Nietzsche POParts
Sind nicht Worte und Töne
Regenbogen und Schein-Brücken
zwischen Ewig-Geschiedenem?
Nietzsche
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arts
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Worte
und
Töne
Regenbogen
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Scheinbrücken
zwischen
Ewig-
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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches
Artikel
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Boomer, Zoomer, Millennials
Wie unterscheiden sich die jeweiligen Perspektiven auf Nietzsche?
Boomer, Zoomer, Millennials
Wie unterscheiden sich die jeweiligen Perspektiven auf Nietzsche?
Diesmal im vertraulichen Du unterhielt sich Paul Stephan mit Hans-Martin Schönherr-Mann, unserem ältesten Stammautoren, und unserer jüngsten Stammautorin, Estella Walter, über unsere unterschiedlichen Generationserfahrungen und darüber, was von dem modischen Diskurs über die unterschiedlichen „Generationen“ überhaupt zu halten ist. Wir sprachen über den Poststrukturalismus, die ökologische Frage und die Vielfältigkeit möglicher Anschlüsse an Nietzsche.
Paul Stephan: Liebe Estella, lieber Hans-Martin, wir haben uns heute im virtuellen Raum getroffen, um über die „Generationenfrage“ zu sprechen. Ein „Millennial“, ich selbst, eine „Zoomerin“ und ein „Boomer“. Der Diskurs um diese verschiedenen „Generationen“ ist ja im Augenblick en vogue, in den sozialen Medien kommt man an entsprechenden Memes und Videos ja kaum vorbei, auch das Feuilleton ist voll davon. „Zoomerin“, „Boomer“ –würdet ihr euch selbst so bezeichnen?
Hans-Martin Schönherr-Mann: Wahrscheinlich bin ich, etwas zu alt für die Baby-Boomer, eher gehöre ich zu den Prä-Baby-Boomern. Ich bin andererseits auch zu jung für die richtigen Achtundsechziger – 1968 wurde ich 16 –, eher ein Post-Achtundsechziger, der von der Erfahrung der 68er-Zeit aber politisiert und intellektualisiert wurde. Die Generation meiner jungen Lehrer, etwa eine Dekade älter als ich, war teilweise von Nietzsche und Hesse beeinflusst. Ob die noch zur „unpolitischen Generation“ der frühen Bundesrepublik gehörten, ist mir nicht klar. Aber mit Nietzsche und Hesse entwickelten sie ein individuelles Verständnis ihrer Lage, so dass sie sich nicht mehr als Teil einer Gemeinschaft verstanden, wie es dagegen seit dem 19. Jahrhundert selbstverständlich gewesen war.
Estella Walter: Lieber Paul, lieber Hans-Martin, ich selbst stehe etwas ratlos vor der Generationenfrage, vielleicht weil meine Altersgruppe gerade mittendrin steckt und eine Reflexion entsprechend schwierig ist. Das (vermehrte) Interesse an Generationen als diagnostisches Werkzeug ist aber auf jeden Fall sehr spannend. Entsprechend verstehe ich mich auch nicht als zugehörig zu der meiner Altersgruppe zugeordneten Generation. Vielmehr sehe ich es als eine mitunter recht sperrige Schablone, die in manchen Analysen Sinn ergibt und in anderen nicht. In jedem Fall scheint mir Nietzsche selbst eher wenig die Gen Z zu beeinflussen als vielmehr Denker*innen, die sich auf ihn beziehen wie etwa Michel Foucault und Judith Butler oder auch öffentliche Personen wie Jordan Peterson.
PS: Ich selbst denke, dass es so etwas wie „Generationserfahrungen“ und sich daraus ergebende gemeinsame Merkmale von bestimmten Alterskohorten auf jeden Fall gibt. In manchen Stereotypen über die „Millennials“ kann ich mich wiederfinden, in anderen weniger. Aber natürlich müsste man, wissenschaftlich gesehen, ergänzen, dass andere prägende Faktoren wie soziale und lokale Herkunft, Geschlecht, Ethnizität etc. ebenso eine Rolle spielen. Und ich glaube ja auch daran, dass die Individuen nie vollständig von diesen zahlreichen Faktoren determiniert werden, sondern ihre Identität auch immer das Produkt einer individuellen Wahl ist – erst recht, wenn man um diesen Generationsdiskurs weiß und sich von den jeweiligen Stereotypen bewusst distanzieren kann; oder eben auch nicht.
SM: Dem kann ich nur zustimmen. Aber wir stellen uns ja hier der Generationenfrage. Andere Faktoren sind dann wichtig, wenn sie diese Frage tangieren. Meine Generation, soweit sie politisch war, stand Nietzsche aus marxistischer Perspektive eher ablehnend gegenüber. Anfang der siebziger Jahre war die Neuedition von Giorgio Colli und Mazzino Montinari auch noch nicht so verbreitet und bekannt – in Nicht-Nietzscheaner-Kreisen –; der erste Band auf Deutsch erscheint 1967, die Kritische Studienausgabe vollständig erst 1980. Aber es gab auch in meiner Generation eher künstlerisch orientierte Zeitgenossinnen, die sich auch auf Nietzsche beriefen. Ich kann freilich nicht mehr sagen, inwieweit dabei die diversen neuen Auslegungsfragen schon eingingen. Wahrscheinlich waren sie eher von den älteren Hesse-Fans dazu inspiriert worden.
Jene, die künstlerisch orientiert waren, haben wahrscheinlich sein Kunstverständnis des Dionysischen reflektiert. Vor allem hat sich ja durch die Rockmusik ein solches Element massiv verbreitet, verbunden natürlich auch mit Drogenerfahrungen, die jedenfalls teilweise auf eine Bewusstseinserweiterung oder zumindest neue Erfahrungen zielten, die man dann auch mit dem Zarathustra in Verbindung bringen kann: neue Werte erfinden. Die Politischen in meiner Generation waren sicher von Marx und Adorno beeinflusst und folgten noch der dort verbreiteten Ablehnung Nietzsches beruhend auf jener Auslegung, die Nietzsches Schwester befördert hatte. Wenn man sich vom französischen Existentialismus beeinflussen ließ, dann kam man Nietzsche wieder näher. Aber die Nähe zwischen beiden war nicht allzu bekannt.
PS: Was Nietzsche angeht, würde ich auch sagen, dass für meine Generation andere Denker weitaus wichtiger sind. Foucault und Butler auch, aber viele lasen auch Adorno und Marx sowieso in ihren prägenden Jahren. Besser als „Millennial“ gefällt mir das Attribut „Generation Bildungsstreik“, auch wenn es natürlich nicht meine gesamte Alterskohorte bezeichnet. Aber ich denke, alle, die um 2010 herum studiert haben und halbwegs politisch interessiert waren, wurden irgendwie von der großen Bildungsstreikbewegung geprägt. Zu Nietzsche kamen wir erst über Umwege und immer aus einer politischen Perspektive heraus, auch wenn seine Gedanken zum Bildungssystem teilweise mit unseren Forderungen nach einer echten Bildung statt bloßer Ausbildung korrespondierten. Teilweise diente Nietzsche aber auch als Sprungbrett, um ein wenig aus der starken Politisierung des Diskurses auszubrechen und die Dinge aus einer eher existenzialistischen, individuellen und künstlerischen Perspektive heraus zu bedenken.
EW: Einen gemeinsamen Nenner zu finden, wer unter den Studierenden (außerhalb der Uni stoße ich eher selten auf jemanden, der Bezugspunkte zu Nietzsche hat) sich für Nietzsche interessiert, ist nicht so leicht. Ich denke, ähnlich wie bei dir, Paul, stößt man eher durch Umwege oder Zufälle auf seine Werke. Natürlich gibt es die (links-)politisch Orientierten, die vom Poststrukturalismus her kommen, dann gibt es aber auch die Lehnstuhl-Philosophiestudierenden, die sich strikt fachlich für ihn interessieren und solche, meistens aus der analytischen Philosophie, die Nietzsche wenn überhaupt als literarischen Zeitvertreib, nicht als Gegenstand der philosophischen Auseinandersetzung betrachten. Selbstverständlich finden sich hier und da auch jene, die Nietzsche zum Selbsthilfe-Guru verkommen lassen. Das mag unter anderem daran liegen, dass Nietzsche eine derart breite Projektionsfläche bietet, vor allem rhetorisch ist für jeden ein passender Slogan dabei. Seine Ambiguität macht ihn ja gerade so interessant.
Für die die Gen Z betreffenden Geschehnisse, die Zeuge unserer widersprüchlichen Zeiten sind (Klimawandel, reaktionäre Spaltung der Gesellschaften, Identitätspolitik, kolonialer Hangover, globale Ausbeutungsverhältnisse usw.) ist Nietzsches eigene Widersprüchlichkeit unleugbar von Aktualität, sie ist wie ein Spiegel, eine Konfrontation mit uns selbst. Allerdings spielt er in der politischen Auseinandersetzung mit all diesen Geschehnissen und den Umgang mit ihnen eine geringe Rolle. Anders als Marx oder Adorno verbleibt er meistens in den Seminaren und Lehrbüchern, selten schafft er es auf die Straße.
SM: Zunächst noch zur Bildung: Meine Generation und die von 68 forderten fleißig Reformen – man denke an die Parole: „Unter den Talaren der Muff von 1.000 Jahren.“ Aber sie bekamen letztlich eine Verschulung, die sie dann später selber umsetzten. Das hat wenig mit Nietzsche zu tun, höchstens der damit verbundene Anspruch auf Selbstentfaltung, der diesen Generationen durch die alte Uni verstellt schien – welch ein Irrtum, bot die alte dazu immer noch mehr Möglichkeiten als die späteren reformierten Unis. Die Politischen unter uns hatten denn auch mit einer Spaltung der Gesellschaft kein Problem. Die erschien immer schon gespalten und die heutige Rede davon ist eine merkwürdige Romantisierung nach der Integration von Linken und Grünen in den Politikbetrieb. Meine Generation der Siebziger orientierte sich ökologisch – da passte höchstens eine gewisse Naturromantik zu Nietzsche. Ich habe Nietzsche in den Achtzigern dann als Wissenschaftskritiker ökologisch gelesen – eine Lesart die bis heute niemandem gefällt. Aber es gab auch eine politische Richtung, die sich vom dogmatischen Marxismus abkehrte, die ich vielleicht „spontaneistisch“ nennen möchte und die über die Poststrukturalisten auf Nietzsche kam. Wie schnell sich Foucaults genealogische Wende der siebziger Jahre danach verbreitete, ist fraglich. Ende der Siebziger aber dürfte sie durchgesickert sein. Trotzdem hat sich Nietzsches und Foucaults Moralkritik wohl eher wenig verbreitet. Schließlich boomte in jenen Jahrzehnten die Ethik. Da wollte kaum jemand eine Kritik an der Ethik hören, zu der ich im Anschluss an Nietzsche und Foucault bis heute neige.
EW: Mit der poststrukturalistischen Leseart bin ich vertraut, wie aber genau lässt sich Nietzsches Wissenschaftskritik ökologisch lesen?
SM: Nach Nietzsche erfasst man die Natur nicht, wie sie wirklich ist. Dann muss man umso vorsichtiger mit ihr umgehen. Ökologische Technik wäre dann nicht die Antwort, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass die Wissenschaften wirklich erzählen, was da passiert.
EW: Verstehe. Das Argument scheint mir mittlerweile aber doch verbreitet. Oder zumindest die Skepsis gegenüber einem technologischen Lösungsansatz in Anbetracht limitierten Wissens über die Natur.
SM: Dann könnte die Letzte Generation aber nicht behaupten, sie wäre die letzte, die noch was gegen die Klimaveränderung tun könnte – jedenfalls mit Nietzsche kann die Klimaveränderung nicht mehr als eine Prophezeiung sein. Die Grünen sind längst szientistisch und technizistisch.
PS: „Skepsis“ ist ein gutes Stichwort. Die „Millennials“ scheinen eine sehr skeptische und zögerliche Generation zu sein. Ob im Privaten, im Politischen, im Philosophischen: Man will sich nicht festlegen und sich alle Optionen offenhalten. Das treiben wir manchmal bis zum Exzess. Die vorhergehenden und nachfolgenden Generationen scheinen mir oft mehr Mut und Entschlossenheit aufzuweisen.
Das drückt sich meines Erachtens in der Dominanz von Foucault in meiner Generation aus. Zumindest die Geisteswissenschaften und der feuilletonistische Diskurs stehen ganz im Bann eines seichten Postmodernismus. Ein bisschen Hedonismus, ein bisschen Relativismus, viel Skepsis, aber doch auch kein regelrechter Skeptizismus. Ein bisschen wie South Park oder Vice. Dazu passt Nietzsche eigentlich, aber nur ein bestimmter, stets durch den Blickwinkel der Postmoderne gelesener Nietzsche. Ich denke, um uns aus unserer generationellen Lähmung zu befreien, müssen wir diese Denkweise hinter uns lassen. Eine Wiederentdeckung Nietzsches – aber sicher auch des echten Foucault beispielsweise, der von seinem common sense-Zerrbild natürlich sehr verschieden ist – könnte dabei helfen.
EW: Diese Denkweise, von der du spricht, zieht sich durch die Generationen. Das Gefühl der Machtlosigkeit und Lähmung, der Bedeutungslosigkeit in Anbetracht der verzweifelten Lage, ist nicht weniger in den darauffolgenden Generationen zu beobachten. Es ist eben der Nihilismus des „letzten Menschen“ von dem Nietzsche spricht. Die Politisierung z. B. der Gen Z mag dem widersprechen, schließlich fordert sie ja Veränderung und Neuaufbrüche. Doch muss auch dort auf die Wege und Methoden geschaut werden. Aktivismus findet auf den sozialen Medien statt, der hört sich allerdings eher nach moralischen Schreien an, die die materielle Basis der Probleme nicht berühren. Gleiches gilt für Aktivismus, der auf den Straßen stattfindet: Demonstrationen in der Größenordnung, wie wir sie kennen, sind hauptsächlich von symbolischer Natur. Subversive Störungen und Unterbrechungen einiger kleinen Gruppen provozieren zwar einen Aufschrei, ändern langfristig allerdings wenig, sofern sich keine kollektive Organisierung daraus entwickelt.
Zu Hans-Martins Einwand möchte ich noch kurz anmerken: Da stimme ich dir zu. Allerdings gibt es durchaus immer wieder Stimmen, die technologische Lösungsansätze, solange sie noch kapitalistischen Gesetzen folgen, kritisieren. Damit verbinde ich auch den Einwand, dass die Natur eine unberechenbare und unser Wissen über sie ein notwendig eingeschränktes ist. Sie der Technologie, deren Entwicklung zumal an profitmaximierende Gesetze gebunden ist, zu unterwerfen, birgt Gefahren. Wobei das vielleicht ein anderer Aspekt ist …
Was für ein ökologisches Vorgehen würdest du denn vor dem Hintergrund der epistemologischen Probleme vorsehen? Irgendwo muss man ja anfangen, wenn auch nicht unter wissenschaftlicher und technischer Vorherrschaft.
SM: Beide Einwände sehe ich aus der Perspektive meiner Generation freilich anders. Mir scheint eher eine politische Selbstherrlichkeit zu herrschen und der Skeptizismus in der Bevölkerung ist kein philosophischer, der wirklich an den Wissenschaften im Stile von Nietzsches Morgenröthe zweifeln würde. Die Leute wissen nicht mehr wohin die Reise geht, weil sich ein Zweifel am Fortschritt verbreitet hat. – Andererseits erwarten immer noch viele ihr Heil von den Institutionen, kehrt hier doch eine Staatsgläubigkeit wieder. Ich kann das generationenmäßig nicht zuordnen. Aber in den Führungspositionen sitzen noch meine Generation und die nachfolgende und die bestimmen die öffentliche Meinung, die freilich die neuen Medien nicht mehr kontrolliert – daher das Gejammere. Zugleich denken alle Generationen, dass sie keine Macht und keinen Einfluss haben. Dazu sollte man doch bei Foucault nachschauen. Jeder und jede beeinflusst das Geschehen. Aber die Intellektuellen, nicht zuletzt Nietzsche beschweren sich permanent, dass sie so einflusslos wären, dabei wissen sie es doch genau. Aber auch der Intellektuelle ist nur ein einzelner Mensch und Expertenherrschaft erlaubt ihm noch weniger Einfluss als die Herrschaft von Staat und Kapitalismus. Der Kapitalismus ist mit der Umwelt besser umgegangen als der ehemalige Sozialismus. Alternativen sind nicht in Sicht. Da halte ich es doch lieber mit dem Nietzsche-Rezipienten Heidegger. Der Mensch ist nicht Herr des Seins. Mit vermeintlicher Tatkraft entstehen mindestens so viele Probleme wie diese löst. Statt Handeln fordert Heidegger Denken. Wenn die Wissenschaften freilich die Frage nach dem Sinn von Sein stellen, wären sie nicht mehr so erfolgreich. Aber vielleicht wäre das das Gebotene. – Man muss die 11. Feuerbach-These umdrehen: Wer die Welt verändern will, muss sie erst anders verstehen. Und genau das hat Marx gemacht, Nietzsche freilich auch. Wer war einflussreicher? Mit der Idee der ewigen Wiederkunft des Gleichen womöglich heute Nietzsche.
EW: Den meisten von dir angesprochenen Punkten stimme ich tatsächlich zu. Deshalb ja meine Einschätzung, dass das Gefühl der Machtlosigkeit ein generationsübergreifendes Phänomen ist und sich selbst immer neuen Stoff zur Selbstbestätigung gibt. Dann folgt als Konsequenz der propagierten, vermeintlichen, Ohnmacht die Suche nach neuen Göttern (Staat, Identität, Kapital, Wahrheit etc.). – Denken und Handeln schließen sich meines Erachtens aber nicht aus. Wer sich ins Innere vergräbt und lediglich in platonischen Wolken lebt, wird sich ebenso wenig verändern wie jene, die sich vom gedankenlosen Handlungszwang treiben lassen. („Handeln“ darf hier allerdings nicht im Sinne einer rationalen Ursache-Wirkungskette verstanden werden).
Du bist mir aber noch eine Antwort auf die Frage schuldig geblieben, was für ein ökologisches Vorgehen du vor dem Hintergrund der epistemologischen Probleme vorsehen würdest.
SM: Das ist letztlich die Frage, welchen Stellenwert man der ökologischen Problematik einräumt, die momentan doch große Beachtung findet. Und viel ist auch seit den siebziger Jahren passiert. Das ging von linken Bürgerinnen aus meiner Generation aus. Viele haben Bioläden aufgemacht. Man sollte dem eher individuell als staatlich begegnen. Das scheint mir nachhaltiger. Staatsmänner, auch Frauen, können das nicht. Die Bürgerinnen müssen es selber machen und den Staat veranlassen, sie dabei zu unterstützen. Aber politische Probleme sind nicht monokausal, sondern es gibt viele verschiedene, die genauso wichtig sind. Ich denke, dass man dabei von Nietzsche viel lernen kann. Aber es ist klar, das betrifft primär Intellektuelle, wiewohl Nietzsche sicher einer der wenigen Philosophen ist, der auch außerhalb der Philosophenzunft rezipiert wird.
PS: Ja, da scheint es mir auch wieder eine generationelle Differenz zu geben. Bei meiner Generation nehme ich es so wahr, dass für uns, jedenfalls um 2010 herum, die ökologische Frage vollkommen nachranging gewesen ist. Da haben wir uns nicht so sehr drum geschert, sondern eher um die erwähnte Frage nach einem guten und gerechten Bildungssystem, die Friedensfrage (Stichwort Irak-Krieg) und der uns möglich erscheinende Kollaps des Finanzsystems in Folge der Krise von 2008. Ein wenig komisch, im Nachhinein betrachtet. Vielleicht wollten wir uns damit auch von den Älteren abgrenzen, denen diese Problematik so wichtig war. Und wir waren, bei aller Politisierung, doch auch sehr individualistisch drauf und hätten nicht im Traum daran gedacht, auf unsere Billigflüge quer durch Europa und Fleisch zu verzichten – das sind alles Themen, die erst ein wenig später aufkamen, auch wenn meine Generation in dieser Hinsicht inzwischen „aufgeholt“ hat, wenn man so sprechen mag.
Den letzten Aspekt, den du aufgebracht hast, Hans-Martin, finde ich aber auch noch wichtig, hervorzuheben. Ich kenne sehr viele Menschen, die niemals studiert, aber Nietzsche gelesen haben und etwas mit ihm anzufangen wissen. Da gleicht er ein wenig Kafka, auch Marx. Das sind alles Autoren, die „populär“ sind. Man darf die Geschichte der Nietzsche-Rezeption nicht bloß als Geschichte seiner akademischen Kommentierungen schreiben, sondern muss sie viel breiter erzählen, sonst nimmt man nur die Spitze des Eisbergs in den Blick.
1, 2, 3…
Zur neuen Dauerausstellung im Naumburger Nietzsche-Haus
1, 2, 3…
Zur neuen Dauerausstellung im Naumburger Nietzsche-Haus
Seit 1994 befindet sich in jenem Haus in Naumburg, in welchem Nietzsche nach seinem geistigen Zusammenbruch 1889 mit seiner Mutter mehrere Jahre lang lebte, ein Leben und Werk gewidmetes Museum. Anlässlich des dreißigjährigen Jubiläums seines Bestehens wurde die Dauerausstellung des Nietzsche-Hauses vollständig umgestaltet, kuratiert vom Berliner Philosophen Daniel Tyradellis. Unser Stammautor Lukas Meisner war vor Ort und hat sie sich angesehen.
Es ist ein faszinierendes Fleckchen Land, die Thüringer Städtekette. Im Westen die Lutherstadt Erfurt mit ihrem mittelalterlichen Kern und ihrem etwas anderen „Speckgürtel“ aus Jugendstil; im Osten Jena, das Herz des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik gleichermaßen; in deren Mitte Weimar, seinerseits das Zentrum der deutschen Klassik, der Musikhochschulen, der ersten Republik, des Bauhauses – aber auch: Nietzsches Sterbeort.
Nicht weit von dieser geistesgeschichtlich bedeutsamen Städtekette liegt, im idyllischen Saale-Unstrut-Delta, Naumburg. In dieser wunderschönen Stadt verbrachte Nietzsche seine Schulzeit und jene Jahre der ‚geistigen Umnachtung‘, in denen er von seiner Mutter gepflegt wurde. Immer wieder kehrte er hierher – Zeit seines Lebens – zurück von seinen ausgedehnten Wanderungen in der Schweiz und in Italien. Hier, im Weingarten 18, wo Nietzsches Mutter ab 1858 lebte, befindet sich bis heute das Nietzsche-Haus, in dem eine neue Dauerausstellung auf ungewöhnlich ästhetische Weise das Denken und die Biografie des Philosophen näherbringt. Fünf ausgedehnte Audiospuren – auf Deutsch oder Englisch – führen in 1, 2, 3… Nietzsche die Gäste durch neun mitunter beengte Räume über zwei Stockwerke hinweg. An Kinder ist dabei ebenso gedacht, wie an jene, die Nietzsches Nähe zum Tierischen und zum Dinghaften für fundamental halten; denn der Mensch ist kein Hinterweltler, kein Transzendenzanhängsel, sondern ein Irdischer, Hiesiger und damit so leiblich wie materiell wirkende Wirklichkeit.
In der Audiospur der Ausstellung zu Nietzsches Leben fasziniert neben seiner Berufung mit 24 Jahren auf eine Professur in Basel (noch bevor er promoviert wurde) und seine ausgedehnten Wanderjahre nach der verfrühten Pensionierung aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes vor allem sein „Turiner Erlebnis“. In diesem warf er sich, der Überlieferung nach, einem gequälten Pferd wie schützend um den Hals, was laut offizieller Erzählung den Anfang seines „Wahnsinns“ markiert. Wahnsinn noch wird so sinnlich vermittelt; die Anekdote wirkt wie ein Beweis gegen die Lehrmeinung für all jene, die ihm gegenüber offen sind: Vom Willen zur Macht der Quälenden, vom Mitleidlosen der Herrschenden war der Mensch Nietzsche augenscheinlich weniger erfreut als seine Lehre es vermuten lässt. Ja, es scheint, als sei er von kaum etwas so abgestoßen gewesen wie von „blonden Bestien“ und deren brutalem „Übermenschentum“. Das Museum legt diesen Schluss zwar nicht nahe, behandelt Nietzsches animalische Epiphanie aber mit entsprechender Sympathie.
Der neuen Dauerausstellung ist darüber hinaus zeitgemäßer Geschmackssinn zu diagnostizieren. Doch war Nietzsche nicht ein Unzeitgemäßer? War er nicht ein Verächter des Geschmacks und der Mode? Texttafeln jedenfalls hat 1, 2, 3… Nietzsche kaum und dafür umso mehr Gimmicks, was sich in gewissem Sinne passend ins Stadtbild Naumburgs zu Postwendezeiten einfügt – wo einzig die Fassaden noch vom Bunten handeln. Die Präsentation des Museums spiegelt dergestalt das Museale seiner Umwelt wider, wobei der frühe Nietzsche dem sicher nicht mit Wohlgefallen begegnet wäre. Auch vermittelt sie dem Besucher eher oberflächliches und unkritisches als tiefgreifendes oder neues Wissen. Die Adressaten scheinen der Form wie dem Inhalt nach folglich mehr Bekenner als Kenner Nietzsches zu sein – mehr aus der Popkultur als durch philosophische Studien informiert. Gerade für diese Adressaten andererseits hält sie wichtige Korrekturen altbewährter Vorurteile bereit.
Etwa klärt sie darüber auf, dass Nietzsche eben kein Nihilist (sondern, zumindest dem Selbstanspruch nach, Anti-Nihilist) war und dass sein Bonmot „Gott ist tot“ komplexer (ja, letztlich anders) zu verstehen ist, denn als resümierendes Konstatieren eindimensionaler Modernegläubigkeit. In dieselbe Kerbe hauend, jedoch seinerseits klischiert, scheint das hauptsächliche Feindbild von 1, 2, 3… Nietzsche die Habermassche Problematisierung der nietzscheanischen Einebnung der Differenz zwischen Philosophie und Literatur zu sein. Diese Problematisierung allerdings versäumt es ihrerseits, Habermas‘ Überidentifizieren Nietzsches mit dem Poststrukturalismus (aus dem Philosophischen Diskurs der Moderne bekannt) zu hinterfragen, was Wege sowohl über den Hegel der Bundesrepublik Habermas’ wie über die Neokonservativen des neuen Geists des Kapitalismus – die Poststrukturalisten – hinaus hätte eröffnen können.
Fraglich bleibt demgemäß auch, ob im Falle Nietzsches, wie es die Ausstellung suggeriert, überhaupt von Begriffen – in Sachen „Wille zur Macht“ oder „ewige Wiederkunft“ – gesprochen werden kann, wenngleich die Auswahl dieser in den Museumsräumen durchaus überzeugt. Schließlich philosophierte hier ein Wanderer mit seinen Schatten und einem Hammer, kein Systematiker mit Enzyklopädie und dialektischer Methode. Dennoch wird der Nietzsche-Neugierige in 1, 2, 3… nicht nur über dessen Gegenmethode der Genealogie und der Ästhetik (der Schein kommt vor dem Bewusstsein!) in Kenntnis gesetzt, sondern auch über heute – nicht zuletzt politisch – zentrale Konzepte wie „Ressentiment“ oder „Nihilismus“. Letzterer freilich wird fragwürdigerweise erörtert als „von Nietzsche geprägt“ und als bloße Gegenwartsbeschreibung des späten 19. Jahrhunderts, statt ihn jenseits seiner russischen Entstehungsbedingungen – und mit Nietzsche – in eine Doppelverbindung zu Religion und Szientismus zu bringen, die bis heute Bestand hätte.
Nicht zuletzt dürfte es Nietzschekenner wenig überzeugen, in dessen „Erd-Regierung“, die Sklaverei, Feudalität und Ungleichheit heranzüchten sollte (wie noch der zynische Postkritiker Sloterdijk erinnerte), nichts als eine Verteidigung der „Vielfalt“ wiederzufinden, wie 1, 2, 3… vorschlägt, als sei ausgerechnet Nietzsche der erste Linksliberale gewesen. Die Verteidigung der „Fernstenliebe“ hingegen, die allen Nationalismus und einigen Antisemitismus (wenngleich bei Nietzsche leider kaum Rassismus) ausschließt, als den essentiell anti-essentialistischen Beitrag Nietzsches zu Zeiten des Neochauvinismus hervorzuheben, ist definitiv ein Verdienst der neuen Ausstellung im Nietzschehaus.
Aller Kritik ungeachtet bietet 1, 2, 3… dem Besucher einen vergnüglichen, leichten, unterhaltenden und gleichsam bildenden Nachmittag auch zu Werktagen, an denen das Museum von 14 bis 17 Uhr geöffnet hat (außer montags). Es dürfte eine geeignete Zeitspanne sein, um sich die verschiedenen Tonspuren anzuhören und – entlang ihrer – diverse akustisch vermittelte Erfahrungen derselben haptisch einholbaren Räumlichkeiten zu durchleben. Zwar widersteht auch die neue Ausstellung nicht vollends der Versuchung, Nietzsche zu romantisieren bzw. zu heroisieren; Menschen, die Nietzsche schon seit Jahren und Jahrzehnten lesen, dürfte jener Mensch, der vom Übermenschen schrieb, durch sie dennoch ein ganzes Stückchen näherkommen. Gerade dieses Näherbringen des Menschen Nietzsche ist am dankbarsten hervorzuheben in unserer Epoche hegemonialer Selbstabschaffung des Menschen, die ideologisch von anti-, trans- und posthumanistischen Avantgarden vorauseilend eingeholt zu werden versucht wird. Nietzsche jedenfalls war noch ein Mensch, dem lediglich das Ziel und dergestalt die Gattung fehlte, nicht aber die Menschlichkeit, wenn es ums Leiden eines Tieres ging.
Im besten Sinne könnte 1, 2, 3… insofern dazu beitragen, Orte wie Naumburg, Jena und Weimar, Figuren wie Nietzsche, Hegel und Goethe geistesgeschichtlich wieder füreinander zu öffnen: Denn Nietzsches proteleologische Frage nach dem selbstbestimmten Ziel des Menschen, das Authentizitätsideal der deutschen Romantik, die rationale Gesellschaft des deutschen Idealismus und die adäquate Ordnung des guten Lebens (deutsche Klassik) gehören jenseits aller bildungsbürgerlichen Ressentiments zusammen – vor allem aber: jenseits aller Deutschtümelei.
Link zur Internetseite des Nietzsche-Haus mit weiteren Informationen.
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Artikelbild: Front des Nietzsche-Hauses in Naumburg
Das Haus des Scheins
Präludien über den Zusammenhang von Architektur und Denken bei Nietzsche mit ständiger Rücksicht auf ein Buch von Stephen Griek. Eine Rezension
Das Haus des Scheins
Präludien über den Zusammenhang von Architektur und Denken bei Nietzsche mit ständiger Rücksicht auf ein Buch von Stephen Griek. Eine Rezension
Eine fruchtbare Methode innerhalb der Philosophie kann darin liegen, sich scheinbar nebensächlichen, alltäglichen Themen zuzuwenden. So in etwa dem Verhältnis von Denken und Architektur, wie sich dieser Text anhand des neu erschienen Buches Nietzsches Architektur der Erkennenden von Stephen Griek aufzuzeigen bemüht. Mit Nietzsche gedacht, so Michael Meyer-Albert, ist der Schutz einer Behausung – im wörtlichen wie übertragenen Sinne – vor dem Chaos der Wirklichkeit unabdingbar für ein gelungenes Weltverhältnis. Dies kommt ihm in Grieks postmodernem Ansatz, der auf maximale Öffnung abzielt und an die Stelle klarer räumlicher Strukturen diffuse nomadische Netzwerke setzen möchte, zu kurz. Architektur als Kunst der nichtgewaltsamen Verwurzelung werde so undenkbar; das „Haus des Scheins“, das die menschliche Existenz trägt, kollabiere.
„Nicht zuviel Sonne, das Licht wird verkannt, die Dämmerung ist die eigentliche Menschheitsbeleuchtung.“ (Benn, Drei alte Männer)
I. Wohltemperierte Weltoffenheit
Wohnen kann man nicht nur in Häusern. Auch eine Sprache, ein Rechtssystem, Sitten oder Traumwelten können Wohnungen sein. Überall dort, wo Fremde sich in Vertrautheit verwandelt und Vertrautheit eine Lebendigkeit gewinnt, die zu einer „schönen Fremde“ (Eichendorff) wird, wird gewohnt. Leben schafft sich durch Symbole, Phantasien und Rituale ein Haus der Existenz. Es beseelt sich durch sein Schaffen selbst. „Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde.“ (Hölderlin) Architektur ist insofern nur eine weitere Form einer existenziellen Weltbefreundungsbewegung. Im Dämmer der Konstruktionen kann das Leben aufleuchten.
Ausgehend von ästhetischen Spekulationen zur griechischen Tragödie gelangt Nietzsche schon früh in seiner Philosophie zu einem existenziell-architektonischen Verständnis des Lebens. Realität versteht er als existenzielle Dialektik von den Kräften des Dionysischen – des Ekstatischen, Ausbruchhaften – und des Apollonischen – als traumhafte Verklärung und Formgebung. Zentral, und das gilt für Nietzsches gesamte dramatische Philosophie – auch wenn sich nach seiner „Kehre“ in Bayreuth 1876 ein deutlicher Wandel weg von der Tragödie hin zur Komödie in seinem Denken durchsetzte –, ist hierbei der Vorrang der Ordnung vor dem Chaos. Weil Existenz mit einem Übermaß von Fremde konfrontiert ist, ist Leben, das lebt, konstitutiv apollinisch. Auch alle dionysischen Ausbrüche ereignen sich nur aus dieser lebenswichtigen Verklärungsintegration heraus:
Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch? – so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosen Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth machen und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen.1
Das Apollinische gewinnt dann in Nietzsches Phase des „freien Geistes“, nach dem schmerzlichen Bruch mit Wagner, eine erweiterte Bedeutung im Begriff des „Scheins“. Schein wird zur lebensnotwendigen Kompensation für die Abgründe der Wahrheit, mit denen sich nicht leben lässt. Gelingendes Leben benötigt eine Architektur des Scheins. Die ästhetische Verklärung des apollinischen Traumes wandelt sich dabei für Nietzsche zu einer schonenden Theorie. Diese verkörpert sich einerseits in wohlwollenden, ermutigenden Deutungen und andererseits in einer therapeutischen Ausblendung von unintegrierbaren Tatsachen. So beschreibt Nietzsche die aufgeklärte Nicht-Aufklärung als „Entschluss zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschliessung, ein Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem Dinge, ein Nicht-heran-kommen-lassen, eine Art Vertheidigungs-Zustand gegen vieles Wissbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit dem abschliessenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gutheissen der Unwissenheit.“2
Man könnte in Nietzsches Gedanken ein Vorspiel sehen für ein in der Anthropologie des 20. Jahrhunderts etabliertes Verständnis des Humanum als ein Wesen, das, anders als das von seinen Instinkten geleitete Tier, weltoffen ist. „Weltoffenheit“ – ein von Max Scheler geprägter, in Johann Gottfried Herders Denken präformierter Begriff – taucht in der Philosophie in substanzieller Mächtigkeit zuerst bei Heidegger in Sein und Zeit auf. Dort gelingt eine begriffliche Konkretisierung, die Nietzsches gesamtes Verständnis der rationalen Existenz des freien Geistes formelhaft expliziert: „Die Gestimmtheit der Befindlichkeit kontituiert existenzial die Weltoffenheit des Daseins.“3
Nietzsches existenziell-architektonisches Denken kommt in Heideggers Worten zur Sprache. Das Leibdenken des freien Geistes, der ein Haus des Scheins benötigt, um in der Weltoffenheit wohnen zu können, hat sich in einem Gehäuse von guten Stimmungen zu situieren. Als Architekt des Vitalen baut man an seiner Lebendigkeit, indem man sich bestimmten Einflüssen – etwa Gebirgsseen, großmütigen Menschen, Musik von Bizet, dem Klima Liguriens etc. – aussetzt. Was Heidegger nicht reflektiert, ist der Aspekt der regulierbaren „Geworfenheit“ als bewusster Wille zum verklärenden Schein. Nur eine apollinisch wohltemperierte Befindlichkeit vermag überhaupt eine Offenheit zur Weltoffenheit zu entwickeln. Das Chaos der Nerven differenziert sich partiell versiegelt zu einem Kosmos, der das Leben zum Leben als Weltoffenheitsbürger motiviert. Erst als proportionierte Dimmung der Realitäten entsteht das Dämmerlicht, das einer hochnervösen Weltoffenheit die Konturen der Welt geordnet präsentiert und ein Leben ermöglicht, das „Weltvertrauen“ (Heidegger) besitzt und vererben kann. Daher benötigt das „noch nicht festgestellte Thier“4 Mensch einen Filter, einen Schutz, ein Haus für das Sein, um der vita contemplativa nachzugehen. Erst wenn die Welt nicht nervt, kann sie „welten“ (Heidegger). Ohne eine stimulierende Innen- und eine schützende Außenarchitektur des Lebens kann es keine welthaltige Philosophie geben.
II. Gegen den Baum
In seinem kürzlich erschienenen Buch Nietzsches Architektur der Erkennenden5 hat der in Genf ansässige Stadtplaner und Professor für Architektur Stephen Griek eine großangelegte essayistische Meditation über den Zusammenhang von Denken und Bauen verfasst. Den Titel des Werks hat er einem Aphorismus Nietzsches entnommen, den er ihm auch als Motto vorangestellt hat. Darin heißt es:
Es bedarf einmal und wahrscheinlich bald einmal der Einsicht, was vor Allem unseren grossen Städten fehlt: stille und weite, weitgedehnte Orte zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen Hallengängen für schlechtes oder allzu sonniges Wetter, wohin kein Geräusch der Wagen und der Ausrufer dringt […] Bauwerke und Anlagen, welche als Ganzes die Erhabenheit des Sich-Besinnens und Bei-Seitegehens ausdrücken. […] Wir wollen uns in Stein und Pflanze übersetzt haben, wir wollen in uns spazieren gehen, wenn wir in diesen Hallen und Gärten wandeln.6
Griek lässt sich von diesen Formulierungen inspirieren und bemüht sich die verwandte Grundstruktur von Denken und Architektur herauszustellen. Dabei liegt für ihn die Gemeinsamkeit darin, dass beide in der Form des Entwurfes die Realität gestalten (vgl. S. 46). Architektur kann er durch diese Idee als eine Form der Konzeptionalität begreifen, durch die Menschen die Welt deuten. Nah bei Nietzsche ist Griek darin, dass Denken als eine Kunst angesehen wird, deren Kreativität primär negativ zu verstehen ist. Kunst lässt weg, Denken reduziert, Architektur begrenzt: „Architektur […] ist also ein Ausschneiden, Vereinfachen, Reduzieren, Abstrahieren des Außen, der Welt (Raum ist nicht einfach da, sondern ein bewusster Ausschnitt aus dem Außen, Raumschaffen ist Ausscheiden).“ (S. 214) Architektur denkt und Denken ist Architektur als Schaffen von Raum aus Chaos durch „regulative Fiktionen“ (S. 160).
Nietzsches Idee des Scheins wird so aufgenommen und betont polemisch gegen einen Begriff der Wahrheit gewandt, der sich an dem Verständnis einer hierarchischen Ordnung orientiert; eine Wahrheit, deren Wesenhaftigkeit feststeht und deren Struktur nur entfaltet werden muss. Emblematisch ist dabei für Griek das Bild des Baumes (vgl. S. 21 f.). Er nennt als Ursprung dieses Gedankens den Text A City is not a Tree von Christopher Alexander aus dem Jahr 1965 und merkt an, wie Gilles Deleuze dieses Bild auf die gesamte westliche Ideengeschichte anwendete. (Vgl. S. 20f.)
An einer Kritik gegen diesen in seinen Augen innovationsfeindlichen, totalitären Begriff der Wahrheit reibt sich Griek jedoch auf. Das führt dazu, dass seine immense Bandbreite an herangezogenen Fakten und Ideen verklumpt. Sein interessanter Ansatz, dass Strukturen der Architektur Strukturen des Denkens und vice versa darstellen und sein stellenweise nachvollziehbares Plädoyer für eine „Kultur des Werdens“ (S. 39) verpufft so in einer sehr gelehrten Polemik. Aus der Kritik am Baum entfaltet sich keine Skizze einer alternativen Organik, sondern alles wird einem monotonen Angriff auf das klassische Sein untergeordnet. So essayhaft sich Grieks Text auch ausnimmt, so absehbar baumhaft wird er selbst in seiner Konfrontationshaltung.
Hinzukommt, dass Griek von seinem Ansatz her eine Offenheit für das Werden zeigen möchte, die seinen Text als „für jedermann zugängliche und komplett nachvollziehbare Baustelle” (S. 36) präsentiert. Auch wenn damit sympathischerweise eine Philosophie verfolgt werden soll, die das, was sie sagt, auch zeigen möchte, so gelingt das Griek nicht. Die Thematik reichert sich nicht an, sondern verkommt zu dem immer wieder erwartbaren Resultat einer Kritik an der Wahrheit des Baumes. Die Polemik verscheucht die Phänomene. Gerade von einem versierten Architekten hätte man sich konkretere Ausführungen zu einzelnen Gebäuden versprochen, um seine Ideen an realen Entwürfen zu erläutern, wie es die von ihm positiv hervorgehobenen Werke Learning from Las Vegas (Brown/ Venturi) und Delirious New York (Koolhaas) leisten. Dabei hilft es auch nicht, wenn Zitate von Nietzsche nicht als Belege von Gedankengängen verwendet werden, sondern meist nur als assoziative Andeutungen, ja oft nur als Art Soundkulisse dienen. Sie erscheinen wie Plakate an den Zäunen einer Baustelle. Wenn Bücher Häuser sind, durch die man als Leser Gast wird und einen Eindruck von der Qualität ihres jeweiligen Wohngefühls bekommt: Warum sollte man dann eine Unterkunft in unfertigen Baustellen beziehen, die diese Qualität offensichtlich nicht erreichen wollen?!
Durch diese fehlende Herausarbeitung seiner Thesen an konkreten Details und an Nietzsches Philosophie verpasst Griek die Chance, die von Nietzsche herausgestellten konzeptionellen Innovationen zu verdeutlichen. Vor allem die Bedeutung des Leibes für Nietzsche, die dann weiterwirkt in der von Heidegger inaugurierten und von Hermann Schmitz systematisierten Leibphänomenologie, die Stimmungen und Atmosphären als substanzielle Realitäten anerkennt, wird nicht konkretisiert. Dabei ist es doch die Architektur, die ähnlich wie die Musik, die Form des Inseins kultiviert und ein Absorbiertsein provoziert. Eine philosophische Betrachtung über den Zusammenhang von Denken und Bauen hätte sich doch gerade dem Thema widmen müssen, inwiefern Stimmungen und Gebäude, Atmosphären und Wohnen verbunden sind und wie der Begriff der Teilhabe von diesen Thematiken angereichert wird.7 Da Griek aber fixiert ist auf eine gewaltsame Dominanz einer Kultur des baumhaften Seins, geht es ihm darum, für das Chaos, die Veränderung, die Entropie einzutreten. Aus dieser Statik des Dagegenseins kann er keine erweiterte Statik des Inseins denken, die immer eine seinshafte Abgeschlossenheit und konservative Ordnung benötigt. Man sieht vor lauter Axt die Alternative zum Baum nicht mehr.
III. Scheinarchitektur
Der tiefere Grund dafür, warum es Griek nicht gelingt, entscheidende Reflexionsgewinne herauszuarbeiten, die Nietzsches Denken ausmachen, ist, dass er sich in eine polemische Haltung gegen eine Ontologie des Baumes verstiegen hat, die sich legitimiert durch eine Überbetonung des Konzeptes „Willen zur Macht“. Nietzsches Idee des Scheins wird von ihm so fast ausschließlich als Form der Eroberung gedacht. Leben wird akzentuiert als permanente Revolution der Kreativität gegen den Bestand der Tatsachen. Nur Autonomie als aktives Bestimmen ist frei und alles andere ist das Gehorchen auf eine totalitäre Wahrheit an sich, die „lebensfeindlich“ und „immer tyrannisch“ (S. 138) sei. Griek präzisiert so durch seinen kritischen Reflex nicht hinreichend die Dimension des Defensiven im Schein, die bei Nietzsche den Vorrang hat. Der Zusammenhang von Souveränitätsgefühl des Schaffens und notwendiger künstlicher Ferne zur Unmittelbarkeit für das zerbrechliche, unsichere und mitunter auch kreative Tier Mensch wird daher nicht klar expliziert. Auch wenn Griek mit Bezug auf Metropolen die Stadt bewundernswert einfallsreich als „ontologische[] Immunisierungsmaschinen“ (S. 248) betitelt und die Bedeutung des Hauses tiefsinnig als „dosierte Offenheit zum kosmischen Werden“ (S. 233) charakterisiert: Das Verständnis von Schein als Schutz vor zu viel Weltoffenheit kommt zu kurz. Dabei dominiert doch gerade in dem vorangestellten Motto diese Dimension von Nietzsches Denken als antichristliche Form einer peripatetischen vita contemplativa.
Grieks Ideal eines nichtbaumhaften Entwerfens als „offene Architektur“, die das „nötige Driften des Lebens“ (S. 322) beachtet, findet sich so in Entwürfen, die offen dafür sind, leicht wieder durch andere Entwürfe abgelöst zu werden. Es soll ja kein Zwang aufgebaut werden durch ein manifestes Bauen, das ein zukünftiges Bauen möglicherweise blockieren könnte. Alle Gesten als Provisorium. Anstelle des Baumes die ewige Baustelle. Gebäude sind jedoch nicht nur herrische, virile Entwürfe, die anderes Entwerfen verdrängen, sondern, wenn sie als Resonanzraumgestaltung die Dimension apollinische „Wohnlichkeit“ erreichen können, sind sie Möglichkeiten das Leben durch ein neu gestaltetes Insein zu bereichern. Es ließe sich hier an die klassische Bedeutungsdimensionen des Begriffs „Macht“ erinnern und ihn in architektonische Kontexte einschreiben: Macht als auctoritas ist die Kompetenz zum Gestalten von Räumen, die durch Attraktivität ihrer Kreativität überzeugt und nicht bloße potestas, die jemand anderem einen Willen zu seinen Räumen gewaltsam aufzwingt. Aus der Erfahrung eines schon bestehenden vielfachen guten Wohnens entsteht die Lust zum eigenen Raumentwurf als individuelle Kombination von tradierter Häuslichkeit. Offene Architektur ist kein Bauen, das dem Willen zum Neubauen in ungehemmter Expressivität durch leicht abrissbare Gebäude entgegenbaut. Wahrheit ist, was wohnen lässt.
Griek sitzt in seinen gewollt unfertig bleibenden Entwürfen für ein unfertig bleibendes architektonisches und reflexives Entwerfen grundsätzlichen Konfusionen auf, die in Nietzsches Denkweg angelegt sind. Es wird bei Nietzsche nicht klar genug auf die zwei Grunddimensionen der Architektonik des Scheins hingewiesen: Schein ist eine Schutzmauer und Schein ist eine animierende Einbildungskraft. Zudem kommt es vor allem in Nietzsches späteren Denken zu einer ins Sozialdarwinistische „hinüberdunkelnden“ (Celan) Überbetonung des „Willens zur Macht“. Nietzsche substanzialisiert die zu verklärende Verletztlichkeit des wahrheitsfähigen Tieres falsch zu einer Ontologie des Chaos, die dann einen Naturalismus der Macht legitimiert.
Hätte Nietzsche sich selber genauer gelesen, so wäre ihm die unterdifferenzierte Bedeutungsvielfalt des Scheins aufgefallen. Schein ist existenziell, kulturell, physiologisch, psychologisch, philosophisch und philologisch konnotiert: Existenziell wirkt er als apollinischer Schutz gegen den „Urscherz“. Oder Schein kann auch die Form einer Sinngebung annehmen, die das Chaos Welt ordnet. Schein als kulturelle Größe schützt vor den deprimierenden Verdunklungen einer Kultur, die unter dem Wegfall ihrer substanziellen metaphysischen Deutung leidet. Schein kann aber auch bestimmt werden als Filter gegen die Angriffe von ressentimen Scheinkonstrukten von Verstimmten und Verbitterten. Physiologischer Schein weist darauf hin, dass unverstimmtes Leben eine Diät an Tönen, Orten, Gefühlen etc. als Grundlage benötigt, um sich stabil in helle, luzide Zustände aufzustimmen. Psychologisch bedeutet Schein den Zustand einer emotionalen Stabilität als Selbstzufriedenheit. Philosophischer Schein rechtfertigt als Gesamtverständnis die eigene Art zu leben. Philologischer Schein schließlich äußert sich in selbstermunternden Sprachspielen, die als „Schein-Brücken” zu Anderen hinüberhellen können. Aus all dem ließe sich spekulieren, dass eine umfassende Architektur des Erkennens nach Nietzsche sich selbst als seelische, physiologische, symbolische und philosophische Scheinkonstruktion begreifen müsste. Das „Haus des Seins“ (Nietzsche) ist ein Haus des Scheins, dessen Räume in sechs Dimensionen so zu gestalten sind, dass sie das Bewohnen als ein In-sich-Spazierengehen ermöglichen.
Bei aller Sympathie für die zeitgemäße Thematik, der beeindruckende Fülle des Wissens – so etwa, indem auf die Wirkung hingewiesen wird, die durch eine effizientere Proteinvariante (durch die Aminosäure Arginin statt Lysin) entsteht, die bei der evolutionären Entwicklung der Nervenzellen im Frontallappen des Neokortex eine Rolle spielte (vgl. S. 186) – und auch den stellenweise genialischen Formulierungen Grieks – „symbolischer Urknall“ (S. 248), „Boosten des Baumes“ (S. 21) –, überwiegt doch bei der Lektüre der Eindruck einer redundanten Polemik. Das ist schade, denn das Buch hätte als kleines Plädoyer durchaus einen innovativen, axthaften Impuls freisetzen können. In der vorliegenden gut 300 Seiten langen Fassung dieser überbordenden Streitschrift stellen sich allerdings recht schnell Ermüdungerscheinungen ein. Man weiß bald, wie der Hase läuft und auf einen Aha-Effekt kommen zehn Ach-ja-Effekte. Der Rezensent bekennt sich offen dazu, dass er bei seinen Lesereisen nicht leicht auf den Komfort von deutlich strukturierten Bücherhäusern verzichten möchte, in denen man in sich spazieren gehen kann und dass er bei aller philosophischen Offenheit die luftige Offenheit von unbewohnbaren Zeichenbaustellen des Werdens – so innovativ, nichtübergriffig und werdefreudig diese wohl auch sein mögen – sehr gerne meidet.
Quellen
Griek, Stephen: Nietzsches Architektur der Erkennenden. Die Welt als Wissenschaft und Fiktion. Bielefeld 2024.
Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 1953.
Sloterdijk, Peter: Sphären I–III. Frankfurt a. M. 1998–2004.
Fußnoten
1: Die Geburt der Tragödie, Abs. 25.
2: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 230.
3: Heidegger, Sein und Zeit, S. 137.
4: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 62.
5: 2024 im „transcript“-Verlag publiziert und im Folgenden im Fließtext zitiert.
6: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 280.
7: Sloterdijks opus magnum Sphären geht auf tausenden von Seiten genau diesen Fragen nach und kommt zu dem Resultat, dass die lebensnotwendige Minimal-Architektur des Hauses des Seins mit einer neunfach seelisch-sozialen Verschalung entworfen werden muss.
Der Alltag arbeitet mit an den Gedanken
Der Alltag arbeitet mit an den Gedanken
Nietzsche und die diätetische Populärkultur
Nietzsche beeinflusste nicht bloss die Populärkultur. Er selbst war Teil einer zeitgenössischen Populärkultur und wurde massgeblich von ihr beeinflusst. So jagte er als Kurtourist den angesagten Kurorten hinterher, studierte als Vielleser populäre Zeitschriften und Sachbücher, ass sich als Diätfreak durch verschiedene (selbstverordnete) Diäten und nutzte moderne Technologien vom Telegramm bis zu Malling-Hansen’s Schreibkugel. Im folgenden Artikel trägt der Schweizer Nietzsche-Forscher Tobias Brücker einige Einflüsse aus der zeitgenössischen Diätetik zusammen, um exemplarisch an Gymnastik und Ernährung aufzuzeigen, wie Nietzsches Leben und Denken von populärkulturellen Faktoren geprägt wurde.
I. Nietzsche und die Diätetik des 19. Jahrhunderts
Die Diätetik erlebte mit der Aufklärung einen grossen Aufschwung. Man verstand unter Diätetik und Hygiene nicht nur Essen und Waschen, sondern alle Aspekte, welche die menschliche Lebensweise konkret betrafen. Die Diätetik galt im 19. Jahrhundert als praktisch und wenig theorieabhängig, für einige gar als einziges Gebiet der Heilkunst, das nicht den vielen Wechseln der wissenschaftlichen Erkenntnis ausgeliefert war. Es war deshalb selbstverständlich, über den Zusammenhang von Diätetik und geistiger Beschäftigung nachzudenken. Davon zeugt eine ganze Reihe von populären Büchern wie die Lebenskunst für geistig beschäftigte Menschen von Joseph Henri Réveillé-Parise, die Chemischen Briefe von Justus von Liebig oder Das Buch der Gesundheit oder die Lebenskunst nach der Einrichtung und den Gesetzen der menschlichen Natur von Daniel Gottlob Moritz Schreber. Letzteres enthält ein Kapitel zu „Lebensregeln in Bezug auf die geistige Seite des Menschen“. Dieser diätetische Diskurs hat in besonderem Masse die Philosophen des 19. Jahrhunderts beeinflusst.
Ich habe in anderen Texten ausführlich dafür argumentiert, dass die Diätetik massgeblich beim mittleren Nietzsche und dort v. a. in Der Wanderer und sein Schatten sowie in der Morgenröthe in Nietzsches Denken und Leben Einzug hält.1 Gerade zwischen 1877 und 1879 ist es auffällig, dass Nietzsche diätetische Ratgeber benutzt. So beklagt Nietzsche besonders in den späten 1870er Jahren, dass man die Ernährung nicht zum Gegenstand des allgemeinen Nachdenkens mache. Einfache Dinge wie Essen, Wohnen, Heizen oder Kleiden sollen zur primären Angelegenheit der philosophischen Selbstbeschäftigung werden. Diese Lehre der „nächsten Dinge“ ist auffällig eng mit seiner Lektüre der damaligen populären Ratgeber- und Diätetik-Literatur verbunden.
II. Gartenlaube, Schreber & Zimmergymnastik
Die ärztliche Zimmergymnastik von Daniel Gottlob Moritz Schreber erschien 1855.2 Die Zimmer- oder Hausgymnastik bezeichnet geregelte Körperübungen in Wohnräumen, die mehrheitlich ohne zusätzliche Geräte ausgeführt werden. Schrebers Zimmergymnastik war die populärste Anleitung. Nietzsche bestellte dieses Buch (15. Auflage von 1877) am 29. August 1878 und berichtete kurz darauf Mutter und Schwester, er habe eben „Zimmergymnastik“ gemacht.3 Seinem Verleger schreibt er: „Heilgymnastik eingetroffen und schon eifrig benutzt.“4 Es ist aufgrund der allseits bekannten Zimmergymnastik nicht mehr nötig, ein Buch oder einen Autor zu erwähnen.
Wie auch immer Nietzsche auf die Wörter „nächste“ und „allernächste“ Dinge kam, sie gehören jedenfalls zum populären zeitgenössischen Diskurs. Gleich im ersten Jahrgang der deutschen Familienzeitschrift Gartenlaube liest man 1853 folgende Aussage: „Und seltsam! vielleicht gerade das Nächste, was uns umgiebt, das Allernächste, sich selbst, kennen die Meisten nicht.“5 Nietzsche wiederum schreibt in ähnlichem Wortlaut: „um so mehr möge man zugestehen, dass die allernächsten Dinge von den Meisten sehr schlecht gesehen, sehr selten beachtet werden.“6 Sprach Schreber von Geringschätzung für das „Einfache, Natürliche und Naheliegende“, spricht Nietzsche von der „Missachtung […] aller nächsten Dinge.“7 Bei beiden wird das Argument zunächst unabhängig von der Gesundheit formuliert. Die Gewichtung Schrebers auf Geringschätzung und Nietzsches auf Missachtung richtet sich bei beiden gegen die Gebildeten: Diese würden den Alltag und das Studium des eigenen Körpers nämlich fälschlicherweise für etwas Triviales und Niedriges halten. Die Reaktion auf diesen Zustand allgemeiner Unwissenheit war bei Schreber und Nietzsche ähnlich: Gemäss Schreber müsse man die „physischen Bedürfnisse“ „in ihrem Wesen gründlich erforschen“, während Nietzsche eine umfassende Kenntnis der „nächsten Dinge“ fordert.8
Nietzsche argumentiert zuweilen provokant aus der diätetischen Sicht: So führt er die Hochkultur der Griechen auf ihre bessere Lebensweise bezüglich „Speise und Trank“ zurück.9 Der Glaube, dass durch gute Ernährung das „Gehirn“ besser durchblutet werde und dadurch besser gedacht würde, ist aufgrund der seit dem 18. Jahrhundert aufstrebenden Hirnforschung in den Diätetik-Ratgebern geläufig. Ausgiebig beschreibt etwa Schreber in der Zimmergymnastik den Stoffwechselprozess von Ernährung, Bewegung, Blut und leiblich-geistiger „Frische“ und „Kraft“.10 Schrebers hygienische Methoden wie auch Nietzsches Kenntnis der „nächsten Dinge“ sind nie abschliessbar, sondern müssen je nach Lebensphase, Geschlecht, Alter, Physis, sozialer Lage, Klima und Ort ständig neu erarbeitet werden. Deshalb gibt es bei Nietzsche und Schreber nur je individuelle Heilmethoden und Gesundheitszustände. In diesem Sinne fordert Nietzsche ferner – einmal mehr ein populäres diätetisches Argument aufgreifend –, dass jeder Mensch in seine diätetisch-klimatisch geeignete Umgebung verpflanzt werden solle.11 Damit sollte klar geworden sein, dass die zeitgenössischen Diätetiker nicht bloss trivial bei der Ernährung oder Gesundheitsprävention stehen blieben, sondern einen philosophischen Anspruch verfolgten. Schreber verortet seine Zimmer-Gymnastik in einer „hygienischen Gesundheits-Philosophie“. Es gehe letztendlich um „Glückseligkeit“ und um die wichtigste Kunst überhaupt, um die „Lebenskunst“.12
Nietzsche verwendet die Zimmergymnastik in einem seiner Aphorismen als philosophisches Modell für die Moral. Im Aphorismus „Nöthigste Gymnastik“ von Der Wanderer und sein Schatten wird dazu aufgefordert, sich jeden Tag etwas zu versagen.13 Dies sei eine unentbehrliche tägliche Gymnastik, sofern man freudvoll und unabhängig bleiben wolle. Und in Menschliches, Allzumenschliches wurde die Gymnastik sogar zum Modell für die Frage, weshalb die Philosophie Lust bereitet: „Erstens und vor Allem, weil man sich dabei seiner Kraft bewusst wird, also aus dem selben Grunde, aus dem gymnastische Uebungen auch ohne Zuschauer lustvoll sind.“14 Es ist kein intellektuelles Theorem, sondern die alltägliche Erfahrung der Zimmergymnastik – durch tägliche Übung die eigene Kraft zu spüren – welche die Lust an der Philosophie zu erklären vermag.
Die im Kontext der Populärkultur stehende Lehre der „nächsten Dinge“ ist der Vorläufer für Nietzsches philosophische Verbindung von Leib und Seele bzw. Körper und Geist. Viele Textstellen in Nietzsches Werken zeugen von dieser Engführung: So etwa im Diktum vom „Leitfaden des Leibes“ in der geforderten Philosophie der Ernährung.15 Die Figur des Zarathustra spricht: „Denn wahrlich meine Brüder, der Geist ist ein Magen!“16 Zudem zeigt sich die populäre Diätetik aber nicht bloss in Nietzsches Werken, sondern auch in seinem Alltag: Nietzsche betrieb eifrig Zimmergymnastik, probierte Fleischersatzprodukte wie Malto-Leguminose aus und war ein grosser Fan von Liebig’s Fleischextract, der ersten konservierbaren Fleisch-Bouillon. Nicht zuletzt lebte er nach der Aufgabe seiner Professur in lauter populären, teils wie St. Moritz überfüllten, touristischen Kurorten, an denen er in geradezu konzentrierter Form mit der Populärkultur in Kontakt kam. Nietzsche beschrieb die Wechselverhältnisse von Ort, Klima, Diätetik und Philosophie ein Jahr nach dem Wanderer und sein Schatten unumwunden im Aphorismus „Auf Umwegen“ aus der Morgenröthe. Hier wird philosophisch ausgesprochen, was in der Schreibsituation in St. Moritz konkret und praktisch gelebt wurde: Philosophie als „Instinct für eine persönliche Diät“ (nicht umgekehrt!).17 Und im Entwurf zu dem Aphorismus heisst es: „Diese ganze Philosophie – ist sie mehr als ein Trieb zu beweisen, daß reife Früchte, ungesäuertes Brod, Wasser, Einsamkeit, Ordnung in allen Dingen mir am besten schmecken und am zuträglichsten sind? Also ein Instinkt nach einer richtigen Diät in Allem? Und eine milde Sonne!“18
III. Nietzscheforschung tut sich schwer mit Populärkultur
In der Philosophieforschung wird die Populärliteratur oft unterschätzt und ihr philosophischer Anspruch damit übersehen. Ich erinnere mich vage an einen Vortrag zu Nietzsche in meiner Studienzeit. Ein Philosoph erklärte uns, dass Nietzsche deshalb ein exzellenter, origineller Denker sei, weil er nur „grosse“ Literatur gelesen habe. Gemeint waren die „Klassiker“ wie Goethe, Kant oder Schopenhauer aus der jüngeren Zeit; Platon, Aristoteles oder Homer aus der Antike. Nietzsche habe sich aller Trivialliteratur entzogen und sich nur mit den grossen Geistern beschäftigt. Ich zweifelte schon damals an diesem genieästhetischen Autorbild, das bis heute von „forschenden“ Nietzscheverehrenden ins Feld geführt wird. Mir schien demgegenüber Autorschaft gerade deshalb spannend, weil die unterschiedlichsten Lebensumstände, Eigenheiten, Hobbys, Lektüren und Denkmethoden auf philosophisch schreibende Menschen einwirken. Die Kreativität schert sich nicht um Differenzen zwischen Hoch- und Populärkultur. Die Lektüre unterschiedlicher Literatursorten entspricht schlicht den Lektürepraktiken eines viellesenden Menschen, wie Nietzsche einer war. Es muss fairerweise angemerkt werden, dass Nietzsche selbst zuweilen wenig zitierte und sich als wenig lesenden, einsamen Philosophen inszenierte. Gleichzeitig kritisierte er aber die Genieästhetik und hinterliess darüber hinaus mit seinen Textstellen zu Schreiben, Lesen und Autorschaft genug Hinweise, um seine eigenen Selbstinszenierungen kritisch zu hinterfragen. Zudem erlauben heutige Editionen, Bibliografien und Fallstudien eine Forschung mit historisch-kritischem Anspruch.
Die Einflüsse der Populärkultur auf Nietzsche und sein Denken (wie auf jede in der Gesellschaft lebende philosophierende Person) sind relevant. Zwei verkappte Interpretationsweisen versuchen diese Relevanz immer wieder zu schmälern. Sie betreiben damit Genieästhetik, d. h., fördern eine Vorstellung von Autoren als Genies, welche unnachvollziehbar, akontextuell, unabhängig von historisch-kulturellen Kontexten handeln und deshalb unvergleichlich geniale Werke hervorbringen. Eine solche Haltung zur Autorschaft kommt einem wissenschaftlichen Zugang in die Quere, besonders dann, wenn wie heute geglaubt wird, dass wir die Genieästhetik längst überwunden haben. Zwei solcher genieästhetischen Strategien überleben hartnäckig:
Populärkulturelle Einflüsse werden erstens durch „klassische“ Positionen bekannter Philosophen ersetzt. Auf diese Weise wird eine idealisierte „Geistesgeschichte“ konstruiert: So liest man gerne am Ende von Erläuterungen zu Nietzsches Philosophie der Ernährung, dass diese eine direkte Reaktion auf Feuerbach („Du bist, was du isst“), Epikur oder sonstige „klassische“ Ideengebende sei. Solche Interpretationen relativieren die kulturellen Einflüsse und Handlungen zu Gunsten eines idealisierten Primats von originellen Gedanken und Entscheidungen einzelner Autoren. Der Anspruch, eine Philosophie historisch-kritisch kontextualisieren und einordnen zu können, ist nicht bloss ein philologisches Vorhaben. Vielmehr bergen Lektüren, Arbeits- und Lebensweisen wichtige Ressourcen für die philosophische Beschäftigung.
Zweitens werden populärkulturelle Einflüsse als kleine Bausteine „grosser“ Gedanken relativiert. So wird Nietzsches Philosophie der Ernährung zwar thematisiert, jedoch teleologisch auf „übergeordnete“ Gedanken wie den Übermenschen, den Willen zur Macht oder Nietzsches Metaphysikkritik bezogen. Die „materiale“ Diät ist das „Kleine“, die geistig-konzeptuelle Metaphysikkritik das eigentlich „Grosse“ bzw. das philosophisch Relevante am Werk. Es ist gar nicht so einfach, populärkulturelle Einflüsse eigenständig zu analysieren und deren Relevanz „stehen“ zu lassen.
Damit wird nicht bloss unzulässig interpretiert, sondern mitunter Nietzsches eigene Umkehrung dieses Verhältnisses ignoriert. Es ist ein Verdienst Nietzsches, die Arbeits- und Lebensweise als philosophische Praktiken verstanden zu haben. Er hat die lebensweltlichen Aspekte des Alltags für die Philosophie neu entdeckt und als Philosophie thematisiert. So schrieb er zum Verhältnis seiner Diät und „grossen“ Gedanken mal rhetorisch wie in Ecce Homo: „Ganz anders interessirt mich eine Frage, an der mehr das ‚Heil der Menschheit‘ hängt, als an irgend einer Theologen-Curiosität: die Frage der Ernährung. […] diese kleinen Dinge – Ernährung, Ort, Klima, Erholung, die ganze Kasuistik der Selbstsucht – sind über alle Begriffe hinaus wichtiger als alles, was man bisher wichtig nahm. Hier gerade muß man anfangen, umzulernen“.19 Mal subtiler in einer augenzwinkernden Briefstelle: „Mir fiel dieser Tage ein, daß ich in drei Jahren ‚die Morgenröthe‘, ‚die fröhliche Wissenschaft‘ und den ‚Zarathustra‘ gemacht habe: in Anbetracht, daß diese Litteratur unter den Begriff ‚Liebigscher Fleischextract‘ gehört, darf ich mich über meine ‚Gesundheit‘ nicht verdrießen – eher verwundern!“20
Tobias Brücker ist promovierter Kulturwissenschaftler und Leiter der internen Weiterbildung an der Zürcher Hochschule der Künste. Er hat zu Nietzsches Arbeitsweise geforscht und 2019 die Monografie Auf dem Weg zur Philosophie. Friedrich Nietzsche schreibt „Der Wanderer und sein Schatten“ publiziert. Er interessiert sich für alle Facetten von Diäten, Autorschaft und Kreativitätstechniken in der Philosophie und in den Künsten.
Quellen
Brücker, Tobias: Auf dem Weg zur Philosophie. Friedrich Nietzsche schreibt „Der Wanderer und sein Schatten“. Wilhelm Fink 2019.
Dr. L-n [anonym]: Vom Baue des Menschen. In: Die Gartenlaube (1853). Leipzig 1853, S. 91.
Schreber, Daniel G. M.: Aerztliche Zimmer-Gymnastik. Leipzig 1862.
Bildnachweise
Abbildung zu „Rumpfaufrichten“, aus Schreber, Aerztliche Zimmer-Gymnastik, S. 62.
Abbildung zu „Beinwerfen vor- und rückwärts“ sowie „seitwärts“, aus Schreber, Aerztliche Zimmer-Gymnastik, S. 81.
Fußnoten
1: Vgl. insb. Brücker, Auf dem Weg zur Philosophie, Kap. 3.3. zu „Schreiben und Diätetik“ sowie den Abs. „Nietzsches Lektüre populärer Diätetik“, S. 173 ff.
2: Ich zitiere Schreber hier und in der Folge nach der mir zur Verfügung stehenden 8. Auflage von 1862.
3: N. an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 21.09.1878, Nr. 759.
4: N. an Schmeitzner, 10.09.1878, Nr. 754.
5: Gartenlaube (1853): Dr. L-n, S. 91. Es handelt sich um eine anonym publizierte Artikelserie.
6: Schreber, Aerztliche Zimmer-Gymnastik, S. 5; Der Wanderer und sein Schatten, 6.
7: Der Wanderer und sein Schatten, 5.
8: Schreber, Aerztliche Zimmer-Gymnastik , S. 12; Der Wanderer und sein Schatten, 6.
9: Der Wanderer und sein Schatten, 184.
10: Schreber, Aerztliche Zimmer-Gymnastik, S. 14.
11: Vgl. Der Wanderer und sein Schatten, 188.
12: Schreber, Aerztliche Zimmer-Gymnastik, S. 28.
13: Der Wanderer und sein Schatten, 305.
14: Menschliches, Allzumenschliches Bd. I, 252.
15: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, 7.
16: Also sprach Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 16.
17: Morgenröthe, 553.
18: Vorstufe Nachgelassene Fragmente 1880, 7[15].
Was macht ChatGPT mit der Philosophie?
Versuch einer kritischen Einordnung
Was macht ChatGPT mit der Philosophie?
Versuch einer kritischen Einordnung
Zu Nietzsches Todestag führte Paul Stephan auf diesem Blog ein ausführliches Interview mit dem Programm ChatGPT, um die Leistungsfähigkeit des Programms zu testen, wenn es um tiefschürfende philosophische Fragen geht (Link). Es folgt eine kritische Reflexion dieses Experiments.
Die Bilder zu diesem Interview wurden, sofern nicht anders gekennzeichnet, mit der Software DeepAI erstellt. Die Anweisung zum Artikelbild lautete „Nietzsche and ChatGPT“, die zu den Bildern im Artikel „ChatGPT talks about Nietzsche“.
„Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat.“1
I. Eine ungewöhnliche „Begegnung“
Was passiert, wenn man ChatGPT einfach mal zu Nietzsche interviewt? Das wollte ich für diesen Blog herausfinden. Es entstand ein Dialog, der amüsiert angesichts der dummen Fehler, die dem Programm teilweise unterlaufen, aber auch verstört, wenn man bedenkt, dass die von der Software produzierten Antworten mitunter relativ treffend sind. Es zeigt sich schnell: Wenn es darum geht, stereotyp formulierte Texte, gefüttert mit undurchdachtem Wikipedia-Wissen, zu verfassen, ist ChatGPT ziemlich gut, sieht man von dem einen oder anderen groben Schnitzer einmal ab. Ich habe mich von dem Programm tatsächlich ein wenig herausgefordert gefühlt, zu zeigen, dass ich ihm als menschlicher Autor, der jahrelang über die besprochenen Themen nachgedacht hat, überlegen bin. – Ob mir das gelungen ist, mag der Leser selbst beantworten.
Die von mir für diese beiden Artikel erzeugten Bilder geben die Grundstimmung, in die mich die Auseinandersetzung mit den neusten KI-Programmen versetzt, recht gut wieder: Es handelt sich um auf den ersten Blick handwerklich fast zu perfekte Bilder, die alle ein wenig an Nietzsche bzw. bekannte Photographien von ihm erinnern. Sie könnten einem, der nicht allzu genau hinsieht und die zahlreichen Fehler im Detail übersieht – und natürlich mit Nietzsches echtem Gesicht nicht vertraut ist –, glatt als Aufnahmen des Philosophen untergejubelt werden. Besonders unheimlich wird es, wenn man sich die Bilder sehr genau betrachtet und sich fragt, was diese „Nietzsches“ eigentlich anschauen …
Insofern „Entwarnung“: Zu wirklich kreativen Gedanken ist ChatGPT noch immer nicht fähig. Alles, was man serviert bekommt, ist ein fader Eintopf aus Binsenweisheiten und Gemeinplätzen. Angesichts der zahlreichen sachlichen Fehler und der großen Probleme, die das Programm offensichtlich im Umgang mit Sekundärliteratur hat, würde ich seine Verwendung noch nicht einmal für Schulaufsätze, geschweige denn universitäre Hausarbeiten, empfehlen. Man kann sich noch nicht einmal sicher sein, dass ein orthographisch und grammatikalisch korrekter Text ausgespuckt wird. Ohne kritische Prüfung sind diese Texte jedenfalls nicht zu gebrauchen. Für ernsthafte Autoren könnte sich ChatGPT vielleicht als Recherchewerkzeug einsetzen lassen, um herauszufinden, was die Durchschnittsmeinung zu einem Thema ist. Also das, was man genau nicht schreiben und welche Floskeln man unbedingt vermeiden sollte. Die neue Konkurrenz könnte zumal als Ansporn dienen: Echte Autoren müssen sich nun mehr Mühe geben, um sich von der KI-erzeugten Massenware abzuheben.
II. Mensch und Maschine als künstlerisches Gespann
So oder so gilt es, den mitunter etwas erhitzt geführten Diskurs zur neusten KI ein wenig zu beruhigen. Man sollte sie weder als übertriebene Bedrohung noch als Heilsbringer ansehen, sondern als Werkzeug, das, was Gebrauchstexte angeht, durchaus nützlich sein und, was komplexere Anforderungen angeht, durchaus zur Inspiration dienen kann. Mit Nietzsche – der sich zwar noch nicht einmal die Existenz von Computern hätte ausmalen können, aber immerhin begeistert mit der damals völlig neuen Schreibmaschine experimentierte, um schließlich ernüchtert wieder zur Handschrift überzugehen2 – müsste man von einer nicht-ressentimenthaften Perspektive auf diese Neuerungen sprechen: An der Existenz dieser Programme können wir ohnehin nichts ändern, es geht nun darum, einen möglichst produktiven Umgang mit ihnen zu finden.
Vorreiterin ist dabei, wie so oft, die Kunst. Vom 25. April bis zum 12. Mai fand im Leo-Schwarz-Foyer des Gewandhauses in Leipzig die von Kati Liebert und Olga Vostretsova kuratierte Ausstellung Walk on the Carpet statt, bei der 13 Studierende der lokalen Hochschule für Grafik und Buchkunst ihre Arbeiten präsentierten. Gleich drei dieser sehr vielfältigen Arbeiten aus den unterschiedlichen künstlerischen Bereichen verwendeten offensiv Künstliche Intelligenz als Mittel des kreativen Prozesses.
Tobias Kurpat fütterte eine KI mit der Klaviermusik von Felix Mendelssohn Bartholdy, um daraus ein neues Stück zu schaffen, das man sich mit einem Kopfhörer anhören konnte. Bestandteile der Installation waren darüber hinaus die Partitur der neuen Komposition sowie ein 3D-Druck einer unnatürlichen verdrehten Hand, womöglich die eines Musikers. Diese Arbeit wirkte auf mich verstörend. Ich rechnete mit einer Komposition von Mendelssohn-Bartholdy. Es erwartete mich ein wildes, eher an einen Ragtime oder an Freejazz erinnerndes, Klanggebilde, das mich an meinen musikhistorischen Kenntnissen zweifeln ließ. Es war zwar nicht dissonant, aber es folgte auch keiner regelrechten musikalischen Struktur. Hatte sich der Komponist da einen Spaß erlaubt? Erst die Lektüre des Begleittextes, zu der ich mich dann doch genötigt sah, verschaffte Aufklärung. Komponieren im Stile eines bestimmten Komponisten gehört wohl (noch) nicht zu den Stärken der KI.
Während Kurpats Arbeit für mich vor allem die Funktion hatte, die technischen Möglichkeiten KI-basierter Komposition vorzuführen, gingen zwei seiner Kommilitoninnen einen Schritt weiter und benutzten sie für Kunstwerke, deren Gegenstand nicht die KI selbst ist. Susanne Kontny verwendete ein KI-Tool, um Portraits der durchweg männlichen Kapellmeister des Gewandhauses zu feminisieren. Aus den Meistern wurden Meisterinnen. Diese Bilder manuell in ähnlicher täuschend echter Qualität zu erzeugen, hätte sicherlich einige Mühe bereitet. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob das Kunstwerk wirklich überzeugt, abgesehen davon, dass auf witzige Art die Möglichkeiten der KI demonstriert werden: Seine intendierte Aussage ist schnell durchschaut, die unzähligen Portraits dienen der bloßen Illustration einer politischen Anklage.
Einen anderen Weg ging Toni Braun, mit der ich auch ausführlich über den Prozess sprach, der hinter ihrer Installation Celestial Urging stand. Sie benutzte die KI zur Generierung eines überdimensionalen Portraits einer weiblichen Figur. Es war anscheinend nicht so einfach gewesen, die Anweisung so zu schreiben, dass auch das gewünschte Resultat entstand, und dann unter den vielen Vorschlägen des Programms genau die richtige Figur zu finden.
Auch Toni Braun ließ die KI aber nicht einfach walten, sondern verwendete als Vorlage ein Gemälde von Nathaniel Sichel, Die Bettlerin vom Pont des Arts. Das Resultat ist ähnlich verstörend wie die Nietzsche-Portraits, die ich für diesen Artikel erzeugt habe, und die Komposition im Stile von Mendelssohn Bartholdy. Auf den allerersten flüchtigen Blick hätte ich mich auch hier wieder von der KI foppen lassen. Doch bei näherer Betrachtung handelt es sich um eine recht „monströse“ Gestalt, die sich nur schwer labeln lässt, ein Hybrid, der unsere Sehgewohnheiten in Frage stellt – doch zugleich nicht nur das: Es bleibt doch der Eindruck einer selbstbewussten jungen Musikerin, die sich hier präsentiert. Die Ornamente, die das bedruckte Banner umrahmen, lassen vielfache Deutungen zu. Ist es vielleicht gar die nietzscheanische Vision einer „Überfrau“, die in ihrer Widersprüchlichkeit doch sich selbst bejaht und diese Bejahung nach außen strahlen lässt, selbst wenn ihr schwer definierbares Instrument kaum Töne erzeugen dürfte und ihre Gliedmaßen verkrüppelt sind? Der Stacheldraht scheint aber auch das Leiden anzudeuten, das zur Gewinnung einer solchen Identität erforderlich ist – oder handelt es sich um einen Schutzpanzer? Haben wir es vielleicht sogar eher mit einer Kriegerin als mit einer Künstlerin zu tun? Doch die Quasten, Borten und Glaslüstern deuten auch eine bewahrte Weiblichkeit an. Die Arbeit zeigt so, so scheint es mir, die komplexe Situation, in der (nicht nur) Frauen heute stehen, wenn sie sich „kriegerisch“ selbst behaupten und insofern um Härte bemühen und zugleich Weichheit und Kreativität bewahren möchten.
Die Melange von Kunst und KI kann also durchaus zu interessanten Werken führen, wenn man sich letzterer klug als Mittel bedient, um die Spielräume der eigenen Kreativität zu erweitern. Ein solches, zugleich verstörendes wie faszinierendes, „Monstrum“ wie das Hybridwesen der Installation von Toni Braun hätte auch die blühendste rein menschliche Phantasie wohl kaum gebären können – und zugleich hätte es ohne den menschlichen Input ebenso wenig entstehen können.
Vielleicht wäre ein solcher Umgang mit der KI auch für Textproduktion und die Philosophie beispielhaft? Man könnte ja beispielweise versuchen, ChatGPT in einen sokratischen Dialog zu verwickeln. Oder es Aphorismen verfassen lassen, von denen einige vielleicht interessant sind und ausgebaut werden können. Dass der kreative Prozess – egal, ob in der Kunst oder in der Philosophie – ohnehin in großem Maße kein reines Erfinden, sondern ein Finden und Arrangieren ist, lehrt nicht zuletzt Nietzsches eigene Praxis. In Menschliches, Allzumenschliches kritisiert er in diesem Sinne den Glauben an die plötzliche Inspiration als Ursprung des Kunstwerks: „Alle Großen waren grosse Arbeiter, unermüdlich nicht nur im Erfinden, sondern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten, Ordnen.“3 Mit anderen Worten: Eine gelungene geistige Schöpfung ist immer auch ein Remix vorhandenen Materials – und genauso verfuhr auch Nietzsche beim Verfassen seiner Schriften. Er notierte unermüdlich eigene Einfälle, aber auch solche, die er beim Lesen der Texte anderer erhielt. Mitunter bedient er sich recht unbedarft einzelner Formulierungen anderer – natürlich ohne sie zu zitieren.4 „Talent borrows, genius steals“, lautet bekanntlich die Maxime Oscar Wildes, die auch als Aphorismus Nietzsches durchgehen könnte – und Zarathustra erklärt entsprechend: „[I]st Nehmen nicht seliger als Geben? Und Stehlen noch seliger als Nehmen?“5 – Wieso sich nicht entsprechend von der KI inspirieren und KI-generiertes Material in seine eigenen Werke oder Texte einfließen lassen? Ähnlich wie mit der Schreibmaschine hätte Nietzsche vermutlich recht unbefangen mit der Künstlichen Intelligenz experimentiert – auch wenn er sie vielleicht nach einigen Wochen als unbrauchbar bei Seite gelegt hätte. Ähnlich, wie es heute selbstverständlich ist, Google, Wikipedia oder Seiten wie nietzschesource.org oder The Nietzsche Channel als Hilfsmittel bei der eigenen Textproduktion zu gebrauchen.
III. Nachteile und Nebenwirkungen
Doch natürlich ist der Gebrauch von KI nicht unproblematisch. Zunächst einmal ist das Verfassen von Texten oder die Produktion von Kunstwerken ein Prozess, der einen Wert in sich trägt, ein Lern- und Erfahrungsprozess. Vor allem die Studierenden, die sich jetzt – wie meine eigene Erfahrung als Dozent leider bestätigt – vermehrt Künstlicher Intelligenz zur Erstellung ihrer Arbeiten bedienen, schaden sich damit am Ende vor allem selbst. Autoren und Künstler möchten ja nicht nur etwas hervorbringen, was eine Wirkung auf andere hat, sondern den Prozess der Schöpfung durchlaufen und an ihm wachsen. Und der Genuss des Rezipienten besteht umgekehrt darin, an diesem kreativen Prozess selbst durch seinen Nachvollzug teilzuhaben, selbst wenn er im Resultat nur noch vermittelt anwesend ist. Einen Roman, von dem man wüsste, dass er nicht das Ergebnis jahrelanger Mühen und die Verarbeitung persönlicher Erfahrungen ist, sondern in ein paar Stunden auf der Grundlage eines schnell zusammengeschriebenen Prompts entstand, wird man mit weniger Interesse lesen, sofern man ihn überhaupt lesen mag, selbst wenn die KI in ein paar Jahren in der Lage sein sollte, tiefschürfende Romane täuschend echt zu imitieren. Es bleibt eben doch ein Imitat. Ein authentisches Werk lebt davon, dass es ein Mensch war, der es schrieb und der in ihm etwas ausdrücken wollte.
Das schließt nicht aus, dass es in einigen Jahren sehr verbreitet sein könnte, Gebrauchstexte oder Gefälligkeitsbilder von Programmen generieren zu lassen. Doch dies wäre ja in der Tat eine Arbeitserleichterung und würde zeitliche Freiträume zur Produktion echter Werke schaffen. Vielleicht wird der Gebrauch von KI zu diesem Zwecke schon bald so gewöhnlich sein, wie es heute die Verwendung von Rechtschreibkontroll- oder Übersetzungsprogrammen ist. Selbst bei der Übersetzung komplexer philosophischer Werke ist es heute weit verbreitet, die „Grobarbeit“, die ohnehin wenig intellektuelle Leistungsfähigkeit erfordert, der Software zu übertragen, und den menschlichen Übersetzer nur den „Feinschliff“ erledigen zu lassen.
Um sich dieser Aussicht unaufgeregt zu nähern, ist es vielleicht hilfreich, das Beispiel des Schachspiels zu betrachten. Dieses Spiel kann von Computern schon längst erfolgreicher gespielt werden als von uns. Doch dieses Faktum hat der Begeisterung für es keinen Abbruch getan, im Gegenteil erlebt es gerade eine neue Welle der Popularität, angefacht durch soziale Medien und Onlineportale wie lichess.org und chess.com. Das „Spiel der Könige“ zu meistern gilt nach wie vor als Inbegriff menschlicher Kreativität und Intelligenz. Denn auch, wenn man einen fortgeschrittenen Schachcomputer als Mensch schon lange nicht mehr besiegen kann, liegt der Wert auch hier ja nicht einfach im Ergebnis, sondern im Spielen an sich. Einem Spiel zwischen zwei Schachcomputern beizuwohnen ist ebenso langweilig, wie einen Band KI-generierter Liebesgedichte zu lesen, wenn man sich nicht gerade für deren Leistungsfähigkeit interessiert. Doch im Spielen und in der Betrachtung anderer Spieler liegt ein Eigenwert, der sich von der KI niemals wird zerstören lassen. Schachspieler nutzen die neuen Möglichkeiten der Technik zugleich ganz unbefangen, um ihr Können zu trainieren, Partien zu analysieren und neue Strategien zu entwickeln. Auch hier ist die Software nur scheinbar eine Bedrohung und hilft in Wahrheit einfach nur dabei, die menschlichen Fähigkeiten zu vergrößern. Schachspielen kann ChatGPT im Übrigen nicht – es dennoch zu einer Partie herauszufordern, kann für einige Irritation und Erheiterung sorgen. Das ist zumindest ein schwacher Trost: Ausgerechnet der allerorten gehypte Superrechner scheitert kläglich an einer Aufgabe, für die Computer doch eigentlich prädestiniert zu sein scheinen.
Ohnehin sind Schachprogramme oder die neuen Algorithmen ja nur ein Ausdruck unserer eigenen Fähigkeiten. Die modernen KI-Systeme sind nur so gut, weil sie jahrelang mit von uns produzierten Daten gefüttert wurden. In ihnen spiegelt sich nur unsere eigene kollektive Kreativität und Intelligenz. Wir sollten keine Angst vor ihnen haben oder ihnen gegenüber gar in ein Gefühl der Minderwertigkeit verfallen, sondern eher stolz daraus sein, was wir als Gattung erreicht haben.
Doch genau dieser Umstand verweist auf ein anderes Problem: Die Ergebnisse der KI sind ein Zusammenspiel eines Programms und des Materials, mit dem es trainiert wurde. Doch Geld verdienen damit gegenwärtig nur die Unternehmen, die die Rechte am Code der Software besitzen, nicht die zahllosen Urheber des Übungsstoffs – und natürlich diejenigen, die sich der KI bedienen, um kommerzielle Produkte zu erzeugen. Die Urheber des Trainingsmaterials wurden und werden noch nicht einmal um Erlaubnis gefragt. Das ist moralisch fragwürdig und ungerecht, es geht hier um eine echte Enteignung, die möglicherweise auch noch juristische Konsequenzen haben wird.
Diese Entwicklung spätestens macht es überfällig, neu über Möglichkeiten der angemessenen Entlohnung für Menschen nachzudenken, die ihre Werke offen zugänglich ins Internet stellen und ohne die das Internet als gewaltiger Katalysator kreativer und intellektueller Entwicklungen überhaupt nicht funktionieren würde. Diejenigen, die mit KI Geld verdienen, sollten zu einer Abgabe gezwungen werden, deren Einnahmen den Urhebern des verwendeten Inputmaterials zu Gute kommt.
IV. Schlusswort
Passend zum Thema dieses Textes möchte ich das Schlusswort ChatGPT selbst überlassen, das auf meine Bitte hin, einen Aphorismus im Stile Nietzsches zu verfassen, folgende Antwort gab, die zwar nicht messerscharf zu dem hier behandelten Thema passt, sich aber doch nur allzu leicht auf es anwenden lässt: „In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.“
Fußnoten
1: Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten, 278.
2: Vgl. diese Zusammenfassung auf der Website der Klassik Stiftung Weimar.
3: Menschliches, Allzumenschliches I, 115.
4: Das betrifft insbesondere den amerikanischen Essayisten Ralph Waldo Emerson, den Nietzsche intensiv und begeistert las und immer wieder einzelne Formulierungen und Gedanken von ihm entlieh, ihn in seinen veröffentlichten Schriften jedoch nur vereinzelt erwähnt.