Dass Nietzsche in seiner Wirkungsgeschichte quer durch alle politischen Lager hindurch gelesen und vereinnahmt wurde, ist hinreichend bekannt. Doch wie steht es mit unserer Gegenwart? Paul Stephan untersucht die Schriften von zwei Autoren, die in etwa so alt sind wie er selbst, Mitte/Ende 30, und deren Blickwinkel auf Nietzsche unterschiedlicher kaum sein könnte: Während der französische Publizist und Youtuber Julien Rochedy Nietzsche zum Vordenker eines rechten Kulturkampfs erklärt, bringt ihn der deutsche Philosoph und Politikwissenschaftler Karsten Schubert für eine linke Identitätspolitik in Anschlag. Unseren Autoren überzeugen beide Positionen nicht so recht, sie bewegen sich vielmehr ganz im Rahmen der herrschenden Simulation von Politik als Kulturkampf, der es die Besinnung auf die wirklich drängenden Lebensprobleme der gegenwärtigen Menschheit entgegenzusetzen gälte.
Nietzsches bekannteste Formulierung, wonach Gott tot sei, zeigt nicht nur eine antireligiöse Stoßrichtung. Sie weist vor allem darauf hin, dass in der Moderne konstitutive Selbstverständlichkeiten keine traditionelle Geltung mehr besitzen. Indem das kulturelle Verständnis von Wahrheit ins Wanken geraten ist, ist nicht nur diese oder jene Wahrheit fraglich geworden, sondern das Verständnis von dem, was überhaupt Wahrheit ist. Damit gerät die Aufklärung unter den Druck, die Fragen zu finden, auf die sie die Antwort sein soll. Es ist dieser Abgrund einer unheimlichen Fraglichkeit, aus dem Nietzsches Denken versucht, Auswege zu zeigen, die lebbar sind. Im ersten Teil seines Textes Aufklärungsdämmerung erzählt Michael Meyer-Albert vom aufgeklärten Zweifel der Aufklärung an ihr selbst.
Nietzsche gilt gemeinhin als schriftstellerischer Philosoph, dessen aphoristische Nihilismen nicht nur den Tod Gottes beschwören, sondern der auch als postumer Meisterdenker die dunklen Seiten der deutschen Geschichte bestärkte. Demgegenüber möchte der folgende Text als Teil der Reihe Was bedeutet Nietzsche für mich? dazu einladen, Nietzsche neu lesen zu lernen als den Entdecker des allzuunbekannten philosophischen Kontinents eines mediterranen Existenzialismus.