung.“1
Ungefähr so, könnte man sich vorstellen, hätte sich Nietzsche seine Freundschaft mit dem Künstler Wagner auch gewünscht. Indes war sie von vornherein wenig darauf angelegt, ein Verhältnis auf Augenhöhe zu werden, war Nietzsche doch ein junger, unbekannter Akademiker von 24 Jahren und Wagner ein berühmter und streitlustiger Künstler von 55. Viel ist über die gescheiterte Freundschaft, so man sie überhaupt als solche bezeichnen will, geschrieben worden, viel über Nietzsches Wünsche, seine Hoffnungen und seine Enttäuschung. Man kann gar versucht sein, alles, was Nietzsche über den Künstler geschrieben hat, auf Wagner zu projizieren, Nietzsche selbst gibt dazu Anlass, wenn er in seinem Werk, das bezeichnenderweise Der Fall Wagner heißt, schreibt, dass dieser schlechthin der Typus des Künstlers der Décadence sei (vgl. Abs. 5). Weitere Details aus Nietzsches Biographie wie der frühe Vaterverlust bemüßigen Interpreten zu Spekulationen über einen übertragenen Ödipuskomplex und weitere psychische Schieflagen der Person Friedrich Nietzsche.
Der Künstler ist, wie man zugeben muss, für Nietzsche häufig der Musiker, aber auch der Dichter und – wenn auch seltener explizit – der bildende Künstler. Die Vorstellungen, die Nietzsche sich über Charaktere wie Goethe, Beethoven, Shakespeare, Lord Byron, Stendhal, Michelangelo und viele weitere macht, gehen, so dürfen wir annehmen, ebenso in seinen Typus des Künstlers ein wie die zur Bildsäule erstarrte Figur Richard Wagners. Wir können sogar versucht sein, anzunehmen, dass, anstatt den Künstler als Wagner zu lesen, andersherum Namen wie „Wagner“ und „Schopenhauer“ längst nicht mehr die Personen Wagner oder Schopenhauer meinen, sondern zu Chiffren werden für Unterarten innerhalb des Typus Künstler bzw. Philosoph. Erst wenn wir auf diese Weise Nietzsches Denkfiguren verstehen, werden sie zur Analyse von Menschen und möglicherweise sogar für das eigene Selbstverständnis brisant, vorausgesetzt, dass man künstlerische Ambitionen hegt oder sich als gelehrter oder kontemplativer Mensch versteht.
Der Künstler mit schlechtem Charakter
Das träumerisch-sensible Charisma, das Hesse seinem künstlerischen Protagonisten verleiht, scheint weit entfernt von Nietzsches Charakter des künstlerischen Menschen, wie er ihn in der Morgenröthe, Aph. 41, skizziert, denn „als Personen [sind sie] zumeist unleidlich, launisch, neidisch, gewaltsam, unfriedlich gewesen.“ Anstatt sich selbst zu suchen, eigene Wege zu gehen und Missachtung zu riskieren, sind sie häufig nur die Ersten im Gefolge eines Herrschers, besonders beredte Schmeichler und zuletzt eben nichts anderes als Günstlinge des Hofes.2 Der Künstler, so schreibt Nietzsche auch in der Genealogie der Moral, ist unfähig, alleine zu stehen, er kann nicht eine primäre Gedankenfigur oder ein Ideal erschaffen, er muss sich ein solches vom Denker leihen und seine Kunst in dieses Ideal hinein projizieren.3 Die starke Gefühlswelt, die Tiefsicht, die man ihm zuschreibe, nicht zuletzt, weil man Tiefe und Vielschichtigkeit in seinem Werk erblicke, sei gar nicht unbedingt ein echter Wesenszug von ihm. In seiner Launenhaftigkeit, seiner Aggression sei der Künstler affektiert, er übertreibe seine Gefühle, weil es von ihm erwartet werde und es dem Geniekult diene.4 Dort aber, wo er in seinem Werk am tiefsten scheine, dort wo er eine schöne und edle Seele zeichne, moralische Motive und Stoffe, genau dort habe er nur mit gläsernem Auge hingeblickt, „mit dem sehr seltenen Erfolge, dass diess Auge zuletzt doch lebendige Natur wird, wenn auch etwas verkümmert blickende Natur, – aber mit dem gewöhnlichen Erfolge, dass alle Welt Natur zu sehen meint, wo kaltes Glas ist“5.
Der infantile Künstler
Immer wieder zeichnet Nietzsche den Künstler als kindlichen Charakter, als jemand, der nur spielen will, der egoistisch ist, der andere gar nicht richtig sehen oder anerkennen kann, weil er sich fortwährend nur um die eigene Person dreht und andere nur als Reflektoren für die eigene Bewunderung benutzt. Nietzsche, der das Spiel und das Versuchen in zahlreichen Aphorismen der Morgenröthe, der Fröhlichen Wissenschaft und im Zarathustra aufwertet, schreibt allerdings in Menschliches Allzumenschliches kritisch dazu:
An sich ist nun der Künstler schon ein zurückbleibendes Wesen, weil er beim Spiel stehen bleibt, welches zur Jugend und Kindheit gehört: dazu kommt noch, dass er allmählich in andere Zeiten zurückgebildet wird. So entsteht zuletzt ein heftiger Antagonismus zwischen ihm und den gleichalterigen Menschen seiner Periode und ein trübes Ende[.]6
Der Künstler als Wahrheitsfeind
Der Künstler wehrt sich gegen das Erwachsenwerden; anstatt dass kühle Vernunft die Welt und das Leben erklärbar und berechenbar macht, möchte er in frühere Zeiten zurück. Er will sich das magische Denken durchaus nicht nehmen lassen. Fernere Zeiten – Nietzsche assoziiert hier das junge Lebensalter, in dem der Künstler stecken bleibt, mit der noch jungen Menschheit – liegen ihm näher.7 Der Schritt zur Ratio wurde nicht vollzogen, Götter, Dämonen und Geistwesen beherrschten eine unverständliche und chaotische Welt, die eines Zaubermeisters bedürfe. Dies ist der rechte, echte Künstlergeschmack nach Nietzsche und wenn er auch verdeckt ist, zeigt er sich doch in der natürlichen Abneigung des Künstlers gegen die Wissenschaft. Er hasst die Wissenschaft und beneidet sie zugleich, weil sie die moderne Zaubermeisterin ist, welche neue Errungenschaften möglich macht. Wenn sich der Künstler nun aber zu dieser alten Welt der Geister und Feen zurück sehnt, dann nicht weil er wirklich an diese Zauberdinge oder gar an einen Gott glaubt – Nietzsche wird nicht müde, Kunst und Glaube einander antithetisch gegenüberzustellen –, nicht weil er darin eine Wahrheit zu haben meint, nein, er möchte eigentlich nur seine eigenen Existenz- und Schaffensbedingungen optimieren und dies ist „das Phantastische, Mythische, Unsichere, Extreme, den Sinn für das Symbolische, die Ueberschätzung der Person, den Glauben an etwas Wunderartiges im Genius“8.
Der Künstler als Wirklichkeitsfeind
Zuletzt, und dies ist vermutlich der schärfste Vorwurf, ist der Künstler bei Nietzsche nicht ein Mensch der wirklichen Welt. Denn es ist ein Ungenügen an der Wirklichkeit, das ihn zum Künstler werden lässt, er erfindet die Helden, die er selbst nicht verkörpern kann:
Thatsächlich steht es so, dass, wenn er eben das wäre, er es schlechterdings nicht darstellen, ausdenken, ausdrücken würde; ein Homer hätte keinen Achill, ein Goethe keinen Faust gedichtet, wenn Homer ein Achill und wenn Goethe ein Faust gewesen wäre. Ein vollkommner und ganzer Künstler ist in alle Ewigkeit von dem „Realen“, dem Wirklichen abgetrennt[.]9
Würde der Künstler nun aber immerhin zwischen seinen Fantasien und seiner Person und ihrer Substanz unterscheiden können, würde vielleicht ein letzter Rest Respekt vor ihm gewahrt. Aber leider ist dieser Typus Mensch stark von der Bewertung und Achtung anderer abhängig, die, wie man gerechterweise hinzufügen muss, leicht dazu verführt werden können, im Künstler etwas von dem Helden zu sehen, den dieser erfand. Der Geniekult, der um den Künstler entsteht, entlastet den gewöhnlichen Menschen davon, sich selbst eine größere Aufgabe, ein Werk zu suchen.10 Wenn ein Werk nur von einem Genie geschaffen werden kann, dann ist jeder eigene Versuch bloße Zeitverschwendung. Nichts bläht aber das Selbstbewusstsein des Künstlers mehr auf als eine solche Deutung. Bewunderung wirkt wie eine Droge auf ihn. Immer mehr möchte er sein, darstellen, von immer mehr Personen bewundert werden. Dies verdirbt nicht nur seine Kunst, die zum „Pöbel“ herabsteigt, sondern auch seine Persönlichkeit, die zur bloßen Maske verkommt. Als Schauspieler verliert der Künstler seine substanzielle Persönlichkeit. Er ist nie, was er darstellt, aber er kann auch gar nicht mehr anders als darstellen.11
Der Künstler psychisch gestört?
Zuletzt könnten wir also sagen, dass Nietzsche ein hochgradig pathologisches Bild des Künstlers zeichnet, das nach heutiger Trivialpsychologie der Persönlichkeitsstörung des Narzissten entsprechen müsste: egozentrisch, kindisch und charismatisch. Je nach Gelegenheit, wenn er es sich leisten kann, launisch, mit Störungen der Impulskontrolle, wechselhaft in seinen Zuneigungen. Schwankend in seiner eigenen Selbsteinschätzung zwischen Größenwahn und Minderwertigkeit, dazu gezwungen, andere zu sich zu verführen, um dann in der Folge an die eigene Grandiosität zu glauben, die er sich selbst nicht abnehmen kann. Jedes moralische Gewissen ist ihm naturgemäß fremd oder allenfalls ein Verkleidungsstück in dem reichen Sortiment der Maskerade.
Aber dies wäre natürlich nicht die Philosophie Nietzsches, wenn es sich gar so simpel verhielte und man dieses Bild nicht auch in ein Kippverhältnis bringen könnte. Sind bei Hesse Künstler und Denker als Typen der Vita activa und der Vita contemplativa scharf voneinander abgegrenzt, so scheinen sie bei Nietzsche eine gemeinsame Schnittmenge zu besitzen. Der Philosoph ist bei Nietzsche die konsequente Weiterführung des asketischen Priesters und auch der Künstler scheint nur bei einer Weggabelung einen anderen Pfad eingeschlagen zu haben. All die negativen Charaktereigenschaften, die Nietzsche in der Morgenröthe 41 benennt, ordnet er einem Künstlertypus zu, der aus dem Kontemplativen erwächst. Und der Denkertypus, nun, der schneidet bei Nietzsche auch nicht viel besser ab. Denn er vereint in sich die schlechten Charaktereigenschaften des Künstlers mit der Neigung des Priesters, die Freude und das Leben den anderen madig zu machen und setzt noch eine dritte schlechte Eigenschaft obendrauf: Mit ihren dialektischen Gedankengängen sorgen sie bei anderen Menschen auch noch für viel Langeweile.12
Ja, selbst bei den Philosophen scheint es mit ihrer Liebe zur Wahrheit nicht weit her zu sein. Die Ideale, welche die Philosophen hochgelobt haben – zumeist asketische Ideale der Enthaltsamkeit, der Besitzlosigkeit etc. – sind lediglich die beste Grundlage für ihr eigenes Schaffen:
Freiheit von Zwang, Störung, Lärm, von Geschäften, Pflichten, Sorgen; Helligkeit im Kopf; Tanz, Sprung und Flug der Gedanken; eine gute Luft, dünn, klar, frei, trocken, wie die Luft auf Höhen ist, bei der alles animalische Sein geistiger wird und Flügel bekommt[.]13
Dort also wo der Künstler zurück in eine magische Welt drängt, in der er zum Mittler zwischen Gott- und Menschenwelt verklärt wird, so der Philosoph in Richtung eines Elfenbeinturms, von wo er alles trefflich wahrnehmen kann, ohne von alltäglichen Zumutungen geplagt zu werden.
Ist dies aber tatsächlich noch eine Kritik am Künstler bzw. Denker oder nicht vielmehr die Kritik am naiven Glauben an eine überpersönliche Wahrheit und überzeitliche Ideale? Die eigenen Lebensbedingungen bejahen und nicht eine Wahrheit, die möglicherweise lebensfeindlich ist, das könnte sowohl Künstler als auch schlauere Denker einen. Und wenn andere Menschen nun den Künstlern und Denkern auf den Leim gehen, ihre Ideale als ewige glauben, diese bewundern, bezahlen und selbst gröberen, langweiligen Tätigkeiten nachgehen, weil sie in sich selbst kein Genie erblicken, das sie als notwendig für das Künstlerdasein erachten, und ja, wenn sie sich ein Weilchen in Enthaltsamkeit und Meditation üben, ohne dass es ihnen gut tut, nun, was kümmert es die Künstler und Denker? Sie haben es nötig, Schein und Aura, um sich zu wahren, sollte die Welt nicht von ihnen verlangen, einem ehrbaren Brotberuf nachzugehen. Und nicht zuletzt danken es die Künstler und Denker der Welt, indem sie diese schöner machen und durch Geschichten und Dichtungen bereichern oder Ideen und Ideale vorstellen, die die Menschen inspirieren.
Je weniger eine objektive, für alle Menschen gültige Wahrheit hinsichtlich überzeitlicher Ideale und Werte überhaupt überzeugt, desto näher rücken bei Nietzsche Künstler und Denker. Der Denker ist schließlich vielleicht nichts anderes als ein Künstler, der Werte und Ideale schafft, so wie der Maler sein Bild malt und der Bildhauer die Skulptur aus dem Stein befreit. Beide Typen gehen vom gemeinsamen Feld des Kontemplativen aus, vom Beobachtenden, Introvertierten, Inaktiven und Brütenden,14 aber die schöpferische Kraft verleiht ihnen eine Aktivität, welche die schlichte vita activa übertrifft. Nietzsche gibt ihr einen neuen Namen: die vis creativa. Der dichterische Denker, der Künstlerphilosoph unterschätzt sich zunächst:
[E]r meint, als Zuschauer und Zuhörer vor das grosse Schau- und Tonspiel gestellt zu sein, welches das Leben ist: er nennt seine Natur eine contemplative und übersieht dabei, dass er selber auch der eigentliche Dichter und Fortdichter des Lebens ist, — dass er sich freilich vom Schauspieler dieses Drama’s, dem sogenannten handelnden Menschen, sehr unterscheidet, aber noch mehr von einem blossen Betrachter und Festgaste vor der Bühne. Ihm, als dem Dichter, ist gewiss vis contemplativa und der Rückblick auf sein Werk zu eigen, aber zugleich und vorerst die vis creativa, welche dem handelnden Menschen fehlt, was auch der Augenschein und der Allerweltsglaube sagen mag. Wir, die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort Etwas machen, das noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen. Diese von uns erfundene Dichtung wird fortwährend von den sogenannten practischen Menschen (unsern Schauspielern wie gesagt) eingelernt, eingeübt, in Fleisch und Wirklichkeit, ja Alltäglichkeit übersetzt. Was nur Werth hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur nach, — die Natur ist immer werthlos: — sondern dem hat man einen Werth einmal gegeben, geschenkt, und wir waren diese Gebenden und Schenkenden! Wir erst haben die Welt, die den Menschen Etwas angeht, geschaffen!15
Nietzsche verleiht dem Denken in seiner Philosophie eine radikale Wirkmacht. Indem Philosophen neue Sichtweisen auf die Welt entwickeln, indem sie bereits ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Lebensbereiche werfen und andere vernachlässigen, werten sie, selbst wenn sie noch zu beschreiben meinen, einiges auf und anderes ab. Philosophen und Priester geben damit den Menschen neue Rollenbilder, sie sind die Drehbuchautoren für die wirkliche Welt. Und was ist nun mit den Künstlern? Mit dem Geniekult entlasten sie doch scheinbar nur Menschen von eigenen schöpferischen Versuchen. Halten sie den Menschen also klein? Nun, das wäre vermutlich eine unfaire Betrachtung, denn gerade die Künstler werten ganze Gefühlswelten, Handlungsmöglichkeiten, Heldengeschichten auf. Sie ermöglichen, so müsste man doch aus Nietzsches Philosophie schließen, erst ganz neue Empfindungen, die man vormals gar nicht erlebte. Die Nervosität, die romantische Liebe, die Empfindsamkeit – sind das nicht die Erfindungen der Künstler? Nietzsche hätte vielleicht eingewendet, dass die Künstler seiner Theorie nach nicht alleine stehen können, dass sie ein Ideal von jemand anderem borgen müssen. Vorausgesetzt, dies wäre wahr, so wären die Künstler immer noch diejenigen, welche ein Stück blasse Theorie in Feuer und Flamme verwandeln und erst die Sehnsucht erwecken, die Menschen in andere Richtungen ziehen lässt. Hin und wieder ergibt sich vielleicht sogar ein günstiger Zufall: ein künstlerischer Philosoph, ein philosophischer Künstler – und darüber hinaus die Möglichkeit der Freundschaft zwischen dem Einen und dem Anderen.
Quellen
Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. Frankfurt a. M. 1978.
Fußnoten
1: Hesse, Narziß und Goldmund, S. 44.
2: Vgl. Zur Genealogie der Moral, III, 5.
3: Vgl. ebd.
4: Vgl. Menschliches, Allzumenschliches I, 211.
5: Menschliches, Allzumenschliches II, Vermischte Meinungen und Sprüche, 151.
6: Menschliches, Allzumenschliches I, 159.
7: Vgl. ebd.
8: Menschliches, Allzumenschliches I, 146. Vgl. dazu auch die Aphorismen 147 und 155 im selben Buch.
9: Zur Genealogie der Moral, III, 4.
10: Vgl. Menschliches, Allzumenschliches I, 162.
11: Vgl. Also sprach Zarathustra, Der Zauberer.
12: Vgl. ebd.
13: Zur Genealogie der Moral, III, 8.
14: Vgl. Zur Genealogie der Moral, III, 10.