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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches

Das Haus des Scheins

Präludien über den Zusammenhang von Architektur und Denken bei Nietzsche mit ständiger Rücksicht auf ein Buch von Stephen Griek. Eine Rezension

Das Haus des Scheins

Präludien über den Zusammenhang von Architektur und Denken bei Nietzsche mit ständiger Rücksicht auf ein Buch von Stephen Griek. Eine Rezension

9.9.24
Michael Meyer-Albert

Eine fruchtbare Methode innerhalb der Philosophie kann darin liegen, sich scheinbar nebensächlichen, alltäglichen Themen zuzuwenden. So in etwa dem Verhältnis von Denken und Architektur, wie sich dieser Text anhand des neu erschienen Buches Nietzsches Architektur der Erkennenden von Stephen Griek aufzuzeigen bemüht. Mit Nietzsche gedacht, so Michael Meyer-Albert, ist der Schutz einer Behausung – im wörtlichen wie übertragenen Sinne – vor dem Chaos der Wirklichkeit unabdingbar für ein gelungenes Weltverhältnis. Dies kommt ihm in Grieks postmodernem Ansatz, der auf maximale Öffnung abzielt und an die Stelle klarer räumlicher Strukturen diffuse nomadische Netzwerke setzen möchte, zu kurz. Architektur als Kunst der nichtgewaltsamen Verwurzelung werde so undenkbar; das „Haus des Scheins“, das die menschliche Existenz trägt, kollabiere.

Eine fruchtbare Methode innerhalb der Philosophie kann darin liegen, sich scheinbar nebensächlichen, alltäglichen Themen zuzuwenden. So in etwa dem Verhältnis von Denken und Architektur, wie sich dieser Text anhand des neu erschienen Buches Nietzsches Architektur der Erkennenden von Stephen Griek aufzuzeigen bemüht. Mit Nietzsche gedacht, so Michael Meyer-Albert, ist der Schutz einer Behausung – im wörtlichen wie übertragenen Sinne – vor dem Chaos der Wirklichkeit unabdingbar für ein gelungenes Weltverhältnis. Dies kommt ihm in Grieks postmodernem Ansatz, der auf maximale Öffnung abzielt und an die Stelle klarer räumlicher Strukturen diffuse nomadische Netzwerke setzen möchte, zu kurz. Architektur als Kunst der nichtgewaltsamen Verwurzelung werde so undenkbar; das „Haus des Scheins“, das die menschliche Existenz trägt, kollabiere.

„Nicht zuviel Sonne, das Licht wird verkannt, die Dämmerung ist die eigentliche Menschheitsbeleuchtung.“ (Benn, Drei alte Männer)

I. Wohltemperierte Weltoffenheit

Wohnen kann man nicht nur in Häusern. Auch eine Sprache, ein Rechtssystem, Sitten oder Traumwelten können Wohnungen sein. Überall dort, wo Fremde sich in Vertrautheit verwandelt und Vertrautheit eine Lebendigkeit gewinnt, die zu einer „schönen Fremde“ (Eichendorff) wird, wird gewohnt. Leben schafft sich durch Symbole, Phantasien und Rituale ein Haus der Existenz. Es beseelt sich durch sein Schaffen selbst. „Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde.“ (Hölderlin) Architektur ist insofern nur eine weitere Form einer existenziellen Weltbefreundungsbewegung. Im Dämmer der Konstruktionen kann das Leben aufleuchten.

Ausgehend von ästhetischen Spekulationen zur griechischen Tragödie gelangt Nietzsche schon früh in seiner Philosophie zu einem existenziell-architektonischen Verständnis des Lebens. Realität versteht er als existenzielle Dialektik von den Kräften des Dionysischen – des Ekstatischen, Ausbruchhaften – und des Apollonischen – als traumhafte Verklärung und Formgebung. Zentral, und das gilt für Nietzsches gesamte dramatische Philosophie – auch wenn sich nach seiner „Kehre“ in Bayreuth 1876 ein deutlicher Wandel weg von der Tragödie hin zur Komödie in seinem Denken durchsetzte –, ist hierbei der Vorrang der Ordnung vor dem Chaos. Weil Existenz mit einem Übermaß von Fremde konfrontiert ist, ist Leben, das lebt, konstitutiv apollinisch. Auch alle dionysischen Ausbrüche ereignen sich nur aus dieser lebenswichtigen Verklärungsintegration heraus:

Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch? – so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosen Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth machen und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen.1

Das Apollinische gewinnt dann in Nietzsches Phase des „freien Geistes“, nach dem schmerzlichen Bruch mit Wagner, eine erweiterte Bedeutung im Begriff des „Scheins“. Schein wird zur lebensnotwendigen Kompensation für die Abgründe der Wahrheit, mit denen sich nicht leben lässt. Gelingendes Leben benötigt eine Architektur des Scheins. Die ästhetische Verklärung des apollinischen Traumes wandelt sich dabei für Nietzsche zu einer schonenden Theorie. Diese verkörpert sich einerseits in wohlwollenden, ermutigenden Deutungen und andererseits in einer therapeutischen Ausblendung von unintegrierbaren Tatsachen. So beschreibt Nietzsche die aufgeklärte Nicht-Aufklärung als „Entschluss zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschliessung, ein Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem Dinge, ein Nicht-heran-kommen-lassen, eine Art Vertheidigungs-Zustand gegen vieles Wissbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit dem abschliessenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gutheissen der Unwissenheit.“2

Man könnte in Nietzsches Gedanken ein Vorspiel sehen für ein in der Anthropologie des 20. Jahrhunderts etabliertes Verständnis des Humanum als ein Wesen, das, anders als das von seinen Instinkten geleitete Tier, weltoffen ist. „Weltoffenheit“ – ein von Max Scheler geprägter, in Johann Gottfried Herders Denken präformierter Begriff – taucht in der Philosophie in substanzieller Mächtigkeit zuerst bei Heidegger in Sein und Zeit auf. Dort gelingt eine begriffliche Konkretisierung, die Nietzsches gesamtes Verständnis der rationalen Existenz des freien Geistes formelhaft expliziert: „Die Gestimmtheit der Befindlichkeit kontituiert existenzial die Weltoffenheit des Daseins.“3

Nietzsches existenziell-architektonisches Denken kommt in Heideggers Worten zur Sprache. Das Leibdenken des freien Geistes, der ein Haus des Scheins benötigt, um in der Weltoffenheit wohnen zu können, hat sich in einem Gehäuse von guten Stimmungen zu situieren. Als Architekt des Vitalen baut man an seiner Lebendigkeit, indem man sich bestimmten Einflüssen – etwa Gebirgsseen, großmütigen Menschen, Musik von Bizet, dem Klima Liguriens etc. – aussetzt. Was Heidegger nicht reflektiert, ist der Aspekt der regulierbaren „Geworfenheit“ als bewusster Wille zum verklärenden Schein. Nur eine apollinisch wohltemperierte Befindlichkeit vermag überhaupt eine Offenheit zur Weltoffenheit zu entwickeln. Das Chaos der Nerven differenziert sich partiell versiegelt zu einem Kosmos, der das Leben zum Leben als Weltoffenheitsbürger motiviert. Erst als proportionierte Dimmung der Realitäten entsteht das Dämmerlicht, das einer hochnervösen Weltoffenheit die Konturen der Welt geordnet präsentiert und ein Leben ermöglicht, das „Weltvertrauen“ (Heidegger) besitzt und vererben kann. Daher benötigt das „noch nicht festgestellte Thier4 Mensch einen Filter, einen Schutz, ein Haus für das Sein, um der vita contemplativa nachzugehen. Erst wenn die Welt nicht nervt, kann sie „welten“ (Heidegger). Ohne eine stimulierende Innen- und eine schützende Außenarchitektur des Lebens kann es keine welthaltige Philosophie geben.

II. Gegen den Baum

In seinem kürzlich erschienenen Buch Nietzsches Architektur der Erkennenden5 hat der in Genf ansässige Stadtplaner und Professor für Architektur Stephen Griek eine großangelegte essayistische Meditation über den Zusammenhang von Denken und Bauen verfasst. Den Titel des Werks hat er einem Aphorismus Nietzsches entnommen, den er ihm auch als Motto vorangestellt hat. Darin heißt es:

Es bedarf einmal und wahrscheinlich bald einmal der Einsicht, was vor Allem unseren grossen Städten fehlt: stille und weite, weitgedehnte Orte zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen Hallengängen für schlechtes oder allzu sonniges Wetter, wohin kein Geräusch der Wagen und der Ausrufer dringt […] Bauwerke und Anlagen, welche als Ganzes die Erhabenheit des Sich-Besinnens und Bei-Seitegehens ausdrücken. […] Wir wollen uns in Stein und Pflanze übersetzt haben, wir wollen in uns spazieren gehen, wenn wir in diesen Hallen und Gärten wandeln.6

Griek lässt sich von diesen Formulierungen inspirieren und bemüht sich die verwandte Grundstruktur von Denken und Architektur herauszustellen. Dabei liegt für ihn die Gemeinsamkeit darin, dass beide in der Form des Entwurfes die Realität gestalten (vgl. S. 46). Architektur kann er durch diese Idee als eine Form der Konzeptionalität begreifen, durch die Menschen die Welt deuten. Nah bei Nietzsche ist Griek darin, dass Denken als eine Kunst angesehen wird, deren Kreativität primär negativ zu verstehen ist. Kunst lässt weg, Denken reduziert, Architektur begrenzt: „Architektur […] ist also ein Ausschneiden, Vereinfachen, Reduzieren, Abstrahieren des Außen, der Welt (Raum ist nicht einfach da, sondern ein bewusster Ausschnitt aus dem Außen, Raumschaffen ist Ausscheiden).“ (S. 214) Architektur denkt und Denken ist Architektur als Schaffen von Raum aus Chaos durch „regulative Fiktionen“ (S. 160).

Nietzsches Idee des Scheins wird so aufgenommen und betont polemisch gegen einen Begriff der Wahrheit gewandt, der sich an dem Verständnis einer hierarchischen Ordnung orientiert; eine Wahrheit, deren Wesenhaftigkeit feststeht und deren Struktur nur entfaltet werden muss. Emblematisch ist dabei für Griek das Bild des Baumes (vgl. S. 21 f.). Er nennt als Ursprung dieses Gedankens den Text A City is not a Tree von Christopher Alexander aus dem Jahr 1965 und merkt an, wie Gilles Deleuze dieses Bild auf die gesamte westliche Ideengeschichte anwendete. (Vgl. S. 20f.)

An einer Kritik gegen diesen in seinen Augen innovationsfeindlichen, totalitären Begriff der Wahrheit reibt sich Griek jedoch auf. Das führt dazu, dass seine immense Bandbreite an herangezogenen Fakten und Ideen verklumpt. Sein interessanter Ansatz, dass Strukturen der Architektur Strukturen des Denkens und vice versa darstellen und sein stellenweise nachvollziehbares Plädoyer für eine „Kultur des Werdens“ (S. 39) verpufft so in einer sehr gelehrten Polemik. Aus der Kritik am Baum entfaltet sich keine Skizze einer alternativen Organik, sondern alles wird einem monotonen Angriff auf das klassische Sein untergeordnet. So essayhaft sich Grieks Text auch ausnimmt, so absehbar baumhaft wird er selbst in seiner Konfrontationshaltung.

Hinzukommt, dass Griek von seinem Ansatz her eine Offenheit für das Werden zeigen möchte, die seinen Text als „für jedermann zugängliche und komplett nachvollziehbare Baustelle” (S. 36) präsentiert. Auch wenn damit sympathischerweise eine Philosophie verfolgt werden soll, die das, was sie sagt, auch zeigen möchte, so gelingt das Griek nicht. Die Thematik reichert sich nicht an, sondern verkommt zu dem immer wieder erwartbaren Resultat einer Kritik an der Wahrheit des Baumes. Die Polemik verscheucht die Phänomene. Gerade von einem versierten Architekten hätte man sich konkretere Ausführungen zu einzelnen Gebäuden versprochen, um seine Ideen an realen Entwürfen zu erläutern, wie es die von ihm positiv hervorgehobenen Werke Learning from Las Vegas (Brown/ Venturi) und Delirious New York (Koolhaas) leisten. Dabei hilft es auch nicht, wenn Zitate von Nietzsche nicht als Belege von Gedankengängen verwendet werden, sondern meist nur als assoziative Andeutungen, ja oft nur als Art Soundkulisse dienen. Sie erscheinen wie Plakate an den Zäunen einer Baustelle. Wenn Bücher Häuser sind, durch die man als Leser Gast wird und einen Eindruck von der Qualität ihres jeweiligen Wohngefühls bekommt: Warum sollte man dann eine Unterkunft in unfertigen Baustellen beziehen, die diese Qualität offensichtlich nicht erreichen wollen?!

Durch diese fehlende Herausarbeitung seiner Thesen an konkreten Details und an Nietzsches Philosophie verpasst Griek die Chance, die von Nietzsche herausgestellten konzeptionellen Innovationen zu verdeutlichen. Vor allem die Bedeutung des Leibes für Nietzsche, die dann weiterwirkt in der von Heidegger inaugurierten und von Hermann Schmitz systematisierten Leibphänomenologie, die Stimmungen und Atmosphären als substanzielle Realitäten anerkennt, wird nicht konkretisiert. Dabei ist es doch die Architektur, die ähnlich wie die Musik, die Form des Inseins kultiviert und ein Absorbiertsein provoziert. Eine philosophische Betrachtung über den Zusammenhang von Denken und Bauen hätte sich doch gerade dem Thema widmen müssen, inwiefern Stimmungen und Gebäude, Atmosphären und Wohnen verbunden sind und wie der Begriff der Teilhabe von diesen Thematiken angereichert wird.7 Da Griek aber fixiert ist auf eine gewaltsame Dominanz einer Kultur des baumhaften Seins, geht es ihm darum, für das Chaos, die Veränderung, die Entropie einzutreten. Aus dieser Statik des Dagegenseins kann er keine erweiterte Statik des Inseins denken, die immer eine seinshafte Abgeschlossenheit und konservative Ordnung benötigt. Man sieht vor lauter Axt die Alternative zum Baum nicht mehr.

III. Scheinarchitektur

Der tiefere Grund dafür, warum es Griek nicht gelingt, entscheidende Reflexionsgewinne herauszuarbeiten, die Nietzsches Denken ausmachen, ist, dass er sich in eine polemische Haltung gegen eine Ontologie des Baumes verstiegen hat, die sich legitimiert durch eine Überbetonung des Konzeptes „Willen zur Macht“. Nietzsches Idee des Scheins wird von ihm so fast ausschließlich als Form der Eroberung gedacht. Leben wird akzentuiert als permanente Revolution der Kreativität gegen den Bestand der Tatsachen. Nur Autonomie als aktives Bestimmen ist frei und alles andere ist das Gehorchen auf eine totalitäre Wahrheit an sich, die „lebensfeindlich“ und „immer tyrannisch“ (S. 138) sei. Griek präzisiert so durch seinen kritischen Reflex nicht hinreichend die Dimension des Defensiven im Schein, die bei Nietzsche den Vorrang hat. Der Zusammenhang von Souveränitätsgefühl des Schaffens und notwendiger künstlicher Ferne zur Unmittelbarkeit für das zerbrechliche, unsichere und mitunter auch kreative Tier Mensch wird daher nicht klar expliziert. Auch wenn Griek mit Bezug auf Metropolen die Stadt bewundernswert einfallsreich als „ontologische[] Immunisierungsmaschinen“ (S. 248) betitelt und die Bedeutung des Hauses tiefsinnig als „dosierte Offenheit zum kosmischen Werden“ (S. 233) charakterisiert: Das Verständnis von Schein als Schutz vor zu viel Weltoffenheit kommt zu kurz. Dabei dominiert doch gerade in dem vorangestellten Motto diese Dimension von Nietzsches Denken als antichristliche Form einer peripatetischen vita contemplativa.  

Grieks Ideal eines nichtbaumhaften Entwerfens als „offene Architektur“, die das „nötige Driften des Lebens“ (S. 322) beachtet, findet sich so in Entwürfen, die offen dafür sind, leicht wieder durch andere Entwürfe abgelöst zu werden. Es soll ja kein Zwang aufgebaut werden durch ein manifestes Bauen, das ein zukünftiges Bauen möglicherweise blockieren könnte. Alle Gesten als Provisorium. Anstelle des Baumes die ewige Baustelle. Gebäude sind jedoch nicht nur herrische, virile Entwürfe, die anderes Entwerfen verdrängen, sondern, wenn sie als Resonanzraumgestaltung die Dimension apollinische „Wohnlichkeit“ erreichen können, sind sie Möglichkeiten das Leben durch ein neu gestaltetes Insein zu bereichern. Es ließe sich hier an die klassische Bedeutungsdimensionen des Begriffs „Macht“ erinnern und ihn in architektonische Kontexte einschreiben: Macht als auctoritas ist die Kompetenz zum Gestalten von Räumen, die durch Attraktivität ihrer Kreativität überzeugt und nicht bloße potestas, die jemand anderem einen Willen zu seinen Räumen gewaltsam aufzwingt. Aus der Erfahrung eines schon bestehenden vielfachen guten Wohnens entsteht die Lust zum eigenen Raumentwurf als individuelle Kombination von tradierter Häuslichkeit. Offene Architektur ist kein Bauen, das dem Willen zum Neubauen in ungehemmter Expressivität durch leicht abrissbare Gebäude entgegenbaut. Wahrheit ist, was wohnen lässt.

Griek sitzt in seinen gewollt unfertig bleibenden Entwürfen für ein unfertig bleibendes architektonisches und reflexives Entwerfen grundsätzlichen Konfusionen auf, die in Nietzsches Denkweg angelegt sind. Es wird bei Nietzsche nicht klar genug auf die zwei Grunddimensionen der Architektonik des Scheins hingewiesen: Schein ist eine Schutzmauer und Schein ist eine animierende Einbildungskraft. Zudem kommt es vor allem in Nietzsches späteren Denken zu einer ins Sozialdarwinistische „hinüberdunkelnden“ (Celan) Überbetonung des „Willens zur Macht“. Nietzsche substanzialisiert die zu verklärende Verletztlichkeit des wahrheitsfähigen Tieres falsch zu einer Ontologie des Chaos, die dann einen Naturalismus der Macht legitimiert.

Hätte Nietzsche sich selber genauer gelesen, so wäre ihm die unterdifferenzierte Bedeutungsvielfalt des Scheins aufgefallen. Schein ist existenziell, kulturell, physiologisch, psychologisch, philosophisch und philologisch konnotiert: Existenziell wirkt er als apollinischer Schutz gegen den „Urscherz“. Oder Schein kann auch die Form einer Sinngebung annehmen, die das Chaos Welt ordnet. Schein als kulturelle Größe schützt vor den deprimierenden Verdunklungen einer Kultur, die unter dem Wegfall ihrer substanziellen metaphysischen Deutung leidet. Schein kann aber auch bestimmt werden als Filter gegen die Angriffe von ressentimen Scheinkonstrukten von Verstimmten und Verbitterten. Physiologischer Schein weist darauf hin, dass unverstimmtes Leben eine Diät an Tönen, Orten, Gefühlen etc. als Grundlage benötigt, um sich stabil in helle, luzide Zustände aufzustimmen. Psychologisch bedeutet Schein den Zustand einer emotionalen Stabilität als Selbstzufriedenheit. Philosophischer Schein rechtfertigt als Gesamtverständnis die eigene Art zu leben. Philologischer Schein schließlich äußert sich in selbstermunternden Sprachspielen, die als „Schein-Brücken” zu Anderen hinüberhellen können. Aus all dem ließe sich spekulieren, dass eine umfassende Architektur des Erkennens nach Nietzsche sich selbst als seelische, physiologische, symbolische und philosophische Scheinkonstruktion begreifen müsste. Das „Haus des Seins“ (Nietzsche) ist ein Haus des Scheins, dessen Räume in sechs Dimensionen so zu gestalten sind, dass sie das Bewohnen als ein In-sich-Spazierengehen ermöglichen.

Bei aller Sympathie für die zeitgemäße Thematik, der beeindruckende Fülle des Wissens – so etwa, indem auf die Wirkung hingewiesen wird, die durch eine effizientere Proteinvariante (durch die Aminosäure Arginin statt Lysin) entsteht, die bei der evolutionären Entwicklung der Nervenzellen im Frontallappen des Neokortex eine Rolle spielte (vgl. S. 186) – und auch den stellenweise genialischen Formulierungen Grieks – „symbolischer Urknall“ (S. 248), „Boosten des Baumes“ (S. 21) –, überwiegt doch bei der Lektüre der Eindruck einer redundanten Polemik. Das ist schade, denn das Buch hätte als kleines Plädoyer durchaus einen innovativen, axthaften Impuls freisetzen können. In der vorliegenden gut 300 Seiten langen Fassung dieser überbordenden Streitschrift stellen sich allerdings recht schnell Ermüdungerscheinungen ein. Man weiß bald, wie der Hase läuft und auf einen Aha-Effekt kommen zehn Ach-ja-Effekte. Der Rezensent bekennt sich offen dazu, dass er bei seinen Lesereisen nicht leicht auf den Komfort von deutlich strukturierten Bücherhäusern verzichten möchte, in denen man in sich spazieren gehen kann und dass er bei aller philosophischen Offenheit die luftige Offenheit von unbewohnbaren Zeichenbaustellen des Werdens – so innovativ, nichtübergriffig und werdefreudig diese wohl auch sein mögen – sehr gerne meidet.

Quellen

Griek, Stephen: Nietzsches Architektur der Erkennenden. Die Welt als Wissenschaft und Fiktion. Bielefeld 2024.

Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 1953.

Sloterdijk, Peter: Sphären I–III. Frankfurt a. M. 1998–2004.

Fußnoten

1: Die Geburt der Tragödie, Abs. 25.

2: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 230.

3: Heidegger, Sein und Zeit, S. 137.

4: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 62.

5: 2024 im „transcript“-Verlag publiziert und im Folgenden im Fließtext zitiert.

6: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 280.

7: Sloterdijks opus magnum Sphären geht auf tausenden von Seiten genau diesen Fragen nach und kommt zu dem Resultat, dass die lebensnotwendige Minimal-Architektur des Hauses des Seins mit einer neunfach seelisch-sozialen Verschalung entworfen werden muss.

Der Alltag arbeitet mit an den Gedanken

Der Alltag arbeitet mit an den Gedanken

Nietzsche und die diätetische Populärkultur

2.9.24
Tobias Brücker

Nietzsche beeinflusste nicht bloss die Populärkultur. Er selbst war Teil einer zeitgenössischen Populärkultur und wurde massgeblich von ihr beeinflusst. So jagte er als Kurtourist den angesagten Kurorten hinterher, studierte als Vielleser populäre Zeitschriften und Sachbücher, ass sich als Diätfreak durch verschiedene (selbstverordnete) Diäten und nutzte moderne Technologien vom Telegramm bis zu Malling-Hansen’s Schreibkugel. Im folgenden Artikel trägt der Schweizer Nietzsche-Forscher Tobias Brücker einige Einflüsse aus der zeitgenössischen Diätetik zusammen, um exemplarisch an Gymnastik und Ernährung aufzuzeigen, wie Nietzsches Leben und Denken von populärkulturellen Faktoren geprägt wurde.

Nietzsche beeinflusste nicht bloss die Populärkultur. Er selbst war Teil einer zeitgenössischen Populärkultur und wurde massgeblich von ihr beeinflusst. So jagte er als Kurtourist den angesagten Kurorten hinterher, studierte als Vielleser populäre Zeitschriften und Sachbücher, ass sich als Diätfreak durch verschiedene (selbstverordnete) Diäten und nutzte moderne Technologien vom Telegramm bis zu Malling-Hansen’s Schreibkugel. Im folgenden Artikel trägt der Schweizer Nietzsche-Forscher Tobias Brücker einige Einflüsse aus der zeitgenössischen Diätetik zusammen, um exemplarisch an Gymnastik und Ernährung aufzuzeigen, wie Nietzsches Leben und Denken von populärkulturellen Faktoren geprägt wurde.

I. Nietzsche und die Diätetik des 19. Jahrhunderts

Die Diätetik erlebte mit der Aufklärung einen grossen Aufschwung. Man verstand unter Diätetik und Hygiene nicht nur Essen und Waschen, sondern alle Aspekte, welche die menschliche Lebensweise konkret betrafen. Die Diätetik galt im 19. Jahrhundert als praktisch und wenig theorieabhängig, für einige gar als einziges Gebiet der Heilkunst, das nicht den vielen Wechseln der wissenschaftlichen Erkenntnis ausgeliefert war. Es war deshalb selbstverständlich, über den Zusammenhang von Diätetik und geistiger Beschäftigung nachzudenken. Davon zeugt eine ganze Reihe von populären Büchern wie die Lebenskunst für geistig beschäftigte Menschen von Joseph Henri Réveillé-Parise, die Chemischen Briefe von Justus von Liebig oder Das Buch der Gesundheit oder die Lebenskunst nach der Einrichtung und den Gesetzen der menschlichen Natur von Daniel Gottlob Moritz Schreber. Letzteres enthält ein Kapitel zu „Lebensregeln in Bezug auf die geistige Seite des Menschen“. Dieser diätetische Diskurs hat in besonderem Masse die Philosophen des 19. Jahrhunderts beeinflusst.

Ich habe in anderen Texten ausführlich dafür argumentiert, dass die Diätetik massgeblich beim mittleren Nietzsche und dort v. a. in Der Wanderer und sein Schatten sowie in der Morgenröthe in Nietzsches Denken und Leben Einzug hält.1 Gerade zwischen 1877 und 1879 ist es auffällig, dass Nietzsche diätetische Ratgeber benutzt. So beklagt Nietzsche besonders in den späten 1870er Jahren, dass man die Ernährung nicht zum Gegenstand des allgemeinen Nachdenkens mache. Einfache Dinge wie Essen, Wohnen, Heizen oder Kleiden sollen zur primären Angelegenheit der philosophischen Selbstbeschäftigung werden. Diese Lehre der „nächsten Dinge“ ist auffällig eng mit seiner Lektüre der damaligen populären Ratgeber- und Diätetik-Literatur verbunden.

II. Gartenlaube, Schreber & Zimmergymnastik

Die ärztliche Zimmergymnastik von Daniel Gottlob Moritz Schreber erschien 1855.2 Die Zimmer- oder Hausgymnastik bezeichnet geregelte Körperübungen in Wohnräumen, die mehrheitlich ohne zusätzliche Geräte ausgeführt werden. Schrebers Zimmergymnastik war die populärste Anleitung. Nietzsche bestellte dieses Buch (15. Auflage von 1877) am 29. August 1878 und berichtete kurz darauf Mutter und Schwester, er habe eben „Zimmergymnastik“ gemacht.3 Seinem Verleger schreibt er: „Heilgymnastik eingetroffen und schon eifrig benutzt.“4 Es ist aufgrund der allseits bekannten Zimmergymnastik nicht mehr nötig, ein Buch oder einen Autor zu erwähnen.

Abbildung aus Schrebers Zimmergymnastik

Wie auch immer Nietzsche auf die Wörter „nächste“ und „allernächste“ Dinge kam, sie gehören jedenfalls zum populären zeitgenössischen Diskurs. Gleich im ersten Jahrgang der deutschen Familienzeitschrift Gartenlaube liest man 1853 folgende Aussage: „Und seltsam! vielleicht gerade das Nächste, was uns umgiebt, das Allernächste, sich selbst, kennen die Meisten nicht.“5 Nietzsche wiederum schreibt in ähnlichem Wortlaut: „um so mehr möge man zugestehen, dass die allernächsten Dinge von den Meisten sehr schlecht gesehen, sehr selten beachtet werden.“6 Sprach Schreber von Geringschätzung für das „Einfache, Natürliche und Naheliegende“, spricht Nietzsche von der „Missachtung […] aller nächsten Dinge.“7 Bei beiden wird das Argument zunächst unabhängig von der Gesundheit formuliert. Die Gewichtung Schrebers auf Geringschätzung und Nietzsches auf Missachtung richtet sich bei beiden gegen die Gebildeten: Diese würden den Alltag und das Studium des eigenen Körpers nämlich fälschlicherweise für etwas Triviales und Niedriges halten. Die Reaktion auf diesen Zustand allgemeiner Unwissenheit war bei Schreber und Nietzsche ähnlich: Gemäss Schreber müsse man die „physischen Bedürfnisse“ „in ihrem Wesen gründlich erforschen“, während Nietzsche eine umfassende Kenntnis der „nächsten Dinge“ fordert.8  

Nietzsche argumentiert zuweilen provokant aus der diätetischen Sicht: So führt er die Hochkultur der Griechen auf ihre bessere Lebensweise bezüglich „Speise und Trank“ zurück.9 Der Glaube, dass durch gute Ernährung das „Gehirn“ besser durchblutet werde und dadurch besser gedacht würde, ist aufgrund der seit dem 18. Jahrhundert aufstrebenden Hirnforschung in den Diätetik-Ratgebern geläufig. Ausgiebig beschreibt etwa Schreber in der Zimmergymnastik den Stoffwechselprozess von Ernährung, Bewegung, Blut und leiblich-geistiger „Frische“ und „Kraft“.10 Schrebers hygienische Methoden wie auch Nietzsches Kenntnis der „nächsten Dinge“ sind nie abschliessbar, sondern müssen je nach Lebensphase, Geschlecht, Alter, Physis, sozialer Lage, Klima und Ort ständig neu erarbeitet werden. Deshalb gibt es bei Nietzsche und Schreber nur je individuelle Heilmethoden und Gesundheitszustände. In diesem Sinne fordert Nietzsche ferner – einmal mehr ein populäres diätetisches Argument aufgreifend –, dass jeder Mensch in seine diätetisch-klimatisch geeignete Umgebung verpflanzt werden solle.11 Damit sollte klar geworden sein, dass die zeitgenössischen Diätetiker nicht bloss trivial bei der Ernährung oder Gesundheitsprävention stehen blieben, sondern einen philosophischen Anspruch verfolgten. Schreber verortet seine Zimmer-Gymnastik in einer „hygienischen Gesundheits-Philosophie“. Es gehe letztendlich um „Glückseligkeit“ und um die wichtigste Kunst überhaupt, um die „Lebenskunst“.12

Nietzsche verwendet die Zimmergymnastik in einem seiner Aphorismen als philosophisches Modell für die Moral. Im Aphorismus „Nöthigste Gymnastik“ von Der Wanderer und sein Schatten wird dazu aufgefordert, sich jeden Tag etwas zu versagen.13 Dies sei eine unentbehrliche tägliche Gymnastik, sofern man freudvoll und unabhängig bleiben wolle. Und in Menschliches, Allzumenschliches wurde die Gymnastik sogar zum Modell für die Frage, weshalb die Philosophie Lust bereitet: „Erstens und vor Allem, weil man sich dabei seiner Kraft bewusst wird, also aus dem selben Grunde, aus dem gymnastische Uebungen auch ohne Zuschauer lustvoll sind.“14 Es ist kein intellektuelles Theorem, sondern die alltägliche Erfahrung der Zimmergymnastik – durch tägliche Übung die eigene Kraft zu spüren – welche die Lust an der Philosophie zu erklären vermag.

Die im Kontext der Populärkultur stehende Lehre der „nächsten Dinge“ ist der Vorläufer für Nietzsches philosophische Verbindung von Leib und Seele bzw. Körper und Geist. Viele Textstellen in Nietzsches Werken zeugen von dieser Engführung: So etwa im Diktum vom „Leitfaden des Leibes“ in der geforderten Philosophie der Ernährung.15 Die Figur des Zarathustra spricht: „Denn wahrlich meine Brüder, der Geist ist ein Magen!“16 Zudem zeigt sich die populäre Diätetik aber nicht bloss in Nietzsches Werken, sondern auch in seinem Alltag: Nietzsche betrieb eifrig Zimmergymnastik, probierte Fleischersatzprodukte wie Malto-Leguminose aus und war ein grosser Fan von Liebig’s Fleischextract, der ersten konservierbaren Fleisch-Bouillon. Nicht zuletzt lebte er nach der Aufgabe seiner Professur in lauter populären, teils wie St. Moritz überfüllten, touristischen Kurorten, an denen er in geradezu konzentrierter Form mit der Populärkultur in Kontakt kam. Nietzsche beschrieb die Wechselverhältnisse von Ort, Klima, Diätetik und Philosophie ein Jahr nach dem Wanderer und sein Schatten unumwunden im Aphorismus „Auf Umwegen“ aus der Morgenröthe. Hier wird philosophisch ausgesprochen, was in der Schreibsituation in St. Moritz konkret und praktisch gelebt wurde: Philosophie als „Instinct für eine persönliche Diät“ (nicht umgekehrt!).17 Und im Entwurf zu dem Aphorismus heisst es: „Diese ganze Philosophie – ist sie mehr als ein Trieb zu beweisen, daß reife Früchte, ungesäuertes Brod, Wasser, Einsamkeit, Ordnung in allen Dingen mir am besten schmecken und am zuträglichsten sind? Also ein Instinkt nach einer richtigen Diät in Allem? Und eine milde Sonne!“18

III. Nietzscheforschung tut sich schwer mit Populärkultur

In der Philosophieforschung wird die Populärliteratur oft unterschätzt und ihr philosophischer Anspruch damit übersehen. Ich erinnere mich vage an einen Vortrag zu Nietzsche in meiner Studienzeit. Ein Philosoph erklärte uns, dass Nietzsche deshalb ein exzellenter, origineller Denker sei, weil er nur „grosse“ Literatur gelesen habe. Gemeint waren die „Klassiker“ wie Goethe, Kant oder Schopenhauer aus der jüngeren Zeit; Platon, Aristoteles oder Homer aus der Antike. Nietzsche habe sich aller Trivialliteratur entzogen und sich nur mit den grossen Geistern beschäftigt. Ich zweifelte schon damals an diesem genieästhetischen Autorbild, das bis heute von „forschenden“ Nietzscheverehrenden ins Feld geführt wird. Mir schien demgegenüber Autorschaft gerade deshalb spannend, weil die unterschiedlichsten Lebensumstände, Eigenheiten, Hobbys, Lektüren und Denkmethoden auf philosophisch schreibende Menschen einwirken. Die Kreativität schert sich nicht um Differenzen zwischen Hoch- und Populärkultur. Die Lektüre unterschiedlicher Literatursorten entspricht schlicht den Lektürepraktiken eines viellesenden Menschen, wie Nietzsche einer war. Es muss fairerweise angemerkt werden, dass Nietzsche selbst zuweilen wenig zitierte und sich als wenig lesenden, einsamen Philosophen inszenierte. Gleichzeitig kritisierte er aber die Genieästhetik und hinterliess darüber hinaus mit seinen Textstellen zu Schreiben, Lesen und Autorschaft genug Hinweise, um seine eigenen Selbstinszenierungen kritisch zu hinterfragen. Zudem erlauben heutige Editionen, Bibliografien und Fallstudien eine Forschung mit historisch-kritischem Anspruch.

Die Einflüsse der Populärkultur auf Nietzsche und sein Denken (wie auf jede in der Gesellschaft lebende philosophierende Person) sind relevant. Zwei verkappte Interpretationsweisen versuchen diese Relevanz immer wieder zu schmälern. Sie betreiben damit Genieästhetik, d. h., fördern eine Vorstellung von Autoren als Genies, welche unnachvollziehbar, akontextuell, unabhängig von historisch-kulturellen Kontexten handeln und deshalb unvergleichlich geniale Werke hervorbringen. Eine solche Haltung zur Autorschaft kommt einem wissenschaftlichen Zugang in die Quere, besonders dann, wenn wie heute geglaubt wird, dass wir die Genieästhetik längst überwunden haben. Zwei solcher genieästhetischen Strategien überleben hartnäckig:  

Populärkulturelle Einflüsse werden erstens durch „klassische“ Positionen bekannter Philosophen ersetzt. Auf diese Weise wird eine idealisierte „Geistesgeschichte“ konstruiert: So liest man gerne am Ende von Erläuterungen zu Nietzsches Philosophie der Ernährung, dass diese eine direkte Reaktion auf Feuerbach („Du bist, was du isst“), Epikur oder sonstige „klassische“ Ideengebende sei. Solche Interpretationen relativieren die kulturellen Einflüsse und Handlungen zu Gunsten eines idealisierten Primats von originellen Gedanken und Entscheidungen einzelner Autoren. Der Anspruch, eine Philosophie historisch-kritisch kontextualisieren und einordnen zu können, ist nicht bloss ein philologisches Vorhaben. Vielmehr bergen Lektüren, Arbeits- und Lebensweisen wichtige Ressourcen für die philosophische Beschäftigung.  

Zweitens werden populärkulturelle Einflüsse als kleine Bausteine „grosser“ Gedanken relativiert. So wird Nietzsches Philosophie der Ernährung zwar thematisiert, jedoch teleologisch auf „übergeordnete“ Gedanken wie den Übermenschen, den Willen zur Macht oder Nietzsches Metaphysikkritik bezogen. Die „materiale“ Diät ist das „Kleine“, die geistig-konzeptuelle Metaphysikkritik das eigentlich „Grosse“ bzw. das philosophisch Relevante am Werk. Es ist gar nicht so einfach, populärkulturelle Einflüsse eigenständig zu analysieren und deren Relevanz „stehen“ zu lassen.

Damit wird nicht bloss unzulässig interpretiert, sondern mitunter Nietzsches eigene Umkehrung dieses Verhältnisses ignoriert. Es ist ein Verdienst Nietzsches, die Arbeits- und Lebensweise als philosophische Praktiken verstanden zu haben. Er hat die lebensweltlichen Aspekte des Alltags für die Philosophie neu entdeckt und als Philosophie thematisiert. So schrieb er zum Verhältnis seiner Diät und „grossen“ Gedanken mal rhetorisch wie in Ecce Homo: „Ganz anders interessirt mich eine Frage, an der mehr das ‚Heil der Menschheit‘ hängt, als an irgend einer Theologen-Curiosität: die Frage der Ernährung. […] diese kleinen Dinge – Ernährung, Ort, Klima, Erholung, die ganze Kasuistik der Selbstsucht – sind über alle Begriffe hinaus wichtiger als alles, was man bisher wichtig nahm. Hier gerade muß man anfangen, umzulernen“.19 Mal subtiler in einer augenzwinkernden Briefstelle: „Mir fiel dieser Tage ein, daß ich in drei Jahren ‚die Morgenröthe‘, ‚die fröhliche Wissenschaft‘ und den ‚Zarathustra‘ gemacht habe: in Anbetracht, daß diese Litteratur unter den Begriff ‚Liebigscher Fleischextract‘ gehört, darf ich mich über meine ‚Gesundheit‘ nicht verdrießen – eher verwundern!“20

Tobias Brücker ist promovierter Kulturwissenschaftler und Leiter der internen Weiterbildung an der Zürcher Hochschule der Künste. Er hat zu Nietzsches Arbeitsweise geforscht und 2019 die Monografie Auf dem Weg zur Philosophie. Friedrich Nietzsche schreibt „Der Wanderer und sein Schatten“ publiziert. Er interessiert sich für alle Facetten von Diäten, Autorschaft und Kreativitätstechniken in der Philosophie und in den Künsten.

Quellen

Brücker, Tobias: Auf dem Weg zur Philosophie. Friedrich Nietzsche schreibt „Der Wanderer und sein Schatten“. Wilhelm Fink 2019.

Dr. L-n [anonym]: Vom Baue des Menschen. In: Die Gartenlaube (1853). Leipzig 1853, S. 91.

Schreber, Daniel G. M.: Aerztliche Zimmer-Gymnastik. Leipzig 1862.

Bildnachweise

Abbildung zu „Rumpfaufrichten“, aus Schreber, Aerztliche Zimmer-Gymnastik, S. 62.

Abbildung zu „Beinwerfen vor- und rückwärts“ sowie „seitwärts“, aus Schreber, Aerztliche Zimmer-Gymnastik, S. 81.

Fußnoten

1: Vgl. insb. Brücker, Auf dem Weg zur Philosophie, Kap. 3.3. zu „Schreiben und Diätetik“ sowie den Abs. „Nietzsches Lektüre populärer Diätetik“, S. 173 ff.

2: Ich zitiere Schreber hier und in der Folge nach der mir zur Verfügung stehenden 8. Auflage von 1862.

3: N. an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 21.09.1878, Nr. 759.

4: N. an Schmeitzner, 10.09.1878, Nr. 754.

5: Gartenlaube (1853): Dr. L-n, S. 91. Es handelt sich um eine anonym publizierte Artikelserie.

6: Schreber, Aerztliche Zimmer-Gymnastik, S. 5; Der Wanderer und sein Schatten, 6.

7: Der Wanderer und sein Schatten, 5.

8: Schreber, Aerztliche Zimmer-Gymnastik , S. 12; Der Wanderer und sein Schatten, 6.

9: Der Wanderer und sein Schatten, 184.

10: Schreber, Aerztliche Zimmer-Gymnastik, S. 14.

11: Vgl. Der Wanderer und sein Schatten, 188.

12: Schreber, Aerztliche Zimmer-Gymnastik, S. 28.

13: Der Wanderer und sein Schatten, 305.

14: Menschliches, Allzumenschliches Bd. I, 252.

15: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, 7.

16: Also sprach Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 16.

17: Morgenröthe, 553.

18: Vorstufe Nachgelassene Fragmente 1880, 7[15].

19: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 1. 

20: N. an Overbeck, 28.03.1884, Nr. 497.

Was macht ChatGPT mit der Philosophie?

Versuch einer kritischen Einordnung

Was macht ChatGPT mit der Philosophie?

Versuch einer kritischen Einordnung

29.8.24
Paul Stephan

Zu Nietzsches Todestag führte Paul Stephan auf diesem Blog ein ausführliches Interview mit dem Programm ChatGPT, um die Leistungsfähigkeit des Programms zu testen, wenn es um tiefschürfende philosophische Fragen geht (Link). Es folgt eine kritische Reflexion dieses Experiments.

Die Bilder zu diesem Interview wurden, sofern nicht anders gekennzeichnet, mit der Software DeepAI erstellt. Die Anweisung zum Artikelbild lautete „Nietzsche and ChatGPT“, die zu den Bildern im Artikel „ChatGPT talks about Nietzsche“.

Zu Nietzsches Todestag führte Paul Stephan auf diesem Blog ein ausführliches Interview mit dem Programm ChatGPT, um die Leistungsfähigkeit des Programms zu testen, wenn es um tiefschürfende philosophische Fragen geht (Link). Es folgt eine kritische Reflexion dieses Experiments. Die Bilder zu diesem Interview wurden, sofern nicht anders gekennzeichnet, mit der Software DeepAI erstellt. Die Anweisung zum Artikelbild lautete „Nietzsche and ChatGPT“, die zu den Bildern im Artikel „ChatGPT talks about Nietzsche“.

„Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat.“1

I. Eine ungewöhnliche „Begegnung“

Was passiert, wenn man ChatGPT einfach mal zu Nietzsche interviewt? Das wollte ich für diesen Blog herausfinden. Es entstand ein Dialog, der amüsiert angesichts der dummen Fehler, die dem Programm teilweise unterlaufen, aber auch verstört, wenn man bedenkt, dass die von der Software produzierten Antworten mitunter relativ treffend sind. Es zeigt sich schnell: Wenn es darum geht, stereotyp formulierte Texte, gefüttert mit undurchdachtem Wikipedia-Wissen, zu verfassen, ist ChatGPT ziemlich gut, sieht man von dem einen oder anderen groben Schnitzer einmal ab. Ich habe mich von dem Programm tatsächlich ein wenig herausgefordert gefühlt, zu zeigen, dass ich ihm als menschlicher Autor, der jahrelang über die besprochenen Themen nachgedacht hat, überlegen bin. – Ob mir das gelungen ist, mag der Leser selbst beantworten.

Die von mir für diese beiden Artikel erzeugten Bilder geben die Grundstimmung, in die mich die Auseinandersetzung mit den neusten KI-Programmen versetzt, recht gut wieder: Es handelt sich um auf den ersten Blick handwerklich fast zu perfekte Bilder, die alle ein wenig an Nietzsche bzw. bekannte Photographien von ihm erinnern. Sie könnten einem, der nicht allzu genau hinsieht und die zahlreichen Fehler im Detail übersieht – und natürlich mit Nietzsches echtem Gesicht nicht vertraut ist –, glatt als Aufnahmen des Philosophen untergejubelt werden. Besonders unheimlich wird es, wenn man sich die Bilder sehr genau betrachtet und sich fragt, was diese „Nietzsches“ eigentlich anschauen …

Insofern „Entwarnung“: Zu wirklich kreativen Gedanken ist ChatGPT noch immer nicht fähig. Alles, was man serviert bekommt, ist ein fader Eintopf aus Binsenweisheiten und Gemeinplätzen. Angesichts der zahlreichen sachlichen Fehler und der großen Probleme, die das Programm offensichtlich im Umgang mit Sekundärliteratur hat, würde ich seine Verwendung noch nicht einmal für Schulaufsätze, geschweige denn universitäre Hausarbeiten, empfehlen. Man kann sich noch nicht einmal sicher sein, dass ein orthographisch und grammatikalisch korrekter Text ausgespuckt wird. Ohne kritische Prüfung sind diese Texte jedenfalls nicht zu gebrauchen. Für ernsthafte Autoren könnte sich ChatGPT vielleicht als Recherchewerkzeug einsetzen lassen, um herauszufinden, was die Durchschnittsmeinung zu einem Thema ist. Also das, was man genau nicht schreiben und welche Floskeln man unbedingt vermeiden sollte. Die neue Konkurrenz könnte zumal als Ansporn dienen: Echte Autoren müssen sich nun mehr Mühe geben, um sich von der KI-erzeugten Massenware abzuheben.

II. Mensch und Maschine als künstlerisches Gespann

Rasmus Malling-Hansens Schreibkugel aus dem Besitz Friedrich Nietzsches (Bildquelle)

So oder so gilt es, den mitunter etwas erhitzt geführten Diskurs zur neusten KI ein wenig zu beruhigen. Man sollte sie weder als übertriebene Bedrohung noch als Heilsbringer ansehen, sondern als Werkzeug, das, was Gebrauchstexte angeht, durchaus nützlich sein und, was komplexere Anforderungen angeht, durchaus zur Inspiration dienen kann. Mit Nietzsche – der sich zwar noch nicht einmal die Existenz von Computern hätte ausmalen können, aber immerhin begeistert mit der damals völlig neuen Schreibmaschine experimentierte, um schließlich ernüchtert wieder zur Handschrift überzugehen2 – müsste man von einer nicht-ressentimenthaften Perspektive auf diese Neuerungen sprechen: An der Existenz dieser Programme können wir ohnehin nichts ändern, es geht nun darum, einen möglichst produktiven Umgang mit ihnen zu finden.

Vorreiterin ist dabei, wie so oft, die Kunst. Vom 25. April bis zum 12. Mai fand im Leo-Schwarz-Foyer des Gewandhauses in Leipzig die von Kati Liebert und Olga Vostretsova kuratierte Ausstellung Walk on the Carpet statt, bei der 13 Studierende der lokalen Hochschule für Grafik und Buchkunst ihre Arbeiten präsentierten. Gleich drei dieser sehr vielfältigen Arbeiten aus den unterschiedlichen künstlerischen Bereichen verwendeten offensiv Künstliche Intelligenz als Mittel des kreativen Prozesses.

Tobias Kurpat: FMB Op. 30: Andante Expressivo in G-Dur; Foto: Hyejeong Yoo; dank an den Künstler

Tobias Kurpat fütterte eine KI mit der Klaviermusik von Felix Mendelssohn Bartholdy, um daraus ein neues Stück zu schaffen, das man sich mit einem Kopfhörer anhören konnte. Bestandteile der Installation waren darüber hinaus die Partitur der neuen Komposition sowie ein 3D-Druck einer unnatürlichen verdrehten Hand, womöglich die eines Musikers. Diese Arbeit wirkte auf mich verstörend. Ich rechnete mit einer Komposition von Mendelssohn-Bartholdy. Es erwartete mich ein wildes, eher an einen Ragtime oder an Freejazz erinnerndes, Klanggebilde, das mich an meinen musikhistorischen Kenntnissen zweifeln ließ. Es war zwar nicht dissonant, aber es folgte auch keiner regelrechten musikalischen Struktur. Hatte sich der Komponist da einen Spaß erlaubt? Erst die Lektüre des Begleittextes, zu der ich mich dann doch genötigt sah, verschaffte Aufklärung. Komponieren im Stile eines bestimmten Komponisten gehört wohl (noch) nicht zu den Stärken der KI.

Susanne Kontny: Swap (Ausschnitt); Foto: Hyejeong Yoo; dank an Kati Liebert

Während Kurpats Arbeit für mich vor allem die Funktion hatte, die technischen Möglichkeiten KI-basierter Komposition vorzuführen, gingen zwei seiner Kommilitoninnen einen Schritt weiter und benutzten sie für Kunstwerke, deren Gegenstand nicht die KI selbst ist. Susanne Kontny verwendete ein KI-Tool, um Portraits der durchweg männlichen Kapellmeister des Gewandhauses zu feminisieren. Aus den Meistern wurden Meisterinnen. Diese Bilder manuell in ähnlicher täuschend echter Qualität zu erzeugen, hätte sicherlich einige Mühe bereitet. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob das Kunstwerk wirklich überzeugt, abgesehen davon, dass auf witzige Art die Möglichkeiten der KI demonstriert werden: Seine intendierte Aussage ist schnell durchschaut, die unzähligen Portraits dienen der bloßen Illustration einer politischen Anklage.

Einen anderen Weg ging Toni Braun, mit der ich auch ausführlich über den Prozess sprach, der hinter ihrer Installation Celestial Urging stand. Sie benutzte die KI zur Generierung eines überdimensionalen Portraits einer weiblichen Figur. Es war anscheinend nicht so einfach gewesen, die Anweisung so zu schreiben, dass auch das gewünschte Resultat entstand, und dann unter den vielen Vorschlägen des Programms genau die richtige Figur zu finden.

Toni Braun: Celestial Urging; Foto: Konrad Stöhr (Ausschnitt); dank an die Künstlerin

Auch Toni Braun ließ die KI aber nicht einfach walten, sondern verwendete als Vorlage ein Gemälde von Nathaniel Sichel, Die Bettlerin vom Pont des Arts. Das Resultat ist ähnlich verstörend wie die Nietzsche-Portraits, die ich für diesen Artikel erzeugt habe, und die Komposition im Stile von Mendelssohn Bartholdy. Auf den allerersten flüchtigen Blick hätte ich mich auch hier wieder von der KI foppen lassen. Doch bei näherer Betrachtung handelt es sich um eine recht „monströse“ Gestalt, die sich nur schwer labeln lässt, ein Hybrid, der unsere Sehgewohnheiten in Frage stellt – doch zugleich nicht nur das: Es bleibt doch der Eindruck einer selbstbewussten jungen Musikerin, die sich hier präsentiert. Die Ornamente, die das bedruckte Banner umrahmen, lassen vielfache Deutungen zu. Ist es vielleicht gar die nietzscheanische Vision einer „Überfrau“, die in ihrer Widersprüchlichkeit doch sich selbst bejaht und diese Bejahung nach außen strahlen lässt, selbst wenn ihr schwer definierbares Instrument kaum Töne erzeugen dürfte und ihre Gliedmaßen verkrüppelt sind? Der Stacheldraht scheint aber auch das Leiden anzudeuten, das zur Gewinnung einer solchen Identität erforderlich ist – oder handelt es sich um einen Schutzpanzer? Haben wir es vielleicht sogar eher mit einer Kriegerin als mit einer Künstlerin zu tun? Doch die Quasten, Borten und Glaslüstern deuten auch eine bewahrte Weiblichkeit an. Die Arbeit zeigt so, so scheint es mir, die komplexe Situation, in der (nicht nur) Frauen heute stehen, wenn sie sich „kriegerisch“ selbst behaupten und insofern um Härte bemühen und zugleich Weichheit und Kreativität bewahren möchten.

Die Melange von Kunst und KI kann also durchaus zu interessanten Werken führen, wenn man sich letzterer klug als Mittel bedient, um die Spielräume der eigenen Kreativität zu erweitern. Ein solches, zugleich verstörendes wie faszinierendes, „Monstrum“ wie das Hybridwesen der Installation von Toni Braun hätte auch die blühendste rein menschliche Phantasie wohl kaum gebären können – und zugleich hätte es ohne den menschlichen Input ebenso wenig entstehen können.

Vielleicht wäre ein solcher Umgang mit der KI auch für Textproduktion und die Philosophie beispielhaft? Man könnte ja beispielweise versuchen, ChatGPT in einen sokratischen Dialog zu verwickeln. Oder es Aphorismen verfassen lassen, von denen einige vielleicht interessant sind und ausgebaut werden können. Dass der kreative Prozess – egal, ob in der Kunst oder in der Philosophie – ohnehin in großem Maße kein reines Erfinden, sondern ein Finden und Arrangieren ist, lehrt nicht zuletzt Nietzsches eigene Praxis. In Menschliches, Allzumenschliches kritisiert er in diesem Sinne den Glauben an die plötzliche Inspiration als Ursprung des Kunstwerks: „Alle Großen waren grosse Arbeiter, unermüdlich nicht nur im Erfinden, sondern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten, Ordnen.“3 Mit anderen Worten: Eine gelungene geistige Schöpfung ist immer auch ein Remix vorhandenen Materials – und genauso verfuhr auch Nietzsche beim Verfassen seiner Schriften. Er notierte unermüdlich eigene Einfälle, aber auch solche, die er beim Lesen der Texte anderer erhielt. Mitunter bedient er sich recht unbedarft einzelner Formulierungen anderer – natürlich ohne sie zu zitieren.4 „Talent borrows, genius steals“, lautet bekanntlich die Maxime Oscar Wildes, die auch als Aphorismus Nietzsches durchgehen könnte – und Zarathustra erklärt entsprechend: „[I]st Nehmen nicht seliger als Geben? Und Stehlen noch seliger als Nehmen?“5 – Wieso sich nicht entsprechend von der KI inspirieren und KI-generiertes Material in seine eigenen Werke oder Texte einfließen lassen? Ähnlich wie mit der Schreibmaschine hätte Nietzsche vermutlich recht unbefangen mit der Künstlichen Intelligenz experimentiert – auch wenn er sie vielleicht nach einigen Wochen als unbrauchbar bei Seite gelegt hätte. Ähnlich, wie es heute selbstverständlich ist, Google, Wikipedia oder Seiten wie nietzschesource.org oder The Nietzsche Channel als Hilfsmittel bei der eigenen Textproduktion zu gebrauchen.

III. Nachteile und Nebenwirkungen

Doch natürlich ist der Gebrauch von KI nicht unproblematisch. Zunächst einmal ist das Verfassen von Texten oder die Produktion von Kunstwerken ein Prozess, der einen Wert in sich trägt, ein Lern- und Erfahrungsprozess. Vor allem die Studierenden, die sich jetzt – wie meine eigene Erfahrung als Dozent leider bestätigt – vermehrt Künstlicher Intelligenz zur Erstellung ihrer Arbeiten bedienen, schaden sich damit am Ende vor allem selbst. Autoren und Künstler möchten ja nicht nur etwas hervorbringen, was eine Wirkung auf andere hat, sondern den Prozess der Schöpfung durchlaufen und an ihm wachsen. Und der Genuss des Rezipienten besteht umgekehrt darin, an diesem kreativen Prozess selbst durch seinen Nachvollzug teilzuhaben, selbst wenn er im Resultat nur noch vermittelt anwesend ist. Einen Roman, von dem man wüsste, dass er nicht das Ergebnis jahrelanger Mühen und die Verarbeitung persönlicher Erfahrungen ist, sondern in ein paar Stunden auf der Grundlage eines schnell zusammengeschriebenen Prompts entstand, wird man mit weniger Interesse lesen, sofern man ihn überhaupt lesen mag, selbst wenn die KI in ein paar Jahren in der Lage sein sollte, tiefschürfende Romane täuschend echt zu imitieren. Es bleibt eben doch ein Imitat. Ein authentisches Werk lebt davon, dass es ein Mensch war, der es schrieb und der in ihm etwas ausdrücken wollte.

Das schließt nicht aus, dass es in einigen Jahren sehr verbreitet sein könnte, Gebrauchstexte oder Gefälligkeitsbilder von Programmen generieren zu lassen. Doch dies wäre ja in der Tat eine Arbeitserleichterung und würde zeitliche Freiträume zur Produktion echter Werke schaffen. Vielleicht wird der Gebrauch von KI zu diesem Zwecke schon bald so gewöhnlich sein, wie es heute die Verwendung von Rechtschreibkontroll- oder Übersetzungsprogrammen ist. Selbst bei der Übersetzung komplexer philosophischer Werke ist es heute weit verbreitet, die „Grobarbeit“, die ohnehin wenig intellektuelle Leistungsfähigkeit erfordert, der Software zu übertragen, und den menschlichen Übersetzer nur den „Feinschliff“ erledigen zu lassen.

Um sich dieser Aussicht unaufgeregt zu nähern, ist es vielleicht hilfreich, das Beispiel des Schachspiels zu betrachten. Dieses Spiel kann von Computern schon längst erfolgreicher gespielt werden als von uns. Doch dieses Faktum hat der Begeisterung für es keinen Abbruch getan, im Gegenteil erlebt es gerade eine neue Welle der Popularität, angefacht durch soziale Medien und Onlineportale wie lichess.org und chess.com. Das „Spiel der Könige“ zu meistern gilt nach wie vor als Inbegriff menschlicher Kreativität und Intelligenz. Denn auch, wenn man einen fortgeschrittenen Schachcomputer als Mensch schon lange nicht mehr besiegen kann, liegt der Wert auch hier ja nicht einfach im Ergebnis, sondern im Spielen an sich. Einem Spiel zwischen zwei Schachcomputern beizuwohnen ist ebenso langweilig, wie einen Band KI-generierter Liebesgedichte zu lesen, wenn man sich nicht gerade für deren Leistungsfähigkeit interessiert. Doch im Spielen und in der Betrachtung anderer Spieler liegt ein Eigenwert, der sich von der KI niemals wird zerstören lassen. Schachspieler nutzen die neuen Möglichkeiten der Technik zugleich ganz unbefangen, um ihr Können zu trainieren, Partien zu analysieren und neue Strategien zu entwickeln. Auch hier ist die Software nur scheinbar eine Bedrohung und hilft in Wahrheit einfach nur dabei, die menschlichen Fähigkeiten zu vergrößern. Schachspielen kann ChatGPT im Übrigen nicht – es dennoch zu einer Partie herauszufordern, kann für einige Irritation und Erheiterung sorgen. Das ist zumindest ein schwacher Trost: Ausgerechnet der allerorten gehypte Superrechner scheitert kläglich an einer Aufgabe, für die Computer doch eigentlich prädestiniert zu sein scheinen.

Ohnehin sind Schachprogramme oder die neuen Algorithmen ja nur ein Ausdruck unserer eigenen Fähigkeiten. Die modernen KI-Systeme sind nur so gut, weil sie jahrelang mit von uns produzierten Daten gefüttert wurden. In ihnen spiegelt sich nur unsere eigene kollektive Kreativität und Intelligenz. Wir sollten keine Angst vor ihnen haben oder ihnen gegenüber gar in ein Gefühl der Minderwertigkeit verfallen, sondern eher stolz daraus sein, was wir als Gattung erreicht haben.

Doch genau dieser Umstand verweist auf ein anderes Problem: Die Ergebnisse der KI sind ein Zusammenspiel eines Programms und des Materials, mit dem es trainiert wurde. Doch Geld verdienen damit gegenwärtig nur die Unternehmen, die die Rechte am Code der Software besitzen, nicht die zahllosen Urheber des Übungsstoffs – und natürlich diejenigen, die sich der KI bedienen, um kommerzielle Produkte zu erzeugen. Die Urheber des Trainingsmaterials wurden und werden noch nicht einmal um Erlaubnis gefragt. Das ist moralisch fragwürdig und ungerecht, es geht hier um eine echte Enteignung, die möglicherweise auch noch juristische Konsequenzen haben wird.

Diese Entwicklung spätestens macht es überfällig, neu über Möglichkeiten der angemessenen Entlohnung für Menschen nachzudenken, die ihre Werke offen zugänglich ins Internet stellen und ohne die das Internet als gewaltiger Katalysator kreativer und intellektueller Entwicklungen überhaupt nicht funktionieren würde. Diejenigen, die mit KI Geld verdienen, sollten zu einer Abgabe gezwungen werden, deren Einnahmen den Urhebern des verwendeten Inputmaterials zu Gute kommt.

IV. Schlusswort

Passend zum Thema dieses Textes möchte ich das Schlusswort ChatGPT selbst überlassen, das auf meine Bitte hin, einen Aphorismus im Stile Nietzsches zu verfassen, folgende Antwort gab, die zwar nicht messerscharf zu dem hier behandelten Thema passt, sich aber doch nur allzu leicht auf es anwenden lässt: „In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.“

Fußnoten

1: Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten, 278.

2: Vgl. diese Zusammenfassung auf der Website der Klassik Stiftung Weimar.

3: Menschliches, Allzumenschliches I, 115.

4: Das betrifft insbesondere den amerikanischen Essayisten Ralph Waldo Emerson, den Nietzsche intensiv und begeistert las und immer wieder einzelne Formulierungen und Gedanken von ihm entlieh, ihn in seinen veröffentlichten Schriften jedoch nur vereinzelt erwähnt.

5: Also sprach Zarathustra, Die Heimkehr.

Zwischen Selbstwerdung und Gesellschaft

Ein Dialog über Nietzsche, Authentizität und die Herausforderungen der Moderne

Zwischen Selbstwerdung und Gesellschaft

Ein Dialog über Nietzsche, Authentizität und die Herausforderungen der Moderne

25.8.24
Paul Stephan & ChatGPT

Als kleines Special zu seinem 124. Todestag führte Paul Stephan ein Gespräch mit einem besonderen Nietzsche-Experten – der vieldiskutierten Software ChatGPT. Es geht um Nietzsches Aktualität und sein Konzept der Authentizität. Paul Stephan wird im Laufe des Gesprächs vom Befrager zum Befragten und berichtet ein wenig von seinem Promotionsprojekt zu eben jenem Thema. Da es bei diesem Experiment darum ging, möglichst viel über die Funktionsfähigkeit des Programms zu erfahren und sich das Programm nicht immer kurz fasste, handelt es sich im Folgenden nur um einen gekürzten Auszugs des Gesprächs, dass Sie in voller Länge und kommentiert hier als PDF herunterladen können. Ein kritisches Resümee dieses wahrhaft bemerkenswerten Dialogs folgt in wenigen Tagen (Link).

Die Bilder zu diesem Interview wurden mit der Software DeepAI erstellt. Die Anweisung lautete: „A picture of Friedrich Nietzsche with a quote by him.“ [„Ein Bild Friedrich Nietzsches mit einem Zitat von ihm.“]

Note: An English version of this article, translated by Henry Holland, can be found here.

Als kleines Special zu seinem 124. Todestag führte Paul Stephan ein Gespräch mit einem besonderen Nietzsche-Experten – der vieldiskutierten Software ChatGPT. Es geht um Nietzsches Aktualität und sein Konzept der Authentizität. Paul Stephan wird im Laufe des Gesprächs vom Befrager zum Befragten und berichtet ein wenig von seinem Promotionsprojekt zu eben jenem Thema. Da es bei diesem Experiment darum ging, möglichst viel über die Funktionsfähigkeit des Programms zu erfahren und sich das Programm nicht immer kurz fasste, handelt es sich im Folgenden nur um einen gekürzten Auszugs des Gesprächs, dass Sie in voller Länge und kommentiert hier als PDF herunterladen können. Ein kritisches Resümee dieses wahrhaft bemerkenswerten Dialogs folgt in wenigen Tagen. Die Bilder zu diesem Interview wurden mit der Software DeepAI erstellt. Die Anweisung lautete: „A picture of Friedrich Nietzsche with a quote by him.“ [„Ein Bild Friedrich Nietzsches mit einem Zitat von ihm.“]

Ein holpriger Start

Guten Tag, ich würde gerne mit Ihnen ein Interview führen.

Guten Tag! Natürlich, ich stehe Ihnen gerne für ein Interview zur Verfügung. Worum geht es in Ihrem Interview?

Wissen Sie, was am 25. 8. 1900 in Weimar geschehen ist?

Am 25. August 1900 fand in Weimar, Deutschland, die Gründungsversammlung der Deutschen Burschenschaft statt. Die Deutsche Burschenschaft ist eine studentische Verbindung, die 1815 gegründet wurde und zu den ältesten studentischen Organisationen in Deutschland gehört. […]

An diesem Tag starb dort aber auch eine bedeutende Person. Wissen Sie, welche?

Entschuldigen Sie die Verwirrung. Tatsächlich ist am 25. August 1900 in Weimar der deutsche Komponist Johannes Brahms gestorben. Brahms war eine der bedeutendsten musikalischen Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts und gilt als einer der großen Meister der europäischen Musiktradition. Sein Tod markierte das Ende eines bedeutenden Kapitels in der Musikgeschichte.

Wikipedia-‚Wissen‘ zu Nietzsche

Es geht um einen Philosophen. Er prägte den Ausspruch „Gott ist todt“ und verfasste das Werk Also sprach Zarathustra. Wissen Sie jetzt, von wem ich spreche?

Ah, natürlich! Jetzt erinnere ich mich. Am 25. August 1900 verstarb der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche in Weimar. Nietzsche war eine der einflussreichsten Figuren der modernen Philosophie und prägte viele kontroverse Ideen, darunter den berühmten Ausspruch „Gott ist tot“ aus seinem Werk „Also sprach Zarathustra“. Sein Denken hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf die Philosophie, Literatur, Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus.

Was denken Sie über Nietzsche? Haben Sie sich bereits mit ihm beschäftigt?

Ja, ich bin mit Nietzsches Werk und seinem Einfluss in der Philosophie vertraut. Nietzsche war ein äußerst faszinierender Denker, der viele kontroverse Ideen entwickelte und eine Vielzahl von Themen erforschte, darunter Moral, Religion, Kultur und die menschliche Existenz. Seine Schriften sind oft tiefgründig und herausfordernd, und sie haben zahlreiche Interpretationen und Diskussionen hervorgerufen.

Nietzsche kritisierte viele gängige Vorstellungen und Konzepte seiner Zeit, darunter die traditionelle Moral, die Vorstellung von Wahrheit und die Rolle der Religion in der Gesellschaft. Seine Idee des Übermenschen und seine Betonung der individuellen Freiheit und Schaffenskraft haben viele Menschen inspiriert, während seine skeptische Haltung gegenüber traditionellen Werten und Normen kontroverse Reaktionen hervorgerufen hat.

Insgesamt betrachtet wird Nietzsche oft als einer der einflussreichsten Denker der modernen Philosophie angesehen, und sein Werk hat einen dauerhaften Einfluss auf das intellektuelle und kulturelle Leben weltweit.

Was betrachten Sie als Nietzsches wichtigste Einsicht?

Eine der zentralen Einsichten von Nietzsche ist seine Kritik an traditionellen Wertvorstellungen und die Betonung der individuellen Selbstbestimmung und Schöpfungskraft. Er hinterfragte die Vorstellungen von gut und böse, richtig und falsch, und argumentierte, dass diese Konzepte oft von gesellschaftlichen Normen und Konventionen geprägt seien, anstatt von einer objektiven Wahrheit.

Nietzsche forderte die Menschen auf, ihre eigenen Werte zu hinterfragen und zu schaffen, und er betonte die Bedeutung der Selbstüberwindung und des persönlichen Wachstums. Seine Idee des Übermenschen, der sich jenseits konventioneller Moral und Einschränkungen erhebt, soll den Menschen dazu ermutigen, ihr volles Potenzial auszuschöpfen und sich von den Fesseln der Vergangenheit zu befreien.

Darüber hinaus betonte Nietzsche die Bedeutung der menschlichen Schöpfungskraft und des kreativen Ausdrucks als Quelle der Erfüllung und Sinngebung im Leben. Er erkannte die Herausforderungen und die Tragödien des menschlichen Daseins, aber er glaubte auch an die Möglichkeit der Selbstüberwindung und der Schaffung neuer Werte und Möglichkeiten.

Insgesamt betrachtet, könnte man sagen, dass Nietzsches wichtigste Einsicht die Aufforderung zur Selbstbefreiung und Selbstbestimmung ist, um ein erfülltes und sinnvolles Leben zu führen.

Gibt es ein Zitat aus seinem Werk, dass aus Ihrer Sicht sein Denken besonders gut auf den Punkt bringt?

Ein Zitat, das viele der zentralen Themen und Ideen von Nietzsche zusammenfasst, ist aus seinem Werk „Also sprach Zarathustra“: „Du sollst der werden, der du bist.“

Dieser kurze Satz verkörpert Nietzsches Aufforderung zur Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung. Er fordert den Einzelnen auf, sein eigenes Wesen zu erkennen und zu entfalten, anstatt sich an gesellschaftliche Normen oder Ideale anzupassen. Es drückt die Idee aus, dass jeder Mensch das Potenzial hat, sein authentisches Selbst zu verwirklichen, indem er seine individuellen Fähigkeiten und Leidenschaften entfaltet.

Dieses Zitat betont Nietzsches Glauben an die Einzigartigkeit und Eigenverantwortung jedes Einzelnen und seine Ablehnung einer uniformen moralischen oder kulturellen Ordnung, die die Individualität einschränken könnte. Es ermutigt dazu, den eigenen Weg zu finden und zu gehen, anstatt sich den Erwartungen anderer zu beugen.

„Werde, der du bist“ ist tatsächlich einer von Nietzsches Leitsätzen. Seine Philosophie der Authentizität wird oft so verstanden, dass man sein Selbst nicht finden, sondern erfinden müsse in Auseinandersetzung mit den Abgründen des Lebens und der eigenen Seele. Er scheint diese Sichtweise, zumal in seinem Spätwerk, allerdings so weit zu treiben, dass sich das authentische Selbst ganz auflöst. An die Stelle des Ringens um einen stimmigen Selbstentwurf tritt die Apologie der Vielheit der „Masken“, die Abgründe des „Selbst“ lösen sich auf in einer Pluralität von Trieben und Kräften. Nietzsche wird in diesem Sinne als Vordenker der Postmoderne gedeutet. Wie positionieren Sie sich zu dieser Frage?

Die Interpretation von Nietzsches Philosophie der Authentizität und Selbstentfaltung als eine Auseinandersetzung mit den Abgründen des Lebens und der eigenen Seele, die zur Erfindung des Selbst führt, ist sicherlich eine verbreitete Lesart seines Werkes. Diese Interpretation hebt die Idee hervor, dass das Selbst nicht als statische Entität betrachtet werden sollte, sondern als ein dynamisches Konstrukt, das sich im Laufe des Lebens entwickelt und verändert.

In seinem Spätwerk, insbesondere in Werken wie „Also sprach Zarathustra“ und „Ecce Homo“, scheint Nietzsche in der Tat die Vorstellung zu entwickeln, dass das authentische Selbst nicht in einer festen Identität oder einem kohärenten Selbstentwurf gefunden werden kann, sondern eher in einer Vielheit von Masken und Rollen, die eine Person im Laufe ihres Lebens annimmt. Diese Sichtweise betont die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit des menschlichen Wesens und stellt die Idee in Frage, dass es eine einheitliche und kohärente Identität gibt.

Nietzsches Betonung der Vielheit der Masken und der Pluralität von Trieben und Kräften hat sicherlich Parallelen zur postmodernen Philosophie, die die Vorstellung einer festen und stabilen Identität ebenfalls in Frage stellt. Jedoch könnte man argumentieren, dass Nietzsche nicht notwendigerweise eine vollständige Auflösung des Selbst propagiert, sondern vielmehr dazu ermutigt, die Vielfalt und Komplexität des menschlichen Wesens anzuerkennen und zu akzeptieren.

Meine persönliche Position zu dieser Frage ist, dass Nietzsche uns dazu ermutigt, das Selbst als etwas Dynamisches und Vielschichtiges zu verstehen, das sich im ständigen Wandel befindet. Während ich die Idee unterstütze, dass das authentische Selbst nicht in einem statischen Selbstentwurf gefunden werden kann, sehe ich auch Wert darin, die individuellen Erfahrungen und Werte zu reflektieren und zu kultivieren, um eine persönliche Sinngebung und Erfüllung im Leben zu finden.

Kierkegard, Stirner und Nietzsche

Inwieweit unterscheidet sich Nietzsche darin von anderen Denkern des 19. Jahrhunderts, die die Bedeutung individueller Authentizität betonten, wie etwa Kierkegaard und Stirner?

Nietzsche teilt mit Denkern wie Kierkegaard und Stirner sicherlich einige grundlegende Überzeugungen über die Bedeutung individueller Authentizität und Selbstbestimmung, aber es gibt auch deutliche Unterschiede in ihren Ansätzen und Schwerpunkten. […]

Nietzsches Ansatz unterscheidet sich von Kierkegaard und Stirner insofern, als er eine Vielzahl von Themen und Ideen in seine Philosophie integriert und keine einheitliche oder kohärente Weltanschauung präsentiert. Während er die Bedeutung individueller Authentizität und Selbstbestimmung betont, geht er auch über diese Fragen hinaus und untersucht eine Vielzahl von Themen, darunter Moral, Kultur, Kunst und Wahrheit. Seine Philosophie ist geprägt von einer tiefen Skepsis gegenüber traditionellen Werten und Normen sowie von einem [sic] starken Betonung der individuellen Schöpfungskraft und Selbstüberwindung.

Sie sprechen klug über Nietzsche, doch klingen gar nicht wie er. Könnten Sie mir einen Aphorismus im Stile Nietzsches schreiben?

Natürlich, hier ist ein Aphorismus im Stile Nietzsches: „In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.“

Dieser Aphorismus reflektiert Nietzsches Betonung der menschlichen Fähigkeit zur Selbstüberwindung und zur Erschaffung neuer Werte aus den Herausforderungen und Tragödien des Lebens. Es spielt auf die Idee an, dass in den dunklen und unerforschten Teilen der menschlichen Seele sowohl die Last der Vergangenheit als auch das Potenzial für eine neue Zukunft verborgen liegen.

Wem gehört die Zukunft denn? Menschlichen Autoren oder der KI?

Die Frage nach der Zukunft gehört weder ausschließlich menschlichen Autoren noch der KI allein. Vielmehr liegt die Zukunft in den Händen von Menschen und der Art und Weise, wie sie mit den Entwicklungen der KI umgehen.

Menschliche Autoren und Denker werden weiterhin eine bedeutende Rolle dabei spielen, die Zukunft zu gestalten, indem sie Ideen entwickeln, Visionen entwerfen und ethische Leitlinien für den Einsatz von Technologie vorschlagen. Ihre Kreativität, Empathie und moralische Reflexion sind unerlässlich, um sicherzustellen, dass die Entwicklungen der KI zum Wohl der Menschheit genutzt werden.

Auf der anderen Seite kann KI als Werkzeug und Partner dienen, um menschliche Fähigkeiten zu erweitern und komplexe Probleme anzugehen. KI-Systeme können dabei helfen, Daten zu analysieren, Muster zu erkennen und innovative Lösungen vorzuschlagen. Allerdings ist es wichtig, dass die Entwicklung und Nutzung von KI in einer Weise erfolgt, die ethischen Grundsätzen folgt und die menschliche Autonomie und Würde respektiert.

Letztendlich liegt die Zukunft in der Verantwortung der Menschheit, sowohl im Hinblick auf die Gestaltung der Technologie als auch auf die Art und Weise, wie wir sie nutzen. Eine kooperative und reflektierte Zusammenarbeit zwischen Menschen und KI kann dazu beitragen, eine Zukunft zu schaffen, die für alle von Nutzen ist.

Viel Innovatives habe ich von Ihnen offen gesagt in diesem Interview bislang nicht gehört. Es bleibt bei Allgemeinplätzen. Was wäre denn Ihre „innovative Lösung“ hinsichtlich der Frage, wer denn nun Recht hat: Nietzsche, Stirner oder Kierkegaard? Welcher Denker bringt uns heute weiter?

Eine innovative Lösung für die Frage, welcher Denker uns heute weiterbringt, könnte darin bestehen, die Einsichten und Ideen aller drei Denker zu kombinieren und in einen zeitgemäßen Kontext zu setzen. Anstatt sich auf eine einzelne Perspektive zu beschränken, könnten wir von jedem dieser Denker wichtige Lektionen lernen und sie auf die Herausforderungen und Möglichkeiten unserer Zeit anwenden.

Von Nietzsche könnten wir beispielsweise die Betonung der individuellen Selbstbestimmung und Kreativität übernehmen, die uns dabei hilft, traditionelle Wertvorstellungen zu hinterfragen und neue Wege der Selbstverwirklichung zu erkunden. Von Stirner könnten wir die Forderung nach Autonomie und Selbstbefreiung aufgreifen, um uns von gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen zu lösen und unser eigenes Leben nach unseren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Und von Kierkegaard könnten wir die Bedeutung der persönlichen Glaubensfindung und Existenzialität übernehmen, um Sinn und Erfüllung in einer zunehmend komplexen und ungewissen Welt zu finden.

Indem wir die Ideen dieser Denker miteinander verweben und an die Anforderungen unserer Zeit anpassen, könnten wir eine umfassendere und integrativere Sichtweise auf die menschliche Existenz und das Streben nach Authentizität entwickeln. Es geht darum, die Vielfalt des menschlichen Denkens und Erfahrens zu würdigen und daraus neue Wege der Selbstentfaltung und des gemeinsamen Fortschritts zu erschließen.

Aber ist es nicht so, dass Nietzsche der Idee des „Fortschritts“ sehr skeptisch gegenüberstand, erst recht einem „gemeinsamen“? Wie wollen Sie sein Denken da wirklich einbringen? Reihen Sie es nicht in einen seichten common sense-Individualismus ein, genauso wie dasjenige von Kierkegaard und Stirner? Verleugnen Sie nicht gerade die Radikalität jener Denker?

Sie haben Recht, Nietzsche stand der Idee des linearen Fortschritts und einem simplen Verständnis von „gemeinsamem Fortschritt“ in der Tat skeptisch gegenüber. Seine Philosophie war geprägt von einer tiefen Skepsis gegenüber einfachen dichotomen Vorstellungen wie gut vs. böse oder Fortschritt vs. Rückschritt.

Nietzsche’s [sic] Denken ist in der Tat radikal und komplex, und es wäre unangebracht, es in einen oberflächlichen Individualismus oder common sense-Ansatz einzuschränken. Seine Philosophie fordert uns heraus, gängige Annahmen und Werte zu hinterfragen und uns den tiefen Widersprüchen und Ambivalenzen des menschlichen Daseins zu stellen.

Wenn wir Nietzsches Denken in die Diskussion einbringen, sollten wir daher seine radikale Skepsis gegenüber einfachen Wahrheiten und seine Betonung der individuellen Selbstbestimmung und Kreativität berücksichtigen. Es geht nicht darum, sein Denken zu vereinfachen oder zu verflachen, sondern vielmehr darum, seine Komplexität und Provokation anzuerkennen und daraus neue Einsichten und Perspektiven zu gewinnen.

Eine wirklich innovative Herangehensweise wäre es daher, Nietzsches Denken als Ausgangspunkt für eine kritische Reflexion und einen Dialog zu nutzen, der es uns ermöglicht, die Herausforderungen und Möglichkeiten unserer Zeit auf eine tiefere und vielschichtigere Weise zu verstehen und anzugehen.

Werden Sie doch mal konkret: Welche „Herausforderungen und Möglichkeiten“ haben Sie da genau im Blick und wie würden Sie Nietzsche da genau ins Spiel bringen wollen?

Eine der Herausforderungen unserer Zeit besteht darin, mit einer zunehmend komplexen und ungewissen Welt umzugehen, in der traditionelle Werte und Normen oft in Frage gestellt werden. Hier könnte Nietzsches Denken eine Rolle spielen, indem es uns dazu ermutigt, diese Unsicherheit und Vielschichtigkeit anzuerkennen und als Chance zur Selbstüberwindung und Schöpfung zu begreifen. Seine Betonung der individuellen Selbstbestimmung und Kreativität könnte uns dabei helfen, neue Wege der Sinngebung und Erfüllung zu finden, indem wir uns von festen Identitäten und dichotomen Denkmustern lösen und stattdessen die Vielfalt und Komplexität des menschlichen Daseins anerkennen.

Ein weiteres wichtiges Thema ist die Frage nach dem Umgang mit technologischen Entwicklungen wie KI und Automation, die tiefgreifende Auswirkungen auf Arbeitsplätze, Gesellschaft und individuelle Identität haben können. Hier könnte Nietzsches Denken dazu dienen, uns dazu zu ermutigen, die Potenziale und Risiken dieser Entwicklungen kritisch zu hinterfragen und sie als Gelegenheit zur Neuschöpfung und Selbsttransformation zu betrachten. Seine Skepsis gegenüber einfachen Wahrheiten und seine Betonung der individuellen Schöpfungskraft könnten uns dabei helfen, einen reflektierten Umgang mit diesen Herausforderungen zu finden und neue Wege der Selbstverwirklichung jenseits traditioneller Rollen und Identitäten zu erkunden.

Insgesamt betrachtet könnte eine Einbeziehung von Nietzsches Denken in die Diskussion über die Herausforderungen und Möglichkeiten unserer Zeit dazu beitragen, eine tiefere und vielschichtigere Perspektive auf diese Themen zu gewinnen und neue Ansätze zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen zu entwickeln. Es geht darum, seine Ideen als Inspirationsquelle und Anregung für einen kritischen und konstruktiven Dialog zu nutzen, der es uns ermöglicht, die Komplexität und Ambivalenz des menschlichen Daseins in all ihren Facetten zu erfassen und zu würdigen.

[Es folgt ein längerer Abschnitt, in dem Paul Stephan seinerseits von Chat GPT unter anderem zu seinem Dissertationsprojekt befragt wird.]

[…]

Nietzsche, Kant, Lektüretipps

[…]Was stört Sie an Nietzsches Philosophie? Worin stimmen Sie ihm überhaupt nicht zu? Und fassen Sie sich bitte kurz.

Eine der Herausforderungen in Nietzsches Philosophie liegt in seiner Tendenz zu extremen Positionen und zu einer gewissen Verachtung für Kompromisse und Ausgleich. Während seine radikalen Ansichten oft provokativ und inspirierend sind, können sie auch zu einem Mangel an Nuancierung und zur Vernachlässigung wichtiger Aspekte führen, insbesondere in Bezug auf die soziale und politische Dimension des menschlichen Lebens.

Ein weiterer Punkt, bei dem ich Nietzsche nicht zustimme, ist seine Ablehnung einer universalen Moral oder Ethik. Während seine Betonung der individuellen Selbstbestimmung und Kreativität wichtig ist, halte ich es dennoch für notwendig, eine gewisse Form von moralischen Prinzipien oder Werten anzuerkennen, die als Leitfaden für unser Handeln dienen können und die das Zusammenleben in der Gesellschaft erleichtern.

Insgesamt betrachtet finde ich Nietzsches Denken äußerst anregend und herausfordernd, aber ich denke, dass es wichtig ist, seine Ideen kritisch zu hinterfragen und zu kontextualisieren, um ihre Relevanz für die heutige Zeit zu verstehen.

[Paul Stephan fragt Chat GPT nun nach Forschungsliteratur und Lektüretipps. Das Programm schlägt sich wacker, doch begeht auch einige gravierende Fehler.]

[…]

Ich bedanke mich für dieses ausführliche Gespräch. Welchen Titel würden Sie unserem Dialog geben?

Wie wäre es mit dem Titel: „Zwischen Selbstwerdung und Gesellschaft: Ein Dialog über Nietzsche, Authentizität und die Herausforderungen der Moderne“?

[…]

Der Künstler als Egomane

Eine Abrechnung?

Der Künstler als Egomane

Eine Abrechnung?

20.8.24
Natalie Schulte

Künstler kommen bei Nietzsche oft nicht gut weg. Sie stellen den Prototypen des unselbstständigen, wahrheitsfeindlichen und wirklichkeitsverneinenden Menschen dar, der ohne Selbstbeherrschung seinen eigenen Stimmungen ausgeliefert ist. Ein kindisches, dramatisierendes, jähzorniges und im Ganzen lächerliches Wesen, ein Egomane, dessen Handeln und Gehabe allein darauf ausgerichtet ist, um den Beifall der Anderen zu buhlen. Oder ist Nietzsche hier nicht ganz beim Wort zu nehmen? Sollte damit tatsächlich sein letztes Urteil über den kreativen Geist gefallen sein?

Vieles von dem, was Nietzsche am Künstler beschreibt, entwickelt er an der Figur Richard Wagner, mit dem ihn eine kurze, intensive, letztlich aber vor allem enttäuschende Bekanntschaft verbindet. Der Künstler und der Denker, so hätte für Nietzsche eine Zeit lang die ideale Freundschaft aussehen können. Aber nach dem Bruch mit Wagner hat Nietzsche viel Abfälliges über den Künstler als Typus zu sagen. Wie anders – zum Vergleich – gestaltet sich die Freundschaft zwischen Künstler und Denker in Narziß und Goldmund von Hermann Hesse, der sich ausführlich mit Nietzsche auseinandersetzt.

Künstler kommen bei Nietzsche oft nicht gut weg. Sie stellen den Prototypen des unselbstständigen, wahrheitsfeindlichen und wirklichkeitsverneinenden Menschen dar, der ohne Selbstbeherrschung seinen eigenen Stimmungen ausgeliefert ist. Ein kindisches, dramatisierendes, jähzorniges und im Ganzen lächerliches Wesen, ein Egomane, dessen Handeln und Gehabe allein darauf ausgerichtet ist, um den Beifall der Anderen zu buhlen. Oder ist Nietzsche hier nicht ganz beim Wort zu nehmen? Sollte damit tatsächlich sein letztes Urteil über den kreativen Geist gefallen sein?Vieles von dem, was Nietzsche am Künstler beschreibt, entwickelt er an der Figur Richard Wagner, mit dem ihn eine kurze, intensive, letztlich aber vor allem enttäuschende Bekanntschaft verbindet. Der Künstler und der Denker, so hätte für Nietzsche eine Zeit lang die ideale Freundschaft aussehen können. Aber nach dem Bruch mit Wagner hat Nietzsche viel Abfälliges über den Künstler als Typus zu sagen. Wie anders – zum Vergleich – gestaltet sich die Freundschaft zwischen Künstler und Denker in Narziß und Goldmund von Hermann Hesse, der sich ausführlich mit Nietzsche auseinandersetzt.

Eine der bekanntesten literarischen Dichotomien, welche den Typus des Künstlers demjenigen des Denkers gegenüberstellen, ist wohl Hermann Hesses Narziß und Goldmund. Hesse, einer der vielen Literaten, die sich im 20. Jahrhundert intensiv mit Nietzsches Werk auseinandersetzten, schrieb in seinem 1930 erschienenen Roman von der erfüllten Freundschaft zweier gegensätzlicher Gestalten – dem Denker Narziß und dem Künstler Goldmund. Ihre Bekanntschaft befähigt sie, in den Bereichen Fortschritte zu machen, die sie bisher vernachlässigt haben, emotionale Bindung bei Narziß, Selbstkenntnis bei Goldmund. Ihrem Wesen entsprechend ist ihre gemeinsame Zeit nur eine vorübergehende, denn Goldmund zieht es in die Welt, während das äußere Leben für Narziß als dem Typus des Introvertierten nur Last und Zumutung, er mithin im Kloster am besten aufgehoben ist. Die Bewunderung, welche die beiden Charaktere füreinander hegen, schließt sich stets als Kreis. Bewundert Goldmund zuerst Narziß’ Klugheit und Ernsthaftigkeit, so ist alsbald Narziß von dem schönen, lebendigen Knaben Goldmund hingerissen. Obwohl Hesse später schreibt, dass er seine beiden Charaktere nicht als bloß schematische Typen des Künstlers als Sinnenmensch und des Denkers als Geistmensch verstanden wissen will, sind sie doch scharf voneinander abgegrenzt.  

Die Bedeutung ihrer Freundschaft fasst Narziß einmal hellsichtig zusammen: „Unser Ziel ist nicht, ineinander überzugehen, sondern einander zu erkennen und einer im andern das sehen und ehren zu lernen, was er ist: des andern Gegenstück und Ergänzung.“1

Ungefähr so, könnte man sich vorstellen, hätte sich Nietzsche seine Freundschaft mit dem Künstler Wagner auch gewünscht. Indes war sie von vornherein wenig darauf angelegt, ein Verhältnis auf Augenhöhe zu werden, war Nietzsche doch ein junger, unbekannter Akademiker von 24 Jahren und Wagner ein berühmter und streitlustiger Künstler von 55. Viel ist über die gescheiterte Freundschaft, so man sie überhaupt als solche bezeichnen will, geschrieben worden, viel über Nietzsches Wünsche, seine Hoffnungen und seine Enttäuschung. Man kann gar versucht sein, alles, was Nietzsche über den Künstler geschrieben hat, auf Wagner zu projizieren, Nietzsche selbst gibt dazu Anlass, wenn er in seinem Werk, das bezeichnenderweise Der Fall Wagner heißt, schreibt, dass dieser schlechthin der Typus des Künstlers der Décadence sei (vgl. Abs. 5). Weitere Details aus Nietzsches Biographie wie der frühe Vaterverlust bemüßigen Interpreten zu Spekulationen über einen übertragenen Ödipuskomplex und weitere psychische Schieflagen der Person Friedrich Nietzsche.

Der Künstler ist, wie man zugeben muss, für Nietzsche häufig der Musiker, aber auch der Dichter und – wenn auch seltener explizit – der bildende Künstler. Die Vorstellungen, die Nietzsche sich über Charaktere wie Goethe, Beethoven, Shakespeare, Lord Byron, Stendhal, Michelangelo und viele weitere macht, gehen, so dürfen wir annehmen, ebenso in seinen Typus des Künstlers ein wie die zur Bildsäule erstarrte Figur Richard Wagners. Wir können sogar versucht sein, anzunehmen, dass, anstatt den Künstler als Wagner zu lesen, andersherum Namen wie „Wagner“ und „Schopenhauer“ längst nicht mehr die Personen Wagner oder Schopenhauer meinen, sondern zu Chiffren werden für Unterarten innerhalb des Typus Künstler bzw. Philosoph. Erst wenn wir auf diese Weise Nietzsches Denkfiguren verstehen, werden sie zur Analyse von Menschen und möglicherweise sogar für das eigene Selbstverständnis brisant, vorausgesetzt, dass man künstlerische Ambitionen hegt oder sich als gelehrter oder kontemplativer Mensch versteht.

Der Künstler mit schlechtem Charakter

Das träumerisch-sensible Charisma, das Hesse seinem künstlerischen Protagonisten verleiht, scheint weit entfernt von Nietzsches Charakter des künstlerischen Menschen, wie er ihn in der Morgenröthe, Aph. 41, skizziert, denn „als Personen [sind sie] zumeist unleidlich, launisch, neidisch, gewaltsam, unfriedlich gewesen.“ Anstatt sich selbst zu suchen, eigene Wege zu gehen und Missachtung zu riskieren, sind sie häufig nur die Ersten im Gefolge eines Herrschers, besonders beredte Schmeichler und zuletzt eben nichts anderes als Günstlinge des Hofes.2 Der Künstler, so schreibt Nietzsche auch in der Genealogie der Moral, ist unfähig, alleine zu stehen, er kann nicht eine primäre Gedankenfigur oder ein Ideal erschaffen, er muss sich ein solches vom Denker leihen und seine Kunst in dieses Ideal hinein projizieren.3 Die starke Gefühlswelt, die Tiefsicht, die man ihm zuschreibe, nicht zuletzt, weil man Tiefe und Vielschichtigkeit in seinem Werk erblicke, sei gar nicht unbedingt ein echter Wesenszug von ihm. In seiner Launenhaftigkeit, seiner Aggression sei der Künstler affektiert, er übertreibe seine Gefühle, weil es von ihm erwartet werde und es dem Geniekult diene.4 Dort aber, wo er in seinem Werk am tiefsten scheine, dort wo er eine schöne und edle Seele zeichne, moralische Motive und Stoffe, genau dort habe er nur mit gläsernem Auge hingeblickt, „mit dem sehr seltenen Erfolge, dass diess Auge zuletzt doch lebendige Natur wird, wenn auch etwas verkümmert blickende Natur, – aber mit dem gewöhnlichen Erfolge, dass alle Welt Natur zu sehen meint, wo kaltes Glas ist“5.

Der infantile Künstler

Immer wieder zeichnet Nietzsche den Künstler als kindlichen Charakter, als jemand, der nur spielen will, der egoistisch ist, der andere gar nicht richtig sehen oder anerkennen kann, weil er sich fortwährend nur um die eigene Person dreht und andere nur als Reflektoren für die eigene Bewunderung benutzt. Nietzsche, der das Spiel und das Versuchen in zahlreichen Aphorismen der Morgenröthe, der Fröhlichen Wissenschaft und im Zarathustra aufwertet, schreibt allerdings in Menschliches Allzumenschliches kritisch dazu:

An sich ist nun der Künstler schon ein zurückbleibendes Wesen, weil er beim Spiel stehen bleibt, welches zur Jugend und Kindheit gehört: dazu kommt noch, dass er allmählich in andere Zeiten zurückgebildet wird. So entsteht zuletzt ein heftiger Antagonismus zwischen ihm und den gleichalterigen Menschen seiner Periode und ein trübes Ende[.]6

Der Künstler als Wahrheitsfeind

Der Künstler wehrt sich gegen das Erwachsenwerden; anstatt dass kühle Vernunft die Welt und das Leben erklärbar und berechenbar macht, möchte er in frühere Zeiten zurück. Er will sich das magische Denken durchaus nicht nehmen lassen. Fernere Zeiten – Nietzsche assoziiert hier das junge Lebensalter, in dem der Künstler stecken bleibt, mit der noch jungen Menschheit – liegen ihm näher.7 Der Schritt zur Ratio wurde nicht vollzogen, Götter, Dämonen und Geistwesen beherrschten eine unverständliche und chaotische Welt, die eines Zaubermeisters bedürfe. Dies ist der rechte, echte Künstlergeschmack nach Nietzsche und wenn er auch verdeckt ist, zeigt er sich doch in der natürlichen Abneigung des Künstlers gegen die Wissenschaft. Er hasst die Wissenschaft und beneidet sie zugleich, weil sie die moderne Zaubermeisterin ist, welche neue Errungenschaften möglich macht. Wenn sich der Künstler nun aber zu dieser alten Welt der Geister und Feen zurück sehnt, dann nicht weil er wirklich an diese Zauberdinge oder gar an einen Gott glaubt – Nietzsche wird nicht müde, Kunst und Glaube einander antithetisch gegenüberzustellen –, nicht weil er darin eine Wahrheit zu haben meint, nein, er möchte eigentlich nur seine eigenen Existenz- und Schaffensbedingungen optimieren und dies ist „das Phantastische, Mythische, Unsichere, Extreme, den Sinn für das Symbolische, die Ueberschätzung der Person, den Glauben an etwas Wunderartiges im Genius“8.

Der Künstler als Wirklichkeitsfeind

Zuletzt, und dies ist vermutlich der schärfste Vorwurf, ist der Künstler bei Nietzsche nicht ein Mensch der wirklichen Welt. Denn es ist ein Ungenügen an der Wirklichkeit, das ihn zum Künstler werden lässt, er erfindet die Helden, die er selbst nicht verkörpern kann:

Thatsächlich steht es so, dass, wenn er eben das wäre, er es schlechterdings nicht darstellen, ausdenken, ausdrücken würde; ein Homer hätte keinen Achill, ein Goethe keinen Faust gedichtet, wenn Homer ein Achill und wenn Goethe ein Faust gewesen wäre. Ein vollkommner und ganzer Künstler ist in alle Ewigkeit von dem „Realen“, dem Wirklichen abgetrennt[.]9

Würde der Künstler nun aber immerhin zwischen seinen Fantasien und seiner Person und ihrer Substanz unterscheiden können, würde vielleicht ein letzter Rest Respekt vor ihm gewahrt. Aber leider ist dieser Typus Mensch stark von der Bewertung und Achtung anderer abhängig, die, wie man gerechterweise hinzufügen muss, leicht dazu verführt werden können, im Künstler etwas von dem Helden zu sehen, den dieser erfand. Der Geniekult, der um den Künstler entsteht, entlastet den gewöhnlichen Menschen davon, sich selbst eine größere Aufgabe, ein Werk zu suchen.10 Wenn ein Werk nur von einem Genie geschaffen werden kann, dann ist jeder eigene Versuch bloße Zeitverschwendung. Nichts bläht aber das Selbstbewusstsein des Künstlers mehr auf als eine solche Deutung. Bewunderung wirkt wie eine Droge auf ihn. Immer mehr möchte er sein, darstellen, von immer mehr Personen bewundert werden. Dies verdirbt nicht nur seine Kunst, die zum „Pöbel“ herabsteigt, sondern auch seine Persönlichkeit, die zur bloßen Maske verkommt. Als Schauspieler verliert der Künstler seine substanzielle Persönlichkeit. Er ist nie, was er darstellt, aber er kann auch gar nicht mehr anders als darstellen.11

Der Künstler psychisch gestört?

Zuletzt könnten wir also sagen, dass Nietzsche ein hochgradig pathologisches Bild des Künstlers zeichnet, das nach heutiger Trivialpsychologie der Persönlichkeitsstörung des Narzissten entsprechen müsste: egozentrisch, kindisch und charismatisch. Je nach Gelegenheit, wenn er es sich leisten kann, launisch, mit Störungen der Impulskontrolle, wechselhaft in seinen Zuneigungen. Schwankend in seiner eigenen Selbsteinschätzung zwischen Größenwahn und Minderwertigkeit, dazu gezwungen, andere zu sich zu verführen, um dann in der Folge an die eigene Grandiosität zu glauben, die er sich selbst nicht abnehmen kann. Jedes moralische Gewissen ist ihm naturgemäß fremd oder allenfalls ein Verkleidungsstück in dem reichen Sortiment der Maskerade.  

Aber dies wäre natürlich nicht die Philosophie Nietzsches, wenn es sich gar so simpel verhielte und man dieses Bild nicht auch in ein Kippverhältnis bringen könnte. Sind bei Hesse Künstler und Denker als Typen der Vita activa und der Vita contemplativa scharf voneinander abgegrenzt, so scheinen sie bei Nietzsche eine gemeinsame Schnittmenge zu besitzen. Der Philosoph ist bei Nietzsche die konsequente Weiterführung des asketischen Priesters und auch der Künstler scheint nur bei einer Weggabelung einen anderen Pfad eingeschlagen zu haben. All die negativen Charaktereigenschaften, die Nietzsche in der Morgenröthe 41 benennt, ordnet er einem Künstlertypus zu, der aus dem Kontemplativen erwächst. Und der Denkertypus, nun, der schneidet bei Nietzsche auch nicht viel besser ab. Denn er vereint in sich die schlechten Charaktereigenschaften des Künstlers mit der Neigung des Priesters, die Freude und das Leben den anderen madig zu machen und setzt noch eine dritte schlechte Eigenschaft obendrauf: Mit ihren dialektischen Gedankengängen sorgen sie bei anderen Menschen auch noch für viel Langeweile.12

Ja, selbst bei den Philosophen scheint es mit ihrer Liebe zur Wahrheit nicht weit her zu sein. Die Ideale, welche die Philosophen hochgelobt haben – zumeist asketische Ideale der Enthaltsamkeit, der Besitzlosigkeit etc. – sind lediglich die beste Grundlage für ihr eigenes Schaffen:

Freiheit von Zwang, Störung, Lärm, von Geschäften, Pflichten, Sorgen; Helligkeit im Kopf; Tanz, Sprung und Flug der Gedanken; eine gute Luft, dünn, klar, frei, trocken, wie die Luft auf Höhen ist, bei der alles animalische Sein geistiger wird und Flügel bekommt[.]13

Dort also wo der Künstler zurück in eine magische Welt drängt, in der er zum Mittler zwischen Gott- und Menschenwelt verklärt wird, so der Philosoph in Richtung eines Elfenbeinturms, von wo er alles trefflich wahrnehmen kann, ohne von alltäglichen Zumutungen geplagt zu werden.  

Ist dies aber tatsächlich noch eine Kritik am Künstler bzw. Denker oder nicht vielmehr die Kritik am naiven Glauben an eine überpersönliche Wahrheit und überzeitliche Ideale? Die eigenen Lebensbedingungen bejahen und nicht eine Wahrheit, die möglicherweise lebensfeindlich ist, das könnte sowohl Künstler als auch schlauere Denker einen. Und wenn andere Menschen nun den Künstlern und Denkern auf den Leim gehen, ihre Ideale als ewige glauben, diese bewundern, bezahlen und selbst gröberen, langweiligen Tätigkeiten nachgehen, weil sie in sich selbst kein Genie erblicken, das sie als notwendig für das Künstlerdasein erachten, und ja, wenn sie sich ein Weilchen in Enthaltsamkeit und Meditation üben, ohne dass es ihnen gut tut, nun, was kümmert es die Künstler und Denker? Sie haben es nötig, Schein und Aura, um sich zu wahren, sollte die Welt nicht von ihnen verlangen, einem ehrbaren Brotberuf nachzugehen. Und nicht zuletzt danken es die Künstler und Denker der Welt, indem sie diese schöner machen und durch Geschichten und Dichtungen bereichern oder Ideen und Ideale vorstellen, die die Menschen inspirieren.

Je weniger eine objektive, für alle Menschen gültige Wahrheit hinsichtlich überzeitlicher Ideale und Werte überhaupt überzeugt, desto näher rücken bei Nietzsche Künstler und Denker. Der Denker ist schließlich vielleicht nichts anderes als ein Künstler, der Werte und Ideale schafft, so wie der Maler sein Bild malt und der Bildhauer die Skulptur aus dem Stein befreit. Beide Typen gehen vom gemeinsamen Feld des Kontemplativen aus, vom Beobachtenden, Introvertierten, Inaktiven und Brütenden,14 aber die schöpferische Kraft verleiht ihnen eine Aktivität, welche die schlichte vita activa übertrifft. Nietzsche gibt ihr einen neuen Namen: die vis creativa. Der dichterische Denker, der Künstlerphilosoph unterschätzt sich zunächst:

[E]r meint, als Zuschauer und Zuhörer vor das grosse Schau- und Tonspiel gestellt zu sein, welches das Leben ist: er nennt seine Natur eine contemplative und übersieht dabei, dass er selber auch der eigentliche Dichter und Fortdichter des Lebens ist, — dass er sich freilich vom Schauspieler dieses Drama’s, dem sogenannten handelnden Menschen, sehr unterscheidet, aber noch mehr von einem blossen Betrachter und Festgaste vor der Bühne. Ihm, als dem Dichter, ist gewiss vis contemplativa und der Rückblick auf sein Werk zu eigen, aber zugleich und vorerst die vis creativa, welche dem handelnden Menschen fehlt, was auch der Augenschein und der Allerweltsglaube sagen mag. Wir, die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort Etwas machen, das noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen. Diese von uns erfundene Dichtung wird fortwährend von den sogenannten practischen Menschen (unsern Schauspielern wie gesagt) eingelernt, eingeübt, in Fleisch und Wirklichkeit, ja Alltäglichkeit übersetzt. Was nur Werth hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur nach, — die Natur ist immer werthlos: — sondern dem hat man einen Werth einmal gegeben, geschenkt, und wir waren diese Gebenden und Schenkenden! Wir erst haben die Welt, die den Menschen Etwas angeht, geschaffen!15

Nietzsche verleiht dem Denken in seiner Philosophie eine radikale Wirkmacht. Indem Philosophen neue Sichtweisen auf die Welt entwickeln, indem sie bereits ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Lebensbereiche werfen und andere vernachlässigen, werten sie, selbst wenn sie noch zu beschreiben meinen, einiges auf und anderes ab. Philosophen und Priester geben damit den Menschen neue Rollenbilder, sie sind die Drehbuchautoren für die wirkliche Welt. Und was ist nun mit den Künstlern? Mit dem Geniekult entlasten sie doch scheinbar nur Menschen von eigenen schöpferischen Versuchen. Halten sie den Menschen also klein? Nun, das wäre vermutlich eine unfaire Betrachtung, denn gerade die Künstler werten ganze Gefühlswelten, Handlungsmöglichkeiten, Heldengeschichten auf. Sie ermöglichen, so müsste man doch aus Nietzsches Philosophie schließen, erst ganz neue Empfindungen, die man vormals gar nicht erlebte. Die Nervosität, die romantische Liebe, die Empfindsamkeit – sind das nicht die Erfindungen der Künstler? Nietzsche hätte vielleicht eingewendet, dass die Künstler seiner Theorie nach nicht alleine stehen können, dass sie ein Ideal von jemand anderem borgen müssen. Vorausgesetzt, dies wäre wahr, so wären die Künstler immer noch diejenigen, welche ein Stück blasse Theorie in Feuer und Flamme verwandeln und erst die Sehnsucht erwecken, die Menschen in andere Richtungen ziehen lässt. Hin und wieder ergibt sich vielleicht sogar ein günstiger Zufall: ein künstlerischer Philosoph, ein philosophischer Künstler – und darüber hinaus die Möglichkeit der Freundschaft zwischen dem Einen und dem Anderen.  

Quellen

Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. Frankfurt a. M. 1978.

Fußnoten

1: Hesse, Narziß und Goldmund, S. 44.

2: Vgl. Zur Genealogie der Moral, III, 5.

3: Vgl. ebd.

4: Vgl. Menschliches, Allzumenschliches I, 211.

5: Menschliches, Allzumenschliches II, Vermischte Meinungen und Sprüche, 151.

6: Menschliches, Allzumenschliches I, 159.

7: Vgl. ebd.

8: Menschliches, Allzumenschliches I, 146. Vgl. dazu auch die Aphorismen 147 und 155 im selben Buch.

9: Zur Genealogie der Moral, III, 4.

10: Vgl. Menschliches, Allzumenschliches I, 162.

11: Vgl. Also sprach Zarathustra, Der Zauberer.

12: Vgl. ebd.

13: Zur Genealogie der Moral, III, 8.

14: Vgl. Zur Genealogie der Moral, III, 10.

15: Die fröhliche Wissenschaft, 301.

Darts & Donuts
_________

Ich empfinde alle Menschen als schädlich, welche dem, was sie lieben, nicht mehr Gegner sein können: sie verderben damit die besten Dinge und Personen.

(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

Nietzsche sagt: „ChatGPT ist dumm.“

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Werk. – Es gibt keine irreführendere und falschere Ansicht als die, dass das Schreiben oder das Werk lustvolle Angelegenheiten seien. Es ist ganz das Gegenteil! Das Werk ist einer der größten Gegner und schlimmsten Feinde. Und wer aus Freiheit und nicht aus Gewohnheit schreibt, vermisst an ihm Umgangsformen und Gewissen – der ist ein Schwein!

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Gefährliche Wahrheit. – Viele psychische Pathologien machen ihren Wirt ultrasensibel. Sie bekomme Antennen für die kleinsten seelischen Regungen ihres Gegenübers, sehen den kleinsten Verrat, die kleinste Inkongruenz, den kleinsten Reißzahn, den hässlichsten Hund im Menschen. Als Feind des Menschengeschlechts zückt der Arzt seinen Notizblock und ruft also „die Pfleger“ herein.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Glück: Keinen mehr nötig zu haben und so rückhaltlose Zuwendung sein können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 44)

Dein Rechthaben nicht offen zur Schau stellen. Nie der Weg sein. Dem, der Recht hat, will man leicht Unrechttun und man fühlt sich gemeinsam im Recht dabei, weil das Gefühl für Gleichheit ständig trainiert wird und die Übung der Freiheit eine Seltenheit geworden ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 43)

Wahre Liebe: Durch den Anderen hindurch lieben.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 42)

Zusammensein wollen: Weil es leichter ist? Weil es bereichert? Weil man keinen Willen kennt, der lange Wege allein gehen kann?

(Neue Sprüche und Pfeile, 41)

Helfen wollen: Weil es sichgehört? Weil einem Gleiches widerfahren kann? Weil man hat und gerne gibt? Weil einem nicht die aktuelle Armut betroffen macht, sondern die Schande, dass Chancen ungenutzt bleiben müssen?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 40)

Keine Größe ohne ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten. Aus dem Schein zu einem Mehr an Sein. Aus den Erfolgen der Sprünge in eine Rolle, in der man sich nicht kannte, entsteht der Glaube anein Können, das mehr aus einem machen kann.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 39)

Wem die Stunde schlägt. – Wer sich einen Termin macht, etwa ein Date in zwei Wochen, freut sich, trifft allerlei Vorbereitungen, fiebert darauf hin, hält durch und überlegt, was er sagen soll und so weiter. – Dann ist der Tag da. In der Zukunft glänzte alles noch, fühlte sich anders an. Man denkt sich: Es ist alles ganz wie vorher. Alles, was ich getan habe, war nur Selbstzweck, man erwartete das Warten und Vorstellen und nicht die Sache selbst, nicht den Kairos, den man nicht erwarten kann.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Niederes und höheres Bewusstsein. – Bin ich vor die Wahl gestellt, entweder erdrückt zu werden, tot zu sein und zu schweigen oder zu lästern und ungläubig zu sein – Gift in meinen Drüsen mir zu sammeln, wie mir angeboren, Reptil, das ich bin –, ich würde immer das Zweite wählen und mich niedrig, schlecht, negativ und ungebildet nennen lassen. Lieber will ich mich von meinem Gift befreien als es mir zu Kopf steigen zu lassen. Tritt einer dann in meine Pfützen, sei’s so – gebeten hat man ihn nicht!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Schwere und die Sinnlosigkeitder Dinge. – Wer einmal den unbegründeten Wunsch verspüren sollte, sich über die wesentlichen Dinge Gedanken zu machen, das Sein der Dinge und die Zeit, der ist besser beraten, es zu unterlassen. Der Verstand tendiert dazu, solche Dinge zäh und schwer zu machen. Am Ende findet man sich beim Denken und Überlegen dabei wieder, das Ding selbst nachzuahmen und denkt den Stein, das Stein-Seins, verfällt in gedachte Inaktivität.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Nichts. – In der Indifferenz ist noch alles und jedes zu ersaufen. Der größte Mut, der Hass, die Heldentaten, die Langeweile selbst verschlingt sich und die große Dummheit, Eitelkeit.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Für Franz Werfel. – Ein Autor, der dir sagt: „Ach, meine Bücher…, lass dir Zeit, lies erst dies ein oder andere. Das kann ich dir empfehlen: Ich liebe Dostojewski.“ – Das ist Größe und nicht die eitle Schwatzerei derjenigen, die ihre eigene Person und die Dringlichkeit der eigenen Ansichten vor sich hertragen.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Illusions perdues. – Wieso ist es so,dass das schönste, romantischste, bewegendste, rührendste, herzaufwühlenste Buch gegen die blasseste Schönheit von zweifellos hässlichem Charakter keine Chance hat und so attraktiv wie eine uralte Frau wirkt?

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Wider einfache Weltbilder. – Wir sind ein krankendes Geschlecht; schwitzend, von Bakterien übersät. Wir haben Bedürfnisse, geheimen Groll, Neid; die Haare fallen uns aus, die Haut geht auf mit Furunkeln; wir vertrauen, langweilen uns, sind vorlaut; pöbeln, sind übertrieben schüchtern, schwätzen Unsinn, konspirieren, sind erleuchtet, sind verblendet, eitel, machthungrig, einschmeichelnd, kriecherisch – jenseits von Gut und Böse.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vom Unglauben getragen. – Wie könnte man es nicht anbeten, das großartige formlose Unding, welches das Sein ist? Monströs wie allerfüllend. Das große Nichts, das die Alten die Hölle nannten, qualmt und beschenkt uns mit den schönsten Schatten.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Das herzliche Lachen der Literatur. – Hat jemals ein Mensch, der vor einem Buch saß, sich den Bauch und die Tränen vor Lachen halten müssen? Ich schon; aber nur in der Vorstellung – und aus Schadenfreude über solche Idiotie.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Ananke. – Weil die Literatur, obzwar sie die dümmste, platteste, schlechteste Grimasse der Zeit darstellt, doch von ihr den kleinsten Kristallsplitter Reinheit enthält, ist sie unerbittlich erbarmungslos und erschreckend in ihrer Folge. Wir wissen nur eins: Sie wird kommen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Kind in der Bibliothek. – Die Mutter muss dem Kind verbieten: „Nein, wir gehen nicht da rein!“ Das Kind sagt: „Da!“, und will ein Regal hochklettern. Bücherregale sind Klettergerüste. Weil es das nochnicht gelernt hat, läuft es wie ein Betrunkener nach seiner Mutter.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Authentisch sein wollen: Weil es sich schickt? Weil man die Halbwahrheiten satt hat? Weil man einsah, dass nur ein Eingestehen zu tieferen und offeneren Bindungen führt?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 38)

Herausragend sein wollen: Weil man Bewunderer will? Weil man es den Mittelmäßigen zeigen möchte? Weil man das Banale nicht mehr aushält?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 37)

Weil die Kritik zunehmend nicht widerlegen, sondern vernichten will, ist die gute Moral der Moderne die kategorische Revisionierbarkeit. Sein ist Versuch zum Sein. Daher bemisst sich kompetente Urteilskraft an der Distanz zum guillotinenhaften Verurteilen. Korrekte Korrektheit ist selbstironisch.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 36)

Wer nicht von sich auf Andere schließt, verpasst die Chance zu einer Welt genauso wie jemand, der von Anderen nicht auf sich schließt. Im revidierbaren Mutmaßen lichtet sich das Zwielicht des Miteinanders ein wenig und es erhöht sich die Möglichkeit zu einem halbwegs zuverlässigen Versprechen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 35)

Im Gehen wird das Denken weich und weit. Wer die Welt um sich hat, für den wird das Rechthaben zu einer unschönen Angewohnheit. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, laufen einem die Sätze wie angenehme Begegnungen über den Weg, die einen überraschen mit der Botschaft, wie wunderbar egal man doch ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 34)

Ohne Erfolge wäre das Leben ein Irrtum. Die Karriere ist die Musik des Lebens, auch für die, die sich für thymotisch unmusikalisch halten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 33)

Schonungslose Ehrlichkeit belügt sich selbst, weil es ihr nicht um Wahrheit geht, sondern um den Effekt des Entblößens als bloße Intensität des Auftrumpfens. Sie will nicht aufzeigen, sie will es den Anderen zeigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 32)

Abhängigkeit macht angriffslustig. Man will sich selber beweisen, dass man etwas ist und attackiert die lebenswichtigen Helfer, als wären sie Meuterer. Dabei ist man selbst derjenige, der meutert. Für das klassikerlose Tier gilt: Es gibt ein falsches Leben im richtigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 31)

Sich Zeit lassen, wenn die Zeit drängt. Panik macht ungenau. Fünf vor zwölf ist es immer schon für diejenigen, die überzeugt sind, genau zu wissen, was zu tun ist, ohne dass sie die Komplexität der Lage je verstanden hätten. Es ist die Tragödie des Weltgeistes, dass seine selbsternannten Apostel erst einen überwältigenden Eindruck mit ihrer Entschiedenheit machen und dann einen schockierenden Eindruck mit den Wirkungen ihrer Entscheidungen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 30)

Ein Schreibfehler. – Was heißt erwachsen werden? – ...die kindlichen Züge anlegen ...!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Geschlechterkampf. – Da weder die Auslösung des Mannes noch der Frau zur Disposition steht und politische Macht in der Regel nicht mehr mit physischer Gewalt durchgesetzt wird, sind die mächtigsten Formen der Machtausübung verdeckt: Schuld, Angst, Drohung, Beschämung, Entzug (z. B. von Liebe und Solidarität), Zurschaustellung. Sie alle operieren mit Latenzen und unsichtbaren Scheingebilden, entfesseln dieFantasie.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Gewissensqual über das Gewissen: Das Gewissen, das sich nicht selber beißen lernt, wird zum Mithelfer der Gewissenlosigkeit. Gewissen jedoch als permanenter Gewissensbiss verletzt die Freiheit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 29)

Die erzwungene Höflichkeit provoziert die Lust zur Unhöflichkeit. Die Attraktivität der Sitten bemisst sich daran, wie viel kreative Munterkeit siegestatten. Sitten, die Recht haben wollen, werden unweigerlich zu Unsitten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 28)

Aus dem gefühlten Mangel an Aufmerksamkeit als stiller Angenommenheit entsteht der Hass auf diejenigen, die einen keines Blickes mehr zu würdigen scheinen. Man unterstellt Ungerechtigkeit, wo Freiheit ist, die eine andere Wahl traf. Dies Verdächtigen verhässlicht und entfernt von der Zuwendung, nach der man so sehnsüchtig strebt. Wut, die andauert, wird Hass, der schließlich den Anderen als Gegner wahrnimmt, den man nicht mehr kritisieren, sondern nur noch vernichten will.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 27)

Schatten über der rechten Hand. – Ist der Todesengel derselbe wie der der Liebe? – Erkennen wir nicht den Schatten aneinander, überall?

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Die Freiheit in der Literatur. – Kein Mensch wird geboren und liest „die Klassiker“.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Immerhin. – Man hat als Mensch genug Zeit bekommen, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Respekt. – Da duzt man die Leute undschon verlieren die allen Respekt – Demokratie!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vorsicht. – Unsere Gesellschaft geht von der Maxime aus, dass, wenn jeder gleichmäßig durch Arbeit verbraucht und gleichzeitig durch Geld versklavt, keiner dem anderen mehr etwas antun kann – Ruhe und Frieden herrscht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

 2023. – Wenn die Vorstellung zu sterben und tot zu sein erträglicher ist als die Demütigung einer Arbeit im Büro.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Dada. – Das Heute schafft noch aus dem unsinnigsten Blödsinn eine Ideologie zu machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Das Beständige. – Wenig auf dieser Erde ist ewig und bleibt über die Zeit hinweg erhalten. Bildung nicht, Geschichte nicht, Bräuche nicht, Sitten nicht. Ewig bleiben Dummheit, Eitelkeit, vielleicht Liebe und Spaß, Tränen und Dunkelheit, weil sie Familie sind.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Theater. – Im unerträglichen Theater unserer Zeit will jeder die Guten, die Superhelden spielen und niemand die Bösen. Ihre Zahl ist deswegen zu klein und die der Guten zu hoch. Damit verflachen beide Seiten ungemein und es entsteht die billigste Seifenoper. Wären wir nicht musikalisch begleitet, wir wollten nach Hause gehen, an den Schreibtisch und unsere Charaktere nochmal gründlich überdenken und -arbeiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Mädchen mit einem Korb Erdbeeren. – Das Wetter ist schön. Ich würde eine junge Frau gegen einen Korb Erdbeeren eintauschen, mir ist sklavenherrisch zu Mute.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Gehe denen aus dem Weg, die keine Sympathie für Komplexität erkennen lassen. Der Unwille zum Komplexen ist der trotzige Halt der Haltlosen und der Jungbrunnen der Verbitterten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 26)

Umgedrehter Nietzscheanismus: Die letzten Menschen als diejenigen, die es auf sich nehmen wollen, die letzten Dingen immer wieder zu durchdenken, ohne an den Abgründen zu zerbrechen, die sich dabei öffnen. Ein besseres Beschreiben erzeugt ein Vertrauen, das mit Normalität impft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 25)

Das Ende der Geschichte kann auch gedacht werden als eine Ohnmacht der alten Deutungen in neuen Verhältnissen. Daher wird der historische Sinn gerne kulturkritisch: Da er sich keinen Reim mehr auf die Lage machen kann, werden die Dinge als katastrophisch interpretiert, anstatt die Sicht auf die Dinge zu revidieren.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 24)

Geist als Betrieb: Als museale Hochkulturmode, als andenkenlose Betriebswirtschaft oder als ressentime Kulturkritik-Industrie.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 23)

Wenn man wieder kreativ sein muss. – Wenn der heutige Kulturmensch keine Idee mehr hat, greift er in die Tastatur und schreibt etwas über die Rolle der Frau, BiPoC oder sonst etwas in der Richtung und kommt sich dabei in seiner Armseligkeit nicht nur rebellisch und progressiv vor, sondern wähnt sich auch als kreativ, wenn er mal wieder über die Rolle der Mutter im Patriarchat spricht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fitness. – Ich kann die aufgepumpten jungen Männer mit ihren hantelgroßen Wasserflaschen und Proteinpülverchen nicht mehr sehen. Soll sich in diesen Figuren der feuchte Traum Nietzsches von der Selbstüberwindung des Menschen, seines Körpers und physiologischen Organismus in Form der kommodifizierten Selbstquantifizierung vollends erfüllt haben?

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Sichtbar durch Agitation. – Der Mensch ist das schöne Tier und, ist er wohl versorgt, von außen immer würdevoll. Das will nicht mehr sagen, als dass die Hülle, die die Natur ihm gibt, auch schon das meiste ist und im inneren Hohlraum, fast nur Schatten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Wissenschaftliche Erlösung: Nach einer neuen Erkenntnis der Gehirnforschung ist es unmöglich, zugleich Angst zu haben und zu singen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 22)

Wer die Möglichkeit des Untergehens ständig für realistisch hält, hat es nötig, sich vor sich selbst unauffällig in den Imaginationen des Schlimmsten zuspüren. Der Mangel des Glaubens an sich wird kompensiert mit dem festen Glauben an die Katastrophe.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 21)

Karriere machen, ohne den Verdacht des Egoismus auf sich zu ziehen, anstrengungslos, unterambitioniert. Aber doch das Verlangen, gesehen zu werden in der bemühten Mühelosigkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 20)

Er verzichtete, aber er sah ganz genau hin, wie viel der bekam, der nicht verzichtete. Der schielende Verzicht hat die schärfsten Augen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 19)

Sinn ist der Ersatz für fehlende Initiative. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, wird offen für die Erfindung von Gründen, wer an seinem Zustand schuld sein soll. Die Langeweile der Haltlosen wird zum Verbrechen der Vitalen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 18)

Philologe sein. – Permanentes Standgericht.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Weil es Mut braucht, sich Künstler zu nennen. –  Kunst ist das Gegenteil von Angst.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Leipzig. – Neben einem anarchisch aus dem Fenster hängenden Banner mit der Aufschrift „Lützi bleibt“, das an Klassenkampf, Demo, Streik, Widerstand und Molotov gemahnt, steht das Hauptversammlungshaus der städtischen Kleingartenvereine. Noch zwei Häuserblöcke weiter, ein Yoga-Studio.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Kreative ist nicht apolitisch. Er interessiert sich nicht einmal für Politik. Erst wenn die Räume enger werden, die ihn animieren, beginnt er sich politisch zu engagieren aus apolitischen Motiven.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 17)

Der Verlierer denkt: „Die Wahrheit, die meinen Sieg verhindert, muss Lüge sein!“ Der Sieger denkt: „Solange ich den Sieg nötig habe, habe ich noch nicht gewonnen.“

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 16)

Wer lange genug allein ist, will sich selber nicht mehr verstehen. Darin liegt die Möglichkeit einer reifen Gedankenlosigkeit. Man treibt dann noch Philosophie wie man Jahreszeiten erlebt. Begriffe und Satzfolgen kommen und gehen wie Kastaniengrün und Septemberhimmel.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 15)

Im gelingenden Bewundern überwindet man sich zu sich. Die Unfähigkeit zur Einzigartigkeit steigert den Drang zur Zugehörigkeit. Wenn Konsens zum Kommando wird, wird Freiheit zur Ungerechtigkeit. Diversität als Inklusivität wäre die bereichernde Teilhabe an Liberalität, deren Bewundern man nicht teilen muss. Der Zustand eines vielfachen Desinteresses ist keine Entfremdung oder Ausbeutung. Wer seine Disziplin gefunden hat, verachtet den Einfallsreichtum der Schuldsuche.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 14)

Früher entsprach der Wahrnehmung der Schönheit das Kompliment. Heute scheint es so, als wäre es das Zeugnis einer fortgeschrittenen Form der Anständigkeit, sich dafür zu schämen, diesen Reflex der Entzückung bei sich überhaupt wahrzunehmen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 13)

Die Freudlosen werden leicht die strengen Apostel eines Sinns des Lebens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 12)

Das Gewissen wächst im Horchen auf das Bewirkte. Es formt sich als Ohr der Reue.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 11)

Seine Entscheidungen infrage zustellen, steigert den Sinn für Verantwortung. Man weiß nie, was man alles getan hat. Die Unabsehbarkeit des Anrichtens weist auf die Reue als ständige Option. Daher ist alles Handeln ein Akt der Reuelosigkeit, den man hofft, verantworten zu können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 10)

Hilflosigkeit: Der letzte Stolz.

(Michael Meyer-Albert, Neue Pfeile und Sprüche, 9)

Die Krise lehrt weite Gedanken oder sie verleiht die zweifelhafte Stärke zu einer unschönen Exzentrik.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 8)

Im fehlerhaften Menschen genießt Gott seine Unfehlbarkeit. Im unfehlbaren Gott erträgt der Mensch seine Fehlbarkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 7)

Wer das wilde Leben nötig hat, denkt nicht wild genug. Golden, treuer Freund, ist alle Theorie. Und fahl des Lebens grauer Baum.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 6)

Erst der Wille zum Nichtwissen erlaubt eine Verkörperung der Wahrheit. Das Wort darf nicht ganz Fleisch werden.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 5)

Poesie. –  Eine Definition: Die Summe all’ dessen, was keine öffentliche Redaktion, die auf ihren Ruf, ihr Image und Inserate achten will, veröffentlichen würde.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Fortschritt. – Wenn die Städter auf das Land und seine der Vergangenheit Zeit entstammenden primitiven Sitten süffisant herabblicken, blickt die Zukunft gehässig auf sie, die Idioten, herab.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Glaube daran, dass es keine Wahrheit gäbe, ist selbst wieder eine Wahrheit, die es auf Dauer nicht mit sich aushält. Zweifel wird dogmatisch, depressiv oder paranoid.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 4)

Die Einsamkeit des Philosophen ist seine gute Gesellschaft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 3)

Wissen ist Ohnmacht. Die Mutigsten beherrschen die Kunst des Vergessens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 2)

Von nichts kommt nichts? Wäre dann der, der nichts tut, schuldloser?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 1)

Nietzsche. – Es geht darum Zündkerzen in den Zeitgeist zu setzen. Entzünden sollen sie andere! Wie im menschlichen Körper ein winziger, brennender, strahlender, leuchtender Kristallsplitter Wahrheit in ein System eingesenkt reicht, um ein Gerinnsel und einen Schlaganfall auszulösen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Rotten, Tribalismus. – Der*Die Deutsche ist Neurotiker*In und chronifiziert, staatlich anerkannt feige. Talent ist in Deutschland rar gesät.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Ablehnung. – Man darf nicht vergessen, dass selbst in dem „je te déteste“ oder „tu me détestes“ eine Form von Beziehung steckt. Sie ist nicht Indifferenz, sondern eine Form von Wille, Wunsch oder Velleität des Dialogs.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Schlagfertigkeit. – Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welche geringen Anlässe die Menschen benutzen, um einer den anderen zu demütigen oder auch nur sein kleines Mütchen am anderen abzukühlen. Dennoch: Auch aus der Ablehnung kann noch eine Lust über das eigene Wachstum, eine Lust an der Ablehnung entspringen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Smalltalk. – Aus oberflächlich und anfänglichen Gesprächen lernt man manchmal Leute kennen (oder erzeugen diese Gespräche ihre Menschen?), die, wenn man ihnen zuhört, genau demjenigen Menschenbild der Konkurrenz entsprechen, von dem die Lehrbücher der Ökonomie scheiben, und es gruselt einen. – Ein Scherz, bitte ein Scherz, nur einen, fleht man innerlich! Und zeig mir, dass es ein Mensch ist! – Man einigt sich auf einige Statusmodalitäten der Berufswahl und stellt einige politische Ansichten zur Schau.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Im Dreck spielen. – Im menschlichen Verkehr liegt doch etwas Dreckiges. Die ganze Summe aus Verlogenheit, Untreue, Illoyalität und Machtspielen, die ihn so unappetitlich, aber gleichzeitig schmerzlich wie unerlässlich machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Kleinlichkeit. – Am Ende des Tages – und man glaubt es kaum – kommt es genau auf die Frage an: Willst du Kaffee oder Tee trinken? – Daran entscheidet sich alles! Ich habe mal eine Frau kennengelernt,die nicht mit der Gewohnheit vertraut war, morgens einen Tee oder Kaffee zu trinken. Sie machte sich schlicht keine Gedanken darum, trank vielleicht mal ein lauwarmes Glas Wasser. Sie ist mir dadurch unheimlich und suspekt geworden. – Einen Tag nachdem ich das geschrieben hatte ging mir mein Wasserkocher kaputt. (Höchste göttliche Ahnung!)

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fähigkeit der Vision. — Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man der Vision — das heisst einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen“ — gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

(Nietzsche, Morgenröthe, 66)

„Alle Wahrheit ist einfach.“ — Ist das nicht zwiefach eine Lüge? —

(Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 4)

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