Nietzsche POParts
Sind nicht Worte und Töne
Regenbogen und Schein-Brücken
zwischen Ewig-Geschiedenem?
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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches
Artikel
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Nietzsche bedeutet nichts, er lebt
Nietzsche bedeutet nichts, er lebt
Im letzten Teil der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“, in der unsere Stammautoren in den letzten Wochen ihr jeweiliges Verständnis von Nietzsche kurz vorstellten, erzählt Estella Walter von ‚ihrem‘ Nietzsche als Kritiker jedweder Totalität im Namen der namenlosen Wirklichkeit des Werdens.
Diejenigen aber, die kritisieren, ohne zu erschaffen, die sich mit der Verteidigung des Erschöpften begnügen, ohne daß sie ihm die Kräfte zu neuem Leben verleihen können: sie sind das Wundmal der Philosophie. Sie sind vom Ressentiment getrieben.1
Nietzsches Werke sind berüchtigt für ihre konsequente Ablehnung schwerfälliger Philosophietraditionen – gegen Platon und das Christentum als „Platonismus für’s ‚Volk‘“2, gegen Hegel und die Dialektik, gegen Kants kategorischen Imperativ und alsdann auch gegen Schopenhauers Wider-Willen. Diese vermeintliche Anti-Haltung wirkt anziehend, endlich gibt es einen Repräsentant für all jene, die nicht der großen Masse angehören. Einen für all die missverstandenen, einsamen Genies, die die Bürden der verkannten Großartigkeit tragen, einen David gegen Goliath; die Negativschablone, die sich durch das definiert, was sie eben nicht ist oder sein kann.
Die Ironie wie auch potenzielle Gefahr eines solchen Gebrauchs Nietzsches ist offensichtlich. Es stimmt schon, er mag von Zeit zu Zeit wider seiner eigenen Agenda weinerlich und trotzig sein, allerdings geht es ihm vor allem und in erster Priorität um die Selbstaffirmation des Lebens. Der Wille zur Macht, die Liebe zur griechischen Antike, die ewige Wiederkehr, sie alle stehen im Dienste des Lebens, der Wirklichkeit. Doch, und in dieser Missinterpretation liegt die Quelle der faschistischen Tendenz, besteht der Kern des Lebens keineswegs aus einem vergessenen Ursprung, von dem wir uns entfremdet haben und zu dem es zurückzukehren gilt, noch aus eine höhere, letzte Weisheit (Religion), selbst wenn diese immanent wird (Wahrheit, Kapital, Staat). Das Wirkliche ist vielmehr eine Bewegung, es trägt sich selbst immerzu fort im Prozess seiner Neuschöpfung. Es ist produktiv, vervielfältigt sich ziellos, trägt Schicht für Schicht dem Leben neue Materie auf. Es leistet Widerstand gegen jeden Stillstand, jeden sich aufheizenden Leerlauf der Fleißigen und Frommen, gegen den Versuch einen Damm des Absoluten, des Dogmatischen, der Totalität inmitten der reißenden Ströme aufzubauen. Der Kern des Lebens ist des Kernes eigene Auflösung, die Überwindung des Bestehenden also, der ewige Aufbruch in noch zu erschaffende Welten. Großartigkeit ja, aber eine kollektiv-unpersonale, die sich nicht um ihre Anerkennung zu scheren braucht. Eine, wie ich finde, sehr hoffnungsvolle Philosophie, die den Rahmen des Möglichen sprengt.
So lesen sich Nietzsches Zeitdiagnosen als grundlegende Kritik der Moderne. Denn, so seine Beobachtung, die europäische Gegenwart triftet im Nichts. Dem Christentum, hat es einmal seinen Gott getötet, bleibt nichts als seine Werte – lebensfeindliche Werte, verkleidet im Mantel des Atheismus, die ihre Wurzeln im Ressentiment haben. Die Menschheit braucht keinen Gott, gut, aber doch Moral und Vernunft, die dem selbstverschuldetem Subjekt zeigen, wo es langgeht, wo die Hoffnung auf Reinwaschung der klebrigen Ursünde noch nicht gestorben ist. Der Lehrer, der Chef, der Psychotherapeut, die Bourgeoisie mit ihrer blinden Staatstreue sind die Priester der Gottlosen. Ihre Botschaft: „[E]s ist eine Schande, glücklich zu sein!“3, also knechtet euch, baut den Strömen einen Damm, auf dass sie zum Rinnsal werden. Nachdem sich der Mensch von göttlichen Imperativen befreit hat, legt er sich selbst erneut in Ketten. Doch fand er im Glauben an einen wahrhaften Gott, an die Erlösung nach dem Tode zumindest Gewissheit und Trost, so sieht er sich nun vor dem trüben Stumpf der Glaubensüberzeugungen stehen, in dem ein jeder Wert zur relativen Sache wird – „Ja, wie solltet ihr glauben können, ihr Buntgesprenkelten! – die ihr Gemälde seid von allem, was je geglaubt wurde!“4. Beraubt jeder großen Wahrheit, begnügt sich die Menschheit mit einem Minimum an Leben, wagt nicht über das Bestehende hinauszugehen. Die Moderne ist das Zeitalter des Nihilismus.
Das Zeitalter des Nihilismus ist das der kapitalistischen Gesellschaft. Die Arbeitskraft als grundlegender Treibkraft menschlichen Lebens, zuvor gebunden an eine bestimmte Tätigkeit, deren Gegenständlichkeit den Wert der Arbeit ausmachte, wird zur abstrakten Arbeitskraft, die gegen Lohngeld als flüssiges Abstraktum verkauft wird. Die produktiven Kräfte verlieren ihren unmittelbaren Bezug zur von ihnen geschaffenen Wirklichkeit, Arbeit wird zur bloßen Notwendigkeit für die basale Reproduktion, die auf monetäre Mittel angewiesen ist. Das Leben steht still, die gewaltigen Neuschöpfungen und Werdensprozesse werden im Keime erstickt, denn wer hat dafür noch Zeit oder Geld? Zuerst das täglich Brot, dann die Revolution – doch hat man dabei vergessen, dass auch das Brot eine revolutionäre Erfindung war. Der Mensch hat auf der Stelle zu treten, wird seines Willens und dessen Früchte beraubt, seine Wirklichkeit wird ihm fremd, er ist entfremdet. Nicht das Leben ist Bedingung für die Arbeit, sondern zuallererst ist die Lohnarbeit Bedingung für das Leben – ein ewiger Kreislauf vom Typus einer Zentrifuge, die die unbrauchbaren Reste nach außen schleudert und den produzierten Mehrwert im Inneren konzentriert. Dort thront das Kapital, wird immer gesättigter und doch nie satt. Es ist sowohl Ausgangslage als auch Endzweck: Geld – Ware – Geld; und dabei durch und durch unproduktiv aber doch ausgestatten mit Vampirzähnen, die es nur in die Produktivkräfte reinzuhauen braucht. Die wahre Zecke ist das Silicon Valley, nicht der Punk auf der Straße.
Das Zeitalter des Nihilismus hat sich einem neuen Meister verschrieben, ohne es zu merken. Das Kapital ist ein verheerender Gott, der, im Gegensatz zu den Göttern der Erde, die noch vielmehr als Motor der Schöpfung dienten, die produktive Kraft aufsaugt, indem er zur Projektionsfläche wird von allem, was je geglaubt wurde. Die Wirklichkeit verdampft vor dem Auge in heiße Luft, nur um in abstrakter Warenform als Wirbelsturm über die residuale Wüste der Realität zu toben. Zurück bleibt das entfremdete, nackte Subjekt, dem lediglich übrig bleibt zu Wundpflastern zu greifen, die allesamt notwendig reaktionär, weil machtlos sind: die Privatisierung des Menschen unter dem Ideal eines souveränen Individuums, die fantastischen Versprechungen einer Karriere, der Trost des Konsums im Schoß kolonialer Ausbeutung, die ideelle Installation einer vermeintlich besseren Vergangenheit, die Liebe zum Gesetz und zur Ordnung, die Flucht in die politische Identität, die ihren Ursprung in Marginalisierung und Unterdrückung hat, die totalisierende Moral als Waffe im Kulturkampf, der weit entfernt der materiellen Verhältnisse ausgefochten wird – die Ohnmacht und das daraus resultierende Ressentiment haben sich tief eingegraben.
Auf der theatralischen Bühne einer zynischen, weil künstlichen Wirklichkeit, lenkt Nietzsche den Blick auf die Theaterproduktion. Das Schauspiel mit all seinen tragischen Leiden und komödiantischen Ekstasen mag seichte Unterhalten bieten, jedoch auf Kosten der realen Lebensbedingungen. Also, so Nietzsches Plädoyer, gilt es das Theater in die Luft zu sprengen, sich neue Werte zu schaffen, die sie Steigerung des Lebens ankurbeln, die Wüste befruchten. Nietzsches Stimme ruft zur Selbstüberwindung, jenseits von Gut und Böse, wo das Ego zur Randfigur und die produktive Selbstbejahung des Werdens zur Protagonistin wird. Wer die Philosophie nicht als Hammer nutzt, sondern als Zeitvertreib für die Genügsamen, als Narkotikum für die Leidenden oder als Religion der Ungläubigen, hat sich zum Zeitpunkt der Sprengung besser auf der Bühne aufzuhalten.
Was bedeutet Nietzsche also? Zu Zeiten ist er willkommen heißender Rückzugort, an dem das Denken sich frei entfalten kann und das Staunen am menschlichen Reichtum uns zum erneuten Aufbruch treibt. Und auch, wenn er selbst kein expliziter Kapitalismuskritiker war, so ist er doch Waffe im Kampf gegen jede Totalität, auch der des Kapitals, gegen die Absurdität der Gesprenkelten, die sich zynisch Werten verschreiben, an die sie doch nicht glauben können. Seine Kritik an seiner Zeit ist eben keine reaktionäre Kraft, sondern bejahender Wille zur Befreiung, der die Turbinen anheizt und uns herausfordert den großen Schritt ins Unbekannte zu wagen. Nicht zuletzt bleibt er treuer Weggefährte für die Herumstreuenden, Abenteuerlustigen, Tanzenden und all jene, die sich von ihm ermutigen lassen, auf die Reise zu gehen.
Literatur
Deleuze, Gilles & Félix Guattari: Was ist Philosophie? Frankfurt a. M. 2003.
Fußnoten
1: Gilles Deleuze & Félix Guattari, Was ist Philosophie?, S. 36.
2: Jenseits von Gut und Böse, Vorrede.
Aufklärungsdämmerung
Nietzsches Wahrheit des Scheins II
Aufklärungsdämmerung
Nietzsches Wahrheit des Scheins II
Nachdem Michael Meyer-Albert im ersten Teil seines Textes die, traurige, Geschichte von den Selbstzweifeln der Aufklärung erzählte, berichtet er nun von Nietzsches „fröhlicher Wissenschaft“ als Gegenentwurf.
III. Die Wahrheit der Unwahrheit
Als Hegel nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Jahr 1806 den Sieger Napoleon sah, meinte er, er sähe den „Weltgeist zu Pferde”. Dadurch, dass die Politik, nach einem Wort Napoleons, vor allem mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, zum Schicksal geworden ist, ändert sich auch das Konterfei des Weltgeistes. Aus dem Sieger hoch zu Ross wird der nachdenkliche Spaziergänger. Die prototypische Szene dafür: Lise Meitner und ihr Neffe Otto Frisch, die 1938 im schwedischen Exil auf einem Winterspaziergang die Antwort auf eine physikalische Frage fanden, die Otto Hahn, der in Dahlem die Spaltung von Uran erforschte, an Meitner in einem Brief stellte. Ihnen wurde klar, welche Implikationen die Spaltung von Uran hatte. Hahns Versuche zeigten die Möglichkeit zum Bau einer Atombombe. Mit dieser Erkenntnis begann die dunkle Globalisierung als die Möglichkeit einer menschengemachten Apokalypse. Aus dem Weltgeist als militantem Revolutionär wird ein Athlet des Sorgens um das Sein.
In Nietzsches Philosophie kündigt sich nicht nur der Strukturwandel des Weltgeistes an. In seinem Denken zeigt sich ein Sinn für die Tiefenstrukturen von Kulturen, aus denen weiterhin zu lernen wäre, wie die erzwungene globale Kooperation in zivilere Bahnen rücken könnte. Nietzsches stärkste Intuition ist, dass sich das Verständnis für Wahrheit in der abendländischen Kultur im Umbruch befindet. Er sah daher massivste Turbulenzen in Folge des Verlustes des Glaubens an Wahrheit voraus. Er sah aber auch, dass es zu einer Instrumentalisierung dieser Kulturkrise kommen wird. Und das nicht primär im Sinne eines politischen Eigeninteresses. Die Krise spielt für Nietzsche vor allem eine Rolle im Hinblick auf die psychologische Ökonomie. Wenn die selbstverständlichen Wahrheiten ausfallen, beginnen die Teilnehmer einer Kultur sich an Erfindungen von Wahrheit zu halten, die ihre mentale Fitness schützen und animieren. Aus der Not der fraglichen Wahrheit wird die Tugend der erdichteten Wahrheitskonstruktion.
Kunst als Lebenskunst entsteht aus dem reflektierten Willen zum Schein. Dieser nimmt als unreflektierter eine toxische Form an. In der Gestik des Absoluten wird das Leid der Wahrheitskrise umgestimmt in eine Kampfbereitschaft, die klare Schuldige benennt und so die Aussicht auf eine – vermeintliche – Lösung der Krise bereithält. Daher erfinden sich „Nothsüchtige“1 Dramen von Kämpfen mit übertriebenen Ungeheuern, vorzugsweise als Verschwörung von bestimmten Klassen, Rassen, Geschlechtern. Da aber die Wahrheit nur so lange gewährleistet ist, wie der Kampf mit den Fiktionen andauert, darf die permanente Vergeltung nicht aufhören: „[U]nd so malen sie das Unglück Anderer an die Wand: sie haben immer Andere nöthig! Und immer wieder Andere!“ (Ebd.) Der absolute Geist der agitierenden Not findet seine Wahrheit in der Moral des Unglücks. Lebenslust wird für ihn Arroganz und Lebenserfolge werden Ausbeutungen. Der unreflektierte Wille zum Schein vitalisiert sich in dem Schlechtmachen von Erfolgen und in dem Eintrüben von Lebenslust. Nietzsche nennt diese psychologische Weltmacht „Ressentiment“. Das gute Leben des Ressentiments wird zum Angriff auf das gute Leben.
Das psychologische Genie von Nietzsche erkennt aber in dieser Entwicklung nicht nur eine vertrackte Form einer toxischen Identitätspolitik, die sich um den Typus von „Selbst-Apostolat[en]“2 formiert, die die kritische Masse an Desorientierten zu Frustrierten anreichern. Nietzsches Hyperempathie versteht die Wahrheit in der ausgedachten Wahrheit der „Nothsüchtigen“ darin, dass sich in ihr ein Schein artikuliert, der das Leben motiviert. Nicht von der Wahrheit, aber vom Leben her gesehen, haben die Verschwörungstheoretiker recht. Die Wahrheit des Scheins ist die Lebendigkeit, die sie als eine „Betäubung von Schmerz durch Affekt“3, als „Affekt-Medikation“4 gewährt. Heftige Gefühle der Vergeltung, der Rache, der Empörung schaffen es, das belastende Zwielicht einer unklaren Wahrheit aufzuhellen. Im „Lichtzwang“ (Paul Celan) der Anklage mit ihrem selbstsicheren „Entrüstungsgebell[s]“5 löst sich die moderne Ambivalenz auf. Eine leisere Form der moralinen Haltung findet sich in den stilvollen Negativismen Adornos, vor denen sich alles Identische im Lichte der seligen Unerreichbarkeit des „Nichtidentischen“ verdunkelt und zum unsafe space wird. In beiden Fällen wird das Leiden an der fehlenden Wahrheit von einer Narration der Schuld kompensiert und damit in Sinn umgemünzt. Die Wunde wird Wahrheit. Aus ihrem Schmerz wächst die Wut. Die Parole des aktivistischen Ressentiments lautet: Die Welt wurde genug interpretiert, es kommt darauf an zurückzuschlagen. Das elende Kurierleben gewinnt eine königshafte Qualität in der Weitergabe von Meldungen, die eine versteckte Wahrheit entschleiern. Endlich können die ehemals entgeisterten Kuriere sich selber wieder wichtig nehmen als Sendboten einer universellen investigativen Ermittlung.
IV. Kontingenztraining
Nietzsche begriff, als ehemaliger Wagnerjünger, der von einer „heiligen Theokratie des Schönen“ (Hölderlin) beseelt war, am eigenen Leib, dass die moderne Welt von einer Umformatierung ihres Wahrheitshaushaltes erschüttert ist. Der Schmerz der Unsicherheit, der daraus erwächst, ist nicht zu verleugnen. Fest steht für den postkunstreligiösen Nietzsche aber auch, dass die Tragik als Wahrheit nur eine Phase ist. Sie wird vorübergehen. Die Frage ist nur, wann es soweit sein wird: „Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln?“6
Nietzsches Vorschlag für eine Umstimmung der modernen Verstimmungen, die dem anonymen Advent des Endes aller Adventshoffnungen entgegenarbeitet, mündet in Skizzen, Ideen und Tönen für eine vornehme Art des Scheins, dessen Wahrheit das Leben immer wieder neu verklärt, für sich und für andere. In Nietzsches Denken wird daher „gegen Depressions-Zustände ein anderes training versucht“7, das eine neue Struktur der Wahrheit einübt. Aus der Tragik der fehlenden Wahrheit wird so kein Mythos einer universellen Verschwörung. Nietzsche versucht als „freier Geist“ den Humanismus als eine Art Gegenverschwörungs-Verschwörung neu zu animieren. Dass Gott tot ist, heißt auch, dass der Mensch auf eigene Faust in eigenen bedeutungsvollen Beziehungen leben und das Leben säkular heiligsprechen kann. Zumindest sollte er den Anstand und die Rechtschaffenheit besitzen, den Verführungen durch das allgegenwärtige Verlangen nach Ressentiment nicht nachzugeben. „Wohlan!“
Nietzsche Unterfangen schreckt aber durch den Anspruch ab, den es voraussetzt. Die Sinnkrise der Moderne wird darin nicht aufgelöst. Vielmehr soll das Absurde zum „Himmel Zufall“8 werden, in der der freie Geist seine Flugkünste als säkularer Engel der Postapokalypse absolvieren soll. Aus den Anfängen davon und aus der Verachtung für die ressentimen Erdungen entsteht eine andere Normalität. Die Krise des Sinns ist die Normalität der Kuriere, die genug haben von den allzubanalen Elendstönen der anderen Boten und von den ideologisch verklärten Aggressionen der ángeloi, die sich als Könige aufspielen. Für die königslosen Kuriere wurde Nietzsche zum Erzboten. Die letzte Utopie für Menschen, die mehr sein wollen als „letzte Menschen“: Kontingenz als Luft, die einen atmen und fliegen lässt. Dass darin ein Ethos des „gefährlich leben“9 steckt, zeigte Nietzsches Schicksal. Er wurde zum Ikarus eines unlebbaren Übermenschentums.
Nietzsches Umstimmung der Wahrheitsverstimmung expliziert sich philosophisch, wenn eine ontologische Kehre im Verständnis von Wahrheit stattfindet, die sich in neuen Konzepten und Gefühlslagen auszudrücken lernt. Der Grund dafür liegt in der Deformation der Wahrheit durch das Konzept von Wahrheit als ein Geflecht, das eine absolut wahre Mitte kennt, die zu den Rändern hin ausstrahlt. Wahrheit als absolute ist das Unwahre. Mit Nietzsche über Nietzsche hinausgehen hieße, die Wahrheit des Scheins als ein Ausblenden von deprimierenden Wahrheiten und als eine Sinngebung des Schmerzes ontologisch expliziter zu formulieren. Wenn keine Mitte und kein Verlust einer Mitte eine vornehme Orientierung bietet und das Dasein nicht zur Freiheit als ewige Peripherie verurteilt ist, ist zu fragen, wie dichte und bedeutungsvolle Vitalität zu denken wäre. Kafkas elende und desorientierte Kuriere haben sich dafür selbst als faszinierende Innenwelten, als „Seele als Subjekts-Vielheit“10 zu entdecken, die ihre eigenen Netzwerke von Kurieren und Königen unterhält. Für die Kultivierung der Innenwelten sind die Begegnungen mit lebensbereichernden, postmonarchischen Mitkurieren essentiell. Das heißt, dass die Funktion der Mitte neu ersetzt wird. An ihre Stelle rücken Verdichtungen und starke Beziehungen. Dabei wird der Hang zum Absoluten enthärtet durch Ironie. Aus der Hierarchie von Mitte und Peripherie wird ein Rhizom von Rhizomen von pluralen Erregungszentren, die sich in ausdifferenzierten Sympathien stimulieren können. Die Kontingenz der Existenz kann dann als „Luxus der Kräfte“ angesehen werden, in der der Mangel an Evidenzen, Überzeugungen und Motivationen als „Laxität der Bestimmung“ die Bedingung der Möglichkeit für ein Erspielen von Wahrheiten darstellt.11 Damit kollabieren die mächtigsten alteuropäischen Wahrheiten. Das Sein als eine überfließenden Emanation einer optimalen Seinsmitte hin zu immer kläglicheren Rändern vergeht. Und es vergeht auch die Geschichte als Advent eines gerechten Heils in einer Endzeit. Dass Gott tot ist, heißt, dass die Geschichte und das Sein zu Ende sind. Nietzsche versucht eine neue frohe Botschaft in die Welt zu setzen. Sein alternativer Kosmos ist ein fluktuierendes, schöpferisches Vakuum, eine Wahrheit als eine sich selbst widerlegende Wahrheit, die, man höre und staune, im Jargon der heideggerschen Gelassenheit artikuliert wird: „Alles bricht, alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall.“12
Stabilisiert wird diese Pluralität der Azentralität durch eine Aktualisierung der Kardinaltugenden: Eine existenzielle, zu einer gütigen Selbstverachtung fähige Ironie, eine empathische Revisionierbarkeit, eine diplomatische Besonnenheit und ein nicht nur wirtschaftlicher Unternehmergeist halten das System der ausdifferenzierten Sympathien am Laufen. Zentral dafür ist ein neues Bildungsideal als philosophische antiressentime Redlichkeit, die sich immer wieder zu einer „Lust am Ungewissen, am Ungewagten“13 überreden kann. So wird aus dem Sorgenkind Erde eine Bühne von unwahrscheinlichen königlichen Erfahrungen, durch die es zur wahren Königin gekrönt wird, von der die intelligenten Kuriere nicht genug bekommen, sich Meldungen zuzurufen. Und die gekonntesten Meldungen werden selbst wieder zu Königen, von denen Meldungen erstattet werden. Das Prinzip der verantwortungsvollen Bewunderung lautet: Lebe so, dass die Wirkungen deiner Handlungen die Permanenz erzählenswerten Lebens auf Erden steigert.
Teil des neueuropäischen Kurierwesens zu werden ist allerdings, folgt man Nietzsche, an einen psychologischen Numerus clausus geknüpft. Er legt fest, dass die Qualifikation für königslose Kuriere, die den „Entschluss zum Lebensdienste“ (Thomas Mann)14 gefasst haben, darin besteht, sich selbst aufzuraffen zu einem interessanten, weitererzählbaren Leben. Neben einem guten Willen zu taktvollen Verklärungen von sorgenvollen Abgründen, ist dafür auch die Kunst der produktiven Selbstverachtung zu lernen. Ihre Kernkompetenz besteht darin, die „ekelhafte Fadheit meines disponiblen Daseins“15 auf eigene Faust antiressentim umzustimmen. Kontingenz ist keine Beraubung oder ein wesenhafter Mangel. Niemand ist letztlich vollends schuld daran, dass man von dem Gefühl durchzogen ist, jenseits aller Zugänge zu einer wesentlichen Wirklichkeit zu sein. Der Frust über die Kläglichkeit der eigenen Lage kann nicht mehr auf Andere abgewälzt werden. Statt der toxischen Unterhaltung der Vergeltung kann so die unsichere Suche nach Spuren von intelligentem, sympathischem Leben im All des eigenen Selbst und auf der Welt stattfinden. Aus dem Habitus des kritischen Bewusstseins mit seinen immer ausgefeilteren Verdächtigungen wird die verhaltene Neugier einer Schatzsuche im „disponiblen Dasein“. Der Aufklärungsdämmer könnte so den Schein einer Morgenröte erhalten, die noch nicht geleuchtet hat. „Wind kommt auf, versuchen wir zu leben.” (Paul Valéry) Was bleibt aber, stiftet das Trainieren und Flanieren.
Quellen
Sartre, Jean-Paul: Die Wörter. Reinbek bei Hamburg 1983.
Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Zürich 1998.
Fußnoten
1: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 56.
2: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 256.
3: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 15.
4: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 16.
5: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 14.
6: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 109.
7: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 18.
8: Also sprach Zarathustra, Vor Sonnen-Aufgang.
9: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 283.
10: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 12.
11: Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung, 27. Brief, S. 527.
12: Also sprach Zarathustra, Der Genesende 2.
13: Also sprach Zarathustra, Von der Wissenschaft.
14: Vgl. zu diesem Motiv auch schon den Artikel Der Entschluss zum Lebensdienste auf diesem Blog (Link).
15: Sartre, Die Wörter, S. 131.
Aufklärungsdämmerung
Nietzsches Wahrheit des Scheins I
Aufklärungsdämmerung
Nietzsches Wahrheit des Scheins I
Nietzsches bekannteste Formulierung, wonach Gott tot sei, zeigt nicht nur eine antireligiöse Stoßrichtung. Sie weist vor allem darauf hin, dass in der Moderne konstitutive Selbstverständlichkeiten keine traditionelle Geltung mehr besitzen. Indem das kulturelle Verständnis von Wahrheit ins Wanken geraten ist, ist nicht nur diese oder jene Wahrheit fraglich geworden, sondern das Verständnis von dem, was überhaupt Wahrheit ist. Damit gerät die Aufklärung unter den Druck, die Fragen zu finden, auf die sie die Antwort sein soll. Es ist dieser Abgrund einer unheimlichen Fraglichkeit, aus dem Nietzsches Denken versucht, Auswege zu zeigen, die lebbar sind. Im ersten Teil seines Textes Aufklärungsdämmerung erzählt Michael Meyer-Albert vom aufgeklärten Zweifel der Aufklärung an ihr selbst.
„O ihr Genossen meiner Zeit! fragt eure Ärzte nicht und nicht die Priester, wenn ihr innerlich vergeht! Ihr habt den Glauben an alles Große verloren· so müßt, so müßt ihr hin, wenn dieser Glaube nicht wiederkehrt, wie ein Komet aus fremden Himmeln.” (Hölderlin, Hyperion)
I. Im Schatten Gottes
Ein zeitgenössisches Denken besitzt die Form des Flanierens. Die Arbeit des Begriffs wird dabei beurlaubt und eine teilnehmende Wahrnehmung tritt an seine Stelle. Flanieren ist ein aktives Vergessen der Texte, dem sich, wenn es glückt, die Welt als der Versuch zu einem Essay neu entdeckt. Mitunter stößt man dabei aber auch auf wortwörtliche Funde. So wurde der Verfasser auf seinen aphilosophischen Weltstreifzügen neulich von einem Graffito überrascht. Auf einer wenig ansprechenden Leipziger Hauswand stand der folgende Spruch:
„Gott ist tot.“ (Nietzsche)
„Nietzsche ist tot.“ (Gott)
Man könnte diese tiefsinnige Lakonie auf Nietzsches legendärste Formulierung als eine elegant-trotzige anti-atheistische Antwort abtun, wenn darin nicht auch eine statistische Wahrheit stecken würde. Derzeit leben etwas mehr als acht Milliarden Menschen auf dem Planeten. Von ihnen gehören etwa 2,4 Milliarden der christlichen, zwei Milliarden der islamischen und gut eine Milliarde der hinduistischen Religion an. Knapp eine Milliarde Menschen sind überzeugte Atheisten. Rein statistisch gesehen müsste daher der dominierende Wahrheitsbegriff der Menschheit metaphysisch konstituiert sein. Auch im Jahr 2024 nach Christi Geburt sollte, folgt man den Daten, der Ausspruch von Jesus „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“1 zumindest eine Viertelwahrheit für die Menschheit bedeuten.
Es lässt sich aber bestreiten, dass ein Verbleiben in den offiziellen Bindungen einer Religion gleichzusetzen wäre mit der Wirkungsmacht einer Religion. Für die westliche Hemisphäre und die Bereiche ihrer kulturellen Einflüsse hat sich ein anderer Wahrheitsbegriff etabliert. Nicht mehr eine religiöse Offenbarungswahrheit trägt hier die Kultur. Entscheidend ist einerseits die seit dem 17. Jahrhundert aufkommende Ausrichtung an wissenschaftlich geprüften objektiven Beobachtungsdaten und ihrem Siegeszug in technischen Apparaturen und andererseits das sich durch verschiedene Formen regulierende Gespräch der Subjekte als Mitsprache im öffentlichen Raum.
Diese Wahrheit jenseits einer göttlich formierten Wahrheit stellt allerdings einen epochalen Umbruch dar, dessen Wirkungen Symptome einer Krise zeigen. Den „transzendental obdachlos“ (Georg Lukács) gewordenen Subjekten zeigt sich die Welt als, wie Max Weber sagte, „entzauberte“. Nietzsche weist mit Blick auf den gesamten Zeitraum der Neuzeit daher auf eine sich beschleunigende Dezentrierung des Humanen hin, in der sich das Gefühl des Nihilismus ausbreitet: „Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen, – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? in’s Nichts? in’s ‚durchbohrende Gefühl seines Nichts‘?“2
Der Grund für den postkopernikanischen Nihilismus liegt für Nietzsche in den unausgestandenen und meist nicht einmal verstandenen Entwertungen von tragenden Verständnissen, die metaphysisch konstituiert waren: „Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!“3
Diesem Befund Nietzsches lassen sich unterstützend zwei weitere dunkle Wahrheiten anfügen. Die Wissenschaft zeigte sich spätestens mit den Atombombenabwürfen im August 1945 als verführbare Magd der Politik. Ihre seit der Neuzeit vollbrachten Leistungen, die negativ in der Neutralisierung von aufgeheizten theologischen Dogmenkämpfen bestand und welche sich positiv in der Entdeckung der Welt als erforschbarer Raum von Komplexität manifestierte, werden davon überschattet. Und auch der Glaube an die Wahrheit des Diskurses wurde eingetrübt. Seit den demokratischen Massenagitationen im Tugendterror der Französischen Revolution richtete sich gegenüber dem Wahrheitsbegriff der räsonierenden Öffentlichkeit der Verdacht der Herrschaft des Mobs auf. Alexis de Tocquevilles Wendung von der „Tyrannei der Mehrheit” und Heideggers Formulierung „Diktatur des Man“ weisen auf die irreversiblen illiberalen Potenziale auch der demokratischen Wahrheitsprozeduren hin.
Damit liegt über der Epoche der Globalisierung ein epistemologisches Zwielicht. Gott, die Wissenschaft und das Gespräch mögen nicht tot sein. Sie sind aber alle in der Stellung einer unhinterfragbaren Autorität angeschlagen. Die Zeit ist verurteilt zu einer unsicheren Gedankenfreiheit, die sich über kompetente Autoritäten selbst informieren muss. In ausdifferenzierter Komplexität wächst der Zwang, ein Experte in der Auswahl von Experten zu sein, die einen halbwegs über das informieren können, was ist. Was bleibt aber, stiften die Medien, denen man Glauben schenkt.
II. Könige und Kuriere
In den Tagebuchaufzeichnungen von Franz Kafka findet sich folgende aphoristische Parabel: Sie wurden vor die Wahl gestellt, Könige oder Kuriere zu sein. Nach Art der Kinder wollten sie alle Kuriere sein, deshalb gibt es lauter Kuriere. Und so jagen sie, weil es keine Könige gibt, durcheinander und rufen einander selbst ihre sinnlos gewordenen Meldungen zu. Gerne würden sie ihrem elenden Leben ein Ende machen, aber sie wagen es nicht wegen des Diensteides.4
Die Situation, die Kafkas kleines Stück beschreibt, verdeutlicht die Situation der chaotisch synchronisierten Medialwelt im globalen Zeitalter mit einer diskreten Erinnerung daran, was Medien in ursprünglichen Sinn waren. Damit ist nicht nur gemeint, dass Kafka das Verständnis von Medien von der Fixierung auf technische Apparaturen aufweicht. Technische Medien sind primär nur Verstärkungen der humanen Medialität. Menschen sind Boten, Abgesandte – altgriechisch „ángeloi“ – von Informationen und Passionen.
Kafkas Text zeigt aber auch, wie zentral für eine intakte mediale Hemisphäre der Glaube an die Teilnahme an Wesentlichem ist. Das moderne Vorurteil über diese Teilnahme liegt darin, dass sie unter einem kulturkritischen Verdacht steht. Das ist plausibel im Hinblick auf die hierarchische Ordnung der ältesten medialen Formationen. Kulturen waren von Anfang an geprägt durch Autoritäten, die mit dem Anspruch auftraten, dass durch sie das Göttliche rede. In der Form eines Priesterkönigtums legitimierten sie weltliche Macht durch geistige Nähe zum Überirdischen. Medien waren die Sendboten der objektiven Wahrheit und herrschten so von Gottes Gnaden.
Platons Konzept der Wahrheit besitzt insofern eine subversive Kraft, als es von den weltlichen Gottmedien verlangt fähig zu sein, ihre starke Beziehung nach ganz oben durch logische Kohärenz zu bezeugen. Statt der kryptischen Orakelworte und ihrem vermeintlich hohen Sinn versucht der philosophische Strukturwandel der Öffentlichkeit mediale Autorität durch Evidenz zu gewinnen. Statt der sozialen Macht soll der kompetente Sachverstand herrschen. Platons Philosophie beklagt den Fachkräftemangel in der Wahrheitswirtschaft. Kompetenteste Kompetenz solle daher dem „Philosophenkönig“ zugesprochen werden. Dieses Resultat des platonischen Nachdenkens weckt allerdings den Verdacht, etwas allzu pro domo zu sein. Darin liegt wohl einer der Gründe, warum es sich mit seiner politischen Marktreife schwer tat. Die erste Akademie wurde daher außerhalb der Stadtmauern Athens errichtet. Dass sie immerhin beinahe 1.000 Jahre (etwa 386 v. Chr. bis 529 n. Chr.) Bestand hatte, spricht für einen Standort der universitären Wahrheit als ferne Nähe zur Urbanität. Die Wahrheit der Agora und die Wahrheit der Akademie geraten durch eine wohltemperierte Distanz voneinander in eine produktive Spannung.
Kafkas tiefsinnige Parabel vergegenwärtigt nun eine Situation, in der Platons Konzept an seinem Erfolg zugrunde ging. Sie zeigt die Lage, die entsteht, wenn der emanzipatorische Schub von Platons Vorrang der Evidenz eine Autonomie freilegt, die die Kritik an allen höheren Autoritäten soweit treibt, dass das Konzept „Autorität durch Wahrheit“ insgesamt erschüttert wird. Keiner der Kuriere traut sich mehr zu, Sprachspiele von der Form „Königsworte“ zu spielen. Keiner will das Sagen haben, weil keiner ein hinreichender Experte ist. Ein Zuviel von philosophischer Reflexion lässt einen Abstand nehmen von der Idee eines Königtums, eines Philosophenkönigs und schon gar von einer Machtergreifung durch Selbstkrönung. Vollendeter Platonismus ist antinapoleonisch.
Für die Erschütterung des Glaubens an Wahrheit gibt es plausible Gründe. Die Aufklärung zwang alles vor den Richtstuhl der Vernunft. Sie zersetzte dadurch den kanonischen Bestand an klassischen Orientierungen. Vererbt wird so nicht mehr eine traditionell aufgespannte Welt, sondern der Impuls, durch das autonome Denken selbstständige Welten zu erschaffen. Mit den Deformierungen, die in der Wissenschaft und in der Wahrheitsfindung der Öffentlichkeit im Laufe der Zeit zu Tage traten, kam die Vernunft nun selbst wieder vor den Richtstuhl der Vernunft.
Im Hinblick auf den Tugendterror links des Rheines versuchten die teutonischen Denker schon wenige Jahre nach der Französischen Revolution eine Neuausrichtung der Aufklärung anzudenken. Dabei erlangte die Kunst die Rolle einer Ergänzung des kalt kalkulierenden Verstandes. Nur sie löse die soziale Frage, wie die Aufklärung vor ihrer Verwirklichung in terroristischer Willkür zu immunisieren wäre. Schiller etwa war davon überzeugt, „dass man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muss, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.“5 Erst eine erweiterte Charakter-Bildung macht aus Jakobinern Bürger. Die Veredlung des Menschengeschlechtes solle als ästhetisch forcierte „Ausbildung des Empfindungsvermögens“6 voranschreiten. Schillers Idee einer umfassenden Ästhetik mündete in dem Konzept einer schönen Politik. Verdorben wurden diese allzuschönen Ideen aber durch den realexistierenden Ästhetizismus des erhabenen Staates. Schiller war enthusiasmiert von der Möglichkeit einer sozialen Synthese durch die Freude: „Bettler werden Fürstenbrüder“ (An die Freude). Die Ernüchterung folgt durch die Realität, in der die Ernstfälle eine Mitsprache verlangen. Wenn eine Ernstfallpolitik regiert, dann kippt die Ästhetik des Sozialen in eine kitschige „Sympathie mit dem Tode“ (Thomas Mann). Im Mittelpunkt steht hier die heroische Aufopferung für das große Ganze. Im 20. Jahrhundert wütete in der Gestalt des Sozialismus und des Faschismus eine unschöne Politik des Erhabenen als neue Religion, die Aufklärung als letale Revolution verstand. Aus der Freude als Metaverfassung jedes Gemeinwesens wurde nun ein aggressiver Universalismus.
Mit diesen traurigen Resultaten begann die Aufklärung an sich selber zu zweifeln und zwar so sehr, dass sie sich selbst in Frage stellte. Weil die neuen Könige nur wieder Befehle und nicht Wahrheiten verbreiteten, flüsterten die Kuriere sich pausenlos die Botschaft zu, dass die da oben wohl alle nur Betrüger wären. Und zugleich verbreiten einige Kuriere das Gerücht, dass womöglich jedes Worthaben immer nur als herrische Macht und nicht als Macht der Kompetenz zu verstehen sei. Diese unfrohen Botschaften ersetzten das Königswort und gaben eine niederschmetternde, aber immerhin Halt verleihende Teilhabe an Wahrheit. Die Aufklärung fand so in immer feineren Kritiken an sich – zur Freude aller Fanatiker und Charismatiker des Autoritären – eine neue Sicherheit: „Aufklärung ist totalitär.“7 Komplementiert wurde diese dunkle Wahrheit durch eine negative Ästhetik, die die Erfahrung des „Nichtidentischen“ als einzigen Ausweg andeutet.
Nietzsches Denken versucht, diese Aufklärungsdämmerung in eine Philosophie der Morgenröte umzuwerten. Dafür setzt er an bei einer Rehabilitation von Schillers Idee einer Wahrheit der Kunst. Sein Ansatz liegt darin, dass er die Aufklärung über die Aufklärung um eine weitere Reflexionsstufe vorantreibt. Wenn Vernunft sich selbst vor den Richtstuhl der Vernunft stellt und sich in immer neuen hermeneutischen Zirkeln des Verdachtes immer hermetischer demontiert, warum nicht diese Spirale des Selbsthasses umkonfigurieren? In Nietzsches Denken wird so das Stellen der Vernunft vor den Richtstuhl der Vernunft insgesamt wieder vor den Richtstuhl der Vernunft gestellt. Kunst als „Kultus des Unwahren“ gewinnt als „gute[r] Wille[] zum Scheine“7 eine Bedeutung, die der Aufklärung neues Leben einhauchen soll. Auch wenn niemand mehr ein König ist, so gibt es immer noch das Königliche als Effekt einer noblen Lüge zur Vitalität. Wenn der Glaube an alle großen Wahrheiten verloren ist, so kann das Glauben an die Größe des intelligenten Lebens zu einer erhaben-schönen Wahrheit werden. Darin liegen politische Implikationen: Die Heroik des Erhabenen wird in einer ausbalancierten Sozialästhetik zu einer Bildungsoffensive entschärft, die an sich selbst arbeitet. Und die Politik der Freude findet ihren Realismus in einem Engagement für ein Ganzes als ein kooperatives System, das Freiräume eröffnet. Was wird aus Kurieren, wenn es keinen König und keinen Selbstmord braucht, sondern eine epistemologische Form der Ironie, damit sich ihr elendes Leben ändern kann?
Quellen
Adorno, Theodor W. & Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 2004.
Kafka, Franz: Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg. In: Max Brod & Hans Joachim Schoeps (Hg.): Beim Bau der chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlass. Berlin 1931, S. 225 – 249 (online).
Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Zürich 1998.
Fußnoten
1: Mt. 11, 27; Joh. 10,9; Röm. 5,1; Hebr. 10,20.
2: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 25.
3: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 108.
4: Vgl. Kafka, Betrachtungen, S. 234.
5: Schiller, Über die ästhetische Erziehung, 2. Brief, S. 405.
6: Ebd., 8. Brief, S. 430.
7: Adorno & Horkheimer, Dialektik, S. 12.
Nietzsche und die Musik
Nietzsche und die Musik
Für kaum einen anderen Philosophen hatte die Musik eine so große Bedeutung wie für Nietzsche. „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum“1, schrieb er. Christian Saehrendt geht für Nietzsche POParts der Frage nach, wie sich diese hohe Wertschätzung der Klangkunst in seinem Leben und Werk manifestierte. Er kommt dabei auf Nietzsches eigene Kompositionen ebenso zu sprechen wie auf einen der ikonischsten Aspekte seines Lebens: seine Freundschaft mit Richard Wagner. Er zeigt, dass die Musik für Nietzsche eine geradezu erotische Bedeutung hatte – und er in dieser Hinsicht gar nicht so „unzeitgemäß“, sondern ein typisches Kind seiner Zeit war.
Zwischen Philologie und Kunst, zwischen Wort und Musik hin- und hergerissen, ist auch Nietzsche nicht gefeit vor der zeittypischen sakralen Überhöhung der Kunst. Er wird Fan von Richard Wagner und versucht sich selbst zeitweilig als Hobby-Komponist. Für Nietzsche, den „nicht zustande gekommenen Komponisten“ – eine Gustav Mahler zugeschriebene Bezeichnung – war die Musik zwar ein wesentliches Thema seines Lebens, doch als Berufung, als Waffe und Werkzeug wählte er dann doch das Wort.
Kunst und Künstler standen im Mittelalter und zum Teil bis in die Neuzeit im Dienst der Religion. Die Kirche fungierte als Auftraggeberin, die Künstler und Musiker hatten Klöster und Kathedralen mit Bildwerken auszuschmücken oder den Gottesdienst mit Kompositionen zu bereichern. Der Künstler war demgemäß ein (anonymes) Werkzeug Gottes. Je besser ihm seine Werke gelangen, umso größer war die Gottesliebe, die in ihnen zum Ausdruck kam. Die Ansicht, dass alle große Kunst Lobpreisung Gottes sei, ist sogar noch bis in die Moderne hinein vertreten worden, etwa von dem katholischen Schriftsteller Marcel Proust. Auch Nietzsche sieht in jungen Jahren die Musik vor allem als Geschenk Gottes:
„Ewig Dank sei Gott von uns gesungen, der diesen schönen Genuß uns darbiete“, schrieb Nietzsche 1858 als knapp Vierzehnjähriger:
Gott hat uns die Musik gegeben, damit wir erstens, durch sie nach oben geleitet werden. Die Musik vereint alle Eigenschaften in sich, sie kann erheben, sie kann tändeln, sie kann uns aufheitern, ja sie vermag mit ihren sanften, wehmütigen Tönen das roheste Gemüth zu brechen. Aber ihre Hauptbestimmung ist, daß sie unsre Gedanken auf Höheres leitet, daß sie uns erhebt, sogar erschüttert.2
Die neue Kunstreligion im 19. Jahrhundert
Die Lobpreisung Gottes ging in der Zeit der Romantik in eine hymnische Verehrung von Natur und Kunst über. In der Verehrung von historischen und gegenwärtigen Meisterwerken huldigte man nun einem zwar menschlichen, aber in unerreichbarer Ferne weilenden Genie. Kunstandacht und Kunstenthusiasmus waren jetzt Ausdruck einer quasi-religiösen Kunstverehrung. Ein bekanntes Beispiel dafür bildete die Aufsatzsammlung Herzensergiessungen eines kunstliebenden Klosterbruders von Wilhelm Heinrich Wackenröder und Ludwig Tieck. Sie erzählten die Lebensgeschichten „der großen gebenedeiten Kunstheiligen“ im Stile von Hagiografien. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, auch als Folge der Französischen Revolution, verbreitete sich die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und Gemeinschaft. Das Vertrauen auf emotionale Verbundenheit führte zu einer neuen Wertschätzung der Gefühle. Schon in der Endphase des Ancien Régime war eine Gegenbewegung zur Rationalität der Aufklärung entstanden. In Deutschland „Sturm und Drang“ genannt, wendeten sich die Romantiker gegen höfische Autorität und steife formale Traditionen und stellten stattdessen das persönliche Fühlen und Erleben in den Vordergrund. Man zelebrierte nun die Innigkeit und die schwärmerische Wohlgewogenheit als treibende Kräfte des Privatlebens und der Freundschaft. Die Liebesheirat wurde zum bürgerlichen Ideal, aber auch befreundete Männer umarmten und küssten sich innig, schrieben sich sentimentale Briefe und schworen sich ewige Treue. Was in der aristokratischen Hofkultur nach französischem Vorbild noch undenkbar gewesen wäre, kam in den folgenden Jahrzehnten in Theater, Musik und Literatur groß in Mode. In der damaligen großen Popularität der Oper ist laut Nietzsche der Protest des Laien „gegen eine zu gelehrt gewordene kalte Musik zu erkennen“, die mit der „wiedererweckten Polyhymnia“ wieder eine Seele bekommen sollte: „Ohne jene tiefreligiöse Umstimmung, ohne das Ausklingen des innerlichst erregten Gemüts wäre die Musik gelehrt geblieben.“3 So bildeten die Kultivierung der Gefühlswelt, eine nunmehr ausdrucksstarke, authentische Sprache und eine spirituell grundierte Kunstverehrung die Grundlagen der neuen ‚Kunstreligion‘ des 19. Jahrhunderts. In ihr übertrug sich das spirituell-religiöse Bedürfnis des Bürgertums auf die Künste, allen voran Oper und Symphonie, in zweiter Linie Theater und Ballett, gefolgt von der Dichtung und bildenden Kunst. Nietzsche erkannte die Tragweite dieser historischen Tendenz: „Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selbst tiefer, seelenvoller …“ Nach Nietzsche ist die Religion aber stärker als die Kunst, nicht umgekehrt, wie manche säkularen Kulturmenschen es sich wünschen: „Der zum Strome angewachsene Reichtum des religiösen Gefühls bricht immer wieder aus und will sich neue Reiche erobern.“ Zum Schwemmland der Religion, gehöre, so Nietzsche, neben Politik und Wissenschaft eben vor allem die Kunst: „Überall, wo man an menschlichen Bestrebungen eine höhere düstere Färbung wahrnimmt, darf man vermuten, daß Geistergrauen, Weihrauchduft und Kirchenschatten daran hängengeblieben sind.“4
Im Rahmen jener zeittypischen religiösen Ergriffenheit, die das Kulturleben erfasst hatte, avancierten Oper und Theater in ‚Gesamtkunstwerk‘-artiger, multisensualer Inszenierung zu den künstlerischen Königsdisziplinen. Renommierte Komponisten und Virtuosen wurden als Genies verehrt wie Stars behandelt. Parallel zu dieser schwärmerischen Stimmung im Kultur- und Gesellschaftsleben veränderte jedoch ein knallharter Kapitalismus die Welt. Die Naturwissenschaften, vor allem die Biologie und die Medizin, erlebten einen starken Aufschwung. Gegen die nun rasch fortschreitende Profanisierung, Rationalisierung und Verwissenschaftlichung aller gesellschaftlicher Bereiche wurde die neue Kunstreligion ins Feld geführt. Einer ihrer Propheten war Richard Wagner. Bald polarisiert der Wagnerianismus als neue quasi-religiöse Bewegung die Öffentlichkeit, und der junge Nietzsche schließt sich begeistert an. Nach einem Konzertbesuch im Herbst 1868 – das Tristan-Vorspiel und die Meistersinger-Ouvertüre standen auf dem Programm – wechselt Nietzsche gänzlich ins wagnerianische Lager. Nietzsche lernt Wagner in Leipzig persönlich kennen, und er besucht ihn in seinem Haus bei Luzern innerhalb der nächsten drei Jahre 23 (!) mal – Hochphase jener „Sternenfreundschaft“, auf die Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft anspielte.5 Auch Wagner schätzt den 31 Jahre jüngeren Verehrer. 1872 resümiert er: „Genau genommen sind Sie, nach meiner Frau, der einzige Gewinn, den mir das Leben zugeführt.“6
Möglicherweise hat Wagner seinen jungen Fan von Beginn an und mit langfristigem Kalkül instrumentalisiert. Nach Werner Ross heuert Wagner Nietzsche de facto als akademisches PR-Zugpferd an und sorgt dafür, dass er eine Professur in Basel erhält. Wagner braucht einen Intellektuellen, der die Hochwertigkeit seines musikalischen Projekts beglaubigt. Er nutzt seine junge Frau Cosima, um Nietzsche durch viele und lange Briefe bei Laune zu halten. Nietzsche lobt in Vorträgen und in seiner ersten Publikation Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Wagner in den Himmel, sieht ihn als einen mit Luther vergleichbaren „Reformator“ und Erneuerer der dionysischen griechischen Kultur. Wagner sieht sich selbst in einem Brief an Nietzsche als „verhinderten Philologen“, während er Nietzsche als „verhinderten Musiker“ beschreibt. Wagner diktiert Nietzsche die Arbeitsteilung der beiden: „Nun bleiben Sie Philolog, um als solcher sich von der Musik dirigieren zu lassen.“7 Nietzsche erfüllt den Auftrag, indem er postuliert, das griechische Drama sei aus einer ursprünglichen dionysischen Musik entstanden. Diese sei zwar durch Sokrates und Co. zerstört worden, doch dank Wagners Genie sei es nun nach 2.000 Jahren möglich, an diese ursprünglichen Traditionen wieder anzuknüpfen. Die Geburt der Tragödie, das erste bedeutende Werk Nietzsches, enthielt ein Vorwort an Richard Wagner und war ihm explizit gewidmet. Nietzsche stellte ihn damals als möglichen Neubegründer einer der griechischen vergleichbaren Kultur dar und distanzierte sich als bekennender Wagnerianer zugleich von der wissenschaftlichen Philologie. Dadurch ist seine weitere wissenschaftliche Karriere blockiert – als Philologe ist Nietzsche fortan ruiniert. Die von Anfang an fragile und mit Erwartungen aufgeladene Freundschaft bestand zehn Jahre und schlug schließlich in scharfe Kritik um:
Wir waren Freunde und sind uns fremd geworden. […] Dass wir uns fremd werden müssen, ist das Gesetz über uns: ebendadurch sollen wir uns auch ehrwürdiger werden! Ebendadurch soll der Gedanke an unsere ehemalige Freundschaft heiliger werden! […] Und so wollen wir an unsere Sternen-Freundschaft glauben, selbst wenn wir einander Erden-Feinde sein müssten.8
Musikalische Leistungen und Musikkritik
Die Kunst steigt im 19. Jahrhundert in ungeahnte Sphären, die bislang dem Sakralen vorbehalten waren. Zugleich entfaltet sich aber auch die moderne Musikkritik. Die Musik ist damals möglicherweise auf dem Höhepunkt ihrer historischen Wertschätzung angelangt – sowohl im sinnlichen Erleben wie als Gegenstand analytischen Denkens. Vor diesem Hintergrund ist auch Nietzsches Denken über Musik zu betrachten. Zeitlebens, aber ohne Systematik, befasst er sich mit musiktheoretischen Erörterungen. Auch Wagners Wirken sieht er zunehmend kritisch – und widmet ihm eine glänzende Polemik: „Mein grösstes Erlebniss war eine Genesung. Wagner gehört bloss zu meinen Krankheiten.“9 Auf der praktischen Ebene betätigt sich Nietzsche von Kindheit an als veritabel talentierter Pianist, ebenso startet er Versuche als autodidaktischer Komponist. Neben eher konventionellen Liedkompositionen seiner Jugendzeit sind seine späteren Manfred-Meditationen von Belang, die unter dem Eindruck Wagnerscher Musik entstanden und wohl auch zur Aufführung vor Wagner bestimmt waren. Allerdings machte Nietzsche den Fehler, Hans von Bülow, den Komponisten und Wagner-Dirigenten, um ein fachliches Urteil zu bitten. Dieses fällt unwirsch aus: „Eine in Erinnerungsschwelgerei an Wagnersche Klänge taumelnde Phantasie ist keine Produktionsbasis.“10 Tatsächlich zeigen die Kompositionen Nietzsches wenig Innovatives, das auf eine Musik der Zukunft verweisen könnte. Als Musiker bleibt Nietzsche eher konventionell. Es verwundere nicht, resümierte einmal die NZZ,
dass Nietzsche, der sich in Briefen rühmte, es habe noch nie einen Philosophen gegeben, der in dem Grade und bis zu dem Grunde Musiker war wie ihn selbst, durch seine musikalischen Überzeugungen kaum gewirkt hat. Heute, über hundert Jahre nach seinem Tod, ist der Philosoph Nietzsche eine europäische Geistesgrösse von unbestreitbarer Geltung, der „nicht zustande gekommene Komponist“ Nietzsche eine historische Episode.11
Was hat ihm Musik wirklich bedeutet?
Es gibt zahlreiche Bekenntnisse Nietzsches zur Musik – vor allem in seiner Jugend, aber auch in den letzten bewussten Lebensjahren. Doch wie intensiv Nietzsche die Musik wirklich wahrgenommen hat, bleibt letztlich offen. Was schätzte er an Musik besonders?
War es der reine Klanggenuss, quasi ein rein formales, konkretes Musikerleben? Oder sorgte nicht eher die religiöse Aufladung des Musikhörens für Erhabenheitsgefühle? War also die Verknüpfung des Musikhörens mit Vorbildung, mit Texten (Poesie) und mit geschichtlich-religiösem Kontext entscheidet für den Genuss? „Die Musik ist nicht an und für sich so bedeutungsvoll für unser Inneres“, schreibt Nietzsche, sondern erst die Poesie habe „so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt, daß wir wähnen, sie spräche direkt zum Innern und käme aus dem Innern.“ Erst der Intellekt habe also „die Bedeutsamkeit in den Klang hineingelegt.“12 Manche heutige Autoren mutmaßen zwar, die Musik habe ihm ermöglicht, tiefere Schichten des unbewussten Fühlens zu erreichen sowie auszudrücken.13 Doch diese positive Haltung in seiner Jugend wird aber bald vom Leiden am Gegensatz von Wissenschaft und Kunst überstrahlt. Nietzsche sieht die Notwendigkeit, „sich aus raschen Gefühlswechseln künstlerischer Neigungen in den Hafen der Objektivität zu retten“, wie er in einem autobiographischen Rückblick aus der Zeit um 1868 schreibt.14 An anderer Stelle notiert Nietzsche: „[N]ur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Consequenz“15 Er versucht diesen quälenden Gegensatz durch seine Thesen im Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie zu überwinden. „Als Musiker ist Nietzsche gewiss generell Romantiker“, beschreibt Curt Paul Janz Nietzsches Dilemma, doch nachdem er „als Denker die Romantik, die romantische Musikkritik Schopenhauers zu überwinden beginnt, muß er als Musiker verstummen und sich von Wagner entfremden.“16
Von Nietzsches Sexualleben und von seiner sexuellen Orientierung ist wenig bekannt. Es ist durchaus denkbar, dass die Erregung durch Musik bei ihm auch eine erotische Komponente hatte. Einmal notiert Nietzsche ein „Ranking“, was ihm am meisten Lust bereitet. Platz eins: „musikalische Improvisation in guter Stunde“, danach: das Hören bestimmter Stücke von Beethoven und Wagner, drittens: Nachdenken bei Vormittagsspaziergang, als viertes kommt „Wollust“, damit endet die Liste. „Wenn er die Wollust des Geschlechtsaktes – nicht die des Begehrens – fürchtet und flieht, so erlebt er umgekehrt seine Musik und das erfinderische Schweifen seines Geistes wollüstig, mit sinnlicher Intensität,“, folgert Werner Ross in seinem Buch Der wilde Nietzsche oder die Rückkehr des Dionysos.17
So sind es offenbar drei Energiequellen, die Nietzsches Liebe zur Musik aufladen und intensivieren: die Religion, die Poesie und der Eros. Musik und die anderen Künste brauchten laut Nietzsche eine besondere „physiologische Vorbedingung“, den Rausch, besonders den „Rausch des Festes“18. Erst aus dem Zustand der Erregung, in dem das klare Denken, das rationale Bewusstsein ausgeschaltet oder gedämpft wurden, kann sich nach Nietzsche die Kreativität ungehemmt entfalten. Weiter gedacht: Die im Rausch erschaffenen Kunstwerke sind dann besonders gute und gelungene Kunstwerke, wenn sie die Betrachter und Hörer ihrerseits in einen rauschhaften Zustand versetzen können. Nietzsche zeigt sich offensichtlich ganz begeistert vom Rausch und seinen zahlreichen Varianten. Er schwärmt vom „Rausch der Geschlechtserregung“, aber auch vom „Rausch des Festes, des Wettkampfs, des Bravourstücks, des Siegs, aller extremen Bewegung; der Rausch der Grausamkeit; der Rausch in der Zerstörung“. Das Motiv für die auffällige Lobpreisung allerlei dionysischer Ausschweifungen mag in seiner Erziehung zu suchen sein, vor allem aber im Mangel an tatsächlich erlebten „Ausschweifungen“. Hier bot das Musikerlebnis sicher auch eine Möglichkeit der Sublimation. Und so diente ihm das Reich der Musik als Überlaufbecken für die mächtigen Hochwasser der Triebe und Gefühle.
Literatur
O. A.: Das Leben ohne Musik ist einfach ein Irrtum. Online: https://www.nzz.ch/articleDLWL3-ld.38202.
Figl, Johan: Festtagskult und Musik im Leben des jungen Nietzsche. In: Günther Pöltner e. a. (Hg.): Nietzsche und die Musik. Frankfurt a. M. 1997, S. 7–16.
Janz, Curt Paul: Nietzsches Manfred-Meditationen. In: Günther Pöltner u. a. (Hg.): Nietzsche und die Musik. Frankfurt a. M. 1997, S. 45–79.
Nietzsche, Friedrich: [Aus den Jahren 1868/69]. In: Werke in drei Bänden. München 1954, S. 148–154.
Ders.: Über Musik, in: Aus meinem Leben (1858). Online: http://www.thenietzschechannel.com/works-unpub/youth/1858-fmlg.htm.
Ross, Werner: Der wilde Nietzsche oder die Rückkehr des Dionysos. Stuttgart 1994.
Fußnoten
1: Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile, Aph. 33.
2: Über Musik.
3: Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 219.
4: Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 150.
5: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 279.
6: Zit. n. https://www.wagner200.com/biografie/biografie-1866-1870-exil.html.
7: Zit. n. Werner Ross, Der wilde Nietzsche, S. 59.
8: Die Fröhliche Wissenschaft, Aph. 279.
10: Zit. n. Curt Paul Janz, Nietzsches Manfred-Meditationen, S. 52.
11: O. A., Das Leben ohne Musik ist einfach ein Irrtum.
12: Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 215.
13: Vgl. etwa Johan Figl, Festtagskult und Musik im Leben des jungen Nietzsche, S. 12.
14: [Aus den Jahren 1868/69], S. 148.
15: Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, Abs. 1.
16: Janz, Nietzsches Manfred-Meditationen, S. 47.
17: S. 114.
18: Götzen-Dämmerung, Streifzüge, Aph. 18.
Nachweis zum Beitragsbild
Jens Fläming, Es tanzt ein Nie-Na-Nietzschemann. Öl auf Leinwand, 1984. Sammlung Nietzsche-DokumentationszentrumNaumburg. (Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.)
Nietzsche als Kritiker kapitalistischer Entfremdung
Nietzsche als Kritiker kapitalistischer Entfremdung
Im vorletzten Teil der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ kommt Lukas Meisner zu einem auf den ersten Blick überraschenden Resultat: Nietzsche und Marx üben beide fundamentale Kapitalismuskritik und Nietzsche kann dazu dienen, die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie durch eine nicht minder radikale Kritik der moralischen Ökonomie zu vervollständigen.
Man darf zum Beispiel bei dem geldsammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Thätigkeit nicht fragen: sie ist unvernünftig. Die Thätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik. – Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sklaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sklave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter.1
Anhand dieses Zitats wird, entgegen allen hermeneutischen Gerüchten, deutlich, dass sich Nietzsche gut als Kapitalismuskritiker eignet. Mehr noch – und das dürfte die akademischen Geister nun vollends verwirren – verteidigt Nietzsche in ihm die Vernunft gegens Kapital. Der Bankier ist unvernünftig, weil das einstige Mittel, Geld, ihm zum Selbstzweck, Kapital wurde, womit eine Inversion von Mittel und Zweck, kurz: Entfremdung, stattfand. Geld jedoch kann man nicht essen, woran schon der Mythos von König Midas gemahnt; Gewinnstreben folglich wird zum lebensabgewandten Wahn, der kollektiv die Atomisierten befällt. Der Bankier ist damit ein Repräsentant der Unvernunft und der Leibesferne gleichermaßen, wie einstmals nur der Priester es war – was sich auch an den Auswirkungen des Finanzmarkts als neuer Kultstätte ablesen lässt. Die vermeintlich – mit dem Nietzscheaner Max Weber gesprochen – rationalste bzw. rationalisierteste Verkehrsform der Gesellschaft ist für Nietzsche damit im Herzen unvernünftig, eben weil sie gegen das Leben gewandt ist. Weiter mit Weber: Zweckrationales Handeln als solches, das sich von substanzieller Vernunft verabschiedet hat, wird irrational, weil es sich, von der Frage nach Möglichkeit und Ziel abgeschnitten, in der eigenen Funktion verfängt und nur mehr nach Gespenstern jagt. Es ist ersichtlich: Nietzsche war nicht nur Zeitgenosse Marxens, sondern kritisierte auch dieselbe Gesellschaft wie jener, nämlich die kapitalistische. Mehr noch kann er uns heute dazu verhelfen, so manche marxistische Einsicht weiter zu vertiefen. So wies er beispielsweise nach, wie hinter dem vermeintlichen Egoismus seiner Klasse – der Repräsentanten protestantischer Ethik – letztlich das Super-Ego der Ichschwäche steckt, und wie der zur Schau gestellte Luxus der Oberschicht, da diese hinter ihrer Performance alle Persönlichkeit verliert und dergestalt menschlich verarmt, zur Askese herabkommt. Hier, nicht zuletzt, setzte Freuds Rezeption Nietzsches an, die ihn jedoch bürgerlich zurückübersetzte: In die absolute Notwendigkeit des Verzichts für alle Kultur. Nietzsche dagegen steht gerade für eine Kultur des Leibes und eine Kultivierung der Lust statt deren Unterdrückung, wobei diese gleichsam, als „große Gesundheit“ (Nietzsche), Vernunft miteinschließen muss, statt von ihr verstoßen zu bleiben.
Was im Eingangszitat als die „Dummheit der Mechanik“ bezeichnet wird, lässt sich insofern auch marxistisch als „automatisches Subjekt“ begreifen, als welches das Kapital fungiert. Unter seinem Bann dient nicht die Wirtschaft uns, sondern wir ihr, weshalb wir auch nicht arbeiten, um zu leben, sondern leben, um zu arbeiten. Die Welt kurzum steht Kopf, weil sie kopflos ist, d. h. von anonymer Struktur beherrscht. Das Ergebnis: „Sklavenmoral“ grassiert, und zwar überall, alle betreffend, besonders beherrschend jedoch die Herrschenden, die Erfolgreichen, die Schönen, Mächtigen und Starken, denn die sind am tiefsten verstrickt ins falsche Bewusstsein ihrer Erhabenheit, die, dem ungeachtet, doch bloßer Schein bleibt. Gegen diesen Schein argumentiert das Eingangszitat, dass auch Lohnsklaverei noch Sklaverei ist, dass die Moderne nicht so freiheitlich ist, wie sie sich gibt, und dass Staatsmänner, Kaufmänner, Beamte, Gelehrte – d. h. die „hohen Tiere“ aus Politik, Wirtschaft, Staat und Kulturbetrieb – nicht minder Sklaven sind als ihre einstigen Pendants der griechischen Antike. Die vermeintlich nietzscheanische, im Eigentlichen Schumpeter’sche, Anbetung des Unternehmers als Genie, als Schöpfer, als heroisches Individuum erfährt in Nietzsche selbst somit eine peinliche Widerlegung: Gerade hinter der Feier der Individualität steckt das dividuelle Prinzip, denn die Persona, noch jene der Macht, ist, der lateinischen Wurzel des Wortes entsprechend, bloße Charaktermaske, und impliziert damit die tiefe Ohnmacht jener Menschen, die sie zu tragen haben. Aus diesem Blickwinkel wird Nietzsche zu einem Entfremdungstheoretiker par excellence. Wie gegen seine modernistischen Schüler Freud, Weber oder Joseph Schumpeter muss er, um zu werden, wer er ist, jedoch auch vor seinen anderen, späteren, postmodernen Epigonen verteidigt werden – ganz, wie Adorno einst Bach „gegen seine Liebhaber“ zu verteidigen hatte. Wie es einst, Bataille zufolge, galt, Nietzsche vor den Faschisten zu bewahren, so gilt es heute, ihn vor seiner weiteren Eingemeindung in die postmoderne Ideologie zu beschützen. Dies bedarf durchaus einer rettenden Kritik – hier soll es jedoch vor allem darum gehen, die emanzipatorischen Aspekte des Nietzscheschen Denkens herauszustellen.
Klarzustellen bleibt hierfür, dass, worauf Nietzsche in der Lesart der Poststrukturalisten weitgehend reduziert wurde – Tod des Subjekts, Transhumanismus, Postkritik –, ihn nicht nur massiv verkürzt, sondern vollends verkehrt. Gehen wir die Schwundstufen des postmodernen Nietzscheanismus kurz durch, die jene Verkehrung popularisiert haben. Statt als Totengräber des Subjekts lässt sich Nietzsche, gerade jener der mittleren Periode, weit überzeugender als Individualist, Existenzialist oder Anarchist verstehen, dem, romantisch geprägt, kaum etwas wichtiger ist als qualitative Individualität, selbst-bewusste Resistenz und ichstarke Devianz – d. h. als all das, was Postmoderne verabscheuen, verleugnen bzw. im toten Winkel der Geschichte zu entsorgen versuchen. Ebenso fordert Nietzsche einen neuen Menschen, der sich seine eigenen Ziele selbst steckt, statt, in ein geupdatetes Jenseits zur Menschheit abgeglitten – d. h. transhumanistisch an die Hinter-Welten raunender Theo- bzw. Technokratie und ihrer Theodizee verloren –, den letzten Menschen als ziellosen, willenlosen, frei collagier- und programmierbaren Frankenstein zu vergötzen. Und auch die Postkritiker, die sich auf Nietzsche berufen, sind zurückzuweisen, lassen sich seine Aphorismen doch kaum anders, denn als solche eines begnadeten Kritikers und stilsicheren Polemikers verstehen. Diese Wahl der Form hat überdies inhaltliche Gründe. Die nietzscheanische Affirmation des Lebens schließlich erfordert die Negation eines ganzen Ressentiment-Systems, das nur im Vergleichen, Konkurrieren, Besiegen den eigenen Wert sieht und erst in der Abwertung der anderen die eigene Aufwertung mobilisiert. Wer kurzum das Leben liebt, muss die lebensfeindlichen Kräfte hassen; wer es bejaht, muss diese verneinen; wer leben will, kritisiert. Damit sind Affirmation und Kritik eine Dialektik, statt, wie die fröhlichen Zyniker der Postkritik es sich einreden, Antipoden zueinander. Kurzum, Nietzsche ist kein Totengräber des Subjekts, kein Transhumanist und kein Postkritiker, sondern deren leibgewordene Negation, gerade weil er die Affirmation des Lebens so ernst nimmt.
Entgegen postmoderner Neuformatierungen Nietzsches ist dieser vielmehr als kapitalismuskritischer Entfremdungstheoretiker lesbar, der, zutiefst christlich sozialisiert, damit nicht zuletzt – wie auch Marx – in der Tradition eines Ludwig Feuerbach steht. Nicht trotz, sondern gerade wegen ausgiebigen Hegelrügen dem Junghegelianismus verwandt, sieht Nietzsche in der kapitalistischen Moderne – zu der die Postmoderne als décadence des letzten Menschen und seiner Sklavenmoral selbstverständlich dazugehört – die Metaphysik am Werk, und zwar von der modernen Wissenschaft bis zur modernen Ökonomie. Während erstere sich szientistisch zur einzigen Wahrheit aufspreizt, um ihre positivistischen Verkürzungen zur absoluten Wesensschau des Universums zu deklarieren, ist letztere nie nur politische, sondern immer schon moralische Ökonomie. Denn Schuld und Schulden, finanzielle und ethische Negativbilanz, sind für Nietzsche nicht voneinander zu trennen, wie er in seiner Genealogie der Moral verdeutlicht. Damit ist Kapitalismus als Religion zu verstehen, wie Walter Benjamin betonte, und nicht als schon vernünftiges oder aufgeklärtes System. Moderne Ökonomie und Wissenschaft, Kapitalismus als Religion und szientistischer Positivismus werden darüber hinaus mittels moderner Technologie zur Naturausbeutung verbunden, die innere wie äußere Natur gleichermaßen verheert.
In ihnen allen zusammen sieht Nietzsche eine realnihilistische Gewalt am Werk, deren Negation des Lebens nur die Selbst- und Neubestimmung des Menschen jenseits seiner Entfremdung stoppen könnte. In diesem Sinn denkt er antikapitalistisch, ja, mitunter über den gleichermaßen materialistischen Marx hinaus, da er sich die Frage der Subjektivierung kapitalistischer Objektivität zentral stellt. Nietzsches Antwort: Der Idealismus, seine Realabstraktionen und sein „Identitätsprinzip“ (Adorno), die im Tauschwert des Kapitals und in der Selbstzwecklogik des Kapitals angelegt sind, erzeugen in ihren Subjekten drei Tendenzen – eine zum Positivismus, eine zum Nihilismus und eine zum Moralismus. Alle drei sind erst zusammen zu verstehen, und Kulturkritik gibt es nur als solche, die politische als moralische Ökonomie in sich involviert – d. h. als dezidierte Kapitalismuskritik.
Marxens Version dieser Kritik ist sicherlich die am weitesten entwickelte, komplexeste und wichtigste bis in unsere Zeit. Doch Nietzsche kann sie ergänzen, indem sein Werk zeigt: Auch der Positivismus ist eine Form der Entfremdung, des verdinglichenden Denkens, und zwingt Wissenschaft, indem sie verbürgerlicht wird, in den Szientismus. „Wissenschaftlicher Sozialismus“ erhält so eine andere, eine ambivalentere Bedeutung. Der Nihilismus wiederum lässt sich als Subjektivierungsform des Spätkapitalismus begreifen, nachdem das Kapital die einstigen bürgerlichen Werte unter der eigenen Entwicklung vergrub, sodass sich nihilistische Antibürgerlichkeit – ob nun in modernistischer oder postmoderner Manier – nicht länger gegen den Kapitalismus richtet, sondern in einer ihr selbst unbewussten Wahlverwandtschaft zum Kapital steht. Und auch der Moralismus ist keine wirkliche Alternative zu besagtem Ineinander von Positivismus und Nihilismus, weil hier nicht wirklich das Primat der Politik jenes der Wirtschaft ersetzt. Vielmehr ergibt sich aus der politischen Ohnmacht das moralisierende Ressentiment, das somit in Kontinuität steht zum falschen Sein und kein besseres Sollen mehr aufweist, das dieses noch sprengen könnte.
Ismen waren Nietzsche, als Systemgegner, stets zuwider: das Positive des Lebens fand er erstickt im Positivismus; das kritische Moment der Negation verkommen zur unbelangbaren, weil unbestimmten Apologie des Nihilismus; und Moral, die ihrerseits doch auch dem Schutz der vulnerablen Leiber und der einen Erde, die wir beleben, dienen könnte, verkehrt im Moralismus inquisitorischer Gesten, die nichts aufwerten als die eigene Nichtigkeit zerstreut Vereinzelter. Was im Sinne Nietzsches im 21. Jahrhundert darum zu verfassen wäre, ist eine Genealogie des Moralismus, die gleichsam eine Genealogie des Positivismus und Nihilismus zu sein hat, und als solche eine historische Befragung jener gesellschaftlichen Objektivität, die positivistische, nihilistische, moralistische Subjektivierungsweisen erzwingt – um die Hinterfragung der kapitalistischen Totalität in all ihren Facetten zu leisten.
Nietzsches Werk arbeitet nicht gegen das Subjekt, die Menschen oder die Kritik, sondern gegen das – qua Verwertung entwertende – Prinzip des Kapitals, das Leiber zerstört, Leben nimmt und unseren Lebensraum bedroht. Zumindest lautet so die interessantere Lesart seines Oeuvres, die weitaus emanzipatorischer ist als jene der Postmoderne.