Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien III

Thailand

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien III

Thailand

26.4.25
Natalie Schulte
Neun Monate lang reiste unsere Autorin Natalie Schulte mit dem Fahrrad durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. In ihrem vorletzten Essay zur Reihe „Wanderungen mit Nietzsche“ sinniert sie über Begegnungen mit wilden Tieren, die sie auf ihrer Reise getroffen hat oder hätte treffen können. Dass dabei Überlegungen zu der Bedeutung der Tiere, wie sie in Nietzsches Philosophie vorkommen, miteinfließen, wird kaum verwundern.

Neun Monate lang reiste unsere Autorin Natalie Schulte mit dem Fahrrad durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. In ihrem vorletzten Beitrag zur Reihe „Wanderungen mit Nietzsche“ sinniert sie über Begegnungen mit wilden Tieren, die sie auf ihrer Reise getroffen hat oder hätte treffen können. Dass dabei Überlegungen zu der Bedeutung der Tiere, wie sie in Nietzsches Philosophie vorkommen, miteinfließen, wird kaum verwundern.

Von Tieren als Monstern

Lange bevor es überhaupt nach Südostasien losging, habe ich mich mit dem Thema „wilde Tiere“ auseinandergesetzt. Es war unklar, in welch abgeschiedene Bereiche, in welche Urwälder und Sümpfe wir eintauchen würden. Ich beschäftigte mich also mit der Frage, wie man am besten gegen ein Krokodil kämpft, was bei einem Schlangenbiss zu tun ist oder welches das gefährlichste Tier auf unserer Reise sein würde. Nach meiner Recherche rangierte weit oben, zu meinem eigenen Erstaunen, der Elefant. Dieser träge Dickhäuter mit den schwermütigen Augen und den Augenringen, die mich an lang durchwachte Nächte erinnern, kann in entsprechender Stimmung zum Monster mutieren. Diese Stimmung wird beim männlichen Elefanten ausgelöst durch einen Testosteronschub, welcher die Fortpflanzungsphase einleitet, die als Musth bezeichnet wird. Musth leitet sich aus dem persischen مست (mast) ab, bedeutet so viel wie „unter Drogen“ oder „im Rausch“ und bezeichnet äußerst treffend das Verhalten des Elefanten während dieser mehrmonatigen Periode. Er ist so aggressiv, dass er nicht nur männliche Rivalen attackiert, sondern auch Säugetiere oder unschuldige Gegenstände. Kein Wunder also, dass mich der Gedanke erschaudern ließ, auf einem verschlungenen Urwaldpfad plötzlich einem dicken Elefanten gegenüberzustehen, dem ein schwarzes Sekret an den Schläfen (deutliches Anzeichen der Musth-Phase) herabrinnt. Trotzdem schreckte mich dieses Wissen nicht davon ab, mich weiter in das sonderbare Dickicht detailreicher Artikel vorzuarbeiten.

Gute Unterhaltung

Ich tauchte ein in ein Reich unglaublicher Geschichten, gefährlichster Begegnungen, tödlichster Gifte und ungewöhnlicher Rettungen. Und bald darauf machte ich eine interessante Erfahrung. Selten war in Gesellschaft mein neu erworbenes Wissen so gefragt wie zu dieser Zeit. Jahrelang hatte ich mein Umfeld mit philosophischen Gedanken traktiert, hatte sie zu begeistern versucht für den Unterschied zwischen „transzendent“ und „transzendental“, für die synthetische Einheit der Apperzeption als Bedingung der Erkenntnis oder für die Geheimnisse der ontologischen Differenz. Und dabei hätte ich ihnen einfach etwas über Tiere erzählen müssen, um sie in meinen Bann zu schlagen.

Im Übrigen habe ich keine Entschuldigung, dass ich für diese Erkenntnis so lange brauchte. Zahlreiche Philosophen klagten in ihren Werken über dieses Leid, andere beklagten ihr Publikum. Auch Nietzsche ist bei diesem Thema nicht stumm geblieben. Im Aphorismus 41 der Morgenröthe schlägt er sich sogar auf die Seite des Publikums. So schreibt er, dass die Philosophen gleich den religiösen Naturen immer schon versucht  hätten, „den praktischen Menschen das Leben schwer zu machen und es ihnen womöglich zu verleiden: den Himmel verdüstern, die Sonne auslöschen, die Freude verdächtigen, die Hoffnungen entwerthen, die thätige Hand lähmen“1. Darüber hinaus, gleich den Künstlern, hätten Philosophen einen schlechten Charakter und seien „zumeist unleidlich, launisch, neidisch, gewaltsam, unfriedlich“ (ebd.). Als wäre das alles nicht genug, brächten die Philosophen aber noch eine dritte schlechte Eigenschaft mit, und zwar die Freude am „Dialektische[n], die Lust am Demonstriren“, womit sie „vielen Menschen Langeweile gemacht“ (ebd.) hätten.

Auch Nietzsche – wir wissen es – ist nicht genug gelesen worden, zumindest nicht bevor er, wie wir Nietzscheforscher es pietätvoll ausdrücken, der geistigen Umnachtung anheimfiel. Dabei hat er doch alles richtig gemacht: Zahlreiche Tiere kommen bei ihm vor, Tiger, Schlangen, Flugtiere, Kamele, Löwen, Katzen, Adler, um hier nur einige zu nennen.

Tiger

Mag sein, am Anfang der Geburt der Tragödie wird nicht wirklich viel über, sagen wir mal, Tiger gesprochen. Tiger und Panther, das sind die dionysischen Begleittiere beim Festumzug.2 Aber nach und nach gewinnt der Tiger einen Charakter in Nietzsches Philosophie. Der Tiger ist das Tier, in dessen Zentrum ein großer Wille wohnt: Eine Spannung unter Druck, stets bereit zum Sprung, zum Kampf, zum Ziel. Der Tiger, ein Einzelgänger, ein Raubtier, grausam und gewalttätig.

Trotz Nietzsches Vorliebe für das Amoralische kommt der Tiger dabei nicht immer gut weg. Zarathustra jedenfalls erklärt, dass ihm Tigerseelen nicht gefallen: „Wie ein Tiger steht er immer noch da, der springen will; aber ich mag diese gespannten Seelen nicht, unhold ist mein Geschmack allen diesen Zurückgezognen.“3

Und wer, dem Tiger gleich, auf das große Ziel lauert, alles für die eine Tat aufspart, der läuft Gefahr, dass ihm genau diese Tat nicht gelingt. Die höheren Menschen, denen Zarathustra eine Zeit lang zu Rate steht, nehmen sich auf genau diese Art zu ernst. Sie meinen, der eine Versuch sei alles: „Scheu, beschämt, ungeschickt, einem Tiger gleich, dem der Sprung missrieth: also, ihr höheren Menschen, sah ich oft euch bei Seite schleichen. Ein Wurf missrieth euch.“4

In Südostasien gibt es inzwischen nur noch wenige Tiger. In Vietnam, Laos, Kambodscha sind sie bereits ausgestorben. Der einzige Hoffnungsschimmer ist Thailand. Aber wir werden zum Glück keinem begegnen. Und der einzige Hinweis auf Elefanten sind gelegentliche Straßenschilder, die Autofahrer vor den die Straße kreuzenden Dickhäutern warnt. Einmal jagt uns die Lokalbevölkerung in einem Dorf einen tüchtigen Schrecken ein: Wir wollen gerade Abendessen besorgen, als man uns eindringlich warnt, bei Dämmerung bloß nicht mehr durch die Straßen zu fahren. Das Radio hat berichtet, eine Horde wilder Elefanten streife gerade durch die Gegend. Tollkühnheit (und Hunger) treibt uns dennoch zur Suche, aber nachdem wir mit mulmigem Gefühl und ängstlicher werdenden Blicken in den knackenden Urwald rechts und links der Straße zehn Minuten später immer noch keinen Essensstand gefunden haben, radeln wir eilig zurück zur Herberge und trösten unsere leeren Mägen mit Instant-Nudeln. Die Gefahr der Gefahren bleibt für mich – zum Glück – auch an diesem Abend ein Phantom.

Ungeahnte Gefahr

Viel dominanter, das wissen wir nach wenigen Tagen, ist ein weit weniger exotisches Tier: der Hund. Es gibt zahlreiche Hunde in Thailand. Sie sind uneingeschränktes Lieblingshaustier. Daneben gibt es etliche verwilderte Kläffer sowie kleine und große Rudel. Thailands Straßen (genau wie Vietnams und Kambodschas) verfügen selten über einen Bürgersteig. Das Leben findet auf der Straße statt. Frühmorgens begegnen wir den Hunden, wenn sie auf noch leeren Seitenstreifen als Herren des Wegs breitbeinig patrouillieren gehen. Mittags liegen sie dösend im schmalen Schatten. Das einzige, was sie aus ihrem Schlummer und zu einem kurzen, heftigen Sprint zu bewegen vermag, sind: Fahrradfahrer. Nachmittags künden die Kläffkonzerte den jeweiligen Hostelbesitzern von unserer Ankunft. Ihr Gebell ist unser steter Begleiter.  

Die größte Gefahr besteht darin, dass sie ungesehen, da zuvor im Schatten liegend, direkt auf einen zugeschossenen kommen. Der Schreck verleitet dazu, den Lenker herumzureißen und eine gewagte Kurve in den Schnellstraßenverkehr hinein zu unternehmen. Die zweite Gefahr: von ihnen gebissen zu werden. Tatsächlich scheinen die Hunde aber kaum zu wissen, was sie mit uns anfangen sollen, wenn sie uns eingeholt oder gar überholt haben. Solche siegreichen Erfahrungen vergönnen ihnen die sonstigen motorbestückten Zweiräder nun mal nicht. Ihr Gebell wird verhaltener, eine erhobene Hand lässt sie davonschnellen wie von einem Schlag. Erst in sicherer Entfernung verkünden sie wieder den Machtanspruch ihrer lokalen Gang. Und dann schließlich, nach zwei, drei weiteren lauten Bellern, trollen sie sich: „Denen haben wir‘s gezeigt“, raunt der Anführer seiner Gang beim Rückweg zu.

Ein Hundeleben

Nicht nur in Südostasien ist der Hund viel häufiger als der Tiger, sondern auch bei Nietzsche. Das sprichwörtliche Hundeleben ist elend und erbärmlich und dürfte, nebenbei gesagt, dem Leben vieler Hunde in Thailand durchaus entsprechen. Um das Hundeleben im übertragenen Sinn wiederum geht es Nietzsche, denn, wir haben es schon beim Tiger geahnt, Tiere sind bei Nietzsche häufiger Menschen, genauer gesagt, Menschentypen.

Wer ist also der Typus Mensch, der ein Hundeleben führt? Ist er vielleicht gar ein philosophischer Charakter, der, wir haben es gesehen, in menschlicher Gesellschaft manchmal nicht gut ankommt? Ein einsamer Mensch, ein kontemplativer Geist, der „seiner Begabung unvorsichtig die Zügel schiessen lässt“5, dem kann es, so Nietzsche, leicht passieren, „dass er als Mensch zu Grunde geht und fast nur noch in der ‚reinen Wissenschaft‘ ein Gespensterleben führt.“ (Ebd.) Wer am bereits oben erwähnten dialektischen Hang leidet, „das Für und Wider in den Dingen aufzusuchen“ (ebd.), läuft Gefahr, „an der Wahrheit überhaupt irre“ (ebd.) zu werden, sodass er „ohne Muth und Zutrauen leben muss“ (ebd.) und schließlich ausriefe: „es möchte kein Hund so länger leben!“ (Ebd.)

Einem von der Gesellschaft missverstandenen, ausgeschlossenen Menschen empfiehlt Nietzsche dennoch, im Verkehr mit anderen ausgesucht höflich zu bleiben, denn „[d]er Cynismus im Verkehre ist ein Anzeichen, dass der Mensch in der Einsamkeit sich selber als Hund behandelt.“6

Der Hundehalter

Weit häufiger als man selbst sind es aber andere, die einen als Hund behandeln. Und angesichts einiger Zitate Nietzsches ließe sich fragen, ob man sich nicht hauptsächlich einen Hund deswegen zulegt, um ihn als solchen behandeln zu können. Der Hundehalter als Paradebeispiel eines Menschen, der es nötig hat, seinen Zorn an jemandem auszuleben, der sich nicht wehren wird:  

Das sind mir stolze Gesellen, die, um das Gefühl ihrer Würde und Wichtigkeit herzustellen, immer erst Andere brauchen, die sie anherrschen und vergewaltigen können: Solche nämlich, deren Ohnmacht und Feigheit es erlaubt, dass Einer vor ihnen ungestraft erhabene und zornige Gebärden machen kann! – sodass sie die Erbärmlichkeit ihrer Umgebung nöthig haben, um sich auf einen Augenblick über die eigene Erbärmlichkeit zu heben! – Dazu hat Mancher einen Hund, ein Andrer einen Freund, ein Dritter eine Frau, ein Vierter eine Partei und ein sehr Seltener ein ganzes Zeitalter nöthig.7

Der hündische Charakter

Der einsame Hund – möglicherweise ein Philosoph – ist nun jemand ganz anderes als der hündische Charakter. Zwar haben beide vielleicht gemeinsam, dass man sie ungestraft beschimpfen darf. Aber der hündische Charakter ist einer, der seines Herrn bedarf. Solcherlei Wunsch nach Unterordnung kann Nietzsche freilich nicht gutheißen, nein, unter die Hundeliebhaber ist er wahrlich nicht zu rechnen:  

Denn der Anblick eines Unfreien würde mir meine grössten Freuden vergällen; das Beste wäre mir zuwider, wenn es Jemand mit mir theilen müsste, – ich will keine Sclaven um mich wissen. Desshalb mag ich auch den Hund nicht, den faulen, schweifwedelnden Schmarotzer, der erst als Knecht der Menschen „hündisch“ geworden ist und von dem sie gar noch zu rühmen pflegen, dass er dem Herrn treu sei und ihm folge wie sein [Schatten][.]8

Nephila pilipes

So wie Nietzsche als Wanderer seinen Schatten als Begleitung vorzieht und einsam über die Waldwege Sils Marias zieht, so lassen wir unsere hündischen Begleiter in der wild-bergigen Umgebung von Khao Hua Chang vorerst hinter uns. Dafür schließen wir Bekanntschaft mit einem weiteren Tier, das zwar nicht unbekannt, aber in dieser Größe doch eine außerordentlich beachtliche Sorte ist – eine Spinnenart, in unserem Fall die Nephila pilipes oder phantasieanregender auf Englisch: giant golden orb-weaver spider. Das mehr als handtellergroße Exemplar, das den Eingang unseres Bungalows bewacht, hat ein gut quadratmetergroßes Netz direkt über unseren Köpfen gespannt. Diese Netze sind so fest, dass kleinere Vögel sogar in ihnen gefangen und von den Spinnen gefressen werden, während die größeren, nachdem sie losgekommen sind, sich einem aufwendigen Reinigungsprozess unterziehen müssen, um die Reste des Netzes, das an ihnen hängen blieb, wieder von sich zu entfernen. Definitiv sollten sich Flugtiere von den Fallen der Nephila lieber fernhalten.

Die Tarantel

Die größte Spinne, der Nietzsche begegnet sein könnte, würde vermutlich aus der Familie der Wolfsspinnen stammen, beispielsweise die Lycosa tarantula (Echte Tarantel). Diese war und ist zwar nicht im Engadin heimisch, aber im Mittelmeerraum, z.  B. in Süditalien und Südfrankreich und damit in einer von Nietzsches bevorzugten Klimazonen, wie zahlreiche Aufenthalte belegen. Die Taranteln, die in Nietzsches Philosophie unter anderem im Zarathustra vorkommen, stehen für jene, die Moral predigen, aber aus Missgunst und Neid handeln: „Tarantel! Schwarz sitzt auf deinem Rücken dein Dreieck und Wahrzeichen; und ich weiss auch, was in deiner Seele sitzt. Rache sitzt in deiner Seele: wohin du beissest, da wächst schwarzer Schorf; mit Rache macht dein Gift die Seele drehend!“9 Nietzsche beschreibt sie als vergiftete Wesen, die sich für gerecht halten, in Wahrheit aber aus dunklen Trieben agieren. Rechts- und Linksintellektuelle jeglicher Colour darf die geneigte Nietzsche-Leserin mit den Taranteln assoziieren.

Wahre Künstlerinnen

Während die Wolfsspinne zu den Spinnen gehört, die geschickt ohne Netz jagen, ist unsere Nephila eine Artistin der Webkunst. Zwar machen ihre Gebilde einen etwas desolat chaotischen Eindruck, aber sie ist gleich uns Menschen in der Moderne angekommen und darf sich meinetwegen auch künstlerische Freiheit gönnen. Während wir im Morgengrauen durch die menschenleere Hügellandschaft fahren, säumen die Netze der Nephila rechts und links Palmen wie Strommasten. Tausende und Abertausende Spinnen und Spinnennetze, in denen sich das Licht verfängt.

Verfangen in unseren eigenen Spinnennetzen sind nach Nietzsche wir Menschen allesamt. Eingeschlossen sind wir durch unsere menschlichen Sinne und unser menschliches Denkvermögen in einer Wahrnehmungsweise, die uns immer nur einen Teil der Welt überhaupt sichtbar und begreifbar macht. Wir selbst sind die Spinne, deren Netz nur eine bestimmte Art von Beute fangen kann und für alles andere sind wir blind. So leben wir in unserer menschengemachten Welt und haben keine Ahnung, was sie jenseits der menschlichen Wahrnehmung überhaupt ist:  

Die Gewohnheiten unserer Sinne haben uns in Lug und Trug der Empfindung eingesponnen: diese wieder sind die Grundlagen aller unserer Urtheile und „Erkenntnisse“, – es giebt durchaus kein Entrinnen, keine Schlupf- und Schleichwege in die wirkliche Welt! Wir sind in unserem Netze, wir Spinnen, und was wir auch darin fangen, wir können gar Nichts fangen, als was sich eben in unserem Netze fangen lässt.10

Gefangen und Befreien

Unsere Ideen und Werte und Ideale können ebenfalls als Spinnennetze begriffen werden. Als ihre Denker und Verbreiter basteln wir selber an den Netzen mit, so wie wir als Menschen einer Kultur und einer bestimmten Zeitspanne auch die „Opfer“ der bestehenden sind.  

Indem Nietzsche Zarathustra das Selbstgemachte aller Spinnennetze, aller Ideen – einschließlich Gott – erkennen lässt, fühlt sich dieser von ihnen befreit. Es mag zwar immer noch Netze geben, aber statt eines einzigen Netzes, von dem her überhaupt alles seine Bedeutung empfangen kann, gibt es möglicherweise so viele wie auf der Straße von Khao Hua Chang nach Amphoe Sichon: „Oh Himmel über mir, du Reiner! Hoher! Das ist mir nun deine Reinheit, dass es keine ewige Vernunft-Spinne und -Spinnennetze giebt“11.

Angesichts der Existenz von so vielen Netzen ist es nach Zarathustras Meinung durchaus angebracht, hin und wieder gründlich aufzuräumen, Ideale zu entstauben und die alten Spinnennetze zu entfernen. Während Zarathustra fleißig seine Seele reinigt: „Oh meine Seele, ich erlöste dich von allen Winkeln, ich kehrte Staub, Spinnen und Zwielicht von dir ab“12, mache ich mich, nachdem wir erschöpft in unserem nächsten Zimmerchen ankommen, ganz prosaisch an den Frühjahrsputz.

Chrysopelea ornata

Aber was wäre eine Reise ohne wenigstens ein wirkliches Erschrecken vor einem Tier? In Angkor Wat bin ich einer Schlange begegnet, die so schnell in ihrem Loch verschwand, dass ich mich nicht einmal an ihre Farbe erinnere. Die zweite Schlange macht da schon einen lässigeren Eindruck. Die sich deutlich vom Busch abhebende helle Musterung lässt meinen Blick etwas länger auf dem Schlauch verweilen, der sich im Blätterwerk verfangen hat. Eine hübsche, schlanke Schlange von gelbgrüner Färbung, wie mein messerscharfes Auge nach einem kurzen Moment erkennt. Wir stehen bzw. hängen uns gegenüber, Blick in Blick verhakt, bevor ich, langsam rückwärts weichend, den Rückzug einschlage.

Dass einem Priesterfeind wie Zarathustra Schlangen gefallen, wird wohl nicht verwundern. Die Schlange ist, neben seinem Adler, eins von den zwei symbolischen Begleittieren Zarathustras. Sie steht für die Weisheit und die Wissenschaft, für die Wiederkunft und den Teufel. Nicht selten scheint Zarathustra die Gesellschaft seiner beiden Tiere der menschlichen vorzuziehen und selbst im Vergleich mit den höheren Menschen hat die Schlange einen angenehmeren Geruch.13

Lebensfeindliche Wahrheit  

Aber es wäre wohl kein Buch Nietzsches, wenn es sich gar so eindeutig mit der Schlange verhielte. Es gibt die schwarzen, dicken Schlangen, die sich im Tal des Todes verkriechen, um zu sterben und deren ganze Existenzweise mit einer Form von lebensfeindlicher Weisheit verbunden ist. In einer alptraumhaften Vision sieht Zarathustra eine schwarze Schlange, die einem Hirten „in den Schlund“14 kriecht, um sich dort festzubeißen. Der Hirte droht an der Wahrheit, welche die Schlange symbolisiert, zu ersticken. Die einzige Möglichkeit zu überleben besteht darin, der Schlange den giftigen Kopf abzubeißen. Verschlinge die Wahrheit, die dich zu töten droht, ist ein Aufruf, der sich leichter in symbolischen Bildern als in der Wirklichkeit umsetzen lässt, wie ich befürchte.  

Als ich am Abend auf warmen Steinstufen sitze und in die Nacht hinausblicke, frage ich mich, von welchem Charakter meine Schlange wohl gewesen ist. Das helle, hoffnungsfrohe Grün stimmt mich jedenfalls optimistisch. Es handelt sich bei der gesichteten Schlange um die Chrysopelea ornata, zu Deutsch: Goldschlange. Wenn mich schon dieser Name für sie einnimmt, dann noch mehr die Tatsache, dass es sich um eine flugfähige – na gut, segelfähige – Schlange handelt, die gut und gern 30 Meter per Luft überwinden kann. Eine fliegende Schlange, das ist doch schon fast ein Drache, denk ich mir und nehme sie als gutes Omen.  

Ein klein wenig abergläubisches Spinnennetz, so könnte mir eine Denkerin vorwerfen, muss ich beim Ausmisten wohl vergessen haben.  

Die Bilder zu diesem Artikel sind Photographien der Autorin.  

Fußnoten

1: Morgenröthe, Aph. 41.

2: Vgl. Geburt der Tragödie, Abs. 1 & 20.

3; Also sprach Zarathustra, Von den Erhabenen.

4: Also sprach Zarathustra, Vom höheren Menschen, 14.

5: Schopenhauer als Erzieher, Abs. 3.

6: Menschliches, Allzumenschliches II, Vermischte Meinungen und Sprüche, Aph. 256.

7: Morgenröthe, Aph. 369.

8: Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten, Schlussdialog.

9: Also sprach Zarathustra, Von den Taranteln.

10: Morgenröthe, Aph. 117.

11: Also sprach Zarathustra, Vor Sonnenaufgang.

12: Also sprach Zarathustra, Von der grossen Sehnsucht.

13: Vgl. Also sprach Zarathustra, Das Lied der Schwermuth, 1.

14: Also sprach Zarathustra, Von Gesicht und Räthsel, 2.