Seht, ich lehre euch den Transhumanisten
Friedrich Nietzsche als Personal Trainer des Extropianismus
Seht, ich lehre euch den Transhumanisten
Friedrich Nietzsche als Personal Trainer des Extropianismus
Nachdem Natalie Schulte in der vergangenen Woche über den Widerhall von Nietzsches „Übermenschen“-Idee in der Gründerszene berichtete (Link), widmet sich der Schweizer Kunstwissenschaftler Jörg Scheller in dieser Woche ihrem Fortleben im Extropianismus, einer Unterform des Transhumanismus, der es darum geht, die menschliche Evolution auf individueller wie auch auf Gattungsebene künstlich zu beschleunigen mit den Mitteln der modernen Technik. Dem physikalischen Gesetz der „Entropie“, wonach in geschlossenen Systemen die Tendenz besteht, alle Energiegefälle auszugleichen, bis sich ein Gleichgewichtszustand hergestellt hat – auf das Universum bezogen ein Zustand des völligen Erkaltens –, setzen die Verfechter dieser Strömung das Prinzip der „Extropie“, der zunehmenden Vitalität eines Systems, entgegen.
In den Schriften des Transhumanismus zählt Friedrich Nietzsche zu den meisterwähnten Philosophen.1 Diese Feststellung mag zunächst banal erscheinen. In welchem Bereich, so ließe sich etwas polemisch fragen, zählt Nietzsche denn nicht zu den meisterwähnten Philosophen? Ob in Texten zu Black Metal2 oder Bodybuilding, ob in den Songlyrics der Dandy Warhols, im Oi-Punk der Skinflicks oder in den die internationalen Bücherregale überwuchernden Bartratgebern – auf Nietzsche wird überall Bezug genommen, bietet sich sein vielstimmiges, eklektisches Werk doch als Kalendersprucharchiv für alle und keinen an.
Gerade für jene Menschen, die es mit Kontextsensibilität und Genealogien des Denkens nicht so genau nehmen, ist der aphoristische Stil Nietzsches, der den fiebrigen Salvensprech auf Twitter/X & Co. vorweg nahm und lange vor Pop schon Pop war, verführerisch. Dampfplauderer lechzen nach Hammerphilosophen. Mal kurz ein PDF der gesammelten Werke nach Schlagwörtern abgesucht, schon hat man einen knalligen Spruch, mit dem sich alles Mögliche philosophisch pimpen lässt. Da hat man’s mit Immanuel Kant oder Friedrich Wilhelm Joseph Schelling schwerer. Ob Manager oder Hausbesetzer – wenn es schnell gehen muss und ein bisschen nach Dynamit riechen soll, greift das Zitariat lieber zu Nietzsche.
Wenig verwunderlich also, dass es sich mit Transhumanisten nicht anders verhält. Und doch ist die ewige Wiederkehr Nietzsches im Transhumanismus alles andere als beliebig. Dass gerade jene, die den Menschen überwinden und seine profane Auffahrt in den Himmel des „Posthumanen“ beschleunigen wollen, eine besondere Affinität zum Begriff und Konzept des „Übermenschen“ haben, ist naheliegend. Ob ihr Verständnis des Übermenschen aber auch dem Verständnis Nietzsches entspricht, soll im vorliegenden Text mit Blick auf eine Unterform des Transhumanismus, den Extropianismus, untersucht werden.
I. Wider den entropischen „Religionismus“
In Max Mores Transhumanism. A Futurist Philosophy (1990), einem der prägenden Texte des Transhumanismus, spielt Nietzsche eine wichtige Rolle als Stichwortgeber. Der Autor, seines Zeichens Philosoph und CEO der Alcor Life Extension Foundation von 2010 bis 2020, versteht sich als „Extropianist“ und vertritt damit eine Strömung des Transhumanismus, die unmittelbar auf die (Lebens-)Praxis und die beschleunigte – grenzenlose, immerwährende – psychophysische Transformation des Menschen vermittels neuester Technologien abzielt (Kryonik, Biotechnologie, Künstliche Intelligenz, Nanotechnologie, etc.).
Extropianisten ist es darum zu tun, den Menschen, als Gattung wie auch als Individuum, schnell und effektiv über seinen aus ihrer Sicht deplorablen Ist-Zustand hinauszuführen. More kontrastiert den Typus des Extropianisten mit demjenigen des „Religionisten“, dessen Glauben hemmend wirke. Hier kommt Nietzsche ins Spiel: „Der Religionist hat keine Antwort auf die extropische Herausforderung, die uns Nietzsches Zarathustra stellt: ‚Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?‘“3. Und weiter heißt es bei More: „Ich stimme mit Nietzsche (in Der Wille zur Macht) überein, dass der Nihilismus nur ein Übergangsstadium ist, das aus dem Zusammenbruch einer falschen Interpretation der Welt resultiert. Wir verfügen heute über genügend Mittel, um den Nihilismus hinter uns zu lassen und eine positive (aber sich ständig weiterentwickelnde) Wertperspektive zu bejahen“.
Für Extropianisten gilt es, alle ethisch valablen (hier: die Menschenwürde des Individuums respektierenden) Ressourcen zur Optimierung zu nutzen, da ihnen die Akzeptanz des menschlichen Status Quo als Ausdruck von Defätismus erscheint. In der einen oder anderen Form zieht sich diese Prämisse durch die vielfältigen anderen, zwischen Liberalismus, Libertarismus, Sozialdemokratie, Sozialdarwinismus und weiteren Ismen oszillierenden Strömungen transhumanistischer Philosophie und Lebenspraxis, auch durch differenziertere und skeptischere Ansätze als den radikaloptimistischen von Max More, etwa den von Stefan Sorgner. Der deutsche Philosoph hält „die beständige Selbstüberwindung für zentral zur Förderung meiner eigenen Lebensqualität. Auch den Bereich der wissenschaftlichen und biotechnologischen Forschung erachte ich für enorm wichtig und plädiere dafür, ihn verstärkt zu fördern“4. Auch aus Sorgners Sicht ist Nietzsche elementar für den Transhumanismus: „Bei einer Auseinandersetzung mit dem Transhumanismus fällt sofort die Ähnlichkeit transhumanistischer Grundsätze mit denen von Nietzsches Philosophie auf“ (ebd., S. 111). In Sorgners Buch Transhumanismus. „Die gefährlichste Idee der Welt!?“ ist Nietzsche als einzigem Philosophen ein eigenes Kapitel gewidmet. An anderer Stelle plädiert er direkt „für einen Nietzscheanischen Transhumanismus“5.
Während Sorgner in Anlehnung an seinen Doktorvater Gianni Vattimo jedoch einen dezidiert „schwachen Transhumanismus“ verficht, positioniert sich More – auf nachgerade klischeehaft kalifornische Weise – als starker Transhumanist, der sich der radikalen Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten unter den Vorzeichen eines undialektischen, dogmatisch gesetzten „Positiven“ verschrieben hat. Extropianismus wird geboren als Tod der Tragödie, in deren Schatten Nietzsches Wille zur Bejahung doch unabweislich steht.
II. Transzendenz und neuer Glaube
Mores Beispiel macht auf überspitzte Weise deutlich, wie sehr der Transhumanismus in der anglo-amerikanischen Philosophie und Theorie verwurzelt ist; wie stark er mit Utilitarismus, Humanismus, Liberalismus, Individualismus und Aufklärung verbunden ist; wie sehr er auf dem typisch westlich-modernen, prometheischen Nexus von Wissenschaft, (Zweck-)Rationalität, Selbstvervollkommnung basiert – „vom Schicksal zum Machsal“, um ein Bonmot von Odo Marquard zu gebrauchen. Unsterblichkeit gilt als realistisches Ziel, Altern als heilbare Krankheit. Bezeichnend ist, dass die erste Konzeption des Transhumanismus auf den zukunftsfrohen atheistischen Eugeniker und ersten UNESCO-Generaldirektor Julian Huxley zurückgeht, der in seinem Artikel Transhumanism (1957) postulierte:
Die menschliche Spezies kann, wenn sie will, sich selbst transzendieren – nicht nur sporadisch, ein Individuum hier auf die eine, ein Individuum dort auf die andere Weise, sondern in ihrer Gesamtheit, als Menschheit. Wir brauchen einen Namen für diesen neuen Glauben. Vielleicht ist Transhumanismus der richtige Begriff: Der Mensch bleibt Mensch, aber er transzendiert sich selbst, indem er neue Möglichkeiten seiner menschlichen Natur und für seine menschliche Natur verwirklicht[.]6
Eine eigenständige Bewegung in Theorie und Praxis wurde Transhumanismus jedoch erst in den 1980er Jahren mit Vertretern wie FM 2030, Max More oder seiner Ehefrau Natasha Vita-More (die selbst gewählten Nachnamen sind buchstäblich zu verstehendes transhumanistisches Programm). Genau dann beginnen sich auch die Nietzsche-Bezugnahmen zu häufen, insbesondere auf den Übermenschen, der in den Rang des „Posthumanen“ befördert wird. Julian Huxleys schöne neue Welt (ja, es handelt sich um den Bruder des ungleich zukunftsskeptischeren und technologiekritischeren Autors Aldous Huxley…) kam noch ohne Nietzsches Beistand aus.
In ihrer Euphorie wandeln die Extropianisten nicht nur in die Offenheit der Zukunft, wo sie die frontier menschlicher Existenz immer weiter pushen, sondern auch in den alten Fußspuren des von sich selbst berauschten Bürgertums der Moderne, wie es Peter Sloterdijk in Erinnerung an die schöne Politik (2000) porträtiert: „Man ahnt, verwundert, vielleicht sogar neidisch, wie sehr die bürgerlichen Menschen jener Zeit noch geborgen waren in ihrem Vermögen, vor dem Realen ins Hymnische auszuweichen. Wie kurz waren damals die Wege vom Klavierduo zur Menschheit, wie schnell stieg man vom Punsch zur Gattung auf“7. Im Unterschied zum moderneskeptischen europäischen, insbesondere deutschen Bildungsbürgertum bejahen und nutzen Transhumanisten jedoch moderne Technologie und (Natur-)Wissenschaft auf enthusiastische Weise.
III. Der selektive Übermensch
Nietzsches Übermensch aus dem Zarathustra ist eine naheliegende Referenz, wenn es um Selbstüberschreitung und Ablösung von überkommener, mutmaßlich einengender Moral geht. Doch Extropianisten wie More und weitere Transhumanisten pflegen einen selektiven und tendenziösen Umgang mit Nietzsches wohl bekanntester Figur. Zwar ist unbestreitbar, dass man auf der inhaltlichen Ebene viele Parallelen zwischen Nietzsches Werk und Transhumanismus finden kann – die Kritik am Christentum (Stichwort „Sklavenmoral“), die Orientierung an (natur)wissenschaftlicher Forschung und Technik statt an religiöser Moral, die grundsätzliche Bejahung der Weiterentwicklung und der Selbstüberschreitung. Doch bei Nietzsche ist der Inhalt nicht ohne die Form und den Stil zu denken, ja Form und Stil sind, stärker als bei den meisten anderen Philosophen, selbst der Inhalt.
Während Transhumanisten ihre Texte meist in einem rationalen, durchaus voraussetzungsreichen, aber doch verständlichen, auch akademische Konventionen berücksichtigenden Duktus verfassen und technische Machbarkeit anstreben (Nick Bostrom hat ein nutzerfreundliches „Transhumanistisches FAQ“ verfasst8), grätschen beim Künstlerdenker Nietzsche der fiebrige Tonfall, die expressiven Formulierungen, die das eigene sprunghaft-essayistische Denken mimetisch nachvollziehende Dramaturgie der Sätze unablässig in die sich formierende ideologische Ordnung. So entsteht auf der Ebene von Nietzsches Stil selbst dort nicht der Eindruck, es handle sich um nüchterne Wissenschaft, wo nüchterne Wissenschaft gelobt wird. Und wenn sich banales Machbarkeitsdenken als Konsequenz des Ganges auf den letzten Gipfel zeichnet, leuchtet der Stil wie eine Warnlampe auf. Wer Nietzsche abzüglich des Stiles liest, liest nicht Nietzsche.
Ein weiteres Problem betrifft die Semantik. Was bei Nietzsche immer sowohl Problem als auch Potenzial ist, die schier unendlichen Entwicklungsmöglichkeiten nach dem Tod Gottes, gibt für Extropianisten wie Max More auf ziemlich undialektische Weise Anlass zur Hoffnung. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen optimistischer Affirmation und tragischer Bejahung. Für More gilt es, jenseits die Entwicklungsspielräume einengender Metaphysiken den Menschen vermittels Wissenschaft und diverser Techniken, von in Maschinen sich manifestierenden artes mechanicae bis hin zu handlungsorientierten Kultur- und Anthropotechniken, so lange zu optimieren, bis der alte Mensch überwunden ist und eine neue Ära der Evolution anbricht. Was der neue „posthumane“ Mensch (?) sein wird, wissen die Extropianisten zwar nicht so genau zu sagen, aber seltsamerweise nehmen sie an, dass er – oder es, oder sie – irgendwie besser sein wird. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der normativen Dimension des „Positiven“ dieser Optimierung unterlässt More wohlweislich – und weicht darin von seinem philosophischen personal trainer Nietzsche ab, dessen Werk doch auch als unablässiges Hadern, Hinterfragen, ja, als ein mitunter in paradoxe Bejahung umschlagendes Verzweifeln an den Möglichkeiten der Moderne verstanden werden kann.
IV. Extropianisten als letzte Menschen
Während sich Nietzsche dem Abgrund aussetzt und seine Kälte einatmet, schüttet More ihn mit neuen, wärmenden Gewissheiten zu. Dass „Wissen, Freiheit, Intelligenz, langes Leben und Weisheit“ inhärent gut sind, liegt seinem Konzept des Transhumanismus als dogmatische Setzung zugrunde. Warum aber etwa das von Extropianisten ersehnte lange Leben per se gut sein sollte, bleibt unklar. Zwar wird die verlängerte Lebensdauer stets an die Auflage gekoppelt, länger gesund zu bleiben. Doch artikuliert sich darin nicht eher die spießige Sehnsucht des „letzten Menschen“: möglichst alt werden, möglichst gesund bleiben, möglichst zufrieden sein? Dass menschliche Kulturleistungen auch aus Schwäche und Schmerz, aus Krankheit und Verlust, aus Scheitern und Verhängnis erwachsen, spielt für More eine untergeordnete Rolle. Diese Einsicht ist bei Nietzsche indes noch präsent, etwa im Ecce Homo: „Ich bin ein froher Botschafter, wie es keinen gab, ich kenne Aufgaben von einer Höhe, daß der Begriff dafür bisher gefehlt hat; erst von mir an gibt es wieder Hoffnungen. Mit alledem bin ich notwendig auch der Mensch des Verhängnisses“9.
Während More die Werte von Humanismus, Aufklärung und Moderne als konstruktive affirmiert, präsentiert sich die Stimme aus Ecce Homo auch als „Vernichter“, nämlich von Werten, und als „Immoralisten“, nicht zuletzt auch als „Hanswurst“: „Ich habe eine erschreckliche Angst davor, daß man mich eines Tags heilig spricht: man wird erraten, weshalb ich dies Buch vorher herausgebe, es soll verhüten, daß man Unfug mit mir treibt... Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst…“ (ebd.). Der Übermensch ist bei Nietzsche keine Lichtgestalt: „Des Übermenschen Schönheit kam zu mir als Schatten“10. Jene Extropianisten hingegen, die für ihr Übermenschenprojekt immer auch (überwiegend utilitaristische) Ethik, Werte, Moral in Anschlag bringen und letztlich das Gute versprechen (anders lässt sich auch kaum erfolgreich Fundraising für transhumanistische Experimente betreiben…), stehen damit eher in der Tradition jener, die im Ecce Homo als „die Guten, die Wohlwollenden, Wohltäthigen“11 denunziert werden: als kryptoreligiöse Idealisten. Die vorgeblichen Religionskritiker des Extropianismus sind vielleicht auf ähnliche Weise religiös, wie die den Cäsar kritisierenden Christen cäsarisch waren – und bald ja auf dessen Thron saßen. Hatten Religionen, genauer gesagt: politische Theologien wie das Christentum das Leid instrumentalisiert, um Menschen klein zu halten (Stichwort Hiob) und ihnen den Übermenschen zu verwehren, so instrumentalisieren Extropianisten das Leid ex negativo. Sie heiligen die Optimierung des Machsals auf eine ähnliche Weise, wie die „Religionisten“ das Sich-ins-Schicksal-Fügen heiligen.
V. Transhumanismus vs. Posthumanimus
Im Unterschied zum moderneskeptischen Posthumanismus, der den Menschen nicht mehr als „Krone der Schöpfung“ (Wolfang Welsch) anerkennt, sondern ihn als Abgeordneten politischer Ökologie in das „Parlament der Dinge“ (Bruno Latour) schickt oder ihn im „heißen Komposthaufen“ (Donna Haraway) die Demut multispeziesistischer Kollaboration lehrt, knüpft der extropianistische Transhumanismus an den futurozentrischen und anthropozentrischen Exzeptionalismus der Moderne an, ironischerweise indem er den (bisherigen) Menschen überwinden möchte – das Menschlichste am Menschen ist eben der Versuch, den Menschen zu überwinden. Kein Eichhörnchen versucht, das Eichhörnchen zu überwinden. Kein Kaktus versucht, den Kaktus zu überwinden. Kein Kieselstein versucht, den Kieselstein zu überwinden. Nur der Mensch versucht, den Menschen zu überwinden – darin drückt sich seine Menschlichkeit am reinsten aus. Und nur dort, wo der Anthropozentrismus in voller Blüte steht, erscheint das diffuse „Posthumane“ als erstrebenswerter Zustand. Die eigene Stärke ist so sehr gewachsen, dass Schwächung attraktiv erscheint, vergleichbar mit materiell gesättigten Menschen, die „Minimalismus“ als erstrebenswertes Ziel ansehen.
In diesem Zusammenhang muss streng zwischen Trans- und Posthumanismus unterschieden werden. Bei den Posthumanisten ist das Posthumane paradoxerweise das, was bereits, ja immer schon der Fall ist, aber nicht anerkannt, ja verdrängt und ideologisch bekämpft wird, nämlich die existenzielle „Verwobenheit“ (Haraway), das irreduzible Angewiesensein von uns Menschen auf ein „Netzwerk“ (Latour) aus Anderen und Anderem, menschlichen wie auch nicht-menschlichen Wesen. Posthumanismus lässt sich dahingehend als Akt der Explikation verstehen. Man findet wieder, was implizit schon der Fall ist. Bei den Transhumanisten hingegen ist das Posthumane ein erst noch zu erreichender Zustand: Der Übermensch muss hergestellt werden. Die Dualismus-Kritik der Posthumanisten, die aus binären Schemata wie Natur/Kultur herausfinden möchte, ist für den Transhumanismus nicht entscheidend. Allein die viel zitierte Vision des „Mind-Uploading“, also des technologischen Outsorcings des eigenen Bewusstseins auf ein Trägermedium, zeugt davon, dass für Transhumanisten, trotz der naturalistisch-materialistischen Grundierung ihrer Philosophie, eine kategorielle Differenz zwischen Körper und Geist besteht. Das konkrete „Mind“ ist angeblich nicht an einen konkreten „Body“ gekoppelt. Doch ist es nicht ein konkreter Körper, der einen konkreten Geist überhaupt erst ermöglicht, und ist nicht der „Leib“ (Helmuth Plessner) die Einheit ihrer Differenz, die sich nicht aufspalten lässt? Ein Geist, der unabhängig von einem konkreten Körper existierte, wäre nicht der Geist eines Menschen, sondern spukte durch ein platonisches Wolkenkuckucksheim. In Nietzsches Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben hingegen ist die Kritik am humanistischen Körper-Geist-Dualismus entscheidend, geht es doch um die Anerkennung der eigenen, irreduziblen Körper- und Tierhaftigkeit – eine Tierhaftigkeit, die durch kein „Übertier“ überwunden werden muss. Die Geschichts- und Moralferne des Tieres soll dem Menschen vielmehr ein Korrektiv sein: „So lebt das Thier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne daß ein wunderlicher Bruch übrigbleibt, es weiß sich nicht zu verstellen, verbirgt nichts und erscheint in jedem Momente ganz und gar als das, was es ist, kann also gar nicht anders sein als ehrlich“12.
VI. Extropianismus ist Marx als Musk
Transhumanisten, und insbesondere die Extropianisten unter ihnen, leben weiterhin in Menschenmoral und Menschengeschichte, ja sie wollen das grandioseste Kapitel dieser Geschichte selbst schreiben, indem sie den Gipfel des Menschlichen besteigen, eben das – nur vordergründig paradoxe – Posthumane. Kompatibel ist der extropianistische Transhumanismus somit weniger mit Nietzsche in all seiner Tragik und Zerrissenheit als vielmehr mit der linkshegelianischen Tradition einerseits, deren revolutionäres Geschichtsverständnis von der Veränderbarkeit aller Verhältnisse durch menschliches Tun ausgeht, mit der liberalkapitalistischen Tradition andererseits, die sich ewigem Fortschritt, ewiger Optimierung, ewigem Wachstum verpflichtet sieht. Extropianismus ist Marx als Musk.
Bei More und anderen Extropianisten könnte man das Posthumane als Äquivalent des Hegel’schen Endes der Geschichte interpretieren. Doch weil die potenziell unendliche Perfektionierung des Menschen – oder des Postmenschen – kein Ende haben kann, kann sie auch keinen Anfang haben. In seinem Versuch, den Lauf der Geschichte zu bestimmen, prozessiert der Extropianismus selbstbezüglich, durchpulst von optimistischer Leere, außerhalb der Geschichte vor sich hin – und kippt so zurück in genau jene u–topische religiöse Metaphysik, die er doch eigentlich, schenkt man More Glauben, überwinden will:
Unsere Spezies verharrt in alten konzeptionellen Strukturen und Prozessen, die den Fortschritt behindern. Eine der schlimmsten ist das religiöse Denken. In diesem Aufsatz werde ich zeigen, wie die Religion als entropische Kraft wirkt, die unserem Fortschritt zur Transhumanität und unserer Zukunft als Posthumane entgegensteht[.]13
Mit der Zukunft ist das so eine Sache. Wie der durchschnittliche Messias neigt sie zu Verspätungen. Und kommt sie dann endlich an, wird sie nicht als solche erkannt, ja sie ist im Moment des Erscheinens schon veraltet. Der Messias der Zukunft verendet stets am Kreuz gestiegener Erwartungen an ihn. FM-2030, ein 1930 geborener iranisch-amerikanischer Autor, Dozent, Berater, olympischer Athlet und Wegbereiter des Transhumanismus, sagte für das Jahr 2030 eine „magische Zeit“14 voraus – alle Menschen würden dann alterslos sein und hätten eine exzellente Chance, für immer zu leben. Der transhumanistische Technologie-Enthusiast Ray Kurzweil sekundierte ihm im Jahre 2016 (Link). Evident ist der religiöse Subtext. Im Jahr 2000 starb FM-2030 an Krebs. Ob er 2024 noch immer so optimistisch gewesen wäre? Die sich verdüsternde Weltlage und ein merklich gealterter Kurzweil zeigen uns Heutigen, dass die neuen extropianistischen Propheten nicht zwingend zuverlässiger sind als ihre alten religionistischen Vorgänger mit ihren notorisch unzutreffenden Apokalypse-Vorhersagen. Und selbst wenn ihre Propheizungen eintreffen würden, wären die Nutznießer sofort unzufrieden mit ihnen: Wie bitte, man speist uns mit ein bisschen Unsterblichkeit und Alterslosigkeit ab!? Wir hätten mehr verdient! Das Posthumane wird wohl menschlich, allzu menschlich werden. Oder, in den Worten des Philosophen Leszek Kołakowski: „Im Punkte der Explosion, die das Erbe zu sprengen scheint, stammt der Sprengstoff immer schon aus ererbten Beständen“15.
Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und Gastprofessor an der Kunsthochschule Poznań, Polen. Er schreibt regelmäßig Beiträge unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung, DIE ZEIT, Artforum und ist Kolumnist der Stuttgarter Zeitung sowie von Psychologie Heute. Bereits als 14-Jähriger stand er mit einer Metalband auf der Bühne. Heute betreibt er einen Heavy Metal-Lieferservice mit dem Metal-Duo Malmzeit. Nebenbei ist Scheller zertifizierter Fitnesstrainer. 2015 organisierte er mit Martin Jaeggi die Konferenz Pop! Goes the Tragedy. The Eternal Return of Friedrich Nietzsche in Popular Culture an der ZHdK. Er twitterXt unter https://x.com/joergscheller1.
Bibliographie
Campa, Riccardo: Nietzsche and Transhumanism. A Meta-Analytical Perspective. In: Studia Humana, Bd. 8/4 (2019), S. 10–26.
Huxley, Julian: Transhumanism. In: Ders.: New Bottles for New Wine. London 1957, S. 13–17.
Kołakowski, Leszek: Die Gegenwärtigkeit des Mythos. München 1973.
Krüger, Oliver: Virtual Immortality. God, Evolution, and the Singularity in Post- and Transhumanism. Bielefeld 2021.
More, Max: Transhumanism. Towards a Futurist Philosophy, online abgerufen auf: https://www.ildodopensiero.it/wp-content/uploads/2019/03/max-more-transhumanism-towards-a-futurist-philosophy.pdf
Sloterdijk, Peter: Erinnerung an die schöne Politik. In: Ders.: Der ästhetische Imperativ. Hamburg 2007, S. 29–49.
Sorgner, Stefan: Transhumanismus. „Die gefährlichste Idee der Welt“!?. Freiburg, Basel & Wien 2016.
Ders.: (2019): Übermensch. Plädoyer für einen Nietzscheanischen Transhumanismus. Basel 2019.
Quellenangabe zum Artikelbild
Nietzsche von Luke Mack, 2010 (Link)
Fußnoten
1: Für eine quantitative Analyse vgl. Riccardo Campa, Nietzsche and Transhumanism.
2: Anm. der Redaktion: Vgl. den Artikel zu Nietzsche Rezeption im Heavy Metal von Christian Saehrendt auf diesem Blog (Link).
3: Vgl. Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3. Alle englischsprachigen Zitate in diesem Artikel wurden vom Autor ins Deutsche übersetzt.
4: Sorgner, Transhumanismus, S. 33.
5: So der Untertitel seines Buches Übermensch.
6: S. 17.
7: S. 39.
8: Vgl. https://nickbostrom.com/views/transhumanist.pdf.
9: Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 1.
10: Ecce homo, Also sprach Zarathustra, 8.
11: Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 4.
12: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Abs. 1.
13: Transhumanism.
14: Zit. n. Oliver Krüger, Virtual Immortality, S. 71.
15: Leszek Kołakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, S. 38.