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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches

Aufklärungsdämmerung

Nietzsches Wahrheit des Scheins II

Aufklärungsdämmerung

Nietzsches Wahrheit des Scheins II

19.6.24
Michael Meyer-Albert

Nachdem Michael Meyer-Albert im ersten Teil seines Textes die, traurige, Geschichte von den Selbstzweifeln der Aufklärung erzählte, berichtet er nun von Nietzsches „fröhlicher Wissenschaft“ als Gegenentwurf.

Nachdem Michael Meyer-Albert im ersten Teil seines Textes die, traurige, Geschichte von den Selbstzweifeln der Aufklärung erzählte, berichtet er nun von Nietzsches „fröhlicher Wissenschaft“ als Gegenentwurf.

III. Die Wahrheit der Unwahrheit

Als Hegel nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Jahr 1806 den Sieger Napoleon sah, meinte er, er sähe den „Weltgeist zu Pferde”. Dadurch, dass die Politik, nach einem Wort Napoleons, vor allem mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, zum Schicksal geworden ist, ändert sich auch das Konterfei des Weltgeistes. Aus dem Sieger hoch zu Ross wird der nachdenkliche Spaziergänger. Die prototypische Szene dafür: Lise Meitner und ihr Neffe Otto Frisch, die 1938 im schwedischen Exil auf einem Winterspaziergang die Antwort auf eine physikalische Frage fanden, die Otto Hahn, der in Dahlem die Spaltung von Uran erforschte, an Meitner in einem Brief stellte. Ihnen wurde klar, welche Implikationen die Spaltung von Uran hatte. Hahns Versuche zeigten die Möglichkeit zum Bau einer Atombombe. Mit dieser Erkenntnis begann die dunkle Globalisierung als die Möglichkeit einer menschengemachten Apokalypse. Aus dem Weltgeist als militantem Revolutionär wird ein Athlet des Sorgens um das Sein.

In Nietzsches Philosophie kündigt sich nicht nur der Strukturwandel des Weltgeistes an. In seinem Denken zeigt sich ein Sinn für die Tiefenstrukturen von Kulturen, aus denen weiterhin zu lernen wäre, wie die erzwungene globale Kooperation in zivilere Bahnen rücken könnte. Nietzsches stärkste Intuition ist, dass sich das Verständnis für Wahrheit in der abendländischen Kultur im Umbruch befindet. Er sah daher massivste Turbulenzen in Folge des Verlustes des Glaubens an Wahrheit voraus. Er sah aber auch, dass es zu einer Instrumentalisierung dieser Kulturkrise kommen wird. Und das nicht primär im Sinne eines politischen Eigeninteresses. Die Krise spielt für Nietzsche vor allem eine Rolle im Hinblick auf die psychologische Ökonomie. Wenn die selbstverständlichen Wahrheiten ausfallen, beginnen die Teilnehmer einer Kultur sich an Erfindungen von Wahrheit zu halten, die ihre mentale Fitness schützen und animieren. Aus der Not der fraglichen Wahrheit wird die Tugend der erdichteten Wahrheitskonstruktion.

Kunst als Lebenskunst entsteht aus dem reflektierten Willen zum Schein. Dieser nimmt als unreflektierter eine toxische Form an. In der Gestik des Absoluten wird das Leid der Wahrheitskrise umgestimmt in eine Kampfbereitschaft, die klare Schuldige benennt und so die Aussicht auf eine – vermeintliche – Lösung der Krise bereithält. Daher erfinden sich „Nothsüchtige“1 Dramen von Kämpfen mit übertriebenen Ungeheuern, vorzugsweise als Verschwörung von bestimmten Klassen, Rassen, Geschlechtern. Da aber die Wahrheit nur so lange gewährleistet ist, wie der Kampf mit den Fiktionen andauert, darf die permanente Vergeltung nicht aufhören: „[U]nd so malen sie das Unglück Anderer an die Wand: sie haben immer Andere nöthig! Und immer wieder Andere!“ (Ebd.) Der absolute Geist der agitierenden Not findet seine Wahrheit in der Moral des Unglücks. Lebenslust wird für ihn Arroganz und Lebenserfolge werden Ausbeutungen. Der unreflektierte Wille zum Schein vitalisiert sich in dem Schlechtmachen von Erfolgen und in dem Eintrüben von Lebenslust. Nietzsche nennt diese psychologische Weltmacht „Ressentiment“. Das gute Leben des Ressentiments wird zum Angriff auf das gute Leben.

Das psychologische Genie von Nietzsche erkennt aber in dieser Entwicklung nicht nur eine vertrackte Form einer toxischen Identitätspolitik, die sich um den Typus von „Selbst-Apostolat[en]“2 formiert, die die kritische Masse an Desorientierten zu Frustrierten anreichern. Nietzsches Hyperempathie versteht die Wahrheit in der ausgedachten Wahrheit der „Nothsüchtigen“ darin, dass sich in ihr ein Schein artikuliert, der das Leben motiviert. Nicht von der Wahrheit, aber vom Leben her gesehen, haben die Verschwörungstheoretiker recht. Die Wahrheit des Scheins ist die Lebendigkeit, die sie als eine „Betäubung von Schmerz durch Affekt3, als „Affekt-Medikation“4 gewährt. Heftige Gefühle der Vergeltung, der Rache, der Empörung schaffen es, das belastende Zwielicht einer unklaren Wahrheit aufzuhellen. Im „Lichtzwang“ (Paul Celan) der Anklage mit ihrem selbstsicheren „Entrüstungsgebell[s]“5 löst sich die moderne Ambivalenz auf. Eine leisere Form der moralinen Haltung findet sich in den stilvollen Negativismen Adornos, vor denen sich alles Identische im Lichte der seligen  Unerreichbarkeit des „Nichtidentischen“ verdunkelt und zum unsafe space wird. In beiden Fällen wird das Leiden an der fehlenden Wahrheit von einer Narration der Schuld kompensiert und damit in Sinn umgemünzt. Die Wunde wird Wahrheit. Aus ihrem Schmerz wächst die Wut. Die Parole des aktivistischen Ressentiments lautet: Die Welt wurde genug interpretiert, es kommt darauf an zurückzuschlagen. Das elende Kurierleben gewinnt eine königshafte Qualität in der Weitergabe von Meldungen, die eine versteckte Wahrheit entschleiern. Endlich können die ehemals entgeisterten Kuriere sich selber wieder wichtig nehmen als Sendboten einer universellen investigativen Ermittlung.  

IV. Kontingenztraining

Nietzsche begriff, als ehemaliger Wagnerjünger, der von einer „heiligen Theokratie des Schönen“ (Hölderlin) beseelt war, am eigenen Leib, dass die moderne Welt von einer Umformatierung ihres Wahrheitshaushaltes erschüttert ist. Der Schmerz der Unsicherheit, der daraus erwächst, ist nicht zu verleugnen. Fest steht für den postkunstreligiösen Nietzsche aber auch, dass die Tragik als Wahrheit nur eine Phase ist. Sie wird vorübergehen. Die Frage ist nur, wann es soweit sein wird: „Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln?“6

Nietzsches Vorschlag für eine Umstimmung der modernen Verstimmungen, die dem anonymen Advent des Endes aller Adventshoffnungen entgegenarbeitet, mündet in Skizzen, Ideen und Tönen für eine vornehme Art des Scheins, dessen Wahrheit das Leben immer wieder neu verklärt, für sich und für andere. In Nietzsches Denken wird daher „gegen Depressions-Zustände ein anderes training versucht“7, das eine neue Struktur der Wahrheit einübt. Aus der Tragik der fehlenden Wahrheit wird so kein Mythos einer universellen Verschwörung. Nietzsche versucht als „freier Geist“ den Humanismus als eine Art Gegenverschwörungs-Verschwörung neu zu animieren. Dass Gott tot ist, heißt auch, dass der Mensch auf eigene Faust in eigenen bedeutungsvollen Beziehungen leben und das Leben säkular heiligsprechen kann. Zumindest sollte er den Anstand und die Rechtschaffenheit besitzen, den Verführungen durch das allgegenwärtige Verlangen nach Ressentiment nicht nachzugeben. „Wohlan!“

Nietzsche Unterfangen schreckt aber durch den Anspruch ab, den es voraussetzt. Die Sinnkrise der Moderne wird darin nicht aufgelöst. Vielmehr soll das Absurde zum „Himmel Zufall“8 werden, in der der freie Geist seine Flugkünste als säkularer Engel der Postapokalypse absolvieren soll. Aus den Anfängen davon und aus der Verachtung für die ressentimen Erdungen entsteht eine andere Normalität. Die Krise des Sinns ist die Normalität der Kuriere, die genug haben von den allzubanalen Elendstönen der anderen Boten und von den ideologisch verklärten Aggressionen der ángeloi, die sich als Könige aufspielen. Für die königslosen Kuriere wurde Nietzsche zum Erzboten. Die letzte Utopie für Menschen, die mehr sein wollen als „letzte Menschen“: Kontingenz als Luft, die einen atmen und fliegen lässt. Dass darin ein Ethos des „gefährlich leben9 steckt, zeigte Nietzsches Schicksal. Er wurde zum Ikarus eines unlebbaren Übermenschentums.

Nietzsches Umstimmung der Wahrheitsverstimmung expliziert sich philosophisch, wenn eine ontologische Kehre im Verständnis von Wahrheit stattfindet, die sich in neuen Konzepten und Gefühlslagen auszudrücken lernt. Der Grund dafür liegt in der Deformation der Wahrheit durch das Konzept von Wahrheit als ein Geflecht, das eine absolut wahre Mitte kennt, die zu den Rändern hin ausstrahlt. Wahrheit als absolute ist das Unwahre. Mit Nietzsche über Nietzsche hinausgehen hieße, die Wahrheit des Scheins als ein Ausblenden von deprimierenden Wahrheiten und als eine Sinngebung des Schmerzes ontologisch expliziter zu formulieren. Wenn keine Mitte und kein Verlust einer Mitte eine vornehme Orientierung bietet und das Dasein nicht zur Freiheit als ewige Peripherie verurteilt ist, ist zu fragen, wie dichte und bedeutungsvolle Vitalität zu denken wäre. Kafkas elende und desorientierte Kuriere haben sich dafür selbst als faszinierende Innenwelten, als „Seele als Subjekts-Vielheit“10 zu entdecken, die ihre eigenen Netzwerke von Kurieren und Königen unterhält. Für die Kultivierung der Innenwelten sind die Begegnungen mit lebensbereichernden, postmonarchischen Mitkurieren essentiell. Das heißt, dass die Funktion der Mitte neu ersetzt wird. An ihre Stelle rücken Verdichtungen und starke Beziehungen. Dabei wird der Hang zum Absoluten enthärtet durch Ironie. Aus der Hierarchie von Mitte und Peripherie wird ein Rhizom von Rhizomen von pluralen Erregungszentren, die sich in ausdifferenzierten Sympathien stimulieren können. Die Kontingenz der Existenz kann dann als „Luxus der Kräfte“ angesehen werden, in der der Mangel an Evidenzen, Überzeugungen und Motivationen als „Laxität der Bestimmung“ die Bedingung der Möglichkeit für ein Erspielen von Wahrheiten darstellt.11 Damit kollabieren die mächtigsten alteuropäischen Wahrheiten. Das Sein als eine überfließenden Emanation einer optimalen Seinsmitte hin zu immer kläglicheren Rändern vergeht. Und es vergeht auch die Geschichte als Advent eines gerechten Heils in einer Endzeit. Dass Gott tot ist, heißt, dass die Geschichte und das Sein zu Ende sind. Nietzsche versucht eine neue frohe Botschaft in die Welt zu setzen. Sein alternativer Kosmos ist ein fluktuierendes, schöpferisches Vakuum, eine Wahrheit als eine sich selbst widerlegende Wahrheit, die, man höre und staune, im Jargon der heideggerschen Gelassenheit artikuliert wird: „Alles bricht, alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall.“12  

Stabilisiert wird diese Pluralität der Azentralität durch eine Aktualisierung der Kardinaltugenden: Eine existenzielle, zu einer gütigen Selbstverachtung fähige Ironie, eine empathische Revisionierbarkeit, eine diplomatische Besonnenheit und ein nicht nur wirtschaftlicher Unternehmergeist halten das System der ausdifferenzierten Sympathien am Laufen. Zentral dafür ist ein neues Bildungsideal als philosophische antiressentime Redlichkeit, die sich immer wieder zu einer „Lust am Ungewissen, am Ungewagten“13 überreden kann. So wird aus dem Sorgenkind Erde eine Bühne von unwahrscheinlichen königlichen Erfahrungen, durch die es zur wahren Königin gekrönt wird, von der die intelligenten Kuriere nicht genug bekommen, sich Meldungen zuzurufen. Und die gekonntesten Meldungen werden selbst wieder zu Königen, von denen Meldungen erstattet werden. Das Prinzip der verantwortungsvollen Bewunderung lautet: Lebe so, dass die Wirkungen deiner Handlungen die Permanenz erzählenswerten Lebens auf Erden steigert.

Teil des neueuropäischen Kurierwesens zu werden ist allerdings, folgt man Nietzsche, an einen psychologischen Numerus clausus geknüpft. Er legt fest, dass die Qualifikation für königslose Kuriere, die den „Entschluss zum Lebensdienste“ (Thomas Mann)14 gefasst haben, darin besteht, sich selbst aufzuraffen zu einem interessanten, weitererzählbaren Leben. Neben einem guten Willen zu taktvollen Verklärungen von sorgenvollen Abgründen, ist dafür auch die Kunst der produktiven Selbstverachtung zu lernen. Ihre Kernkompetenz besteht darin, die „ekelhafte Fadheit meines disponiblen Daseins“15 auf eigene Faust antiressentim umzustimmen. Kontingenz ist keine Beraubung oder ein wesenhafter Mangel. Niemand ist letztlich vollends schuld daran, dass man von dem Gefühl durchzogen ist, jenseits aller Zugänge zu einer wesentlichen Wirklichkeit zu sein. Der Frust über die Kläglichkeit der eigenen Lage kann nicht mehr auf Andere abgewälzt werden. Statt der toxischen Unterhaltung der Vergeltung kann so die unsichere Suche nach Spuren von intelligentem, sympathischem Leben im All des eigenen Selbst und auf der Welt stattfinden. Aus dem Habitus des kritischen Bewusstseins mit seinen immer ausgefeilteren Verdächtigungen wird die verhaltene Neugier einer Schatzsuche im „disponiblen Dasein“. Der Aufklärungsdämmer könnte so den Schein einer Morgenröte erhalten, die noch nicht geleuchtet hat. „Wind kommt auf, versuchen wir zu leben.” (Paul Valéry) Was bleibt aber, stiftet das Trainieren und Flanieren.

Quellen

Sartre, Jean-Paul: Die Wörter. Reinbek bei Hamburg 1983.

Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Zürich 1998.

Fußnoten

1: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 56.

2: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 256.

3: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 15.

4: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 16.

5: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 14.

6: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 109.

7: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 18.

8: Also sprach Zarathustra, Vor Sonnen-Aufgang.

9: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 283.

10: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 12.

11:  Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung, 27. Brief, S. 527.

12: Also sprach Zarathustra, Der Genesende 2.

13: Also sprach Zarathustra, Von der Wissenschaft.

14: Vgl. zu diesem Motiv auch schon den Artikel Der Entschluss zum Lebensdienste auf diesem Blog (Link).

15: Sartre, Die Wörter, S. 131.

Aufklärungsdämmerung

Nietzsches Wahrheit des Scheins I

Aufklärungsdämmerung

Nietzsches Wahrheit des Scheins I

16.6.24
Michael Meyer-Albert

Nietzsches bekannteste Formulierung, wonach Gott tot sei, zeigt nicht nur eine antireligiöse Stoßrichtung. Sie weist vor allem darauf hin, dass in der Moderne konstitutive Selbstverständlichkeiten keine traditionelle Geltung mehr besitzen. Indem das kulturelle Verständnis von Wahrheit ins Wanken geraten ist, ist nicht nur diese oder jene Wahrheit fraglich geworden, sondern das Verständnis von dem, was überhaupt Wahrheit ist. Damit gerät die Aufklärung unter den Druck, die Fragen zu finden, auf die sie die Antwort sein soll. Es ist dieser Abgrund einer unheimlichen Fraglichkeit, aus dem Nietzsches Denken versucht, Auswege zu zeigen, die lebbar sind. Im ersten Teil seines Textes Aufklärungsdämmerung erzählt Michael Meyer-Albert vom aufgeklärten Zweifel der Aufklärung an ihr selbst.

Nietzsches bekannteste Formulierung, wonach Gott tot sei, zeigt nicht nur eine antireligiöse Stoßrichtung. Sie weist vor allem darauf hin, dass in der Moderne konstitutive Selbstverständlichkeiten keine traditionelle Geltung mehr besitzen. Indem das kulturelle Verständnis von Wahrheit ins Wanken geraten ist, ist nicht nur diese oder jene Wahrheit fraglich geworden, sondern das Verständnis von dem, was überhaupt Wahrheit ist. Damit gerät die Aufklärung unter den Druck, die Fragen zu finden, auf die sie die Antwort sein soll. Es ist dieser Abgrund einer unheimlichen Fraglichkeit, aus dem Nietzsches Denken versucht, Auswege zu zeigen, die lebbar sind. Im ersten Teil seines Textes Aufklärungsdämmerung erzählt Michael Meyer-Albert vom aufgeklärten Zweifel der Aufklärung an ihr selbst.
„O ihr Genossen meiner Zeit! fragt eure Ärzte nicht und nicht die Priester, wenn ihr innerlich vergeht! Ihr habt den Glauben an alles Große verloren· so müßt, so müßt ihr hin, wenn dieser Glaube nicht wiederkehrt, wie ein Komet aus fremden Himmeln.” (Hölderlin, Hyperion)

I. Im Schatten Gottes

Ein zeitgenössisches Denken besitzt die Form des Flanierens. Die Arbeit des Begriffs wird dabei beurlaubt und eine teilnehmende Wahrnehmung tritt an seine Stelle. Flanieren ist ein aktives Vergessen der Texte, dem sich, wenn es glückt, die Welt als der Versuch zu einem Essay neu entdeckt. Mitunter stößt man dabei aber auch auf wortwörtliche Funde. So wurde der Verfasser auf seinen aphilosophischen Weltstreifzügen neulich von einem Graffito überrascht. Auf einer wenig ansprechenden Leipziger Hauswand stand der folgende Spruch:

„Gott ist tot.“ (Nietzsche)
„Nietzsche ist tot.“ (Gott)

Man könnte diese tiefsinnige Lakonie auf Nietzsches legendärste Formulierung als eine elegant-trotzige anti-atheistische Antwort abtun, wenn darin nicht auch eine statistische Wahrheit stecken würde. Derzeit leben etwas mehr als acht Milliarden Menschen auf dem Planeten. Von ihnen gehören etwa 2,4 Milliarden der christlichen, zwei Milliarden der islamischen und gut eine Milliarde der hinduistischen Religion an. Knapp eine Milliarde Menschen sind überzeugte Atheisten. Rein statistisch gesehen müsste daher der dominierende Wahrheitsbegriff der Menschheit metaphysisch konstituiert sein. Auch im Jahr 2024 nach Christi Geburt sollte, folgt man den Daten, der Ausspruch von Jesus „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“1 zumindest eine Viertelwahrheit für die Menschheit bedeuten.  

Es lässt sich aber bestreiten, dass ein Verbleiben in den offiziellen Bindungen einer Religion gleichzusetzen wäre mit der Wirkungsmacht einer Religion. Für die westliche Hemisphäre und die Bereiche ihrer kulturellen Einflüsse hat sich ein anderer Wahrheitsbegriff etabliert. Nicht mehr eine religiöse Offenbarungswahrheit trägt hier die Kultur. Entscheidend ist einerseits die seit dem 17. Jahrhundert aufkommende Ausrichtung an wissenschaftlich geprüften objektiven Beobachtungsdaten und ihrem Siegeszug in technischen Apparaturen und andererseits das sich durch verschiedene Formen regulierende Gespräch der Subjekte als Mitsprache im öffentlichen Raum.

Diese Wahrheit jenseits einer göttlich formierten Wahrheit stellt allerdings einen epochalen Umbruch dar, dessen Wirkungen Symptome einer Krise zeigen. Den „transzendental obdachlos“ (Georg Lukács) gewordenen Subjekten zeigt sich die Welt als, wie Max Weber sagte, „entzauberte“. Nietzsche weist mit Blick auf den gesamten Zeitraum der Neuzeit daher auf eine sich beschleunigende Dezentrierung des Humanen hin, in der sich das Gefühl des Nihilismus ausbreitet: „Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen, – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? in’s Nichts? in’s ‚durchbohrende Gefühl seines Nichts‘?“2

Der Grund für den postkopernikanischen Nihilismus liegt für Nietzsche in den unausgestandenen und meist nicht einmal verstandenen Entwertungen von tragenden Verständnissen, die metaphysisch konstituiert waren: „Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!“3

Diesem Befund Nietzsches lassen sich unterstützend zwei weitere dunkle Wahrheiten anfügen. Die Wissenschaft zeigte sich spätestens mit den Atombombenabwürfen im August 1945 als verführbare Magd der Politik. Ihre seit der Neuzeit vollbrachten Leistungen, die negativ in der Neutralisierung von aufgeheizten theologischen Dogmenkämpfen bestand und welche sich positiv in der Entdeckung der Welt als erforschbarer Raum von Komplexität manifestierte, werden davon überschattet. Und auch der Glaube an die Wahrheit des Diskurses wurde eingetrübt. Seit den demokratischen Massenagitationen im Tugendterror der Französischen Revolution richtete sich gegenüber dem Wahrheitsbegriff der räsonierenden Öffentlichkeit der Verdacht der Herrschaft des Mobs auf. Alexis de Tocquevilles Wendung von der „Tyrannei der Mehrheit” und Heideggers Formulierung „Diktatur des Man“ weisen auf die irreversiblen illiberalen Potenziale auch der demokratischen Wahrheitsprozeduren hin.

Damit liegt über der Epoche der Globalisierung ein epistemologisches Zwielicht. Gott, die Wissenschaft und das Gespräch mögen nicht tot sein. Sie sind aber alle in der Stellung einer unhinterfragbaren Autorität angeschlagen. Die Zeit ist verurteilt zu einer unsicheren Gedankenfreiheit, die sich über kompetente Autoritäten selbst informieren muss. In ausdifferenzierter Komplexität wächst der Zwang, ein Experte in der Auswahl von Experten zu sein, die einen halbwegs über das informieren können, was ist. Was bleibt aber, stiften die Medien, denen man Glauben schenkt.

II. Könige und Kuriere

In den Tagebuchaufzeichnungen von Franz Kafka findet sich folgende aphoristische Parabel: Sie wurden vor die Wahl gestellt, Könige oder Kuriere zu sein. Nach Art der Kinder wollten sie alle Kuriere sein, deshalb gibt es lauter Kuriere. Und so jagen sie, weil es keine Könige gibt, durcheinander und rufen einander selbst ihre sinnlos gewordenen Meldungen zu. Gerne würden sie ihrem elenden Leben ein Ende machen, aber sie wagen es nicht wegen des Diensteides.4

Die Situation, die Kafkas kleines Stück beschreibt, verdeutlicht die Situation der chaotisch synchronisierten Medialwelt im globalen Zeitalter mit einer diskreten Erinnerung daran, was Medien in ursprünglichen Sinn waren. Damit ist nicht nur gemeint, dass Kafka das Verständnis von Medien von der Fixierung auf technische Apparaturen aufweicht. Technische Medien sind primär nur Verstärkungen der humanen Medialität. Menschen sind Boten, Abgesandte – altgriechisch „ángeloi“ – von Informationen und Passionen.

Kafkas Text zeigt aber auch, wie zentral für eine intakte mediale Hemisphäre der Glaube an die Teilnahme an Wesentlichem ist. Das moderne Vorurteil über diese Teilnahme liegt darin, dass sie unter einem kulturkritischen Verdacht steht. Das ist plausibel im Hinblick auf die hierarchische Ordnung der ältesten medialen Formationen. Kulturen waren von Anfang an geprägt durch Autoritäten, die mit dem Anspruch auftraten, dass durch sie das Göttliche rede. In der Form eines Priesterkönigtums legitimierten sie weltliche Macht durch geistige Nähe zum Überirdischen. Medien waren die Sendboten der objektiven Wahrheit und herrschten so von Gottes Gnaden.

Platons Konzept der Wahrheit besitzt insofern eine subversive Kraft, als es von den weltlichen Gottmedien verlangt fähig zu sein, ihre starke Beziehung nach ganz oben durch logische Kohärenz zu bezeugen. Statt der kryptischen Orakelworte und ihrem vermeintlich hohen Sinn versucht der philosophische Strukturwandel der Öffentlichkeit mediale Autorität durch Evidenz zu gewinnen. Statt der sozialen Macht soll der kompetente Sachverstand herrschen. Platons Philosophie beklagt den Fachkräftemangel in der Wahrheitswirtschaft. Kompetenteste Kompetenz solle daher dem „Philosophenkönig“ zugesprochen werden. Dieses Resultat des platonischen Nachdenkens weckt allerdings den Verdacht, etwas allzu pro domo zu sein. Darin liegt wohl einer der Gründe, warum es sich mit seiner politischen Marktreife schwer tat. Die erste Akademie wurde daher außerhalb der Stadtmauern Athens errichtet. Dass sie immerhin beinahe 1.000 Jahre (etwa 386 v. Chr. bis 529 n. Chr.) Bestand hatte, spricht für einen Standort der universitären Wahrheit als ferne Nähe zur Urbanität. Die Wahrheit der Agora und die Wahrheit der Akademie geraten durch eine wohltemperierte Distanz voneinander in eine produktive Spannung.

Kafkas tiefsinnige Parabel vergegenwärtigt nun eine Situation, in der Platons Konzept an seinem Erfolg zugrunde ging. Sie zeigt die Lage, die entsteht, wenn der emanzipatorische Schub von Platons Vorrang der Evidenz eine Autonomie freilegt, die die Kritik an allen höheren Autoritäten soweit treibt, dass das Konzept „Autorität durch Wahrheit“ insgesamt erschüttert wird. Keiner der Kuriere traut sich mehr zu, Sprachspiele von der Form „Königsworte“ zu spielen. Keiner will das Sagen haben, weil keiner ein hinreichender Experte ist. Ein Zuviel von philosophischer Reflexion lässt einen Abstand nehmen von der Idee eines Königtums, eines Philosophenkönigs und schon gar von einer Machtergreifung durch Selbstkrönung. Vollendeter Platonismus ist antinapoleonisch.  

Für die Erschütterung des Glaubens an Wahrheit gibt es plausible Gründe. Die Aufklärung zwang alles vor den Richtstuhl der Vernunft. Sie zersetzte dadurch den kanonischen Bestand an klassischen Orientierungen. Vererbt wird so nicht mehr eine traditionell aufgespannte Welt, sondern der Impuls, durch das autonome Denken selbstständige Welten zu erschaffen. Mit den Deformierungen, die in der Wissenschaft und in der Wahrheitsfindung der Öffentlichkeit im Laufe der Zeit zu Tage traten, kam die Vernunft nun selbst wieder vor den Richtstuhl der Vernunft.

Im Hinblick auf den Tugendterror links des Rheines versuchten die teutonischen Denker schon wenige Jahre nach der Französischen Revolution eine Neuausrichtung der Aufklärung anzudenken. Dabei erlangte die Kunst die Rolle einer Ergänzung des kalt kalkulierenden Verstandes. Nur sie löse die soziale Frage, wie die Aufklärung vor ihrer Verwirklichung in terroristischer Willkür zu immunisieren wäre. Schiller etwa war davon überzeugt, „dass man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muss, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.“5 Erst eine erweiterte Charakter-Bildung macht aus Jakobinern Bürger. Die Veredlung des Menschengeschlechtes solle als ästhetisch forcierte „Ausbildung des Empfindungsvermögens“6 voranschreiten. Schillers Idee einer umfassenden Ästhetik mündete in dem Konzept einer schönen Politik. Verdorben wurden diese allzuschönen Ideen aber durch den realexistierenden Ästhetizismus des erhabenen Staates. Schiller war enthusiasmiert von der Möglichkeit einer sozialen Synthese durch die Freude: „Bettler werden Fürstenbrüder“ (An die Freude). Die Ernüchterung folgt durch die Realität, in der die Ernstfälle eine Mitsprache verlangen. Wenn eine Ernstfallpolitik regiert, dann kippt die Ästhetik des Sozialen in eine kitschige „Sympathie mit dem Tode“ (Thomas Mann). Im Mittelpunkt steht hier die heroische Aufopferung für das große Ganze. Im 20. Jahrhundert wütete in der Gestalt des Sozialismus und des Faschismus eine unschöne Politik des Erhabenen als neue Religion, die Aufklärung als letale Revolution verstand. Aus der Freude als Metaverfassung jedes Gemeinwesens wurde nun ein aggressiver Universalismus.

Mit diesen traurigen Resultaten begann die Aufklärung an sich selber zu zweifeln und zwar so sehr, dass sie sich selbst in Frage stellte. Weil die neuen Könige nur wieder Befehle und nicht Wahrheiten verbreiteten, flüsterten die Kuriere sich pausenlos die Botschaft zu, dass die da oben wohl alle nur Betrüger wären. Und zugleich verbreiten einige Kuriere das Gerücht, dass womöglich jedes Worthaben immer nur als herrische Macht und nicht als Macht der Kompetenz zu verstehen sei. Diese unfrohen Botschaften ersetzten das Königswort und gaben eine niederschmetternde, aber immerhin Halt verleihende Teilhabe an Wahrheit. Die Aufklärung fand so in immer feineren Kritiken an sich – zur Freude aller Fanatiker und Charismatiker des Autoritären – eine neue Sicherheit: „Aufklärung ist totalitär.“7 Komplementiert wurde diese dunkle Wahrheit durch eine negative Ästhetik, die die Erfahrung des „Nichtidentischen“ als einzigen Ausweg andeutet.

Nietzsches Denken versucht, diese Aufklärungsdämmerung in eine Philosophie der Morgenröte umzuwerten. Dafür setzt er an bei einer Rehabilitation von Schillers Idee einer Wahrheit der Kunst. Sein Ansatz liegt darin, dass er die Aufklärung über die Aufklärung um eine weitere Reflexionsstufe vorantreibt. Wenn Vernunft sich selbst vor den Richtstuhl der Vernunft stellt und sich in immer neuen hermeneutischen Zirkeln des Verdachtes immer hermetischer demontiert, warum nicht diese Spirale des Selbsthasses umkonfigurieren? In Nietzsches Denken wird so das Stellen der Vernunft vor den Richtstuhl der Vernunft insgesamt wieder vor den Richtstuhl der Vernunft gestellt. Kunst als „Kultus des Unwahren“ gewinnt als „gute[r] Wille[] zum Scheine“7 eine Bedeutung, die der Aufklärung neues Leben einhauchen soll. Auch wenn niemand mehr ein König ist, so gibt es immer noch das Königliche als Effekt einer noblen Lüge zur Vitalität. Wenn der Glaube an alle großen Wahrheiten verloren ist, so kann das Glauben an die Größe des intelligenten Lebens zu einer erhaben-schönen Wahrheit werden. Darin liegen politische Implikationen: Die Heroik des Erhabenen wird in einer ausbalancierten Sozialästhetik zu einer Bildungsoffensive entschärft, die an sich selbst arbeitet. Und die Politik der Freude findet ihren Realismus in einem Engagement für ein Ganzes als ein kooperatives System, das Freiräume eröffnet. Was wird aus Kurieren, wenn es keinen König und keinen Selbstmord braucht, sondern eine epistemologische Form der Ironie, damit sich ihr elendes Leben ändern kann?

Link zu Teil 2

Quellen

Adorno, Theodor W. & Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 2004.

Kafka, Franz: Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg. In: Max Brod & Hans Joachim Schoeps (Hg.): Beim Bau der chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlass. Berlin 1931, S. 225 – 249 (online).

Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Zürich 1998.

Fußnoten

1: Mt. 11, 27; Joh. 10,9; Röm. 5,1; Hebr. 10,20.

2: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 25.

3: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 108.

4: Vgl. Kafka, Betrachtungen, S. 234.

5: Schiller, Über die ästhetische Erziehung, 2. Brief, S. 405.

6: Ebd., 8. Brief, S. 430.

7: Adorno & Horkheimer, Dialektik, S. 12.

8: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 107.

Nietzsche und die Musik

Nietzsche und die Musik

9.6.24
Christian Saehrendt

Für kaum einen anderen Philosophen hatte die Musik eine so große Bedeutung wie für Nietzsche. „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum“1, schrieb er. Christian Saehrendt geht für Nietzsche POParts der Frage nach, wie sich diese hohe Wertschätzung der Klangkunst in seinem Leben und Werk manifestierte. Er kommt dabei auf Nietzsches eigene Kompositionen ebenso zu sprechen wie auf einen der ikonischsten Aspekte seines Lebens: seine Freundschaft mit Richard Wagner. Er zeigt, dass die Musik für Nietzsche eine geradezu erotische Bedeutung hatte – und er in dieser Hinsicht gar nicht so „unzeitgemäß“, sondern ein typisches Kind seiner Zeit war.

Für kaum einen anderen Philosophen hatte die Musik eine so große Bedeutung wie für Nietzsche. „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum“1, schrieb er. Christian Saehrendt geht für Nietzsche POParts der Frage nach, wie sich diese hohe Wertschätzung der Klangkunst in seinem Leben und Werk manifestierte. Er kommt dabei auf Nietzsches eigene Kompositionen ebenso zu sprechen wie auf einen der ikonischsten Aspekte seines Lebens: seine Freundschaft mit Richard Wagner. Er zeigt, dass die Musik für Nietzsche eine geradezu erotische Bedeutung hatte – und er in dieser Hinsicht gar nicht so „unzeitgemäß“, sondern ein typisches Kind seiner Zeit war.

Zwischen Philologie und Kunst, zwischen Wort und Musik hin- und hergerissen, ist auch Nietzsche nicht gefeit vor der zeittypischen sakralen Überhöhung der Kunst. Er wird Fan von Richard Wagner und versucht sich selbst zeitweilig als Hobby-Komponist. Für Nietzsche, den „nicht zustande gekommenen Komponisten“ – eine Gustav Mahler zugeschriebene Bezeichnung – war die Musik zwar ein wesentliches Thema seines Lebens, doch als Berufung, als Waffe und Werkzeug wählte er dann doch das Wort.

Kunst und Künstler standen im Mittelalter und zum Teil bis in die Neuzeit im Dienst der Religion. Die Kirche fungierte als Auftraggeberin, die Künstler und Musiker hatten Klöster und Kathedralen mit Bildwerken auszuschmücken oder den Gottesdienst mit Kompositionen zu bereichern. Der Künstler war demgemäß ein (anonymes) Werkzeug Gottes. Je besser ihm seine Werke gelangen, umso größer war die Gottesliebe, die in ihnen zum Ausdruck kam. Die Ansicht, dass alle große Kunst Lobpreisung Gottes sei, ist sogar noch bis in die Moderne hinein vertreten worden, etwa von dem katholischen Schriftsteller Marcel Proust. Auch Nietzsche sieht in jungen Jahren die Musik vor allem als Geschenk Gottes:

„Ewig Dank sei Gott von uns gesungen, der diesen schönen Genuß uns darbiete“, schrieb Nietzsche 1858 als knapp Vierzehnjähriger:

Gott hat uns die Musik gegeben, damit wir erstens, durch sie nach oben geleitet werden. Die Musik vereint alle Eigenschaften in sich, sie kann erheben, sie kann tändeln, sie kann uns aufheitern, ja sie vermag mit ihren sanften, wehmütigen Tönen das roheste Gemüth zu brechen. Aber ihre Hauptbestimmung ist, daß sie unsre Gedanken auf Höheres leitet, daß sie uns erhebt, sogar erschüttert.2

Musikalische Schulzeit Nietzsches: Blick in den Innenhof von Schulpforta. Foto: Christian Saehrendt 2015.

Die neue Kunstreligion im 19. Jahrhundert

Die Lobpreisung Gottes ging in der Zeit der Romantik in eine hymnische Verehrung von Natur und Kunst über. In der Verehrung von historischen und gegenwärtigen Meisterwerken huldigte man nun einem zwar menschlichen, aber in unerreichbarer Ferne weilenden Genie. Kunstandacht und Kunstenthusiasmus waren jetzt Ausdruck einer quasi-religiösen Kunstverehrung. Ein bekanntes Beispiel dafür bildete die Aufsatzsammlung Herzensergiessungen eines kunstliebenden Klosterbruders von Wilhelm Heinrich Wackenröder und Ludwig Tieck. Sie erzählten die Lebensgeschichten „der großen gebenedeiten Kunstheiligen“ im Stile von Hagiografien. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, auch als Folge der Französischen Revolution, verbreitete sich die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und Gemeinschaft. Das Vertrauen auf emotionale Verbundenheit führte zu einer neuen Wertschätzung der Gefühle. Schon in der Endphase des Ancien Régime war eine Gegenbewegung zur Rationalität der Aufklärung entstanden. In Deutschland „Sturm und Drang“ genannt, wendeten sich die Romantiker gegen höfische Autorität und steife formale Traditionen und stellten stattdessen das persönliche Fühlen und Erleben in den Vordergrund. Man zelebrierte nun die Innigkeit und die schwärmerische Wohlgewogenheit als treibende Kräfte des Privatlebens und der Freundschaft. Die Liebesheirat wurde zum bürgerlichen Ideal, aber auch befreundete Männer umarmten und küssten sich innig, schrieben sich sentimentale Briefe und schworen sich ewige Treue. Was in der aristokratischen Hofkultur nach französischem Vorbild noch undenkbar gewesen wäre, kam in den folgenden Jahrzehnten in Theater, Musik und Literatur groß in Mode. In der damaligen großen Popularität der Oper ist laut Nietzsche der Protest des Laien „gegen eine zu gelehrt gewordene kalte Musik zu erkennen“, die mit der „wiedererweckten Polyhymnia“ wieder eine Seele bekommen sollte: „Ohne jene tiefreligiöse Umstimmung, ohne das Ausklingen des innerlichst erregten Gemüts wäre die Musik gelehrt geblieben.“3 So bildeten die Kultivierung der Gefühlswelt, eine nunmehr ausdrucksstarke, authentische Sprache und eine spirituell grundierte Kunstverehrung die Grundlagen der neuen ‚Kunstreligion‘ des 19. Jahrhunderts. In ihr übertrug sich das spirituell-religiöse Bedürfnis des Bürgertums auf die Künste, allen voran Oper und Symphonie, in zweiter Linie Theater und Ballett, gefolgt von der Dichtung und bildenden Kunst. Nietzsche erkannte die Tragweite dieser historischen Tendenz: „Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selbst tiefer, seelenvoller …“ Nach Nietzsche ist die Religion aber stärker als die Kunst, nicht umgekehrt, wie manche säkularen Kulturmenschen es sich wünschen: „Der zum Strome angewachsene Reichtum des religiösen Gefühls bricht immer wieder aus und will sich neue Reiche erobern.“ Zum Schwemmland der Religion, gehöre, so Nietzsche, neben Politik und Wissenschaft eben vor allem die Kunst: „Überall, wo man an menschlichen Bestrebungen eine höhere düstere Färbung wahrnimmt, darf man vermuten, daß Geistergrauen, Weihrauchduft und Kirchenschatten daran hängengeblieben sind.“4

Im Rahmen jener zeittypischen religiösen Ergriffenheit, die das Kulturleben erfasst hatte, avancierten Oper und Theater in ‚Gesamtkunstwerk‘-artiger, multisensualer Inszenierung zu den künstlerischen Königsdisziplinen. Renommierte Komponisten und Virtuosen wurden als Genies verehrt wie Stars behandelt. Parallel zu dieser schwärmerischen Stimmung im Kultur- und Gesellschaftsleben veränderte jedoch ein knallharter Kapitalismus die Welt. Die Naturwissenschaften, vor allem die Biologie und die Medizin, erlebten einen starken Aufschwung. Gegen die nun rasch fortschreitende Profanisierung, Rationalisierung und Verwissenschaftlichung aller gesellschaftlicher Bereiche wurde die neue Kunstreligion ins Feld geführt. Einer ihrer Propheten war Richard Wagner. Bald polarisiert der Wagnerianismus als neue quasi-religiöse Bewegung die Öffentlichkeit, und der junge Nietzsche schließt sich begeistert an. Nach einem Konzertbesuch im Herbst 1868 – das Tristan-Vorspiel und die Meistersinger-Ouvertüre standen auf dem Programm – wechselt Nietzsche gänzlich ins wagnerianische Lager. Nietzsche lernt Wagner in Leipzig persönlich kennen, und er besucht ihn in seinem Haus bei Luzern innerhalb der nächsten drei Jahre 23 (!) mal – Hochphase jener „Sternenfreundschaft“, auf die Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft anspielte.5 Auch Wagner schätzt den 31 Jahre jüngeren Verehrer. 1872 resümiert er: „Genau genommen sind Sie, nach meiner Frau, der einzige Gewinn, den mir das Leben zugeführt.“6

Möglicherweise hat Wagner seinen jungen Fan von Beginn an und mit langfristigem Kalkül instrumentalisiert. Nach Werner Ross heuert Wagner Nietzsche de facto als akademisches PR-Zugpferd an und sorgt dafür, dass er eine Professur in Basel erhält. Wagner braucht einen Intellektuellen, der die Hochwertigkeit seines musikalischen Projekts beglaubigt. Er nutzt seine junge Frau Cosima, um Nietzsche durch viele und lange Briefe bei Laune zu halten. Nietzsche lobt in Vorträgen und in seiner ersten Publikation Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Wagner in den Himmel, sieht ihn als einen mit Luther vergleichbaren „Reformator“ und Erneuerer der dionysischen griechischen Kultur. Wagner sieht sich selbst in einem Brief an Nietzsche als „verhinderten Philologen“, während er Nietzsche als „verhinderten Musiker“ beschreibt. Wagner diktiert Nietzsche die Arbeitsteilung der beiden: „Nun bleiben Sie Philolog, um als solcher sich von der Musik dirigieren zu lassen.“7 Nietzsche erfüllt den Auftrag, indem er postuliert, das griechische Drama sei aus einer ursprünglichen dionysischen Musik entstanden. Diese sei zwar durch Sokrates und Co. zerstört worden, doch dank Wagners Genie sei es nun nach 2.000 Jahren möglich, an diese ursprünglichen Traditionen wieder anzuknüpfen. Die Geburt der Tragödie, das erste bedeutende Werk Nietzsches, enthielt ein Vorwort an Richard Wagner und war ihm explizit gewidmet. Nietzsche stellte ihn damals als möglichen Neubegründer einer der griechischen vergleichbaren Kultur dar und distanzierte sich als bekennender Wagnerianer zugleich von der wissenschaftlichen Philologie. Dadurch ist seine weitere wissenschaftliche Karriere blockiert – als Philologe ist Nietzsche fortan ruiniert. Die von Anfang an fragile und mit Erwartungen aufgeladene Freundschaft bestand zehn Jahre und schlug schließlich in scharfe Kritik um:

Wir waren Freunde und sind uns fremd geworden. […] Dass wir uns fremd werden müssen, ist das Gesetz über uns: ebendadurch sollen wir uns auch ehrwürdiger werden! Ebendadurch soll der Gedanke an unsere ehemalige Freundschaft heiliger werden! […] Und so wollen wir an unsere Sternen-Freundschaft glauben, selbst wenn wir einander Erden-Feinde sein müssten.8

Musikalische Leistungen und Musikkritik

Die Kunst steigt im 19. Jahrhundert in ungeahnte Sphären, die bislang dem Sakralen vorbehalten waren. Zugleich entfaltet sich aber auch die moderne Musikkritik. Die Musik ist damals möglicherweise auf dem Höhepunkt ihrer historischen Wertschätzung angelangt – sowohl im sinnlichen Erleben wie als Gegenstand analytischen Denkens. Vor diesem Hintergrund ist auch Nietzsches Denken über Musik zu betrachten. Zeitlebens, aber ohne Systematik, befasst er sich mit musiktheoretischen Erörterungen. Auch Wagners Wirken sieht er zunehmend kritisch – und widmet ihm eine glänzende Polemik: „Mein grösstes Erlebniss war eine Genesung. Wagner gehört bloss zu meinen Krankheiten.“9 Auf der praktischen Ebene betätigt sich Nietzsche von Kindheit an als veritabel talentierter Pianist, ebenso startet er Versuche als autodidaktischer Komponist. Neben eher konventionellen Liedkompositionen seiner Jugendzeit sind seine späteren Manfred-Meditationen von Belang, die unter dem Eindruck Wagnerscher Musik entstanden und wohl auch zur Aufführung vor Wagner bestimmt waren. Allerdings machte Nietzsche den Fehler, Hans von Bülow, den Komponisten und Wagner-Dirigenten, um ein fachliches Urteil zu bitten. Dieses fällt unwirsch aus: „Eine in Erinnerungsschwelgerei an Wagnersche Klänge taumelnde Phantasie ist keine Produktionsbasis.“10 Tatsächlich zeigen die Kompositionen Nietzsches wenig Innovatives, das auf eine Musik der Zukunft verweisen könnte. Als Musiker bleibt Nietzsche eher konventionell. Es verwundere nicht, resümierte einmal die NZZ,

dass Nietzsche, der sich in Briefen rühmte, es habe noch nie einen Philosophen gegeben, der in dem Grade und bis zu dem Grunde Musiker war wie ihn selbst, durch seine musikalischen Überzeugungen kaum gewirkt hat. Heute, über hundert Jahre nach seinem Tod, ist der Philosoph Nietzsche eine europäische Geistesgrösse von unbestreitbarer Geltung, der „nicht zustande gekommene Komponist“ Nietzsche eine historische Episode.11

Kitsch oder Kunst? Medaillon mit Nietzsche-Zitat auf der Online-Plattform Etsy

Was hat ihm Musik wirklich bedeutet?

Es gibt zahlreiche Bekenntnisse Nietzsches zur Musik – vor allem in seiner Jugend, aber auch in den letzten bewussten Lebensjahren. Doch wie intensiv Nietzsche die Musik wirklich wahrgenommen hat, bleibt letztlich offen. Was schätzte er an Musik besonders?

War es der reine Klanggenuss, quasi ein rein formales, konkretes Musikerleben? Oder sorgte nicht eher die religiöse Aufladung des Musikhörens für Erhabenheitsgefühle? War also die Verknüpfung des Musikhörens mit Vorbildung, mit Texten (Poesie) und mit geschichtlich-religiösem Kontext entscheidet für den Genuss? „Die Musik ist nicht an und für sich so bedeutungsvoll für unser Inneres“, schreibt Nietzsche, sondern erst die Poesie habe „so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt, daß wir wähnen, sie spräche direkt zum Innern und käme aus dem Innern.“ Erst der Intellekt habe also „die Bedeutsamkeit in den Klang hineingelegt.“12 Manche heutige Autoren mutmaßen zwar, die Musik habe ihm ermöglicht, tiefere Schichten des unbewussten Fühlens zu erreichen sowie auszudrücken.13 Doch diese positive Haltung in seiner Jugend wird aber bald vom Leiden am Gegensatz von Wissenschaft und Kunst überstrahlt. Nietzsche sieht die Notwendigkeit, „sich aus raschen Gefühlswechseln künstlerischer Neigungen in den Hafen der Objektivität zu retten“, wie er in einem autobiographischen Rückblick aus der Zeit um 1868 schreibt.14 An anderer Stelle notiert Nietzsche: „[N]ur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Consequenz“15 Er versucht diesen quälenden Gegensatz durch seine Thesen im Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie zu überwinden. „Als Musiker ist Nietzsche gewiss generell Romantiker“, beschreibt Curt Paul Janz Nietzsches Dilemma, doch nachdem er „als Denker die Romantik, die romantische Musikkritik Schopenhauers zu überwinden beginnt, muß er als Musiker verstummen und sich von Wagner entfremden.“16

Von Nietzsches Sexualleben und von seiner sexuellen Orientierung ist wenig bekannt. Es ist durchaus denkbar, dass die Erregung durch Musik bei ihm auch eine erotische Komponente hatte. Einmal notiert Nietzsche ein „Ranking“, was ihm am meisten Lust bereitet. Platz eins: „musikalische Improvisation in guter Stunde“, danach: das Hören bestimmter Stücke von Beethoven und Wagner, drittens: Nachdenken bei Vormittagsspaziergang, als viertes kommt „Wollust“, damit endet die Liste. „Wenn er die Wollust des Geschlechtsaktes – nicht die des Begehrens – fürchtet und flieht, so erlebt er umgekehrt seine Musik und das erfinderische Schweifen seines Geistes wollüstig, mit sinnlicher Intensität,“, folgert Werner Ross in seinem Buch Der wilde Nietzsche oder die Rückkehr des Dionysos.17  

So sind es offenbar drei Energiequellen, die Nietzsches Liebe zur Musik aufladen und intensivieren: die Religion, die Poesie und der Eros. Musik und die anderen Künste brauchten laut Nietzsche eine besondere „physiologische Vorbedingung“, den Rausch, besonders den „Rausch des Festes“18.  Erst aus dem Zustand der Erregung, in dem das klare Denken, das rationale Bewusstsein ausgeschaltet oder gedämpft wurden, kann sich nach Nietzsche die Kreativität ungehemmt entfalten. Weiter gedacht: Die im Rausch erschaffenen Kunstwerke sind dann besonders gute und gelungene Kunstwerke, wenn sie die Betrachter und Hörer ihrerseits in einen rauschhaften Zustand versetzen können. Nietzsche zeigt sich offensichtlich ganz begeistert vom Rausch und seinen zahlreichen Varianten. Er schwärmt vom „Rausch der Geschlechtserregung“, aber auch vom „Rausch des Festes, des Wettkampfs, des Bravourstücks, des Siegs, aller extremen Bewegung; der Rausch der Grausamkeit; der Rausch in der Zerstörung“. Das Motiv für die auffällige Lobpreisung allerlei dionysischer Ausschweifungen mag in seiner Erziehung zu suchen sein, vor allem aber im Mangel an tatsächlich erlebten „Ausschweifungen“. Hier bot das Musikerlebnis sicher auch eine Möglichkeit der Sublimation. Und so diente ihm das Reich der Musik als Überlaufbecken für die mächtigen Hochwasser der Triebe und Gefühle.

Literatur

O. A.: Das Leben ohne Musik ist einfach ein Irrtum. Online: https://www.nzz.ch/articleDLWL3-ld.38202.

Figl, Johan: Festtagskult und Musik im Leben des jungen Nietzsche. In: Günther Pöltner e. a. (Hg.): Nietzsche und die Musik. Frankfurt a. M. 1997, S. 7–16.

Janz, Curt Paul: Nietzsches Manfred-Meditationen. In: Günther Pöltner u. a. (Hg.): Nietzsche und die Musik. Frankfurt a. M. 1997, S. 45–79.

Nietzsche, Friedrich: [Aus den Jahren 1868/69]. In: Werke in drei Bänden. München 1954, S. 148–154.

Ders.: Über Musik, in: Aus meinem Leben (1858). Online: http://www.thenietzschechannel.com/works-unpub/youth/1858-fmlg.htm.

Ross, Werner: Der wilde Nietzsche oder die Rückkehr des Dionysos. Stuttgart 1994.

Fußnoten

1: Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile, Aph. 33.

2: Über Musik.

3: Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 219.

4: Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 150.

5: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 279.

6: Zit. n. https://www.wagner200.com/biografie/biografie-1866-1870-exil.html.

7: Zit. n. Werner Ross, Der wilde Nietzsche, S. 59.

8: Die Fröhliche Wissenschaft, Aph. 279.

9: Der Fall Wagner, Vorwort.

10: Zit. n. Curt Paul Janz, Nietzsches Manfred-Meditationen, S. 52.

11: O. A., Das Leben ohne Musik ist einfach ein Irrtum.

12: Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 215.

13: Vgl. etwa Johan Figl, Festtagskult und Musik im Leben des jungen Nietzsche, S. 12.

14: [Aus den Jahren 1868/69], S. 148.

15: Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, Abs. 1.

16: Janz, Nietzsches Manfred-Meditationen, S. 47.

17: S. 114.

18: Götzen-Dämmerung, Streifzüge, Aph. 18.

Nachweis zum Beitragsbild

Jens Fläming, Es tanzt ein Nie-Na-Nietzschemann. Öl auf Leinwand, 1984. Sammlung Nietzsche-DokumentationszentrumNaumburg. (Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.)

Nietzsche als Kritiker kapitalistischer Entfremdung

Nietzsche als Kritiker kapitalistischer Entfremdung

27.5.24
Lukas Meisner

Im vorletzten Teil der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ kommt Lukas Meisner zu einem auf den ersten Blick überraschenden Resultat: Nietzsche und Marx üben beide fundamentale Kapitalismuskritik und Nietzsche kann dazu dienen, die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie durch eine nicht minder radikale Kritik der moralischen Ökonomie zu vervollständigen.

Im vorletzten Teil der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ kommt Lukas Meisner zu einem auf den ersten Blick überraschenden Resultat: Nietzsche und Marx üben beide fundamentale Kapitalismuskritik und Nietzsche kann dazu dienen, die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie durch eine nicht minder radikale Kritik der moralischen Ökonomie zu vervollständigen.
Man darf zum Beispiel bei dem geldsammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Thätigkeit nicht fragen: sie ist unvernünftig. Die Thätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik. – Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sklaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sklave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter.1

Anhand dieses Zitats wird, entgegen allen hermeneutischen Gerüchten, deutlich, dass sich Nietzsche gut als Kapitalismuskritiker eignet. Mehr noch – und das dürfte die akademischen Geister nun vollends verwirren – verteidigt Nietzsche in ihm die Vernunft gegens Kapital. Der Bankier ist unvernünftig, weil das einstige Mittel, Geld, ihm zum Selbstzweck, Kapital wurde, womit eine Inversion von Mittel und Zweck, kurz: Entfremdung, stattfand. Geld jedoch kann man nicht essen, woran schon der Mythos von König Midas gemahnt; Gewinnstreben folglich wird zum lebensabgewandten Wahn, der kollektiv die Atomisierten befällt. Der Bankier ist damit ein Repräsentant der Unvernunft und der Leibesferne gleichermaßen, wie einstmals nur der Priester es war – was sich auch an den Auswirkungen des Finanzmarkts als neuer Kultstätte ablesen lässt. Die vermeintlich – mit dem Nietzscheaner Max Weber gesprochen – rationalste bzw. rationalisierteste Verkehrsform der Gesellschaft ist für Nietzsche damit im Herzen unvernünftig, eben weil sie gegen das Leben gewandt ist. Weiter mit Weber: Zweckrationales Handeln als solches, das sich von substanzieller Vernunft verabschiedet hat, wird irrational, weil es sich, von der Frage nach Möglichkeit und Ziel abgeschnitten, in der eigenen Funktion verfängt und nur mehr nach Gespenstern jagt. Es ist ersichtlich: Nietzsche war nicht nur Zeitgenosse Marxens, sondern kritisierte auch dieselbe Gesellschaft wie jener, nämlich die kapitalistische. Mehr noch kann er uns heute dazu verhelfen, so manche marxistische Einsicht weiter zu vertiefen. So wies er beispielsweise nach, wie hinter dem vermeintlichen Egoismus seiner Klasse – der Repräsentanten protestantischer Ethik – letztlich das Super-Ego der Ichschwäche steckt, und wie der zur Schau gestellte Luxus der Oberschicht, da diese hinter ihrer Performance alle Persönlichkeit verliert und dergestalt menschlich verarmt, zur Askese herabkommt. Hier, nicht zuletzt, setzte Freuds Rezeption Nietzsches an, die ihn jedoch bürgerlich zurückübersetzte: In die absolute Notwendigkeit des Verzichts für alle Kultur. Nietzsche dagegen steht gerade für eine Kultur des Leibes und eine Kultivierung der Lust statt deren Unterdrückung, wobei diese gleichsam, als „große Gesundheit“ (Nietzsche), Vernunft miteinschließen muss, statt von ihr verstoßen zu bleiben.  

Was im Eingangszitat als die „Dummheit der Mechanik“ bezeichnet wird, lässt sich insofern auch marxistisch als „automatisches Subjekt“ begreifen, als welches das Kapital fungiert. Unter seinem Bann dient nicht die Wirtschaft uns, sondern wir ihr, weshalb wir auch nicht arbeiten, um zu leben, sondern leben, um zu arbeiten. Die Welt kurzum steht Kopf, weil sie kopflos ist, d. h. von anonymer Struktur beherrscht. Das Ergebnis: „Sklavenmoral“ grassiert, und zwar überall, alle betreffend, besonders beherrschend jedoch die Herrschenden, die Erfolgreichen, die Schönen, Mächtigen und Starken, denn die sind am tiefsten verstrickt ins falsche Bewusstsein ihrer Erhabenheit, die, dem ungeachtet, doch bloßer Schein bleibt. Gegen diesen Schein argumentiert das Eingangszitat, dass auch Lohnsklaverei noch Sklaverei ist, dass die Moderne nicht so freiheitlich ist, wie sie sich gibt, und dass Staatsmänner, Kaufmänner, Beamte, Gelehrte – d. h. die „hohen Tiere“ aus Politik, Wirtschaft, Staat und Kulturbetrieb – nicht minder Sklaven sind als ihre einstigen Pendants der griechischen Antike. Die vermeintlich nietzscheanische, im Eigentlichen Schumpeter’sche, Anbetung des Unternehmers als Genie, als Schöpfer, als heroisches Individuum erfährt in Nietzsche selbst somit eine peinliche Widerlegung: Gerade hinter der Feier der Individualität steckt das dividuelle Prinzip, denn die Persona, noch jene der Macht, ist, der lateinischen Wurzel des Wortes entsprechend, bloße Charaktermaske, und impliziert damit die tiefe Ohnmacht jener Menschen, die sie zu tragen haben. Aus diesem Blickwinkel wird Nietzsche zu einem Entfremdungstheoretiker par excellence. Wie gegen seine modernistischen Schüler Freud, Weber oder Joseph Schumpeter muss er, um zu werden, wer er ist, jedoch auch vor seinen anderen, späteren, postmodernen Epigonen verteidigt werden – ganz, wie Adorno einst Bach „gegen seine Liebhaber“ zu verteidigen hatte. Wie es einst, Bataille zufolge, galt, Nietzsche vor den Faschisten zu bewahren, so gilt es heute, ihn vor seiner weiteren Eingemeindung in die postmoderne Ideologie zu beschützen. Dies bedarf durchaus einer rettenden Kritik – hier soll es jedoch vor allem darum gehen, die emanzipatorischen Aspekte des Nietzscheschen Denkens herauszustellen.

Klarzustellen bleibt hierfür, dass, worauf Nietzsche in der Lesart der Poststrukturalisten weitgehend reduziert wurde – Tod des Subjekts, Transhumanismus, Postkritik –, ihn nicht nur massiv verkürzt, sondern vollends verkehrt. Gehen wir die Schwundstufen des postmodernen Nietzscheanismus kurz durch, die jene Verkehrung popularisiert haben. Statt als Totengräber des Subjekts lässt sich Nietzsche, gerade jener der mittleren Periode, weit überzeugender als Individualist, Existenzialist oder Anarchist verstehen, dem, romantisch geprägt, kaum etwas wichtiger ist als qualitative Individualität, selbst-bewusste Resistenz und ichstarke Devianz – d. h. als all das, was Postmoderne verabscheuen, verleugnen bzw. im toten Winkel der Geschichte zu entsorgen versuchen. Ebenso fordert Nietzsche einen neuen Menschen, der sich seine eigenen Ziele selbst steckt, statt, in ein geupdatetes Jenseits zur Menschheit abgeglitten – d. h. transhumanistisch an die Hinter-Welten raunender Theo- bzw. Technokratie und ihrer Theodizee verloren –, den letzten Menschen als ziellosen, willenlosen, frei collagier- und programmierbaren Frankenstein zu vergötzen. Und auch die Postkritiker, die sich auf Nietzsche berufen, sind zurückzuweisen, lassen sich seine Aphorismen doch kaum anders, denn als solche eines begnadeten Kritikers und stilsicheren Polemikers verstehen. Diese Wahl der Form hat überdies inhaltliche Gründe. Die nietzscheanische Affirmation des Lebens schließlich erfordert die Negation eines ganzen Ressentiment-Systems, das nur im Vergleichen, Konkurrieren, Besiegen den eigenen Wert sieht und erst in der Abwertung der anderen die eigene Aufwertung mobilisiert. Wer kurzum das Leben liebt, muss die lebensfeindlichen Kräfte hassen; wer es bejaht, muss diese verneinen; wer leben will, kritisiert. Damit sind Affirmation und Kritik eine Dialektik, statt, wie die fröhlichen Zyniker der Postkritik es sich einreden, Antipoden zueinander. Kurzum, Nietzsche ist kein Totengräber des Subjekts, kein Transhumanist und kein Postkritiker, sondern deren leibgewordene Negation, gerade weil er die Affirmation des Lebens so ernst nimmt.

Entgegen postmoderner Neuformatierungen Nietzsches ist dieser vielmehr als kapitalismuskritischer Entfremdungstheoretiker lesbar, der, zutiefst christlich sozialisiert, damit nicht zuletzt – wie auch Marx – in der Tradition eines Ludwig Feuerbach steht. Nicht trotz, sondern gerade wegen ausgiebigen Hegelrügen dem Junghegelianismus verwandt, sieht Nietzsche in der kapitalistischen Moderne – zu der die Postmoderne als décadence des letzten Menschen und seiner Sklavenmoral selbstverständlich dazugehört – die Metaphysik am Werk, und zwar von der modernen Wissenschaft bis zur modernen Ökonomie. Während erstere sich szientistisch zur einzigen Wahrheit aufspreizt, um ihre positivistischen Verkürzungen zur absoluten Wesensschau des Universums zu deklarieren, ist letztere nie nur politische, sondern immer schon moralische Ökonomie. Denn Schuld und Schulden, finanzielle und ethische Negativbilanz, sind für Nietzsche nicht voneinander zu trennen, wie er in seiner Genealogie der Moral verdeutlicht. Damit ist Kapitalismus als Religion zu verstehen, wie Walter Benjamin betonte, und nicht als schon vernünftiges oder aufgeklärtes System. Moderne Ökonomie und Wissenschaft, Kapitalismus als Religion und szientistischer Positivismus werden darüber hinaus mittels moderner Technologie zur Naturausbeutung verbunden, die innere wie äußere Natur gleichermaßen verheert.

In ihnen allen zusammen sieht Nietzsche eine realnihilistische Gewalt am Werk, deren Negation des Lebens nur die Selbst- und Neubestimmung des Menschen jenseits seiner Entfremdung stoppen könnte. In diesem Sinn denkt er antikapitalistisch, ja, mitunter über den gleichermaßen materialistischen Marx hinaus, da er sich die Frage der Subjektivierung kapitalistischer Objektivität zentral stellt. Nietzsches Antwort: Der Idealismus, seine Realabstraktionen und sein „Identitätsprinzip“ (Adorno), die im Tauschwert des Kapitals und in der Selbstzwecklogik des Kapitals angelegt sind, erzeugen in ihren Subjekten drei Tendenzen – eine zum Positivismus, eine zum Nihilismus und eine zum Moralismus. Alle drei sind erst zusammen zu verstehen, und Kulturkritik gibt es nur als solche, die politische als moralische Ökonomie in sich involviert – d. h. als dezidierte Kapitalismuskritik.

Marxens Version dieser Kritik ist sicherlich die am weitesten entwickelte, komplexeste und wichtigste bis in unsere Zeit. Doch Nietzsche kann sie ergänzen, indem sein Werk zeigt: Auch der Positivismus ist eine Form der Entfremdung, des verdinglichenden Denkens, und zwingt Wissenschaft, indem sie verbürgerlicht wird, in den Szientismus. „Wissenschaftlicher Sozialismus“ erhält so eine andere, eine ambivalentere Bedeutung. Der Nihilismus wiederum lässt sich als Subjektivierungsform des Spätkapitalismus begreifen, nachdem das Kapital die einstigen bürgerlichen Werte unter der eigenen Entwicklung vergrub, sodass sich nihilistische Antibürgerlichkeit – ob nun in modernistischer oder postmoderner Manier – nicht länger gegen den Kapitalismus richtet, sondern in einer ihr selbst unbewussten Wahlverwandtschaft zum Kapital steht. Und auch der Moralismus ist keine wirkliche Alternative zu besagtem Ineinander von Positivismus und Nihilismus, weil hier nicht wirklich das Primat der Politik jenes der Wirtschaft ersetzt. Vielmehr ergibt sich aus der politischen Ohnmacht das moralisierende Ressentiment, das somit in Kontinuität steht zum falschen Sein und kein besseres Sollen mehr aufweist, das dieses noch sprengen könnte.

Ismen waren Nietzsche, als Systemgegner, stets zuwider: das Positive des Lebens fand er erstickt im Positivismus; das kritische Moment der Negation verkommen zur unbelangbaren, weil unbestimmten Apologie des Nihilismus; und Moral, die ihrerseits doch auch dem Schutz der vulnerablen Leiber und der einen Erde, die wir beleben, dienen könnte, verkehrt im Moralismus inquisitorischer Gesten, die nichts aufwerten als die eigene Nichtigkeit zerstreut Vereinzelter. Was im Sinne Nietzsches im 21. Jahrhundert darum zu verfassen wäre, ist eine Genealogie des Moralismus, die gleichsam eine Genealogie des Positivismus und Nihilismus zu sein hat, und als solche eine historische Befragung jener gesellschaftlichen Objektivität, die positivistische, nihilistische, moralistische Subjektivierungsweisen erzwingt – um die Hinterfragung der kapitalistischen Totalität in all ihren Facetten zu leisten.

Nietzsches Werk arbeitet nicht gegen das Subjekt, die Menschen oder die Kritik, sondern gegen das – qua Verwertung entwertende – Prinzip des Kapitals, das Leiber zerstört, Leben nimmt und unseren Lebensraum bedroht. Zumindest lautet so die interessantere Lesart seines Oeuvres, die weitaus emanzipatorischer ist als jene der Postmoderne.      

Fußnoten

1: Menschliches, Allzumenschliches, Bd. I, Aph. 283.

„Je suis Nietzsche!“

Ein Dialog über Bataille, die Freiheit, die Ökonomie der Verschwendung, die Ökologie und den Krieg

„Je suis Nietzsche!“

Ein Dialog über Bataille, die Freiheit, die Ökonomie der Verschwendung, die Ökologie und den Krieg

22.5.24
Jenny Kellner, Hans-Martin Schönherr-Mann & Paul Stephan

Paul Stephan unterhielt sich mit Jenny Kellner und Hans-Martin Schönherr-Mann über die Lesart eines der wichtigsten Nietzsche-Interpreten des 20. Jahrhundert: Georges Bataille (1897–1962). Der französische Schriftsteller, Soziologe und Philosoph verteidigte die Vieldeutigkeit von Nietzsches Philosophie gegen ihre nationalsozialistische Vereinnahmung und wurde damit zu einem zentralen Stichwortgeber der Postmoderne. Er wollte auf der Grundlage einer dionysischen Mythologie eine neue Konzeption von Souveränität entwickeln, die das traditionelle Verständnis einer verantwortlichen Subjektivität transzendiert,und kritisierte die moderne kapitalistische Rationalität im Namen einer „Ökonomie der Verschwendung“. Mit all dem gibt er wichtige Impulse, um unsere Gegenwart besser zu verstehen.

I. Wer war Bataille?

Paul Stephan: Liebe Jenny Kellner, lieber Hans-Martin Schönherr-Mann, der Artikel zu Batailles und Nietzsches Konzeption einer „Ökonomie der Verschwendung“ hat uns – und auch zahlreiche Leserinnen und Leser – neugierig darauf gemacht, mehr über Georges Bataille und seine Nietzsche-Rezeption zu erfahren. Jenny Kellner, Sie haben sich in den letzten Jahren ja sehr intensiv mit derselben auseinandergesetzt im Rahmen Ihres – mittlerweile erfolgreich abgeschlossenen – Promotionsvorhabens zum Thema Anti-ökonomischer Kommunismus. Batailles philosophische Herausforderung. (Meine Gratulation an dieser Stelle!) Möchten Sie unser Gespräch vielleicht mit einer kurzen Skizze zu der ganz grundsätzlichen Frage eröffnen, wer Bataille eigentlich war und was seine Nietzsche-Rezeption gegenüber anderen auszeichnet?

Jenny Kellner: Sehr gerne. Georges Bataille war ein französischer Schriftsteller, Soziologe und Philosoph der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der sich allerdings dieser Art disziplinärer Zuschreibungen in eigentümlicher Weise entzieht. Sein Schaffen und Wirken ist eher durch Verfahrensweisen gekennzeichnet, die heutzutage wahrscheinlich als inter- oder transdisziplinär bezeichnet werden würden. Dabei war er sicher stark von zeitgenössischen geistigen Strömungen wie dem Surrealismus um André Breton, der Ethnologie im Anschluss an Marcel Mauss und der psychoanalytischen Theorie nach Sigmund Freud beeinflusst, doch es gibt m. E. auch systematische Gründe für Batailles ‚Transdisziplinarität‘ und die Schwierigkeit, ihn theoretisch richtig ‚einzuordnen‘. Diese Gründe werden sich im Laufe dieses Dialogs vielleicht nach und nach herauskristallisieren. In Bezug auf Batailles spezifische Beziehung zu Nietzsche möchte ich zunächst drei Punkte benennen: Erstens stelle ich mir Bataille als eine Art Scharnier zwischen Nietzsche und der französischen ‚Gegenwartsphilosophie‘ (d. h. den Strömungen des Poststrukturalismus, der Dekonstruktion, der Differenztheorie) vor. Er war einer der ersten französischen Denker*innen, die sich ab den 1930er Jahren intensiv mit Nietzsches Werk auseinandersetzten und vor allem versuchten, es gegen die Vereinnahmung durch den deutschen Nationalsozialismus zu verteidigen. Mit seiner Interpretation des Denkens Nietzsches als einer Lehre des Paradoxen, die eine labyrinthische Struktur aufweist, ebnete er den Weg für die reiche und heterogene französische Nietzsche-Rezeption der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (von Michel Foucault über Gilles Deleuze bis hin zu Sarah Kofman und anderen). Zweitens hatte Batailles Verteidigung Nietzsches gegen faschistische Besetzungen auch die Funktion, ihn für eine bestimmte Form des Antifaschismus fruchtbar zu machen, die von der Form des parteidoktrinären Kommunismus stark abwich. Die von Bataille 1936 gegründete Geheimgesellschaft Acéphale (dt.: ‚kopflos‘), deren öffentliches Organ eine gleichnamige Zeitschrift war, bezog sich theoretisch in erster Linie auf den Aspekt des Dionysischen in Nietzsches Denken. Hier wurde der Versuch unternommen, der mythologischen Kraft des faschistischen Projekts nicht mit rationalen Argumenten, sondern mit einer Art antiautoritärer, dionysischer, entbindender Mythologie entgegenzutreten. Drittens zeichnet sich Batailles affirmatives Verhältnis zu Nietzsche in philosophischer Hinsicht besonders dadurch aus, dass er – im Gegensatz zu den allermeisten anderen Verehrer*innen Nietzsches – auch ein affirmatives Verhältnis zu Nietzsches theoretischem Antipoden Hegel unterhielt. Die Art und Weise, wie Bataille im Zuge seiner Interpretation der Herr-Knecht-Dialektik Nietzsche ins Spiel bringt, führt auf den für Batailles Nietzschelektüre (und für sein gesamtes Denken) zentralen Begriff einer herrschaftsfreien „Souveränität“.

PS: Haben Sie vielen Dank für diesen ersten Überblick, der verständlich machen sollte, warum Bataille nicht einfach ‚ein Nietzsche-Leser unter vielen ist‘, sondern einer der wichtigsten Nietzsche-Interpreten des 20. Jahrhunderts; und auch nicht einfach nur ein Interpret, sondern jemand, der Impulse von Nietzsche eigenständig weiterdachte und auf seine Zeit bezog. Professor Schönherr-Mann, auch Sie haben sich vertieft nicht nur mit Nietzsche, sondern auch mit Bataille beschäftigt. Möchten Sie dem etwas Wichtiges hinzufügen oder vielleicht gar widersprechen?

Hans-Martin Schönherr-Mann: Ich möchte auf eine besondere Pointe hinweisen im Verhältnis von Nietzsche und Bataille hinweisen: „Ich bin Nietzsche“. Nicht Nietzsche sagt das, sondern Bataille! Er distanziert sich von der Nietzsche-Forschung seiner Zeit, indem er schlicht unterstellt, man könne Nietzsche nur aus dessen eigener Perspektive verstehen, eben wenn man ‚selbst’ Nietzsche ‚ist’. In seinem eigenen Schreiben sucht Bataille daher die Gemeinschaft mit Nietzsche.

Im Januar 1945 erscheint Batailles Verteidigung unter dem Titel Nietzsche und der Wille zur Chance. Dabei scheint sich dieses Buch gar nicht so sehr mit Nietzsche zu befassen. Der dritte und längste Teil enthält ein Tagebuch aus dem Jahr 1944, also aus der Zeit der Befreiung Frankreichs und Europas. Nietzsches 100. Geburtstag in diesem Jahr wollte niemand feiern, außer den Nazis in Weimar in Form einer gespenstischen Feier im alliierten Bombenhagel, zu der Mussolini noch eine antike Dionysos-Statue beisteuerte.

Bataille war der einzige, der es wagte, Nietzsche vor den Nazis zu retten, der daher zum Geburtstag gleich zwei Texte schrieb, einen unter dem Titel „Nietzsche-Memorandum“, publiziert im Band Wiedergutmachung an Nietzsche, und der angeführte.

Bataille hält Nietzsche für seinen Zwillingsbruder und denkt ähnlich leidenschaftlich und auf das konkrete Leben des Menschen bezogen wie Nietzsche. Der Mensch lebt, so die Einsicht Nietzsches, die Bataille aufgreift, in einer Welt, in der ihm keine Zwecke vorgegeben sind, die er sich selber suchen muss. Insofern erweisen sich Nietzsches und Batailles Philosophie als ein Plädoyer für die Freiheit des Menschen.

Mit dem Titel des Buches Nietzsche und der Wille zur Chance distanziert sich Bataille von einem Nietzsche-Verständnis, das in dessen zentraler Konzeption des Willens zur Macht einen Herrschaftsanspruch ausmacht, der sich skrupellos der Gewalt bedienen darf – ein Verständnis, das ja damals durch das von Nietzsches Schwester aus dem Nachlass zusammengestellte und dabei fleißig manipulierte Werk Der Wille zur Macht befördert schien.

Einerseits schließt Bataille an Nietzsches berühmte These vom Tode Gottes an. Doch was Nietzsche ohne Bedauern kalt diagnostiziert, um nun zu neuen, wiewohl nur noch irdischen Ufern aufzubrechen, das hat sich im Denken von Bataille andererseits tiefer eingebrannt. Bataille will das Göttliche in einer Welt nicht aufgeben, in der Gott tot ist.

Atheologische Summe III lautet der Untertitel dieses Nietzsche-Bandes. Bataille positioniert sich damit gegenüber der Summa theologica des Thomas von Aquin, der wie kein anderer das katholische Weltbild bis heute fundiert hat. Bataille transformiert den Atheismus in eine Atheologie. Der erste Band der atheologischen Summe unter dem Titel Die innere Erfahrung beschäftigt sich mit Methoden der Meditation und der Mystik. Doch Ekstase und Kontemplation erlebt der Mensch auch unter Bedingungen, wenn Gott tot ist, nämlich vor allem in der Erotik. Ihr hat Bataille eines seiner berühmtesten Werke gewidmet unter dem Titel Der heilige Eros (1957).

Die drei Bände der atheologischen Summe spielen insgesamt eine zentrale Rolle in seinem theoretischen Werk, zu dem vor allem noch seine ökonomische Schrift Der verfemte Teil. Versuch einer allgemeinen Ökonomie gehört (1949), die uns in unserem Gespräch sicher noch beschäftigen wird.

II. Was ist Freiheit?

PS: Ja, auf Batailles nietzscheanische Ökonomiekritik im Namen einer „Ökonomie der Verschwendung“ wird sicher noch zurückzukommen sein. Doch zuvor möchte ich auf einen gemeinsamen Punkt eingehen, der in Ihren beiden ersten Antworten zur Sprache kam: dass Bataille eine „Philosophie der Freiheit“ bzw. der „herrschaftsfreien ‚Souveränität‘“ vertritt. Etwa zur selben Zeit entwickelten ja auch die Existenzialisten um Sartre, Albert Camus und Simone de Beauvoir eine „Philosophie der Freiheit“, mitunter mit Bezug auf Nietzsche. Allerdings handelt es sich dabei um eine Freiheit des Bewusstseins, die moralische Verantwortung impliziert, das rückt diese Denker in eine gewisse Nähe zum philosophischen Idealismus, zu Kant, Hegel und vielleicht sogar Fichte. Die Existenzialisten grenzten sich ausgehend von diesem Verständnis mitunter sehr polemisch von Bataille ab und erblickten ihn ihm einen scheinradikalen Nihilisten, der sich vor der wirklichen Praxis fürchte. Auch heute ist der Begriff der „Freiheit“ in der philosophischen Debatte wieder sehr umstritten. Inwiefern weicht Batailles (nietzscheanisches) Freiheitsverständnis von dem idealistischen bzw. existenzialistischen ab? Und wie würden Sie es gegen die existenzialistische Polemik verteidigen?

JK: Genau, das Verhältnis von Batailles Freiheits- bzw. Souveränitätsbegriff zu Fragen der (politischen) Praxis ist ein sehr interessantes Problem. Professor Schönherr-Mann hat ja schon auf die Bedeutung der Erotik in Batailles Denken hingewiesen. Meines Erachtens wäre es aber falsch, die Betonung der Erotik bei Bataille als eine Art Rückzug aus dem Feld des Politischen zu interpretieren. Vielmehr glaube ich, dass Bataille die erotische Erfahrung im Sinne einer Erfahrung von Ekstase, von Sinn- und Selbstverlust gerade deshalb ernstnimmt, weil sie für ihn tatsächlich von politischer Bedeutung ist, sofern es ihm um eine radikale Insubordination geht. Wenn Bataille eine Politik unterstellt werden kann, dann eine Art Politik der permanenten Revolte. Die Souveränität, wie Bataille sie begreift, ist keine Eigenschaft oder Bedingung, die zum Handeln befähigt, sie ist vielmehr eine Absage an das Handeln selbst. Handeln impliziert immer eine Zweck-Mittel-Struktur (das heißt, es ist in den rationalen Diskurs der Vermittlung eingebettet) und weist damit eine prinzipielle Struktur des Aufschubs auf. Souverän ist man aber nur im Augenblick – und die erotische Erfahrung kann ein solcher Augenblick sein. In der Erotik geht es um eine heillose Verschwendung von Energie, eine unproduktive Verausgabung der Kraft (was übrigens auch direkt in Batailles ‚allgemeine Ökonomie‘ führt). Was uns ausmacht, wenn wir ‚souverän‘ sind (zum Beispiel in der erotischen Erfahrung, aber auch im Geschenk ohne Gegenleistung oder in der Kunst), ist, dass wir in diesen Augenblicken nichts und niemandem dienen (was mit einer Erosion von Subjekt und Objekt einhergeht, das heißt auch, mit einer Erfahrung von Gemeinschaft, die der mystischen ähneln mag, jedoch insofern von ihr abweicht, als man in ihr zur heterogenen Vielheit, zur nietzscheanischen Wüste wird). Der Aspekt einer radikalen ‚Undienlichkeit‘ ist das, was Bataille an Nietzsches Philosophie so sehr bejahte. Alle Moral, alles Handeln-Sollen ist in Batailles wie in Nietzsches Perspektive eine Form der Knechtschaft. In Nietzsche und der Wille zur Chance scheint dieser Gedanke auf, wenn Bataille darauf hinweist, dass für die Freiheit zu kämpfen bittererweise immer erst einmal heißt, sie aufzugeben. Das Verhältnis zwischen Freiheit oder Souveränität und politischem Kampf oder politischer Praxis ist für Bataille damit von vorneherein ein paradoxes. Wir haben es hier mit einem Freiheitsbegriff zu tun, der in der Tat in einen Abgrund, in einen Sturz in den Nichtsinn führt, den die oben angesprochenen Existenzialist*innen auch zu kennen scheinen, den sie aber durch eine Moralphilosophie der ‚frei gewählten‘ Verantwortung überwunden glauben. Für Bataille hingegen gibt es kein Zurück aus dem Abgrund in eine geregelte moralische Existenz. Das heißt aber nicht, dass sein Denken unpolitisch oder politisch ohne Konsequenzen wäre. Denn die radikale Anfechtung des rationalen Diskurses stellt eben auch gesellschaftliche Verhältnisse und politische Zusammenhänge sehr grundlegend infrage. Interessanterweise stellt Bataille seine exzessive Identifikation mit Nietzsche, auf die Professor Schönherr-Mann hingewiesen hat, besonders deutlich in einem kurzen Aufsatz von 1951 zur Schau, der den Titel Nietzsche im Lichte des Marxismus trägt. Meiner Analyse zufolge stellt Bataille in diesem Essay zwei Formen der Emanzipation gegenüber: eine kommunistische Form, bei der es um die Befreiung der gesamten Menschheit geht, und eine nietzscheanische Form, bei der es um die Befreiung des ganzen Menschen geht, das heißt, eines Menschen, der sich keinerlei partikularen Zwecksetzungen, keinerlei Handlungsimperativen unterordnet. Beide Formen der Emanzipation kollidieren miteinander, schließen einander aus, sind aber zugleich wechselweise aufeinander angewiesen, sofern die eine ohne die andere hinfällig ist, bzw. die Vernachlässigung der einen notwendigerweise die Konterkarierung der anderen bedeuten würde. Hier zeigt sich, was an Batailles Freiheitsbegriff (und mithin an seiner Nietzsche-Lektüre) in politischer Hinsicht so überaus brisant ist: Bataille ist weit davon entfernt, Nietzsche einer linken politischen Perspektive anzuverwandeln, ihn politisch ‚dienstbar‘ zu machen. Doch er spielt Nietzsche auch nicht gegen das kommunistische politische Projekt aus. Vielmehr versetzt er beide in ein paradoxes Spannungsverhältnis, das in keinem (hegelianischen oder sonstigen) Sinn ‚aufgehoben‘ werden kann. Jedes emanzipatorische Projekt, das die eine Seite der Emanzipation auf die andere reduziert oder eine der beiden Seiten ignoriert, läuft Gefahr, in Reaktion umzuschlagen. Darin liegt, meines Erachtens, ein wichtiger Aspekt der politischen Bedeutung, die Batailles nietzscheanisches Souveränitätsdenken ausmacht.

SM: Bataille antwortet auf den Beginn des Zweiten Weltkriegs mit einem teils tagebuchartigen, teils philosophischen Text Die Freundschaft, den er 1944 veröffentlicht. Darin heißt es quasi programmatisch:

Mit der Leidenschaft, der boshaften Luzidität, deren ich fähig bin, habe ich gewollt, dass das Leben in mir sich entkleide. Seit der Kriegszustand besteht, schreibe ich dieses Buch, alles übrige ist leer in meinen Augen. Ich will nichts als leben: Alkohol, Ekstase, nackte Existenz, wie eine nackte – und verwirrte – Frau. In dem Maße, wie das Leben, das ich bin, sich mir enthüllt und gleichzeitig, da ich es gelebt habe, ohne etwas zu verbergen, von außen sichtbar wird, kann ich innerlich nur bluten, weinen und begehren.1

Das ist eine andere Antwort auf den Krieg, als man sie im französischen Existentialismus findet, der in jenen Jahren Form annimmt, wenn Camus in Der Mythos von Sisyphos 1942 den Menschen die Möglichkeit zur Auflehnung auch im Angesicht seiner Aussichtslosigkeit attestiert. Sartres Analyse 1943 in Das Sein und das Nichts schreibt dem Bewusstsein die Fähigkeit zu, sich zu verändern, begründet damit die Freiheit phänomenologisch – nicht idealistisch: das höchstens aus einer materialistischen und kommunitarischen Perspektive –, was in eine individuelle Verantwortung für das eigene Leben ausläuft. Für die militarisierten Gesellschaften seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, in denen die Menschen als Untertanen geführt werden, sind das unerträgliche Behauptungen. Diesem Verständnis von Verantwortung folgt Bataille nicht, obwohl es sich auf Nietzsche berufen kann. Und Camus nimmt noch in L’Homme révolté (1951) eine eher skeptische Haltung gegenüber Nietzsche ein, steht dieser doch im Verdacht der Nähe zu den Nazis.

Es gibt eine andere Parallele zwischen dem Existentialismus und Bataille, der auf die Entstehung des ersteren in den dreißiger Jahren zurückgeht. Bataille schreibt in Die Freundschaft: „Wer von Gerechtigkeit spricht, ist selber Gerechtigkeit, schlägt einen Gerichtsherrn, einen Vater, einen Führer vor. Ich schlage nicht die Gerechtigkeit vor. Ich bringe komplizenhafte Freundschaft. Ein Gefühl von Festlichkeit, von Freizügigkeit, von kindlicher und verteufelter Lust“ (S. 58). Bataille lehnt die Hoffnung ab, man könnte Probleme durch Staaten lösen.

An die Stelle des Politischen treten individuelle Beziehungen, die nun wiederum für Bataille keineswegs auf gelungener Kommunikation beruhen, wie es sich Camus, Sartre und de Beauvoir vorstellen. Dagegen schreibt Bataille:

In dem Maße, wie die Wesen vollkommen scheinen, bleiben sie isoliert, in sich selbst verschlossen. Doch die Wunde der Unvollendung öffnet sie. Durch das, was man Unvollendung, animalische Nacktheit, Wunde nennen kann, kommunizieren die verschiedenen, voneinander getrennten Wesen, gewinnen Leben, indem sie sich in der Kommunikation untereinander verlieren.2

Batailles Denken ist nicht nur in Die Freundschaft, sondern durchgängig, vor allem aber in Der verfemte Teil und in Der heilige Eros (1957) durch eine radikale Ablehnung der sozialen Diskurse gezeichnet, denen er provokante Ideen entgegensetzt. Das findet sich auch im frühen Existentialismus der dreißiger Jahre und noch in den Vierzigern, wenn es nicht um die individuelle Verantwortung geht, sondern um eine Absonderung vom Sozialen.

So ist der Titel von Sartres Roman Der Ekel (1938) ebenso Programm wie bei Camus‘ Roman Der Fremde von 1942. In Sartres Erzählung Herostrat (1939) hat er gewisse Sympathien mit einem Amokläufer. Und im dritten Band von Die Wege der Freiheit schießt der Held, ein Pariser Philosophielehrer wie Sartre, völlig sinnlos auf deutsche Soldaten:

Eine gewaltige Rache war’s; jeder Schuss rächte ihn für einen alten Zweifel. [. . .] Er schoss auf den Menschen, auf die Tugend, auf die Welt: die Freiheit – das ist der Terror; [. . .] er schoss auf den schönen Offizier, auf alle Schönheit dieser Erde, auf die Straße, auf die Blumen, auf die Gärten, auf alles, was er geliebt hatte.3

Bereits im 19. Jahrhundert entsteht eine Philosophie, die die Gesellschaft ablehnt, ohne sich um staatliche Alternativen zu kümmern: Max Stirner und Nietzsche; im 20. Jahrhundert sind es neben den Existentialisten und E.M. Cioran vor allem Literaten wie Henry Miller, Philip Roth, Charles Bukowski, Hermann Hesse, Franz Kafka. Philipp Blom nennt Diderot und Holbach 2011 Böse Philosophen, weil sie wie der Marquis de Sade Sinnlichkeit und Lust verteidigen. Einen solchen Titel könnten sich Bataille und Sartre teilen, auch wenn ersterer die Souveränität und letzterer die Verantwortung betont. Beiden geht es wie Nietzsche um ein Individuum, das sich Staat und Gesellschaft nicht unterordnet. Das betrachten die meisten Zeitgenossen als böse.

III. Was ist die Ökonomie der Verschwendung?

PS: Ein wesentliches Thema Batailles ist ja nicht nur die Kritik der kollektiven, staatlichen, zugunsten der individuellen Souveränität, sondern auch, wie Jenny Kellner in Ihrem erwähnten Artikel darlegte, die Kritik der kapitalistischen Effizienzlogik zugunsten einer „Ökonomie der Verschwendung“. Dieses Moment scheint mir im vergleichsweise asketischen Existenzialismus keinerlei Rolle zu spielen. Beide Motive scheinen sich in der Tat bei Nietzsche zu finden – die Apologie der Ekstase und die Kritik der „asketischen Ideale“ wie auch die Betonung individueller Verantwortlichkeit. Hier fragt man sich schnell, was unserer heutigen gesellschaftlichen Realität eher entspricht: Vom Standpunkt der Ökologiebewegung aus gesehen ist es ja so, dass wir es bei der gegenwärtigen kapitalistischen Ökonomie bereits mit einer „Ökonomie der Verschwendung“ zu tun haben und dagegen mehr individuelle und kollektive Verantwortung im Sinne der Askese gefordert wird. Könnte man in diesem Sinne vielleicht von einem gewissen Veralten von Batailles Kritik sprechen? Leben wir nicht längst in einer enthemmten Ökonomie und sollten, um der Zukunft des Planeten willen, die Freuden des Verzichts entdecken? Was meinen Sie, Frau Kellner?

JK: Das ist eine sehr gute Frage! Bataille räumt in der Inneren Erfahrung ein, dass die Askese ein Mittel sein kann, um sich von der Knechtschaft des Besitzdenkens und der Dinglichkeit zu befreien. Allerdings verbindet sich mit dieser Lossagung Bataille zufolge auch ein bestimmtes Heilsversprechen: Es geht darum, einen Teil von sich aufzugeben, um einen anderen Teil (z. B. ‚Seele‘ genannt) zu retten. Das trifft strukturell sicher auch auf das von Ihnen angesprochene ökologische asketische Ideal zu. Bei Batailles Verschwendungsemphase geht es aber um eine radikalere Absage an Besitz und Dinglichkeit, die keine Rettung und kein Heil mehr impliziert (und insofern genauso ‚böse‘ ist, wie es Professor Schönherr-Mann Bataille und den existenzialistischen Denker*innen oben attestiert hat). Ich glaube übrigens nicht, dass Batailles Ökonomiekritik veraltet ist, sondern dass dieser Eindruck durch ein Missverständnis entsteht. Denn, etwas vereinfacht gesagt, ist mit Bataille Verschwendung nicht gleich Verschwendung. Die grundlegende These seiner Ökonomietheorie besagt ja, dass es auf jeden Fall Überschüsse gibt, die profitlos verausgabt werden müssen, doch diese Verschwendung kann die unterschiedlichsten Formen annehmen. Sie kann bewusst gewählt werden und nach Kriterien des Gefallens, das heißt, im weitesten Sinne nach ästhetischen Kriterien gestaltet werden – das wäre eine aktive und gloriose Form der Verschwendung von Überschüssen. Sie kann aber auch passiv erlitten werden, wenn ihrer Notwendigkeit mit Verleugnung und Verdrängung begegnet wird – dann stößt sie uns zu. Bataille spricht hier von „katastrophischen Formen“ der Verausgabung und nennt etwa den modernen Krieg als Beispiel dafür4. Aber auch Umweltkatastrophen lassen sich natürlich genau auf diese Weise erklären. Benjamin Noys weist im Nachwort zur Neuausgabe des Verfemten Teils von 2021 darauf hin, dass dieses 1949 erstmals veröffentlichte Buch die globale Krise voraussieht, und dass gerade deshalb heute wieder ein verstärktes Interesse daran aufgekommen ist. Batailles Argument besteht in dieser paradoxen Wendung: Da wir nicht in der Lage sind, bewusst gloriose Verschwendungen zu praktizieren, richtet die unvermeidliche Verschwendung sich katastrophisch gegen uns selbst und zerstört uns. Hier wird deutlich, dass Bataille mit seiner Ökonomiekritik im Grunde wirklich ein aufklärerisches Projekt verfolgt:

Unsere Unkenntnis hat nur die eine unbestreitbare Folge: sie läßt uns erleiden, was wir, wenn wir Bescheid wüßten, nach Belieben selbst bewirken könnten. Sie beraubt uns der Wahl der Art des Ausschwitzens, die uns gefällt. Vor allem aber setzt sie die Menschen und ihre Werke katastrophischen Zerstörungen aus. Denn wenn wir nicht die Kraft haben, die überschüssige Energie selbst zu zerstören, die anderweitig nicht benutzt werden kann, so zerstört sie uns wie ein unzähmbares Tier, und wir selbst sind das Opfer der unvermeidlichen Explosion.5

Das heißt auch, dass asketische Grundsätze, so gut gemeint sie im Hinblick auf die ökologische Krise sind und so sinnvoll sie erscheinen mögen, möglicherweise genau das Gegenteil von dem bewirken könnten, was sie bewirken sollen. Jedenfalls besteht diese Gefahr, wenn die asketische Zurückhaltung das einzige Mittel ist, das zur Abwendung der Krise eingesetzt werden soll. Gerade, wenn es sich in Form moralischen Drucks den Einzelnen aufdrängt, bleibt unabsehbar, wo welche Kessel mit welchen Folgen explodieren werden. Hier erleben wir heute ja auch eine ziemliche Bigotterie, wenn kapitalistische Produktion mit all ihren zerstörerischen Folgen ungebremst weiter betrieben wird, die Privatleute aber gleichzeitig angehalten werden, bitte nicht so lange zu duschen, sparsamer mit Strom, Benzin, Fleisch und Verpackungen umzugehen usw. Ich würde außerdem bezweifeln, dass das, was wir hier ‚kapitalistische Verschwendung‘ nennen, tatsächlich die profitlose Verausgabung darstellt, um die es Bataille geht. Wenn jährlich Unmengen von Elektromüll entstehen, weil die Handy- und Computerindustrie ständig neue Geräte auf den Markt wirft, oder wenn Gebäude, Werbetafeln und Läden nachts beleuchtet werden, dann geschieht das ja gerade nicht im Bewusstsein, dass hier Energieüberschüsse sinnlos verprasst werden – als glorioses Geschenk ohne Gegenleistung, wie Nietzsches Zarathustra es bejahen würde –, sondern es geschieht aus völlig rationalem ökonomischem Kalkül heraus: Es gibt Leute, die massiv von diesen Verschwendungen profitieren! Das sind also gar keine nutzlosen Verausgabungen in einem batailleanisch-nietzscheanischen Sinne. Betrachtet man etwa die Massentierhaltung, so hat man es doch mit einer hocheffizienten Form der Nahrungsmittelproduktion zu tun. Verschwenderisch wäre es aus ökonomischer Sicht, den Tieren Raum und gesundes Futter und Zeit zum Leben und zum Wachsen zu geben. Nach den Maßgaben der Mehrwertsteigerung und Gewinnmaximierung sind Massentierhaltung, Produktion von immer mehr Müll, Ausbeutung der Ressourcen und der Umwelt usw. absolut sinnvoll. Batailles Einsicht besteht darin zu sagen: Diese rationalistische Logik der Steigerung der Produktivkräfte und die entsprechende Wachstumsideologie werden sich früher oder später gegen uns selbst richten! Der Exzess des Kapitalismus besteht nicht in seinen Verschwendungen. Diese sind vielmehr eine ungewollte sekundäre katastrophische Folge des kapitalistischen (und protestantischen!) Prinzips, dass überhaupt nicht verschwendet werden darf, dass aus jeder Sache, jedem Individuum, jeder Bewegung auf dem Globus noch das letzte bisschen Mehrwert herausgepresst werden muss, das möglich ist. Wir kennen ja das Paradox der Effizienzsteigerung: Wenn plötzlich in kürzerer Zeit mehr produziert werden kann, führt das keineswegs dazu, dass die Produktionszeit sich tatsächlich verkürzt, sondern im Gegenteil, dass mehr und immer mehr produziert wird. Im Grunde geht es um die Erkenntnis, die in anderem Kontext von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung formuliert wurde: dass exzessiver Rationalismus notwendig in Irrationalismus umkippt. Für die irren Paradoxa der Rationalisierungsprinzipien sensibilisiert Batailles ökonomietheoretische Perspektive in einzigartiger Weise. Ich halte sie daher für aktueller denn je.

PS: Der aus dem Geist der innerweltlichen Askese, um es mit Max Weber zu sagen, geborene Kapitalismus produziert also paradoxerweise gewaltige Überschüsse, die er gerade aufgrund seiner totalisierenden Effizienzlogik nicht mehr zu kanalisieren vermag und die immer wieder zu katastrophischen Explosionen führen. Das scheint wirklich eine originelle Synthese von Marx’ ökonomischer und Nietzsches kultureller Krisentheorie zu sein. Ein solches ‚Feuerwerk‘ können wir ja möglicherweise gerade in der Ukraine bestaunen. Es wird vielleicht in der Tat Zeit, statt Askese auf „gloriose Verschwendung“ zu setzen, um den Planeten zu retten – das würde die ökologische Bewegung vielleicht auch attraktiver machen. Erblicken Sie in diesen Gedanken eine ähnliche Aktualität, Professor Schönherr-Mann?

SM: Ja, Batailles „allgemeine Ökonomie“ ist hochaktuell. Es fragt sich nur, ob das wirklich jemand lesen möchte, nicht nur unter Ökologen. Denn das Fremdeln dürfte schon mit seinem Naturverständnis anheben, heißt es doch etwa in Der verfemte Teil: „Ich gehe von einer elementaren Tatsache aus: Der lebende Organismus erhält, dank des Kräftespiels der Energie auf der Erdoberfläche, grundsätzlich mehr Energie, als zur Erhaltung des Lebens notwendig ist“ (1985, S. 45). Nicht zu wenig Energie verbreitet sich über die Erde als Prinzip des Lebens, sondern zu viel Energie, die die Natur verschwenden muss. Das widerspricht ökologischen Vorstellungen von Kreisläufen, Gleichgewichten, Stabilitäten. Natur hat dagegen für Bataille keinen gleichbleibenden Zustand, sondern befindet sich in permanenter Veränderung. Das kommt der Evolutionstheorie Darwins näher als ein Selbstverständnis, das nach Einklang mit der Natur sucht und sich gerne an vermeintlich natürlich lebenden Menschengruppen im Urwald orientiert.

Dieses Prinzip der natürlichen Verschwendung überträgt Bataille auf die Zivilisation. Das ökonomische Bewegungsgesetz ist nicht das Wachstum, sondern die Verschwendung – ein Prinzip, das sich für Bataille durch die Geschichte hindurch zieht: Tempel und Paläste, extensive Feste und ausschweifender Luxus, heute in den reicheren Ländern zumindest ein breit gestreuter Konsum. Für Bataille ist es dagegen eine

Tatsache, dass es, allgemein gesehen, kein Wachstum gibt, sondern nur eine luxuriöse Energieverschwendung in vielfältiger Form! Die Geschichte des Lebens auf der Erde ist vor allem die Wirkung eines wahnwitzigen Überschwangs: das beherrschende Ereignis ist die Entwicklung des Luxus, die Erzeugung immer kostspieligerer Lebensformen.6

Just die Verschwendung wird in der Moderne flächendeckend verfemt – ein Phänomen, das es vorher nicht gab: Aus der christlichen Armutsregel erhob sich eine Prunk entfaltende Kirche. Bataille verweist auf die protestantische Arbeitsethik, die nach Max Weber die Entstehung des Kapitalismus beförderte, dem es um Effizienz und Produktionssteigerung geht. Das quittiert Bataille in Der heilige Eros 1957 mit den Worten: „Mit geringen Kosten produzieren ist ein armselig menschlicher Wunsch“ (S.  56).

Der Sowjetunion gesteht Bataille zu, dass es ihr um die Frage gerechter Güterverteilung geht. Im zeitgenössischen Kapitalismus bemerkt er auch eine Tendenz zur Verschwendung, entsteht die Schrift Der verfemte Teil 1949 doch vor dem Hintergrund des Marshallplans, als die USA Europa mit Transferleistungen unterstützten, um den Wiederaufbau nach dem Krieg zu fördern. Doch Bataille erkennt, dass diese Verschwendung Hintergedanken beherbergt, um Europa gegenüber der Sowjetunion zu stärken und um zukünftige Absatzmärkte zu schaffen. Es handelt sich also doch nicht um reine Verschwendung.

Trotzdem kommt der Marshallplan einer anderen Art der Verschwendung nahe, wenn Bataille bemerkt: „Was in der völligen Zerrissenheit einen davon abhält, den Krieg als unvermeidlich anzusehen, ist der Gedanke – um eine Formulierung von Clausewitz umzukehren –, dass die Ökonomie unter den gegenwärtigen Bedingungen seine Fortsetzung mit anderen Mitteln ist“ (ebd., S. 210). Die USA führen damit einen Wirtschaftskrieg gegen die Sowjetunion. Verschwendung hat dann einen kriegerischen Sinn.

Bataille zählt den Krieg selbst zur Verschwendung. Das liegt auf der Hand. Denn was bis ins 18. Jahrhundert primär Monarchen betreiben, das setzt der Nationalstaat fort. Auch die Sowjetunion ist unter Stalin durchgängig militarisiert. Vor allem der Faschismus schließt mit seiner kriegerischen Orientierung an die monarchische Verschwendung an. Schätzt das Bataille etwa positiv ein? Seit dem 19. Jahrhundert hofft man, mit dem Krieg und nur mit dem Krieg seine Ziele zu verwirklichen: Hegel, Juan Donoso Cortés, Proudhon, Marx und Max Weber setzen auf den Krieg.

Zugleich scheint er im Gegensatz zu den ökonomisierten Lebensverhältnissen einen lebendigen Charakter zu haben – so wird es noch Carl Schmitt sehen. Bataille bezieht sich jedoch auf einen anderen Referenten:

Der Krieg ist ein letztes Spiel, er ist ein tragisches Spiel: ein Spiel, bei dem man alles einsetzt, was man hat, das eigene Leben inbegriffen, und ich glaube, das ist es, was Nietzsche am Krieg geliebt hat; denn für ihn war das Leben im Wesentlichen ein Spiel. Nietzsche hat zweifellos auch die Erfahrung machen müssen, dass es kein Spiel gibt, das dem Krieg überlegen wäre; er ist das einzige Spiel, in dem der Einsatz total ist.7

Friedliebend gesonnene Leser wie Arthur C. Danto möchten Nietzsche diese kriegerischen Zähne ziehen. Doch Bataille lebt in einer äußerst kriegerischen Zeit und zählt nicht zu den Pazifisten.

Doch er lässt sich auch nicht zu den Militaristen rechnen, sowenig wie zu jenen, die meinen, die Welt retten zu müssen, mit oder ohne Gewalt, und die dafür auch einen großen Plan einschließlich einer entsprechend dimensionierten Erzählung haben. Stattdessen sagt Bataille 1957: „[I]ch übernehme nicht die Verantwortung für die Welt, in welchem Sinne auch immer.“8 Als Verschwendung hat Krieg für Bataille einen gewissen Sinn, noch dazu, weil diese verfemt wird, mehr aber nicht, schon gar keinen kathartischen oder gar einen katastrophalen. Letzteres hat er ja gerade überstanden.

So hat Verschwendung, ob als Krieg oder als Party, keinen Sinn. Seine allgemeine Ökonomie führt vielmehr mit der Verschwendung die Sinnlosigkeit derselben vor, wie Bataille sich 1951 über sein Werk äußert: „Meine ganze Philosophie besteht darin zu sagen, das wichtigste Ziel im Leben ist es, sich der Gewohnheit zu entledigen, immer ein Ziel vor Augen zu haben“ (ebd., S. 53). Wer will sich von den politisch, sozial oder ökologisch Engagierten mit solch einer Aussage anfreunden? Will man Bataille für die liberale Ökonomie und die Ökologie fruchtbar machen, müsste man diese beiden umdenken, nämlich in die Richtung, dass es keinen Sinn gibt.

Damit besteht eine Nähe zu Nietzsche, der jedoch konstruktiver ist, will er doch neue Wert schaffen, und wenn man mit Danto von dessen Kriegsbegeisterung absieht. Trotzdem gilt für Nietzsche umso mehr, was Bataille über sich 1953 bemerkt: „Ich würde gerne sagen, dass ich darauf am stolzesten bin, Verwirrung gestiftet zu haben . . . das heißt, die ausgelassenste und schockierendste, die skandalöseste Art zu lachen mit dem tiefsten religiösen Geist verbunden zu haben“ (ebd., S. 132). Was für Verwirrungen hat doch auch Nietzsche gestiftet!

Verwundert es dann, wenn Maurice Blanchot, den solche Provokationen schockieren, in seinem Nachruf auf Bataille 1962 jede geistige Gemeinsamkeit zurückweist, selbst angesichts von Batailles Tod: „So besitzt der Tod die falsche Tugend, so zu tun, als gäbe er denjenigen die Nähe zurück, die schwere Differenzen getrennt haben“9?

PS: Wir sehen, denke ich, dass sich Batailles Interpretation dadurch auszeichnet, dass er anderen gegenüber die destruktiven, ‚nihilistischen‘ Aspekte Nietzsches betont und affirmiert. Er begnügt sich jedoch nicht mit einer bloßen Skepsis, sondern gewinnt aus diesem Nihilismus die Freiheit der Schöpfung neuer Konzepte, die von ihrer Faszinationskraft nichts eingebüßt haben, egal, ob es um die Konzeption einer nichtsubjektiven Souveränität oder einer bewussten Verschwendung als Gegenentwurf zur kapitalistischen Effizienzlogik geht. Ich bedanke mich für dieses äußerst instruktive Gespräch!

Quellen

Bataille, Georges: Der heilige Eros. Berlin e. a. 1984.

Ders.: Der verfemte Teil. Versuch einer allgemeinen Ökonomie. In: Ders.: Die Aufhebung der Ökonomie. München 1985, S. 33–234.

Ders.: Der verfemte Teil. Versuch einer allgemeinen Ökonomie. Berlin 2021.

Ders.: Die Aufgaben des Geistes. Gespräche und Interviews 1948-1961. Berlin 2012.

Ders.: Die Freundschaft und Das Halleluja. Atheologische Summe II. Berlin 2002.

Ders.: Die innere Erfahrung. Berlin 2017.

Ders.: Nietzsche im Lichte des Marxismus. In: Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich. Hamburg 2007. S. 19-26.

Ders.: Nietzsche und der Wille zur Chance. Atheologische Summe III. Berlin 2005.

Blanchot, Maurice: Die Freundschaft. In: Ders.: Die Freundschaft. Matthes & Seitz, Berlin. S. 369–373.

Sartre, Jean-Paul: Die Wege der Freiheit, Bd. 3. Reinbek b. Hamburg 1987.

Fußnoten

1: S. 56.

2: Ebd., S. 39.

3: S. 220.

4: Vgl. Bataille, Der verfemte Teil, Erster Teil, Abschnitt 4: „Der Krieg als katastrophische Verausgabung der überschüssigen Energie“ (1985, S. 48 ff.).

5: Ebd., S. 48.

6: Ebd., S. 56.

7: Nietzsche und der Wille zur Chance, S. 110.

8: Die Aufgaben des Geistes, S. 98.

9: Blanchot, Die Freundschaft, S. 372.

Darts & Donuts
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Ich empfinde alle Menschen als schädlich, welche dem, was sie lieben, nicht mehr Gegner sein können: sie verderben damit die besten Dinge und Personen.

(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

Nietzsche sagt: „ChatGPT ist dumm.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

Nietzsche sagt: „Man soll den Computern misstrauen, sie haben ein Hirn, eine Hand, einen Fuß und ein Auge, aber kein Herz.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.

(ChatGPT auf die Bitte hin, einen Aphorismus im Stile Nietzsches zu verfassen)

Werk. – Es gibt keine irreführendere und falschere Ansicht als die, dass das Schreiben oder das Werk lustvolle Angelegenheiten seien. Es ist ganz das Gegenteil! Das Werk ist einer der größten Gegner und schlimmsten Feinde. Und wer aus Freiheit und nicht aus Gewohnheit schreibt, vermisst an ihm Umgangsformen und Gewissen – der ist ein Schwein!

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Gefährliche Wahrheit. – Viele psychische Pathologien machen ihren Wirt ultrasensibel. Sie bekomme Antennen für die kleinsten seelischen Regungen ihres Gegenübers, sehen den kleinsten Verrat, die kleinste Inkongruenz, den kleinsten Reißzahn, den hässlichsten Hund im Menschen. Als Feind des Menschengeschlechts zückt der Arzt seinen Notizblock und ruft also „die Pfleger“ herein.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Glück: Keinen mehr nötig zu haben und so rückhaltlose Zuwendung sein können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 44)

Dein Rechthaben nicht offen zur Schau stellen. Nie der Weg sein. Dem, der Recht hat, will man leicht Unrechttun und man fühlt sich gemeinsam im Recht dabei, weil das Gefühl für Gleichheit ständig trainiert wird und die Übung der Freiheit eine Seltenheit geworden ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 43)

Wahre Liebe: Durch den Anderen hindurch lieben.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 42)

Zusammensein wollen: Weil es leichter ist? Weil es bereichert? Weil man keinen Willen kennt, der lange Wege allein gehen kann?

(Neue Sprüche und Pfeile, 41)

Helfen wollen: Weil es sichgehört? Weil einem Gleiches widerfahren kann? Weil man hat und gerne gibt? Weil einem nicht die aktuelle Armut betroffen macht, sondern die Schande, dass Chancen ungenutzt bleiben müssen?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 40)

Keine Größe ohne ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten. Aus dem Schein zu einem Mehr an Sein. Aus den Erfolgen der Sprünge in eine Rolle, in der man sich nicht kannte, entsteht der Glaube anein Können, das mehr aus einem machen kann.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 39)

Wem die Stunde schlägt. – Wer sich einen Termin macht, etwa ein Date in zwei Wochen, freut sich, trifft allerlei Vorbereitungen, fiebert darauf hin, hält durch und überlegt, was er sagen soll und so weiter. – Dann ist der Tag da. In der Zukunft glänzte alles noch, fühlte sich anders an. Man denkt sich: Es ist alles ganz wie vorher. Alles, was ich getan habe, war nur Selbstzweck, man erwartete das Warten und Vorstellen und nicht die Sache selbst, nicht den Kairos, den man nicht erwarten kann.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Niederes und höheres Bewusstsein. – Bin ich vor die Wahl gestellt, entweder erdrückt zu werden, tot zu sein und zu schweigen oder zu lästern und ungläubig zu sein – Gift in meinen Drüsen mir zu sammeln, wie mir angeboren, Reptil, das ich bin –, ich würde immer das Zweite wählen und mich niedrig, schlecht, negativ und ungebildet nennen lassen. Lieber will ich mich von meinem Gift befreien als es mir zu Kopf steigen zu lassen. Tritt einer dann in meine Pfützen, sei’s so – gebeten hat man ihn nicht!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Schwere und die Sinnlosigkeitder Dinge. – Wer einmal den unbegründeten Wunsch verspüren sollte, sich über die wesentlichen Dinge Gedanken zu machen, das Sein der Dinge und die Zeit, der ist besser beraten, es zu unterlassen. Der Verstand tendiert dazu, solche Dinge zäh und schwer zu machen. Am Ende findet man sich beim Denken und Überlegen dabei wieder, das Ding selbst nachzuahmen und denkt den Stein, das Stein-Seins, verfällt in gedachte Inaktivität.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Nichts. – In der Indifferenz ist noch alles und jedes zu ersaufen. Der größte Mut, der Hass, die Heldentaten, die Langeweile selbst verschlingt sich und die große Dummheit, Eitelkeit.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Für Franz Werfel. – Ein Autor, der dir sagt: „Ach, meine Bücher…, lass dir Zeit, lies erst dies ein oder andere. Das kann ich dir empfehlen: Ich liebe Dostojewski.“ – Das ist Größe und nicht die eitle Schwatzerei derjenigen, die ihre eigene Person und die Dringlichkeit der eigenen Ansichten vor sich hertragen.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Illusions perdues. – Wieso ist es so,dass das schönste, romantischste, bewegendste, rührendste, herzaufwühlenste Buch gegen die blasseste Schönheit von zweifellos hässlichem Charakter keine Chance hat und so attraktiv wie eine uralte Frau wirkt?

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Wider einfache Weltbilder. – Wir sind ein krankendes Geschlecht; schwitzend, von Bakterien übersät. Wir haben Bedürfnisse, geheimen Groll, Neid; die Haare fallen uns aus, die Haut geht auf mit Furunkeln; wir vertrauen, langweilen uns, sind vorlaut; pöbeln, sind übertrieben schüchtern, schwätzen Unsinn, konspirieren, sind erleuchtet, sind verblendet, eitel, machthungrig, einschmeichelnd, kriecherisch – jenseits von Gut und Böse.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vom Unglauben getragen. – Wie könnte man es nicht anbeten, das großartige formlose Unding, welches das Sein ist? Monströs wie allerfüllend. Das große Nichts, das die Alten die Hölle nannten, qualmt und beschenkt uns mit den schönsten Schatten.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Das herzliche Lachen der Literatur. – Hat jemals ein Mensch, der vor einem Buch saß, sich den Bauch und die Tränen vor Lachen halten müssen? Ich schon; aber nur in der Vorstellung – und aus Schadenfreude über solche Idiotie.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Ananke. – Weil die Literatur, obzwar sie die dümmste, platteste, schlechteste Grimasse der Zeit darstellt, doch von ihr den kleinsten Kristallsplitter Reinheit enthält, ist sie unerbittlich erbarmungslos und erschreckend in ihrer Folge. Wir wissen nur eins: Sie wird kommen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Kind in der Bibliothek. – Die Mutter muss dem Kind verbieten: „Nein, wir gehen nicht da rein!“ Das Kind sagt: „Da!“, und will ein Regal hochklettern. Bücherregale sind Klettergerüste. Weil es das nochnicht gelernt hat, läuft es wie ein Betrunkener nach seiner Mutter.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Authentisch sein wollen: Weil es sich schickt? Weil man die Halbwahrheiten satt hat? Weil man einsah, dass nur ein Eingestehen zu tieferen und offeneren Bindungen führt?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 38)

Herausragend sein wollen: Weil man Bewunderer will? Weil man es den Mittelmäßigen zeigen möchte? Weil man das Banale nicht mehr aushält?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 37)

Weil die Kritik zunehmend nicht widerlegen, sondern vernichten will, ist die gute Moral der Moderne die kategorische Revisionierbarkeit. Sein ist Versuch zum Sein. Daher bemisst sich kompetente Urteilskraft an der Distanz zum guillotinenhaften Verurteilen. Korrekte Korrektheit ist selbstironisch.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 36)

Wer nicht von sich auf Andere schließt, verpasst die Chance zu einer Welt genauso wie jemand, der von Anderen nicht auf sich schließt. Im revidierbaren Mutmaßen lichtet sich das Zwielicht des Miteinanders ein wenig und es erhöht sich die Möglichkeit zu einem halbwegs zuverlässigen Versprechen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 35)

Im Gehen wird das Denken weich und weit. Wer die Welt um sich hat, für den wird das Rechthaben zu einer unschönen Angewohnheit. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, laufen einem die Sätze wie angenehme Begegnungen über den Weg, die einen überraschen mit der Botschaft, wie wunderbar egal man doch ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 34)

Ohne Erfolge wäre das Leben ein Irrtum. Die Karriere ist die Musik des Lebens, auch für die, die sich für thymotisch unmusikalisch halten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 33)

Schonungslose Ehrlichkeit belügt sich selbst, weil es ihr nicht um Wahrheit geht, sondern um den Effekt des Entblößens als bloße Intensität des Auftrumpfens. Sie will nicht aufzeigen, sie will es den Anderen zeigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 32)

Abhängigkeit macht angriffslustig. Man will sich selber beweisen, dass man etwas ist und attackiert die lebenswichtigen Helfer, als wären sie Meuterer. Dabei ist man selbst derjenige, der meutert. Für das klassikerlose Tier gilt: Es gibt ein falsches Leben im richtigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 31)

Sich Zeit lassen, wenn die Zeit drängt. Panik macht ungenau. Fünf vor zwölf ist es immer schon für diejenigen, die überzeugt sind, genau zu wissen, was zu tun ist, ohne dass sie die Komplexität der Lage je verstanden hätten. Es ist die Tragödie des Weltgeistes, dass seine selbsternannten Apostel erst einen überwältigenden Eindruck mit ihrer Entschiedenheit machen und dann einen schockierenden Eindruck mit den Wirkungen ihrer Entscheidungen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 30)

Ein Schreibfehler. – Was heißt erwachsen werden? – ...die kindlichen Züge anlegen ...!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Geschlechterkampf. – Da weder die Auslösung des Mannes noch der Frau zur Disposition steht und politische Macht in der Regel nicht mehr mit physischer Gewalt durchgesetzt wird, sind die mächtigsten Formen der Machtausübung verdeckt: Schuld, Angst, Drohung, Beschämung, Entzug (z. B. von Liebe und Solidarität), Zurschaustellung. Sie alle operieren mit Latenzen und unsichtbaren Scheingebilden, entfesseln dieFantasie.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Gewissensqual über das Gewissen: Das Gewissen, das sich nicht selber beißen lernt, wird zum Mithelfer der Gewissenlosigkeit. Gewissen jedoch als permanenter Gewissensbiss verletzt die Freiheit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 29)

Die erzwungene Höflichkeit provoziert die Lust zur Unhöflichkeit. Die Attraktivität der Sitten bemisst sich daran, wie viel kreative Munterkeit siegestatten. Sitten, die Recht haben wollen, werden unweigerlich zu Unsitten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 28)

Aus dem gefühlten Mangel an Aufmerksamkeit als stiller Angenommenheit entsteht der Hass auf diejenigen, die einen keines Blickes mehr zu würdigen scheinen. Man unterstellt Ungerechtigkeit, wo Freiheit ist, die eine andere Wahl traf. Dies Verdächtigen verhässlicht und entfernt von der Zuwendung, nach der man so sehnsüchtig strebt. Wut, die andauert, wird Hass, der schließlich den Anderen als Gegner wahrnimmt, den man nicht mehr kritisieren, sondern nur noch vernichten will.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 27)

Schatten über der rechten Hand. – Ist der Todesengel derselbe wie der der Liebe? – Erkennen wir nicht den Schatten aneinander, überall?

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Die Freiheit in der Literatur. – Kein Mensch wird geboren und liest „die Klassiker“.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Immerhin. – Man hat als Mensch genug Zeit bekommen, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Respekt. – Da duzt man die Leute undschon verlieren die allen Respekt – Demokratie!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vorsicht. – Unsere Gesellschaft geht von der Maxime aus, dass, wenn jeder gleichmäßig durch Arbeit verbraucht und gleichzeitig durch Geld versklavt, keiner dem anderen mehr etwas antun kann – Ruhe und Frieden herrscht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

 2023. – Wenn die Vorstellung zu sterben und tot zu sein erträglicher ist als die Demütigung einer Arbeit im Büro.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Dada. – Das Heute schafft noch aus dem unsinnigsten Blödsinn eine Ideologie zu machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Das Beständige. – Wenig auf dieser Erde ist ewig und bleibt über die Zeit hinweg erhalten. Bildung nicht, Geschichte nicht, Bräuche nicht, Sitten nicht. Ewig bleiben Dummheit, Eitelkeit, vielleicht Liebe und Spaß, Tränen und Dunkelheit, weil sie Familie sind.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Theater. – Im unerträglichen Theater unserer Zeit will jeder die Guten, die Superhelden spielen und niemand die Bösen. Ihre Zahl ist deswegen zu klein und die der Guten zu hoch. Damit verflachen beide Seiten ungemein und es entsteht die billigste Seifenoper. Wären wir nicht musikalisch begleitet, wir wollten nach Hause gehen, an den Schreibtisch und unsere Charaktere nochmal gründlich überdenken und -arbeiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Mädchen mit einem Korb Erdbeeren. – Das Wetter ist schön. Ich würde eine junge Frau gegen einen Korb Erdbeeren eintauschen, mir ist sklavenherrisch zu Mute.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Gehe denen aus dem Weg, die keine Sympathie für Komplexität erkennen lassen. Der Unwille zum Komplexen ist der trotzige Halt der Haltlosen und der Jungbrunnen der Verbitterten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 26)

Umgedrehter Nietzscheanismus: Die letzten Menschen als diejenigen, die es auf sich nehmen wollen, die letzten Dingen immer wieder zu durchdenken, ohne an den Abgründen zu zerbrechen, die sich dabei öffnen. Ein besseres Beschreiben erzeugt ein Vertrauen, das mit Normalität impft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 25)

Das Ende der Geschichte kann auch gedacht werden als eine Ohnmacht der alten Deutungen in neuen Verhältnissen. Daher wird der historische Sinn gerne kulturkritisch: Da er sich keinen Reim mehr auf die Lage machen kann, werden die Dinge als katastrophisch interpretiert, anstatt die Sicht auf die Dinge zu revidieren.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 24)

Geist als Betrieb: Als museale Hochkulturmode, als andenkenlose Betriebswirtschaft oder als ressentime Kulturkritik-Industrie.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 23)

Wenn man wieder kreativ sein muss. – Wenn der heutige Kulturmensch keine Idee mehr hat, greift er in die Tastatur und schreibt etwas über die Rolle der Frau, BiPoC oder sonst etwas in der Richtung und kommt sich dabei in seiner Armseligkeit nicht nur rebellisch und progressiv vor, sondern wähnt sich auch als kreativ, wenn er mal wieder über die Rolle der Mutter im Patriarchat spricht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fitness. – Ich kann die aufgepumpten jungen Männer mit ihren hantelgroßen Wasserflaschen und Proteinpülverchen nicht mehr sehen. Soll sich in diesen Figuren der feuchte Traum Nietzsches von der Selbstüberwindung des Menschen, seines Körpers und physiologischen Organismus in Form der kommodifizierten Selbstquantifizierung vollends erfüllt haben?

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Sichtbar durch Agitation. – Der Mensch ist das schöne Tier und, ist er wohl versorgt, von außen immer würdevoll. Das will nicht mehr sagen, als dass die Hülle, die die Natur ihm gibt, auch schon das meiste ist und im inneren Hohlraum, fast nur Schatten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Wissenschaftliche Erlösung: Nach einer neuen Erkenntnis der Gehirnforschung ist es unmöglich, zugleich Angst zu haben und zu singen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 22)

Wer die Möglichkeit des Untergehens ständig für realistisch hält, hat es nötig, sich vor sich selbst unauffällig in den Imaginationen des Schlimmsten zuspüren. Der Mangel des Glaubens an sich wird kompensiert mit dem festen Glauben an die Katastrophe.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 21)

Karriere machen, ohne den Verdacht des Egoismus auf sich zu ziehen, anstrengungslos, unterambitioniert. Aber doch das Verlangen, gesehen zu werden in der bemühten Mühelosigkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 20)

Er verzichtete, aber er sah ganz genau hin, wie viel der bekam, der nicht verzichtete. Der schielende Verzicht hat die schärfsten Augen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 19)

Sinn ist der Ersatz für fehlende Initiative. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, wird offen für die Erfindung von Gründen, wer an seinem Zustand schuld sein soll. Die Langeweile der Haltlosen wird zum Verbrechen der Vitalen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 18)

Philologe sein. – Permanentes Standgericht.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Weil es Mut braucht, sich Künstler zu nennen. –  Kunst ist das Gegenteil von Angst.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Leipzig. – Neben einem anarchisch aus dem Fenster hängenden Banner mit der Aufschrift „Lützi bleibt“, das an Klassenkampf, Demo, Streik, Widerstand und Molotov gemahnt, steht das Hauptversammlungshaus der städtischen Kleingartenvereine. Noch zwei Häuserblöcke weiter, ein Yoga-Studio.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Kreative ist nicht apolitisch. Er interessiert sich nicht einmal für Politik. Erst wenn die Räume enger werden, die ihn animieren, beginnt er sich politisch zu engagieren aus apolitischen Motiven.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 17)

Der Verlierer denkt: „Die Wahrheit, die meinen Sieg verhindert, muss Lüge sein!“ Der Sieger denkt: „Solange ich den Sieg nötig habe, habe ich noch nicht gewonnen.“

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 16)

Wer lange genug allein ist, will sich selber nicht mehr verstehen. Darin liegt die Möglichkeit einer reifen Gedankenlosigkeit. Man treibt dann noch Philosophie wie man Jahreszeiten erlebt. Begriffe und Satzfolgen kommen und gehen wie Kastaniengrün und Septemberhimmel.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 15)

Im gelingenden Bewundern überwindet man sich zu sich. Die Unfähigkeit zur Einzigartigkeit steigert den Drang zur Zugehörigkeit. Wenn Konsens zum Kommando wird, wird Freiheit zur Ungerechtigkeit. Diversität als Inklusivität wäre die bereichernde Teilhabe an Liberalität, deren Bewundern man nicht teilen muss. Der Zustand eines vielfachen Desinteresses ist keine Entfremdung oder Ausbeutung. Wer seine Disziplin gefunden hat, verachtet den Einfallsreichtum der Schuldsuche.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 14)

Früher entsprach der Wahrnehmung der Schönheit das Kompliment. Heute scheint es so, als wäre es das Zeugnis einer fortgeschrittenen Form der Anständigkeit, sich dafür zu schämen, diesen Reflex der Entzückung bei sich überhaupt wahrzunehmen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 13)

Die Freudlosen werden leicht die strengen Apostel eines Sinns des Lebens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 12)

Das Gewissen wächst im Horchen auf das Bewirkte. Es formt sich als Ohr der Reue.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 11)

Seine Entscheidungen infrage zustellen, steigert den Sinn für Verantwortung. Man weiß nie, was man alles getan hat. Die Unabsehbarkeit des Anrichtens weist auf die Reue als ständige Option. Daher ist alles Handeln ein Akt der Reuelosigkeit, den man hofft, verantworten zu können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 10)

Hilflosigkeit: Der letzte Stolz.

(Michael Meyer-Albert, Neue Pfeile und Sprüche, 9)

Die Krise lehrt weite Gedanken oder sie verleiht die zweifelhafte Stärke zu einer unschönen Exzentrik.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 8)

Im fehlerhaften Menschen genießt Gott seine Unfehlbarkeit. Im unfehlbaren Gott erträgt der Mensch seine Fehlbarkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 7)

Wer das wilde Leben nötig hat, denkt nicht wild genug. Golden, treuer Freund, ist alle Theorie. Und fahl des Lebens grauer Baum.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 6)

Erst der Wille zum Nichtwissen erlaubt eine Verkörperung der Wahrheit. Das Wort darf nicht ganz Fleisch werden.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 5)

Poesie. –  Eine Definition: Die Summe all’ dessen, was keine öffentliche Redaktion, die auf ihren Ruf, ihr Image und Inserate achten will, veröffentlichen würde.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Fortschritt. – Wenn die Städter auf das Land und seine der Vergangenheit Zeit entstammenden primitiven Sitten süffisant herabblicken, blickt die Zukunft gehässig auf sie, die Idioten, herab.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Glaube daran, dass es keine Wahrheit gäbe, ist selbst wieder eine Wahrheit, die es auf Dauer nicht mit sich aushält. Zweifel wird dogmatisch, depressiv oder paranoid.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 4)

Die Einsamkeit des Philosophen ist seine gute Gesellschaft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 3)

Wissen ist Ohnmacht. Die Mutigsten beherrschen die Kunst des Vergessens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 2)

Von nichts kommt nichts? Wäre dann der, der nichts tut, schuldloser?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 1)

Nietzsche. – Es geht darum Zündkerzen in den Zeitgeist zu setzen. Entzünden sollen sie andere! Wie im menschlichen Körper ein winziger, brennender, strahlender, leuchtender Kristallsplitter Wahrheit in ein System eingesenkt reicht, um ein Gerinnsel und einen Schlaganfall auszulösen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Rotten, Tribalismus. – Der*Die Deutsche ist Neurotiker*In und chronifiziert, staatlich anerkannt feige. Talent ist in Deutschland rar gesät.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Ablehnung. – Man darf nicht vergessen, dass selbst in dem „je te déteste“ oder „tu me détestes“ eine Form von Beziehung steckt. Sie ist nicht Indifferenz, sondern eine Form von Wille, Wunsch oder Velleität des Dialogs.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Schlagfertigkeit. – Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welche geringen Anlässe die Menschen benutzen, um einer den anderen zu demütigen oder auch nur sein kleines Mütchen am anderen abzukühlen. Dennoch: Auch aus der Ablehnung kann noch eine Lust über das eigene Wachstum, eine Lust an der Ablehnung entspringen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Smalltalk. – Aus oberflächlich und anfänglichen Gesprächen lernt man manchmal Leute kennen (oder erzeugen diese Gespräche ihre Menschen?), die, wenn man ihnen zuhört, genau demjenigen Menschenbild der Konkurrenz entsprechen, von dem die Lehrbücher der Ökonomie scheiben, und es gruselt einen. – Ein Scherz, bitte ein Scherz, nur einen, fleht man innerlich! Und zeig mir, dass es ein Mensch ist! – Man einigt sich auf einige Statusmodalitäten der Berufswahl und stellt einige politische Ansichten zur Schau.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Im Dreck spielen. – Im menschlichen Verkehr liegt doch etwas Dreckiges. Die ganze Summe aus Verlogenheit, Untreue, Illoyalität und Machtspielen, die ihn so unappetitlich, aber gleichzeitig schmerzlich wie unerlässlich machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Kleinlichkeit. – Am Ende des Tages – und man glaubt es kaum – kommt es genau auf die Frage an: Willst du Kaffee oder Tee trinken? – Daran entscheidet sich alles! Ich habe mal eine Frau kennengelernt,die nicht mit der Gewohnheit vertraut war, morgens einen Tee oder Kaffee zu trinken. Sie machte sich schlicht keine Gedanken darum, trank vielleicht mal ein lauwarmes Glas Wasser. Sie ist mir dadurch unheimlich und suspekt geworden. – Einen Tag nachdem ich das geschrieben hatte ging mir mein Wasserkocher kaputt. (Höchste göttliche Ahnung!)

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fähigkeit der Vision. — Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man der Vision — das heisst einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen“ — gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

(Nietzsche, Morgenröthe, 66)

„Alle Wahrheit ist einfach.“ — Ist das nicht zwiefach eine Lüge? —

(Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 4)

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