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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches

Nietzsche als Kritiker kapitalistischer Entfremdung

Nietzsche als Kritiker kapitalistischer Entfremdung

27.5.24
Lukas Meisner

Im vorletzten Teil der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ kommt Lukas Meisner zu einem auf den ersten Blick überraschenden Resultat: Nietzsche und Marx üben beide fundamentale Kapitalismuskritik und Nietzsche kann dazu dienen, die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie durch eine nicht minder radikale Kritik der moralischen Ökonomie zu vervollständigen.

Im vorletzten Teil der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ kommt Lukas Meisner zu einem auf den ersten Blick überraschenden Resultat: Nietzsche und Marx üben beide fundamentale Kapitalismuskritik und Nietzsche kann dazu dienen, die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie durch eine nicht minder radikale Kritik der moralischen Ökonomie zu vervollständigen.
Man darf zum Beispiel bei dem geldsammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Thätigkeit nicht fragen: sie ist unvernünftig. Die Thätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik. – Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sklaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sklave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter.1

Anhand dieses Zitats wird, entgegen allen hermeneutischen Gerüchten, deutlich, dass sich Nietzsche gut als Kapitalismuskritiker eignet. Mehr noch – und das dürfte die akademischen Geister nun vollends verwirren – verteidigt Nietzsche in ihm die Vernunft gegens Kapital. Der Bankier ist unvernünftig, weil das einstige Mittel, Geld, ihm zum Selbstzweck, Kapital wurde, womit eine Inversion von Mittel und Zweck, kurz: Entfremdung, stattfand. Geld jedoch kann man nicht essen, woran schon der Mythos von König Midas gemahnt; Gewinnstreben folglich wird zum lebensabgewandten Wahn, der kollektiv die Atomisierten befällt. Der Bankier ist damit ein Repräsentant der Unvernunft und der Leibesferne gleichermaßen, wie einstmals nur der Priester es war – was sich auch an den Auswirkungen des Finanzmarkts als neuer Kultstätte ablesen lässt. Die vermeintlich – mit dem Nietzscheaner Max Weber gesprochen – rationalste bzw. rationalisierteste Verkehrsform der Gesellschaft ist für Nietzsche damit im Herzen unvernünftig, eben weil sie gegen das Leben gewandt ist. Weiter mit Weber: Zweckrationales Handeln als solches, das sich von substanzieller Vernunft verabschiedet hat, wird irrational, weil es sich, von der Frage nach Möglichkeit und Ziel abgeschnitten, in der eigenen Funktion verfängt und nur mehr nach Gespenstern jagt. Es ist ersichtlich: Nietzsche war nicht nur Zeitgenosse Marxens, sondern kritisierte auch dieselbe Gesellschaft wie jener, nämlich die kapitalistische. Mehr noch kann er uns heute dazu verhelfen, so manche marxistische Einsicht weiter zu vertiefen. So wies er beispielsweise nach, wie hinter dem vermeintlichen Egoismus seiner Klasse – der Repräsentanten protestantischer Ethik – letztlich das Super-Ego der Ichschwäche steckt, und wie der zur Schau gestellte Luxus der Oberschicht, da diese hinter ihrer Performance alle Persönlichkeit verliert und dergestalt menschlich verarmt, zur Askese herabkommt. Hier, nicht zuletzt, setzte Freuds Rezeption Nietzsches an, die ihn jedoch bürgerlich zurückübersetzte: In die absolute Notwendigkeit des Verzichts für alle Kultur. Nietzsche dagegen steht gerade für eine Kultur des Leibes und eine Kultivierung der Lust statt deren Unterdrückung, wobei diese gleichsam, als „große Gesundheit“ (Nietzsche), Vernunft miteinschließen muss, statt von ihr verstoßen zu bleiben.  

Was im Eingangszitat als die „Dummheit der Mechanik“ bezeichnet wird, lässt sich insofern auch marxistisch als „automatisches Subjekt“ begreifen, als welches das Kapital fungiert. Unter seinem Bann dient nicht die Wirtschaft uns, sondern wir ihr, weshalb wir auch nicht arbeiten, um zu leben, sondern leben, um zu arbeiten. Die Welt kurzum steht Kopf, weil sie kopflos ist, d. h. von anonymer Struktur beherrscht. Das Ergebnis: „Sklavenmoral“ grassiert, und zwar überall, alle betreffend, besonders beherrschend jedoch die Herrschenden, die Erfolgreichen, die Schönen, Mächtigen und Starken, denn die sind am tiefsten verstrickt ins falsche Bewusstsein ihrer Erhabenheit, die, dem ungeachtet, doch bloßer Schein bleibt. Gegen diesen Schein argumentiert das Eingangszitat, dass auch Lohnsklaverei noch Sklaverei ist, dass die Moderne nicht so freiheitlich ist, wie sie sich gibt, und dass Staatsmänner, Kaufmänner, Beamte, Gelehrte – d. h. die „hohen Tiere“ aus Politik, Wirtschaft, Staat und Kulturbetrieb – nicht minder Sklaven sind als ihre einstigen Pendants der griechischen Antike. Die vermeintlich nietzscheanische, im Eigentlichen Schumpeter’sche, Anbetung des Unternehmers als Genie, als Schöpfer, als heroisches Individuum erfährt in Nietzsche selbst somit eine peinliche Widerlegung: Gerade hinter der Feier der Individualität steckt das dividuelle Prinzip, denn die Persona, noch jene der Macht, ist, der lateinischen Wurzel des Wortes entsprechend, bloße Charaktermaske, und impliziert damit die tiefe Ohnmacht jener Menschen, die sie zu tragen haben. Aus diesem Blickwinkel wird Nietzsche zu einem Entfremdungstheoretiker par excellence. Wie gegen seine modernistischen Schüler Freud, Weber oder Joseph Schumpeter muss er, um zu werden, wer er ist, jedoch auch vor seinen anderen, späteren, postmodernen Epigonen verteidigt werden – ganz, wie Adorno einst Bach „gegen seine Liebhaber“ zu verteidigen hatte. Wie es einst, Bataille zufolge, galt, Nietzsche vor den Faschisten zu bewahren, so gilt es heute, ihn vor seiner weiteren Eingemeindung in die postmoderne Ideologie zu beschützen. Dies bedarf durchaus einer rettenden Kritik – hier soll es jedoch vor allem darum gehen, die emanzipatorischen Aspekte des Nietzscheschen Denkens herauszustellen.

Klarzustellen bleibt hierfür, dass, worauf Nietzsche in der Lesart der Poststrukturalisten weitgehend reduziert wurde – Tod des Subjekts, Transhumanismus, Postkritik –, ihn nicht nur massiv verkürzt, sondern vollends verkehrt. Gehen wir die Schwundstufen des postmodernen Nietzscheanismus kurz durch, die jene Verkehrung popularisiert haben. Statt als Totengräber des Subjekts lässt sich Nietzsche, gerade jener der mittleren Periode, weit überzeugender als Individualist, Existenzialist oder Anarchist verstehen, dem, romantisch geprägt, kaum etwas wichtiger ist als qualitative Individualität, selbst-bewusste Resistenz und ichstarke Devianz – d. h. als all das, was Postmoderne verabscheuen, verleugnen bzw. im toten Winkel der Geschichte zu entsorgen versuchen. Ebenso fordert Nietzsche einen neuen Menschen, der sich seine eigenen Ziele selbst steckt, statt, in ein geupdatetes Jenseits zur Menschheit abgeglitten – d. h. transhumanistisch an die Hinter-Welten raunender Theo- bzw. Technokratie und ihrer Theodizee verloren –, den letzten Menschen als ziellosen, willenlosen, frei collagier- und programmierbaren Frankenstein zu vergötzen. Und auch die Postkritiker, die sich auf Nietzsche berufen, sind zurückzuweisen, lassen sich seine Aphorismen doch kaum anders, denn als solche eines begnadeten Kritikers und stilsicheren Polemikers verstehen. Diese Wahl der Form hat überdies inhaltliche Gründe. Die nietzscheanische Affirmation des Lebens schließlich erfordert die Negation eines ganzen Ressentiment-Systems, das nur im Vergleichen, Konkurrieren, Besiegen den eigenen Wert sieht und erst in der Abwertung der anderen die eigene Aufwertung mobilisiert. Wer kurzum das Leben liebt, muss die lebensfeindlichen Kräfte hassen; wer es bejaht, muss diese verneinen; wer leben will, kritisiert. Damit sind Affirmation und Kritik eine Dialektik, statt, wie die fröhlichen Zyniker der Postkritik es sich einreden, Antipoden zueinander. Kurzum, Nietzsche ist kein Totengräber des Subjekts, kein Transhumanist und kein Postkritiker, sondern deren leibgewordene Negation, gerade weil er die Affirmation des Lebens so ernst nimmt.

Entgegen postmoderner Neuformatierungen Nietzsches ist dieser vielmehr als kapitalismuskritischer Entfremdungstheoretiker lesbar, der, zutiefst christlich sozialisiert, damit nicht zuletzt – wie auch Marx – in der Tradition eines Ludwig Feuerbach steht. Nicht trotz, sondern gerade wegen ausgiebigen Hegelrügen dem Junghegelianismus verwandt, sieht Nietzsche in der kapitalistischen Moderne – zu der die Postmoderne als décadence des letzten Menschen und seiner Sklavenmoral selbstverständlich dazugehört – die Metaphysik am Werk, und zwar von der modernen Wissenschaft bis zur modernen Ökonomie. Während erstere sich szientistisch zur einzigen Wahrheit aufspreizt, um ihre positivistischen Verkürzungen zur absoluten Wesensschau des Universums zu deklarieren, ist letztere nie nur politische, sondern immer schon moralische Ökonomie. Denn Schuld und Schulden, finanzielle und ethische Negativbilanz, sind für Nietzsche nicht voneinander zu trennen, wie er in seiner Genealogie der Moral verdeutlicht. Damit ist Kapitalismus als Religion zu verstehen, wie Walter Benjamin betonte, und nicht als schon vernünftiges oder aufgeklärtes System. Moderne Ökonomie und Wissenschaft, Kapitalismus als Religion und szientistischer Positivismus werden darüber hinaus mittels moderner Technologie zur Naturausbeutung verbunden, die innere wie äußere Natur gleichermaßen verheert.

In ihnen allen zusammen sieht Nietzsche eine realnihilistische Gewalt am Werk, deren Negation des Lebens nur die Selbst- und Neubestimmung des Menschen jenseits seiner Entfremdung stoppen könnte. In diesem Sinn denkt er antikapitalistisch, ja, mitunter über den gleichermaßen materialistischen Marx hinaus, da er sich die Frage der Subjektivierung kapitalistischer Objektivität zentral stellt. Nietzsches Antwort: Der Idealismus, seine Realabstraktionen und sein „Identitätsprinzip“ (Adorno), die im Tauschwert des Kapitals und in der Selbstzwecklogik des Kapitals angelegt sind, erzeugen in ihren Subjekten drei Tendenzen – eine zum Positivismus, eine zum Nihilismus und eine zum Moralismus. Alle drei sind erst zusammen zu verstehen, und Kulturkritik gibt es nur als solche, die politische als moralische Ökonomie in sich involviert – d. h. als dezidierte Kapitalismuskritik.

Marxens Version dieser Kritik ist sicherlich die am weitesten entwickelte, komplexeste und wichtigste bis in unsere Zeit. Doch Nietzsche kann sie ergänzen, indem sein Werk zeigt: Auch der Positivismus ist eine Form der Entfremdung, des verdinglichenden Denkens, und zwingt Wissenschaft, indem sie verbürgerlicht wird, in den Szientismus. „Wissenschaftlicher Sozialismus“ erhält so eine andere, eine ambivalentere Bedeutung. Der Nihilismus wiederum lässt sich als Subjektivierungsform des Spätkapitalismus begreifen, nachdem das Kapital die einstigen bürgerlichen Werte unter der eigenen Entwicklung vergrub, sodass sich nihilistische Antibürgerlichkeit – ob nun in modernistischer oder postmoderner Manier – nicht länger gegen den Kapitalismus richtet, sondern in einer ihr selbst unbewussten Wahlverwandtschaft zum Kapital steht. Und auch der Moralismus ist keine wirkliche Alternative zu besagtem Ineinander von Positivismus und Nihilismus, weil hier nicht wirklich das Primat der Politik jenes der Wirtschaft ersetzt. Vielmehr ergibt sich aus der politischen Ohnmacht das moralisierende Ressentiment, das somit in Kontinuität steht zum falschen Sein und kein besseres Sollen mehr aufweist, das dieses noch sprengen könnte.

Ismen waren Nietzsche, als Systemgegner, stets zuwider: das Positive des Lebens fand er erstickt im Positivismus; das kritische Moment der Negation verkommen zur unbelangbaren, weil unbestimmten Apologie des Nihilismus; und Moral, die ihrerseits doch auch dem Schutz der vulnerablen Leiber und der einen Erde, die wir beleben, dienen könnte, verkehrt im Moralismus inquisitorischer Gesten, die nichts aufwerten als die eigene Nichtigkeit zerstreut Vereinzelter. Was im Sinne Nietzsches im 21. Jahrhundert darum zu verfassen wäre, ist eine Genealogie des Moralismus, die gleichsam eine Genealogie des Positivismus und Nihilismus zu sein hat, und als solche eine historische Befragung jener gesellschaftlichen Objektivität, die positivistische, nihilistische, moralistische Subjektivierungsweisen erzwingt – um die Hinterfragung der kapitalistischen Totalität in all ihren Facetten zu leisten.

Nietzsches Werk arbeitet nicht gegen das Subjekt, die Menschen oder die Kritik, sondern gegen das – qua Verwertung entwertende – Prinzip des Kapitals, das Leiber zerstört, Leben nimmt und unseren Lebensraum bedroht. Zumindest lautet so die interessantere Lesart seines Oeuvres, die weitaus emanzipatorischer ist als jene der Postmoderne.      

Fußnoten

1: Menschliches, Allzumenschliches, Bd. I, Aph. 283.

„Je suis Nietzsche!“

Ein Dialog über Bataille, die Freiheit, die Ökonomie der Verschwendung, die Ökologie und den Krieg

„Je suis Nietzsche!“

Ein Dialog über Bataille, die Freiheit, die Ökonomie der Verschwendung, die Ökologie und den Krieg

22.5.24
Jenny Kellner, Hans-Martin Schönherr-Mann & Paul Stephan

Paul Stephan unterhielt sich mit Jenny Kellner und Hans-Martin Schönherr-Mann über die Lesart eines der wichtigsten Nietzsche-Interpreten des 20. Jahrhundert: Georges Bataille (1897–1962). Der französische Schriftsteller, Soziologe und Philosoph verteidigte die Vieldeutigkeit von Nietzsches Philosophie gegen ihre nationalsozialistische Vereinnahmung und wurde damit zu einem zentralen Stichwortgeber der Postmoderne. Er wollte auf der Grundlage einer dionysischen Mythologie eine neue Konzeption von Souveränität entwickeln, die das traditionelle Verständnis einer verantwortlichen Subjektivität transzendiert,und kritisierte die moderne kapitalistische Rationalität im Namen einer „Ökonomie der Verschwendung“. Mit all dem gibt er wichtige Impulse, um unsere Gegenwart besser zu verstehen.

I. Wer war Bataille?

Paul Stephan: Liebe Jenny Kellner, lieber Hans-Martin Schönherr-Mann, der Artikel zu Batailles und Nietzsches Konzeption einer „Ökonomie der Verschwendung“ hat uns – und auch zahlreiche Leserinnen und Leser – neugierig darauf gemacht, mehr über Georges Bataille und seine Nietzsche-Rezeption zu erfahren. Jenny Kellner, Sie haben sich in den letzten Jahren ja sehr intensiv mit derselben auseinandergesetzt im Rahmen Ihres – mittlerweile erfolgreich abgeschlossenen – Promotionsvorhabens zum Thema Anti-ökonomischer Kommunismus. Batailles philosophische Herausforderung. (Meine Gratulation an dieser Stelle!) Möchten Sie unser Gespräch vielleicht mit einer kurzen Skizze zu der ganz grundsätzlichen Frage eröffnen, wer Bataille eigentlich war und was seine Nietzsche-Rezeption gegenüber anderen auszeichnet?

Jenny Kellner: Sehr gerne. Georges Bataille war ein französischer Schriftsteller, Soziologe und Philosoph der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der sich allerdings dieser Art disziplinärer Zuschreibungen in eigentümlicher Weise entzieht. Sein Schaffen und Wirken ist eher durch Verfahrensweisen gekennzeichnet, die heutzutage wahrscheinlich als inter- oder transdisziplinär bezeichnet werden würden. Dabei war er sicher stark von zeitgenössischen geistigen Strömungen wie dem Surrealismus um André Breton, der Ethnologie im Anschluss an Marcel Mauss und der psychoanalytischen Theorie nach Sigmund Freud beeinflusst, doch es gibt m. E. auch systematische Gründe für Batailles ‚Transdisziplinarität‘ und die Schwierigkeit, ihn theoretisch richtig ‚einzuordnen‘. Diese Gründe werden sich im Laufe dieses Dialogs vielleicht nach und nach herauskristallisieren. In Bezug auf Batailles spezifische Beziehung zu Nietzsche möchte ich zunächst drei Punkte benennen: Erstens stelle ich mir Bataille als eine Art Scharnier zwischen Nietzsche und der französischen ‚Gegenwartsphilosophie‘ (d. h. den Strömungen des Poststrukturalismus, der Dekonstruktion, der Differenztheorie) vor. Er war einer der ersten französischen Denker*innen, die sich ab den 1930er Jahren intensiv mit Nietzsches Werk auseinandersetzten und vor allem versuchten, es gegen die Vereinnahmung durch den deutschen Nationalsozialismus zu verteidigen. Mit seiner Interpretation des Denkens Nietzsches als einer Lehre des Paradoxen, die eine labyrinthische Struktur aufweist, ebnete er den Weg für die reiche und heterogene französische Nietzsche-Rezeption der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (von Michel Foucault über Gilles Deleuze bis hin zu Sarah Kofman und anderen). Zweitens hatte Batailles Verteidigung Nietzsches gegen faschistische Besetzungen auch die Funktion, ihn für eine bestimmte Form des Antifaschismus fruchtbar zu machen, die von der Form des parteidoktrinären Kommunismus stark abwich. Die von Bataille 1936 gegründete Geheimgesellschaft Acéphale (dt.: ‚kopflos‘), deren öffentliches Organ eine gleichnamige Zeitschrift war, bezog sich theoretisch in erster Linie auf den Aspekt des Dionysischen in Nietzsches Denken. Hier wurde der Versuch unternommen, der mythologischen Kraft des faschistischen Projekts nicht mit rationalen Argumenten, sondern mit einer Art antiautoritärer, dionysischer, entbindender Mythologie entgegenzutreten. Drittens zeichnet sich Batailles affirmatives Verhältnis zu Nietzsche in philosophischer Hinsicht besonders dadurch aus, dass er – im Gegensatz zu den allermeisten anderen Verehrer*innen Nietzsches – auch ein affirmatives Verhältnis zu Nietzsches theoretischem Antipoden Hegel unterhielt. Die Art und Weise, wie Bataille im Zuge seiner Interpretation der Herr-Knecht-Dialektik Nietzsche ins Spiel bringt, führt auf den für Batailles Nietzschelektüre (und für sein gesamtes Denken) zentralen Begriff einer herrschaftsfreien „Souveränität“.

PS: Haben Sie vielen Dank für diesen ersten Überblick, der verständlich machen sollte, warum Bataille nicht einfach ‚ein Nietzsche-Leser unter vielen ist‘, sondern einer der wichtigsten Nietzsche-Interpreten des 20. Jahrhunderts; und auch nicht einfach nur ein Interpret, sondern jemand, der Impulse von Nietzsche eigenständig weiterdachte und auf seine Zeit bezog. Professor Schönherr-Mann, auch Sie haben sich vertieft nicht nur mit Nietzsche, sondern auch mit Bataille beschäftigt. Möchten Sie dem etwas Wichtiges hinzufügen oder vielleicht gar widersprechen?

Hans-Martin Schönherr-Mann: Ich möchte auf eine besondere Pointe hinweisen im Verhältnis von Nietzsche und Bataille hinweisen: „Ich bin Nietzsche“. Nicht Nietzsche sagt das, sondern Bataille! Er distanziert sich von der Nietzsche-Forschung seiner Zeit, indem er schlicht unterstellt, man könne Nietzsche nur aus dessen eigener Perspektive verstehen, eben wenn man ‚selbst’ Nietzsche ‚ist’. In seinem eigenen Schreiben sucht Bataille daher die Gemeinschaft mit Nietzsche.

Im Januar 1945 erscheint Batailles Verteidigung unter dem Titel Nietzsche und der Wille zur Chance. Dabei scheint sich dieses Buch gar nicht so sehr mit Nietzsche zu befassen. Der dritte und längste Teil enthält ein Tagebuch aus dem Jahr 1944, also aus der Zeit der Befreiung Frankreichs und Europas. Nietzsches 100. Geburtstag in diesem Jahr wollte niemand feiern, außer den Nazis in Weimar in Form einer gespenstischen Feier im alliierten Bombenhagel, zu der Mussolini noch eine antike Dionysos-Statue beisteuerte.

Bataille war der einzige, der es wagte, Nietzsche vor den Nazis zu retten, der daher zum Geburtstag gleich zwei Texte schrieb, einen unter dem Titel „Nietzsche-Memorandum“, publiziert im Band Wiedergutmachung an Nietzsche, und der angeführte.

Bataille hält Nietzsche für seinen Zwillingsbruder und denkt ähnlich leidenschaftlich und auf das konkrete Leben des Menschen bezogen wie Nietzsche. Der Mensch lebt, so die Einsicht Nietzsches, die Bataille aufgreift, in einer Welt, in der ihm keine Zwecke vorgegeben sind, die er sich selber suchen muss. Insofern erweisen sich Nietzsches und Batailles Philosophie als ein Plädoyer für die Freiheit des Menschen.

Mit dem Titel des Buches Nietzsche und der Wille zur Chance distanziert sich Bataille von einem Nietzsche-Verständnis, das in dessen zentraler Konzeption des Willens zur Macht einen Herrschaftsanspruch ausmacht, der sich skrupellos der Gewalt bedienen darf – ein Verständnis, das ja damals durch das von Nietzsches Schwester aus dem Nachlass zusammengestellte und dabei fleißig manipulierte Werk Der Wille zur Macht befördert schien.

Einerseits schließt Bataille an Nietzsches berühmte These vom Tode Gottes an. Doch was Nietzsche ohne Bedauern kalt diagnostiziert, um nun zu neuen, wiewohl nur noch irdischen Ufern aufzubrechen, das hat sich im Denken von Bataille andererseits tiefer eingebrannt. Bataille will das Göttliche in einer Welt nicht aufgeben, in der Gott tot ist.

Atheologische Summe III lautet der Untertitel dieses Nietzsche-Bandes. Bataille positioniert sich damit gegenüber der Summa theologica des Thomas von Aquin, der wie kein anderer das katholische Weltbild bis heute fundiert hat. Bataille transformiert den Atheismus in eine Atheologie. Der erste Band der atheologischen Summe unter dem Titel Die innere Erfahrung beschäftigt sich mit Methoden der Meditation und der Mystik. Doch Ekstase und Kontemplation erlebt der Mensch auch unter Bedingungen, wenn Gott tot ist, nämlich vor allem in der Erotik. Ihr hat Bataille eines seiner berühmtesten Werke gewidmet unter dem Titel Der heilige Eros (1957).

Die drei Bände der atheologischen Summe spielen insgesamt eine zentrale Rolle in seinem theoretischen Werk, zu dem vor allem noch seine ökonomische Schrift Der verfemte Teil. Versuch einer allgemeinen Ökonomie gehört (1949), die uns in unserem Gespräch sicher noch beschäftigen wird.

II. Was ist Freiheit?

PS: Ja, auf Batailles nietzscheanische Ökonomiekritik im Namen einer „Ökonomie der Verschwendung“ wird sicher noch zurückzukommen sein. Doch zuvor möchte ich auf einen gemeinsamen Punkt eingehen, der in Ihren beiden ersten Antworten zur Sprache kam: dass Bataille eine „Philosophie der Freiheit“ bzw. der „herrschaftsfreien ‚Souveränität‘“ vertritt. Etwa zur selben Zeit entwickelten ja auch die Existenzialisten um Sartre, Albert Camus und Simone de Beauvoir eine „Philosophie der Freiheit“, mitunter mit Bezug auf Nietzsche. Allerdings handelt es sich dabei um eine Freiheit des Bewusstseins, die moralische Verantwortung impliziert, das rückt diese Denker in eine gewisse Nähe zum philosophischen Idealismus, zu Kant, Hegel und vielleicht sogar Fichte. Die Existenzialisten grenzten sich ausgehend von diesem Verständnis mitunter sehr polemisch von Bataille ab und erblickten ihn ihm einen scheinradikalen Nihilisten, der sich vor der wirklichen Praxis fürchte. Auch heute ist der Begriff der „Freiheit“ in der philosophischen Debatte wieder sehr umstritten. Inwiefern weicht Batailles (nietzscheanisches) Freiheitsverständnis von dem idealistischen bzw. existenzialistischen ab? Und wie würden Sie es gegen die existenzialistische Polemik verteidigen?

JK: Genau, das Verhältnis von Batailles Freiheits- bzw. Souveränitätsbegriff zu Fragen der (politischen) Praxis ist ein sehr interessantes Problem. Professor Schönherr-Mann hat ja schon auf die Bedeutung der Erotik in Batailles Denken hingewiesen. Meines Erachtens wäre es aber falsch, die Betonung der Erotik bei Bataille als eine Art Rückzug aus dem Feld des Politischen zu interpretieren. Vielmehr glaube ich, dass Bataille die erotische Erfahrung im Sinne einer Erfahrung von Ekstase, von Sinn- und Selbstverlust gerade deshalb ernstnimmt, weil sie für ihn tatsächlich von politischer Bedeutung ist, sofern es ihm um eine radikale Insubordination geht. Wenn Bataille eine Politik unterstellt werden kann, dann eine Art Politik der permanenten Revolte. Die Souveränität, wie Bataille sie begreift, ist keine Eigenschaft oder Bedingung, die zum Handeln befähigt, sie ist vielmehr eine Absage an das Handeln selbst. Handeln impliziert immer eine Zweck-Mittel-Struktur (das heißt, es ist in den rationalen Diskurs der Vermittlung eingebettet) und weist damit eine prinzipielle Struktur des Aufschubs auf. Souverän ist man aber nur im Augenblick – und die erotische Erfahrung kann ein solcher Augenblick sein. In der Erotik geht es um eine heillose Verschwendung von Energie, eine unproduktive Verausgabung der Kraft (was übrigens auch direkt in Batailles ‚allgemeine Ökonomie‘ führt). Was uns ausmacht, wenn wir ‚souverän‘ sind (zum Beispiel in der erotischen Erfahrung, aber auch im Geschenk ohne Gegenleistung oder in der Kunst), ist, dass wir in diesen Augenblicken nichts und niemandem dienen (was mit einer Erosion von Subjekt und Objekt einhergeht, das heißt auch, mit einer Erfahrung von Gemeinschaft, die der mystischen ähneln mag, jedoch insofern von ihr abweicht, als man in ihr zur heterogenen Vielheit, zur nietzscheanischen Wüste wird). Der Aspekt einer radikalen ‚Undienlichkeit‘ ist das, was Bataille an Nietzsches Philosophie so sehr bejahte. Alle Moral, alles Handeln-Sollen ist in Batailles wie in Nietzsches Perspektive eine Form der Knechtschaft. In Nietzsche und der Wille zur Chance scheint dieser Gedanke auf, wenn Bataille darauf hinweist, dass für die Freiheit zu kämpfen bittererweise immer erst einmal heißt, sie aufzugeben. Das Verhältnis zwischen Freiheit oder Souveränität und politischem Kampf oder politischer Praxis ist für Bataille damit von vorneherein ein paradoxes. Wir haben es hier mit einem Freiheitsbegriff zu tun, der in der Tat in einen Abgrund, in einen Sturz in den Nichtsinn führt, den die oben angesprochenen Existenzialist*innen auch zu kennen scheinen, den sie aber durch eine Moralphilosophie der ‚frei gewählten‘ Verantwortung überwunden glauben. Für Bataille hingegen gibt es kein Zurück aus dem Abgrund in eine geregelte moralische Existenz. Das heißt aber nicht, dass sein Denken unpolitisch oder politisch ohne Konsequenzen wäre. Denn die radikale Anfechtung des rationalen Diskurses stellt eben auch gesellschaftliche Verhältnisse und politische Zusammenhänge sehr grundlegend infrage. Interessanterweise stellt Bataille seine exzessive Identifikation mit Nietzsche, auf die Professor Schönherr-Mann hingewiesen hat, besonders deutlich in einem kurzen Aufsatz von 1951 zur Schau, der den Titel Nietzsche im Lichte des Marxismus trägt. Meiner Analyse zufolge stellt Bataille in diesem Essay zwei Formen der Emanzipation gegenüber: eine kommunistische Form, bei der es um die Befreiung der gesamten Menschheit geht, und eine nietzscheanische Form, bei der es um die Befreiung des ganzen Menschen geht, das heißt, eines Menschen, der sich keinerlei partikularen Zwecksetzungen, keinerlei Handlungsimperativen unterordnet. Beide Formen der Emanzipation kollidieren miteinander, schließen einander aus, sind aber zugleich wechselweise aufeinander angewiesen, sofern die eine ohne die andere hinfällig ist, bzw. die Vernachlässigung der einen notwendigerweise die Konterkarierung der anderen bedeuten würde. Hier zeigt sich, was an Batailles Freiheitsbegriff (und mithin an seiner Nietzsche-Lektüre) in politischer Hinsicht so überaus brisant ist: Bataille ist weit davon entfernt, Nietzsche einer linken politischen Perspektive anzuverwandeln, ihn politisch ‚dienstbar‘ zu machen. Doch er spielt Nietzsche auch nicht gegen das kommunistische politische Projekt aus. Vielmehr versetzt er beide in ein paradoxes Spannungsverhältnis, das in keinem (hegelianischen oder sonstigen) Sinn ‚aufgehoben‘ werden kann. Jedes emanzipatorische Projekt, das die eine Seite der Emanzipation auf die andere reduziert oder eine der beiden Seiten ignoriert, läuft Gefahr, in Reaktion umzuschlagen. Darin liegt, meines Erachtens, ein wichtiger Aspekt der politischen Bedeutung, die Batailles nietzscheanisches Souveränitätsdenken ausmacht.

SM: Bataille antwortet auf den Beginn des Zweiten Weltkriegs mit einem teils tagebuchartigen, teils philosophischen Text Die Freundschaft, den er 1944 veröffentlicht. Darin heißt es quasi programmatisch:

Mit der Leidenschaft, der boshaften Luzidität, deren ich fähig bin, habe ich gewollt, dass das Leben in mir sich entkleide. Seit der Kriegszustand besteht, schreibe ich dieses Buch, alles übrige ist leer in meinen Augen. Ich will nichts als leben: Alkohol, Ekstase, nackte Existenz, wie eine nackte – und verwirrte – Frau. In dem Maße, wie das Leben, das ich bin, sich mir enthüllt und gleichzeitig, da ich es gelebt habe, ohne etwas zu verbergen, von außen sichtbar wird, kann ich innerlich nur bluten, weinen und begehren.1

Das ist eine andere Antwort auf den Krieg, als man sie im französischen Existentialismus findet, der in jenen Jahren Form annimmt, wenn Camus in Der Mythos von Sisyphos 1942 den Menschen die Möglichkeit zur Auflehnung auch im Angesicht seiner Aussichtslosigkeit attestiert. Sartres Analyse 1943 in Das Sein und das Nichts schreibt dem Bewusstsein die Fähigkeit zu, sich zu verändern, begründet damit die Freiheit phänomenologisch – nicht idealistisch: das höchstens aus einer materialistischen und kommunitarischen Perspektive –, was in eine individuelle Verantwortung für das eigene Leben ausläuft. Für die militarisierten Gesellschaften seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, in denen die Menschen als Untertanen geführt werden, sind das unerträgliche Behauptungen. Diesem Verständnis von Verantwortung folgt Bataille nicht, obwohl es sich auf Nietzsche berufen kann. Und Camus nimmt noch in L’Homme révolté (1951) eine eher skeptische Haltung gegenüber Nietzsche ein, steht dieser doch im Verdacht der Nähe zu den Nazis.

Es gibt eine andere Parallele zwischen dem Existentialismus und Bataille, der auf die Entstehung des ersteren in den dreißiger Jahren zurückgeht. Bataille schreibt in Die Freundschaft: „Wer von Gerechtigkeit spricht, ist selber Gerechtigkeit, schlägt einen Gerichtsherrn, einen Vater, einen Führer vor. Ich schlage nicht die Gerechtigkeit vor. Ich bringe komplizenhafte Freundschaft. Ein Gefühl von Festlichkeit, von Freizügigkeit, von kindlicher und verteufelter Lust“ (S. 58). Bataille lehnt die Hoffnung ab, man könnte Probleme durch Staaten lösen.

An die Stelle des Politischen treten individuelle Beziehungen, die nun wiederum für Bataille keineswegs auf gelungener Kommunikation beruhen, wie es sich Camus, Sartre und de Beauvoir vorstellen. Dagegen schreibt Bataille:

In dem Maße, wie die Wesen vollkommen scheinen, bleiben sie isoliert, in sich selbst verschlossen. Doch die Wunde der Unvollendung öffnet sie. Durch das, was man Unvollendung, animalische Nacktheit, Wunde nennen kann, kommunizieren die verschiedenen, voneinander getrennten Wesen, gewinnen Leben, indem sie sich in der Kommunikation untereinander verlieren.2

Batailles Denken ist nicht nur in Die Freundschaft, sondern durchgängig, vor allem aber in Der verfemte Teil und in Der heilige Eros (1957) durch eine radikale Ablehnung der sozialen Diskurse gezeichnet, denen er provokante Ideen entgegensetzt. Das findet sich auch im frühen Existentialismus der dreißiger Jahre und noch in den Vierzigern, wenn es nicht um die individuelle Verantwortung geht, sondern um eine Absonderung vom Sozialen.

So ist der Titel von Sartres Roman Der Ekel (1938) ebenso Programm wie bei Camus‘ Roman Der Fremde von 1942. In Sartres Erzählung Herostrat (1939) hat er gewisse Sympathien mit einem Amokläufer. Und im dritten Band von Die Wege der Freiheit schießt der Held, ein Pariser Philosophielehrer wie Sartre, völlig sinnlos auf deutsche Soldaten:

Eine gewaltige Rache war’s; jeder Schuss rächte ihn für einen alten Zweifel. [. . .] Er schoss auf den Menschen, auf die Tugend, auf die Welt: die Freiheit – das ist der Terror; [. . .] er schoss auf den schönen Offizier, auf alle Schönheit dieser Erde, auf die Straße, auf die Blumen, auf die Gärten, auf alles, was er geliebt hatte.3

Bereits im 19. Jahrhundert entsteht eine Philosophie, die die Gesellschaft ablehnt, ohne sich um staatliche Alternativen zu kümmern: Max Stirner und Nietzsche; im 20. Jahrhundert sind es neben den Existentialisten und E.M. Cioran vor allem Literaten wie Henry Miller, Philip Roth, Charles Bukowski, Hermann Hesse, Franz Kafka. Philipp Blom nennt Diderot und Holbach 2011 Böse Philosophen, weil sie wie der Marquis de Sade Sinnlichkeit und Lust verteidigen. Einen solchen Titel könnten sich Bataille und Sartre teilen, auch wenn ersterer die Souveränität und letzterer die Verantwortung betont. Beiden geht es wie Nietzsche um ein Individuum, das sich Staat und Gesellschaft nicht unterordnet. Das betrachten die meisten Zeitgenossen als böse.

III. Was ist die Ökonomie der Verschwendung?

PS: Ein wesentliches Thema Batailles ist ja nicht nur die Kritik der kollektiven, staatlichen, zugunsten der individuellen Souveränität, sondern auch, wie Jenny Kellner in Ihrem erwähnten Artikel darlegte, die Kritik der kapitalistischen Effizienzlogik zugunsten einer „Ökonomie der Verschwendung“. Dieses Moment scheint mir im vergleichsweise asketischen Existenzialismus keinerlei Rolle zu spielen. Beide Motive scheinen sich in der Tat bei Nietzsche zu finden – die Apologie der Ekstase und die Kritik der „asketischen Ideale“ wie auch die Betonung individueller Verantwortlichkeit. Hier fragt man sich schnell, was unserer heutigen gesellschaftlichen Realität eher entspricht: Vom Standpunkt der Ökologiebewegung aus gesehen ist es ja so, dass wir es bei der gegenwärtigen kapitalistischen Ökonomie bereits mit einer „Ökonomie der Verschwendung“ zu tun haben und dagegen mehr individuelle und kollektive Verantwortung im Sinne der Askese gefordert wird. Könnte man in diesem Sinne vielleicht von einem gewissen Veralten von Batailles Kritik sprechen? Leben wir nicht längst in einer enthemmten Ökonomie und sollten, um der Zukunft des Planeten willen, die Freuden des Verzichts entdecken? Was meinen Sie, Frau Kellner?

JK: Das ist eine sehr gute Frage! Bataille räumt in der Inneren Erfahrung ein, dass die Askese ein Mittel sein kann, um sich von der Knechtschaft des Besitzdenkens und der Dinglichkeit zu befreien. Allerdings verbindet sich mit dieser Lossagung Bataille zufolge auch ein bestimmtes Heilsversprechen: Es geht darum, einen Teil von sich aufzugeben, um einen anderen Teil (z. B. ‚Seele‘ genannt) zu retten. Das trifft strukturell sicher auch auf das von Ihnen angesprochene ökologische asketische Ideal zu. Bei Batailles Verschwendungsemphase geht es aber um eine radikalere Absage an Besitz und Dinglichkeit, die keine Rettung und kein Heil mehr impliziert (und insofern genauso ‚böse‘ ist, wie es Professor Schönherr-Mann Bataille und den existenzialistischen Denker*innen oben attestiert hat). Ich glaube übrigens nicht, dass Batailles Ökonomiekritik veraltet ist, sondern dass dieser Eindruck durch ein Missverständnis entsteht. Denn, etwas vereinfacht gesagt, ist mit Bataille Verschwendung nicht gleich Verschwendung. Die grundlegende These seiner Ökonomietheorie besagt ja, dass es auf jeden Fall Überschüsse gibt, die profitlos verausgabt werden müssen, doch diese Verschwendung kann die unterschiedlichsten Formen annehmen. Sie kann bewusst gewählt werden und nach Kriterien des Gefallens, das heißt, im weitesten Sinne nach ästhetischen Kriterien gestaltet werden – das wäre eine aktive und gloriose Form der Verschwendung von Überschüssen. Sie kann aber auch passiv erlitten werden, wenn ihrer Notwendigkeit mit Verleugnung und Verdrängung begegnet wird – dann stößt sie uns zu. Bataille spricht hier von „katastrophischen Formen“ der Verausgabung und nennt etwa den modernen Krieg als Beispiel dafür4. Aber auch Umweltkatastrophen lassen sich natürlich genau auf diese Weise erklären. Benjamin Noys weist im Nachwort zur Neuausgabe des Verfemten Teils von 2021 darauf hin, dass dieses 1949 erstmals veröffentlichte Buch die globale Krise voraussieht, und dass gerade deshalb heute wieder ein verstärktes Interesse daran aufgekommen ist. Batailles Argument besteht in dieser paradoxen Wendung: Da wir nicht in der Lage sind, bewusst gloriose Verschwendungen zu praktizieren, richtet die unvermeidliche Verschwendung sich katastrophisch gegen uns selbst und zerstört uns. Hier wird deutlich, dass Bataille mit seiner Ökonomiekritik im Grunde wirklich ein aufklärerisches Projekt verfolgt:

Unsere Unkenntnis hat nur die eine unbestreitbare Folge: sie läßt uns erleiden, was wir, wenn wir Bescheid wüßten, nach Belieben selbst bewirken könnten. Sie beraubt uns der Wahl der Art des Ausschwitzens, die uns gefällt. Vor allem aber setzt sie die Menschen und ihre Werke katastrophischen Zerstörungen aus. Denn wenn wir nicht die Kraft haben, die überschüssige Energie selbst zu zerstören, die anderweitig nicht benutzt werden kann, so zerstört sie uns wie ein unzähmbares Tier, und wir selbst sind das Opfer der unvermeidlichen Explosion.5

Das heißt auch, dass asketische Grundsätze, so gut gemeint sie im Hinblick auf die ökologische Krise sind und so sinnvoll sie erscheinen mögen, möglicherweise genau das Gegenteil von dem bewirken könnten, was sie bewirken sollen. Jedenfalls besteht diese Gefahr, wenn die asketische Zurückhaltung das einzige Mittel ist, das zur Abwendung der Krise eingesetzt werden soll. Gerade, wenn es sich in Form moralischen Drucks den Einzelnen aufdrängt, bleibt unabsehbar, wo welche Kessel mit welchen Folgen explodieren werden. Hier erleben wir heute ja auch eine ziemliche Bigotterie, wenn kapitalistische Produktion mit all ihren zerstörerischen Folgen ungebremst weiter betrieben wird, die Privatleute aber gleichzeitig angehalten werden, bitte nicht so lange zu duschen, sparsamer mit Strom, Benzin, Fleisch und Verpackungen umzugehen usw. Ich würde außerdem bezweifeln, dass das, was wir hier ‚kapitalistische Verschwendung‘ nennen, tatsächlich die profitlose Verausgabung darstellt, um die es Bataille geht. Wenn jährlich Unmengen von Elektromüll entstehen, weil die Handy- und Computerindustrie ständig neue Geräte auf den Markt wirft, oder wenn Gebäude, Werbetafeln und Läden nachts beleuchtet werden, dann geschieht das ja gerade nicht im Bewusstsein, dass hier Energieüberschüsse sinnlos verprasst werden – als glorioses Geschenk ohne Gegenleistung, wie Nietzsches Zarathustra es bejahen würde –, sondern es geschieht aus völlig rationalem ökonomischem Kalkül heraus: Es gibt Leute, die massiv von diesen Verschwendungen profitieren! Das sind also gar keine nutzlosen Verausgabungen in einem batailleanisch-nietzscheanischen Sinne. Betrachtet man etwa die Massentierhaltung, so hat man es doch mit einer hocheffizienten Form der Nahrungsmittelproduktion zu tun. Verschwenderisch wäre es aus ökonomischer Sicht, den Tieren Raum und gesundes Futter und Zeit zum Leben und zum Wachsen zu geben. Nach den Maßgaben der Mehrwertsteigerung und Gewinnmaximierung sind Massentierhaltung, Produktion von immer mehr Müll, Ausbeutung der Ressourcen und der Umwelt usw. absolut sinnvoll. Batailles Einsicht besteht darin zu sagen: Diese rationalistische Logik der Steigerung der Produktivkräfte und die entsprechende Wachstumsideologie werden sich früher oder später gegen uns selbst richten! Der Exzess des Kapitalismus besteht nicht in seinen Verschwendungen. Diese sind vielmehr eine ungewollte sekundäre katastrophische Folge des kapitalistischen (und protestantischen!) Prinzips, dass überhaupt nicht verschwendet werden darf, dass aus jeder Sache, jedem Individuum, jeder Bewegung auf dem Globus noch das letzte bisschen Mehrwert herausgepresst werden muss, das möglich ist. Wir kennen ja das Paradox der Effizienzsteigerung: Wenn plötzlich in kürzerer Zeit mehr produziert werden kann, führt das keineswegs dazu, dass die Produktionszeit sich tatsächlich verkürzt, sondern im Gegenteil, dass mehr und immer mehr produziert wird. Im Grunde geht es um die Erkenntnis, die in anderem Kontext von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung formuliert wurde: dass exzessiver Rationalismus notwendig in Irrationalismus umkippt. Für die irren Paradoxa der Rationalisierungsprinzipien sensibilisiert Batailles ökonomietheoretische Perspektive in einzigartiger Weise. Ich halte sie daher für aktueller denn je.

PS: Der aus dem Geist der innerweltlichen Askese, um es mit Max Weber zu sagen, geborene Kapitalismus produziert also paradoxerweise gewaltige Überschüsse, die er gerade aufgrund seiner totalisierenden Effizienzlogik nicht mehr zu kanalisieren vermag und die immer wieder zu katastrophischen Explosionen führen. Das scheint wirklich eine originelle Synthese von Marx’ ökonomischer und Nietzsches kultureller Krisentheorie zu sein. Ein solches ‚Feuerwerk‘ können wir ja möglicherweise gerade in der Ukraine bestaunen. Es wird vielleicht in der Tat Zeit, statt Askese auf „gloriose Verschwendung“ zu setzen, um den Planeten zu retten – das würde die ökologische Bewegung vielleicht auch attraktiver machen. Erblicken Sie in diesen Gedanken eine ähnliche Aktualität, Professor Schönherr-Mann?

SM: Ja, Batailles „allgemeine Ökonomie“ ist hochaktuell. Es fragt sich nur, ob das wirklich jemand lesen möchte, nicht nur unter Ökologen. Denn das Fremdeln dürfte schon mit seinem Naturverständnis anheben, heißt es doch etwa in Der verfemte Teil: „Ich gehe von einer elementaren Tatsache aus: Der lebende Organismus erhält, dank des Kräftespiels der Energie auf der Erdoberfläche, grundsätzlich mehr Energie, als zur Erhaltung des Lebens notwendig ist“ (1985, S. 45). Nicht zu wenig Energie verbreitet sich über die Erde als Prinzip des Lebens, sondern zu viel Energie, die die Natur verschwenden muss. Das widerspricht ökologischen Vorstellungen von Kreisläufen, Gleichgewichten, Stabilitäten. Natur hat dagegen für Bataille keinen gleichbleibenden Zustand, sondern befindet sich in permanenter Veränderung. Das kommt der Evolutionstheorie Darwins näher als ein Selbstverständnis, das nach Einklang mit der Natur sucht und sich gerne an vermeintlich natürlich lebenden Menschengruppen im Urwald orientiert.

Dieses Prinzip der natürlichen Verschwendung überträgt Bataille auf die Zivilisation. Das ökonomische Bewegungsgesetz ist nicht das Wachstum, sondern die Verschwendung – ein Prinzip, das sich für Bataille durch die Geschichte hindurch zieht: Tempel und Paläste, extensive Feste und ausschweifender Luxus, heute in den reicheren Ländern zumindest ein breit gestreuter Konsum. Für Bataille ist es dagegen eine

Tatsache, dass es, allgemein gesehen, kein Wachstum gibt, sondern nur eine luxuriöse Energieverschwendung in vielfältiger Form! Die Geschichte des Lebens auf der Erde ist vor allem die Wirkung eines wahnwitzigen Überschwangs: das beherrschende Ereignis ist die Entwicklung des Luxus, die Erzeugung immer kostspieligerer Lebensformen.6

Just die Verschwendung wird in der Moderne flächendeckend verfemt – ein Phänomen, das es vorher nicht gab: Aus der christlichen Armutsregel erhob sich eine Prunk entfaltende Kirche. Bataille verweist auf die protestantische Arbeitsethik, die nach Max Weber die Entstehung des Kapitalismus beförderte, dem es um Effizienz und Produktionssteigerung geht. Das quittiert Bataille in Der heilige Eros 1957 mit den Worten: „Mit geringen Kosten produzieren ist ein armselig menschlicher Wunsch“ (S.  56).

Der Sowjetunion gesteht Bataille zu, dass es ihr um die Frage gerechter Güterverteilung geht. Im zeitgenössischen Kapitalismus bemerkt er auch eine Tendenz zur Verschwendung, entsteht die Schrift Der verfemte Teil 1949 doch vor dem Hintergrund des Marshallplans, als die USA Europa mit Transferleistungen unterstützten, um den Wiederaufbau nach dem Krieg zu fördern. Doch Bataille erkennt, dass diese Verschwendung Hintergedanken beherbergt, um Europa gegenüber der Sowjetunion zu stärken und um zukünftige Absatzmärkte zu schaffen. Es handelt sich also doch nicht um reine Verschwendung.

Trotzdem kommt der Marshallplan einer anderen Art der Verschwendung nahe, wenn Bataille bemerkt: „Was in der völligen Zerrissenheit einen davon abhält, den Krieg als unvermeidlich anzusehen, ist der Gedanke – um eine Formulierung von Clausewitz umzukehren –, dass die Ökonomie unter den gegenwärtigen Bedingungen seine Fortsetzung mit anderen Mitteln ist“ (ebd., S. 210). Die USA führen damit einen Wirtschaftskrieg gegen die Sowjetunion. Verschwendung hat dann einen kriegerischen Sinn.

Bataille zählt den Krieg selbst zur Verschwendung. Das liegt auf der Hand. Denn was bis ins 18. Jahrhundert primär Monarchen betreiben, das setzt der Nationalstaat fort. Auch die Sowjetunion ist unter Stalin durchgängig militarisiert. Vor allem der Faschismus schließt mit seiner kriegerischen Orientierung an die monarchische Verschwendung an. Schätzt das Bataille etwa positiv ein? Seit dem 19. Jahrhundert hofft man, mit dem Krieg und nur mit dem Krieg seine Ziele zu verwirklichen: Hegel, Juan Donoso Cortés, Proudhon, Marx und Max Weber setzen auf den Krieg.

Zugleich scheint er im Gegensatz zu den ökonomisierten Lebensverhältnissen einen lebendigen Charakter zu haben – so wird es noch Carl Schmitt sehen. Bataille bezieht sich jedoch auf einen anderen Referenten:

Der Krieg ist ein letztes Spiel, er ist ein tragisches Spiel: ein Spiel, bei dem man alles einsetzt, was man hat, das eigene Leben inbegriffen, und ich glaube, das ist es, was Nietzsche am Krieg geliebt hat; denn für ihn war das Leben im Wesentlichen ein Spiel. Nietzsche hat zweifellos auch die Erfahrung machen müssen, dass es kein Spiel gibt, das dem Krieg überlegen wäre; er ist das einzige Spiel, in dem der Einsatz total ist.7

Friedliebend gesonnene Leser wie Arthur C. Danto möchten Nietzsche diese kriegerischen Zähne ziehen. Doch Bataille lebt in einer äußerst kriegerischen Zeit und zählt nicht zu den Pazifisten.

Doch er lässt sich auch nicht zu den Militaristen rechnen, sowenig wie zu jenen, die meinen, die Welt retten zu müssen, mit oder ohne Gewalt, und die dafür auch einen großen Plan einschließlich einer entsprechend dimensionierten Erzählung haben. Stattdessen sagt Bataille 1957: „[I]ch übernehme nicht die Verantwortung für die Welt, in welchem Sinne auch immer.“8 Als Verschwendung hat Krieg für Bataille einen gewissen Sinn, noch dazu, weil diese verfemt wird, mehr aber nicht, schon gar keinen kathartischen oder gar einen katastrophalen. Letzteres hat er ja gerade überstanden.

So hat Verschwendung, ob als Krieg oder als Party, keinen Sinn. Seine allgemeine Ökonomie führt vielmehr mit der Verschwendung die Sinnlosigkeit derselben vor, wie Bataille sich 1951 über sein Werk äußert: „Meine ganze Philosophie besteht darin zu sagen, das wichtigste Ziel im Leben ist es, sich der Gewohnheit zu entledigen, immer ein Ziel vor Augen zu haben“ (ebd., S. 53). Wer will sich von den politisch, sozial oder ökologisch Engagierten mit solch einer Aussage anfreunden? Will man Bataille für die liberale Ökonomie und die Ökologie fruchtbar machen, müsste man diese beiden umdenken, nämlich in die Richtung, dass es keinen Sinn gibt.

Damit besteht eine Nähe zu Nietzsche, der jedoch konstruktiver ist, will er doch neue Wert schaffen, und wenn man mit Danto von dessen Kriegsbegeisterung absieht. Trotzdem gilt für Nietzsche umso mehr, was Bataille über sich 1953 bemerkt: „Ich würde gerne sagen, dass ich darauf am stolzesten bin, Verwirrung gestiftet zu haben . . . das heißt, die ausgelassenste und schockierendste, die skandalöseste Art zu lachen mit dem tiefsten religiösen Geist verbunden zu haben“ (ebd., S. 132). Was für Verwirrungen hat doch auch Nietzsche gestiftet!

Verwundert es dann, wenn Maurice Blanchot, den solche Provokationen schockieren, in seinem Nachruf auf Bataille 1962 jede geistige Gemeinsamkeit zurückweist, selbst angesichts von Batailles Tod: „So besitzt der Tod die falsche Tugend, so zu tun, als gäbe er denjenigen die Nähe zurück, die schwere Differenzen getrennt haben“9?

PS: Wir sehen, denke ich, dass sich Batailles Interpretation dadurch auszeichnet, dass er anderen gegenüber die destruktiven, ‚nihilistischen‘ Aspekte Nietzsches betont und affirmiert. Er begnügt sich jedoch nicht mit einer bloßen Skepsis, sondern gewinnt aus diesem Nihilismus die Freiheit der Schöpfung neuer Konzepte, die von ihrer Faszinationskraft nichts eingebüßt haben, egal, ob es um die Konzeption einer nichtsubjektiven Souveränität oder einer bewussten Verschwendung als Gegenentwurf zur kapitalistischen Effizienzlogik geht. Ich bedanke mich für dieses äußerst instruktive Gespräch!

Quellen

Bataille, Georges: Der heilige Eros. Berlin e. a. 1984.

Ders.: Der verfemte Teil. Versuch einer allgemeinen Ökonomie. In: Ders.: Die Aufhebung der Ökonomie. München 1985, S. 33–234.

Ders.: Der verfemte Teil. Versuch einer allgemeinen Ökonomie. Berlin 2021.

Ders.: Die Aufgaben des Geistes. Gespräche und Interviews 1948-1961. Berlin 2012.

Ders.: Die Freundschaft und Das Halleluja. Atheologische Summe II. Berlin 2002.

Ders.: Die innere Erfahrung. Berlin 2017.

Ders.: Nietzsche im Lichte des Marxismus. In: Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich. Hamburg 2007. S. 19-26.

Ders.: Nietzsche und der Wille zur Chance. Atheologische Summe III. Berlin 2005.

Blanchot, Maurice: Die Freundschaft. In: Ders.: Die Freundschaft. Matthes & Seitz, Berlin. S. 369–373.

Sartre, Jean-Paul: Die Wege der Freiheit, Bd. 3. Reinbek b. Hamburg 1987.

Fußnoten

1: S. 56.

2: Ebd., S. 39.

3: S. 220.

4: Vgl. Bataille, Der verfemte Teil, Erster Teil, Abschnitt 4: „Der Krieg als katastrophische Verausgabung der überschüssigen Energie“ (1985, S. 48 ff.).

5: Ebd., S. 48.

6: Ebd., S. 56.

7: Nietzsche und der Wille zur Chance, S. 110.

8: Die Aufgaben des Geistes, S. 98.

9: Blanchot, Die Freundschaft, S. 372.

Der Entschluss zum Lebensdienste

Ein Versuch über die Bedeutung von Nietzsches Philosophie

Der Entschluss zum Lebensdienste

Ein Versuch über die Bedeutung von Nietzsches Philosophie

13.5.24
Michael Meyer-Albert

Nietzsche gilt gemeinhin als schriftstellerischer Philosoph, dessen aphoristische Nihilismen nicht nur den Tod Gottes beschwören, sondern der auch als postumer Meisterdenker die dunklen Seiten der deutschen Geschichte bestärkte. Demgegenüber möchte der folgende Text als Teil der Reihe Was bedeutet Nietzsche für mich? dazu einladen, Nietzsche neu lesen zu lernen als den Entdecker des allzuunbekannten philosophischen Kontinents eines mediterranen Existenzialismus.

Nietzsche gilt gemeinhin als schriftstellerischer Philosoph, dessen aphoristische Nihilismen nicht nur den Tod Gottes beschwören, sondern der auch als postumer Meisterdenker die dunklen Seiten der deutschen Geschichte bestärkte. Demgegenüber möchte der folgende Text als Teil der Reihe Was bedeutet Nietzsche für mich? dazu einladen, Nietzsche neu lesen zu lernen als den Entdecker des allzuunbekannten philosophischen Kontinents eines mediterranen Existenzialismus.

„Tritt hinaus aus deiner Höhle: die Welt wartet dein wie ein Garten.“1

Teutonische Bildungswege

Vor fast genau 100 Jahren hat Thomas Mann in seiner Rede Von deutscher Republik ein spätes Bekenntnis zur liberalen Moderne formuliert. Diese Politisierung beschreibt er als Teil eines umfassenden Bildungswegs, der exemplarisch sei für die Kulturgeschichte Deutschlands, dieser verspäteten Nation, die erst ab 1945 in Gestalt einer Art Liberalismus von außen ihr Ankommen in der politischen Moderne erfolgreich bewältigte. Rückblickend fasst Thomas Mann seine Entwicklung in einen Satz zusammen, der wie wenige luzide den deutschen Geist zur Sprache bringt: „Keine Metamorphose des Geistes ist uns besser vertraut als die, an deren Anfang die Sympathie mit dem Tode, an deren Ende der Entschluss zum Lebensdienste steht.“2

Genau dieser Bildungsweg findet sich auch im Schaffen Nietzsches. Aus dem hochbegabten Schüler und Studenten, der mit 24 Jahren 1869 zum Professor für klassische Philologie wurde und diese vielversprechende akademische Karriere aufgab, wurde ein Wagnerjünger, der sich von dem Meister aus Leipzig eine mystische Kulturrevolution erhoffte. Durch die Erfahrungen der realexistierenden „Weihefestspiele“ mit ihrer banalen Borniertheit und bornierten Banalität in Bayreuth 1876, brach für Nietzsche eine Welt zusammen. Aus dieser Krise entwickelte sich eine neue Hoffnung: Das Lebensideal des „freien Geistes“. Seitdem die todessympathischen Sirenen der Musik für Nietzsche zwar nicht schweigen, aber doch schief klingen, widmet er sich der Philosophie als einem Entschluss zum Lebensdienste. Ohne Wagners Musik muss das Leben kein Irrtum sein. Damit das Leben aber gut klingt, benötigt es eine helle Philosophie als Ersatzmusik. Nietzsches Denken ist die Kritik der Tragödie aus dem Geiste der Lebendigkeit. Im Folgenden möchte ich sehr kurz an vier grundlegende Dimensionen seines philosophierenden Vitalismus erinnern.

Der philosophierende Leib

Nietzsches Denken widerspricht der abendländischen Hierarchie, wonach der Leib dem Geist untergeordnet sei. Das klassische Verständnis der Wahrheit als etwas Unwandelbares, Substanzielles, Universelles wird von ihm invertiert. Daher bestimmt Nietzsche sein Denken als Negation von Platons Philosophie. Diese Wendung zum Konkreten ist im 19. Jahrhundert durch Kierkegaards christlich-existenzialistische Ideen und die junghegelianische Praxisphilosophie gegen Hegels Arbeit am begrifflichen System formuliert worden. Nietzsche geht darüber aber hinaus. Seine Erdung der Philosophie endet nicht in einem Sprung in den Glauben oder in revolutionären Agitationen. Geerdet wird das Denken für ihn vielmehr in der nervösen Weltoffenheit des Leibes. Philosophie ist somit ein Effekt einer Leibspannung, die sich medial in Begriffen artikuliert und zugleich ihre Artikulationen als Rückwirkungen auf den Leib reflektiert. Das führt zu einer Philosophie, die ihre Ambitionen zu einer umfassenden Systematik aufgibt. Aus dem Traktat und der Abhandlung wird der Essay und der Aphorismus. Die Kohärenz der Argumentationen und Definitionen wird dabei konstitutiv somatisch. Die Arbeit des Begriffs ist immer auch die Arbeit an der Metapher, am Ton, an der Stimmung. Für die geistige Leiblichkeit der „Denkend-Empfindenden“3 gilt: Philosophie wird zum Stil und Stil wird zur Philosophie. Es geht nicht nur darum, richtig zu denken, sondern vor allem darum, dass das richtige Denken richtig fasziniert. Denken, das nicht über sich selbst erstaunt, ist nicht wert, gedacht zu werden. Ein Ideenreich ist nur so viel wert, wie es den Reichtum der Welt zu steigern vermag.

Schein statt Sein

Nietzsches Leibdenken lebt den „Weg der Verzweiflung“ (Hegel), er philosophiert nicht nur darüber. Philosophie vollzieht sich für ihn als existenzielle Auseinandersetzung mit dem seelischen Schmerz, der immer dann auftritt, wenn eine Welt zerbricht, von der man glaubte, dass sie alles bedeutete. Nietzsche denkt, weil das, was ist, zu wenig ist als Bindung und zu viel ist als Dissonanz. Die Widersprüche sind zu groß. Der modus operandi dieser posthegelianischen somatischen Dialektik ist eine „Kunst der Transfiguration“. Die zentrale Stelle dazu findet sich in einer späten Vorrede zu der Fröhliche Wissenschaft:

Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch durch ebenso viele Philosophien hindurchgegangen: er kann eben nicht anders, als seinen Zustand jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umsetzen – diese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie.4  

Nietzsche verklärt sich mit dieser Idee sein leidendes Leben zu einer epochalen Exemplarität. Er transfiguriert so sein Dasein im Ganzen in eine philosophische Existenz. Aus dem Philologen wird damit durch seine transfigurierten Verzweiflungen ein Philosoph. Und nur als Philosoph, als Angehöriger einer Lebensform, die es erlaubt, immer wieder sein Leben als Erkenntnisobjekt in eine gedankliche Ferne zu rücken, schafft es der ehemalige Musterschüler, Musterstudent, Musterwagnerjünger am Leben zu bleiben: „Noch lebe ich, noch denke ich: ich muss noch leben, denn ich muss noch denken.“5 Nietzsche lesen heißt, an einer Philosophie Teil zu nehmen, die Tragik in Ironie verwandelt.

Die existenzialistisch geerdete, unphilosophische Offenheit von Nietzsches Philosophie entwirft schließlich einen neuen Begriff der Wahrheit. Weil das Leben von lebensgefährlichen Wahrheiten umstellt ist, die es nicht einfach hinter sich lassen kann, sondern erkennend durchstehen muss, muss der Schein das Leben aus einer demoralisierenden Agonie retten. Schein schafft Sein, um zu sein. Wahrheit wird zu einer Wahrheit zweiter Ordnung, wie Luhmann sagen würde. Interessant ist es, dass sich Nietzsches Begriff der Wahrheit mit dem Begriff des Lebens in der Biologie in einer wesentlichen Einsicht überschneidet: Leben benötigt Abgrenzungen als Zellmembran gegenüber einer Umgebung und als verschiedenartige Räume in einer Zelle. So gesehen könnte man Nietzsches Scheinwahrheit als kulturelle Fortsetzung der naturalistischen Evolution begreifen. Seine Philosophie stellt konzeptionelle Kompartimente bereit, deren Membran der Illusionen und verklärenden Deutungen eine permeable Selektivität ermöglicht. Philosophie als Schein des Abstandes hält Wahrheit auf Abstand und erlaubt so das Sein einer unwahrscheinlichen Vitalität. Nietzsches Antwort auf die kulturelle Umgebung einer allzuentzauberten Welt: Der Mut zum Leben nach dem Tod Gottes entspringt aus dem Zauber eines übermütigen Denkens: „[S]o machen/ Meine alten sieben Sachen/ Mir zu sieben neuen Muth.“6 Damit wird etwa eine Außenwelt, die vom Gottestod und pseudoreligiösen Kompensation (Wagnerkult, Kommunismus, Faschismus) dominiert ist, durch eine Innenwelt, die auf Selbstinteressierung durch philosophische „Selbstheterogenisierung“ (Novalis) setzt lebbar. Daher ließe sich mit Nietzsche Gottfried Benns berüchtigte Zeilen aus Eure Etüden: „Dumm sein und Arbeit haben:/ das ist das Glück“, umformulieren: Intelligent sein und an sich glauben können: das ist das Glück. Der Rest ist Kritik.

Die Kritik der ressentimen Vernunft

Die Rolle des Kulturkritikers, mit der Nietzsche zunächst und zumeist identifiziert wird, ist eigentlich ein Effekt der weltoffenen Nervosität Nietzsches. Er ist zu durchlässig für die Welt, um ohne Philosophie leben zu können. Seine Kritik ist eine Immunreaktion.

Anders als in Heideggers Denken, in dem Stimmungen ontologisch gedeutet werden, versteht Nietzsche Stimmungen als kulturelle Artefakte. Gefühlszustände sind Gefühlszüchtungen.  Als von der Kultur verstimmter Kulturkritiker bestimmt Nietzsche die Grundverstimmung Europas als Ressentiment. Ressentiment ist der rachelustige Neid von unlebendigem Leben auf erfolgreiche Vitalität. Als Alltagsphänomen: Am Rande der Tanzfläche stehen und anstatt in Tanzstimmung zu kommen, anfangen über die Tänzer, die Musik, die Beleuchtung etc. herzuziehen. Nietzsche sieht in dieser Dynamik die wesentliche Gefühlszüchtung Europas. Diese „Verschwörung der Leidenden gegen die Wohlgeratenen und Siegreichen“7 verläuft als Schuldzuschreibung: „Ich leide: daran muss irgend jemand schuld sein – also denkt jedes krankhafte Schaf.“8

Entscheidend für Nietzsche ist es, dass diese Schuldsuche aktiv gefördert wird. Nietzsche erkennt im Typus des Priesters den Berufsressentimen, der die Masse der Frustrierten gegen das Bestehende und das Diesseitssein an sich durch Umdeutungen mobilisiert. Dafür wird der Wert Gerechtigkeit als Verklärungsmoral für die Agitationen instrumentalisiert. Erfolge werden mit edler Entrüstung als Ausbeutungen diffamiert. Der Erzressentime ist für Nietzsche Paulus. Auch wenn Nietzsches eigene Schuldzuschreibungen gegen das Christentum selbst wieder überspannt wirken: Seine Idee einer kulturellen Herstellung von Vergeltungsgefühlen aus den zwei Komponenten Frustrationsmasse und Agitationsradikale, die sich in einer militanten Gerechtigkeitsmoral verfestigen, besitzt eine vor allem für die Diagnose des 20. Jahrhunderts interpretatorisch unausgeschöpfte Macht. Daraus ist zu lernen, was im 21. Jahrhundert nicht mehr sein sollte, damit das mit der Moderne erreichte und von Francis Fukuyama beschriebene Ende der Geschichte nicht zu Ende geht.

Nietzsches Denken als umgekehrter Paulinismus bleibt aktuell, um den toxischen Schein von ressentimen „Wahrheiten“ zu dekonstruieren. Es wird im 21. Jahrhundert insbesondere wichtig, um nach dem Wüten der letalen Universalismen im letzten Jahrhundert eine Vorstellung von lebensfähigen Universalismen für die globale Welt zu entwickeln. Philosophisch bietet Nietzsche somit einen Ausweg aus der Kritikindustrie der Kritischen Theorie mitsamt ihrer intellektualisierten „Sympathie mit dem Tode“ und ihrer verwalteten Empfindlichkeit gegen das Bestehende.

Lebenskunst der Zukunft

Letztlich mündet Nietzsches Denken aber nicht in ein Denken. Seine Idee, Leben anstelle von Wahrheit ins Zentrum der Philosophie zu rücken, wird konsequent darin, dass Philosophie in Lebenskunst aufgeht. Die Kritik am Ressentiment verwirklicht sich in einem gelebten Jasagen als Existenzästhetizismus. Dieser drückt sich für Nietzsche in acht Aspekten aus:

a. Nietzsches philosophischer Hedonismus ist postklassizistisch nicht mehr nur an dem Wert Selbsterkenntnis orientiert. Er transfiguriert die sokratische Selbsterkenntnis zu einer dankbaren Selbstzufriedenheit. Dahinter steckt eine prophylaktische Distanzierung von den Automatismen der ressentimen Verstimmung: „Denn Eins ist Noth: dass der Mensch seine Zufriedenheit mit sich erreiche [...]! Wer mit sich selbst unzufrieden ist, ist fortwährend bereit, sich dafür zu rächen: wir anderen werden seine Opfer sein“9.

b. Für die Erreichung der eigenen Zufriedenheit ist es wesentlich, dass der physiologische Ort des Denkens gepflegt wird: Ausreichender Schlaf, gute Ernährung, aber auch eine besonnene Musikdiät – wenig Wagner, viel Bizet hören! – sind dafür sinnvoll.

c. Nietzsche betont insbesondere den Wert der selektiven Blindheit für eine umfassende Lebensbejahung. Nur durch bewusstes Wegsehen, Nichtsehen, Nichtinformieren stabilisiert sich ein Raum für sympathetische Weltwahrnehmungen. Der Empathische weiß in seiner Empathie für Empathie, dass es eine Überforderung des Empathischen gibt, die Empathie vergröbert, sentimental ungenau werden lässt oder zu einer Sucht nach Betroffenheit führt. Nur eine Weltvermeidungswelt lässt Weltoffenheit zur Welt kommen: „Wegsehen sei meine einzige Verneinung!“10

d. Immer wieder mahnt Nietzsche auch vor einem unreflektierten Fleiß und einer „athemlosen Hast der Arbeit“11. Das Otium einer vita contemplativa verlangt nach „einer entschlossenen Trägheit“12. Erst als bewusstes Management von Langeweile entsteht die Möglichkeit von erstaunlicher Lebendigkeit.

e. Für eine geistreiche Faulheit ist es wichtig, die stoische Selbstbeherrschung immer wieder zu verlieren und sich den Impulsen anvertrauen zu können, die in einem ihr Wesen treiben. Als „ewiger Wächter seiner Burg“13 ist man „verarmt und abgeschnitten von den schönsten Zufälligkeiten der Seele“ (ebd.).

f. Nietzsches Lebenskunst bietet so eine breite Abflugbahn für geistige und seelische Höhenflüge aller Art. Leben soll sich dabei in immer neuen Reflexionen und Transfigurationen in weitere, dauerhaftere und umfassendere Zustände entwickeln. Es verläuft so idealerweise durchzogen von den Adern hoher Gefühle, als „ein beständiges Wie-auf-Treppen-steigen und zugleich Wie-auf-Wolken-ruhen“14.

g. Daraus entsteht ein stabiles Lebensgefühl, in dem das Absurde der Existenz in eine schöne Offenheit umgestimmt wurde. Nietzsche denkt so, vor Camus über Camus hinaus, die Idee eines mediterranen Existenzialismus. Die Verzweiflung im „Schweigen der Welt” (Camus), in der „Seinsverlassenheit“ (Heidegger), im „Ekel“ (Sartre) vor der Kontingenz wird darin aufgehellt zu dem „Himmel Zufall“15.

h. Zuletzt verkörpert sich für Nietzsche Lebenskunst in einer schöpferischen Pädagogik. Die Lebensreichen reichen ihren Reichtum weiter. Ihre frohe Botschaft lautet: Auch du lebst in Strandnähe. Das Großartige ist zugänglich. Sei dem Leben gut, denn die Chance zum Leben ist da.

So mündet der „Entschluss zum Lebensdienste“ bei Nietzsche in einen mediterranen Existenzialismus. Ihn zu lesen bedeutet, die „Sympathien mit dem Tode“ zu entdecken und verachten zu lernen, an sich und an anderen. Und es bedeutet, den Appell der hellen Vernunft zu folgen und sich den Anmutungen des glänzenden Lebens anzuvertrauen, die jedem immer wieder offenstehen. Die letzte Transfiguration: Über seinen eigenen ressentimen Schatten springen „hinein in seine Sonne”16.

Quellen

Mann, Thomas: Von deutscher Republik. In: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Von deutscher Republik. Politische Schriften und Reden in Deutschland. Frankfurt a. M. 1995, S. 23–41.

Fußnoten

1: Also sprach Zarathustra, Der Genesende, 1.

2: Von der deutschen Republik, S. 22.

3: Die fröhliche Wissenschaft, 301.

4: Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede, 3.

5: Die fröhliche Wissenschaft, 276.

6: Die fröhliche Wissenschaft, Vorspiel, 1.

7: Zur Genealogie der Moral, III, 14.

8: Zur Genealogie der Moral, III, 15.

9: Die fröhliche Wissenschaft, 290.

10: Die fröhliche Wissenschaft, 276.

11: Die fröhliche Wissenschaft, 329.

12: Die fröhliche Wissenschaft, 42.

13: Die fröhliche Wissenschaft, 305.

14: Die fröhliche Wissenschaft, 288.

15: Also sprach Zarathustra, Vor Sonnen-Aufgang.

„Noch ist Polen nicht verloren“

Deutschlands Nachbarland als politische Utopie in Nietzsches Nachlass

„Noch ist Polen nicht verloren“

Deutschlands Nachbarland als politische Utopie in Nietzsches Nachlass

6.5.24
Paul Stephan

Der späte Nietzsche imaginiert sich immer wieder als Nachfahren polnischer Adliger. Es handelt sich dabei nicht nur um eine persönliche Marotte, sondern sagt etwas über Nietzsches philosophische Positionierung aus: Polen ist für ihn eine Art ‚Anti-Nation‘, ein Volk der „großen Einzelnen“ – und nicht zuletzt die polnische Adelsrepublik die politische Utopie eines radikaldemokratischen Gemeinwesens, das gerade in seinem Scheitern seiner Vorstellung eines „aristokratischen Radikalismus“ entspricht. Paul Stephan geht in diesem long read der tieferen Bedeutung dieses Themas bei Nietzsche nach und hinterfragt seine Verklärung der alten Rzeczpospolita: Aus politischer Sicht handelt es sich um kein so erstrebenswertes Modell, wie es Nietzsche suggeriert. Weiter führen in dieser Hinsicht Jean-Jacques Rousseaus Betrachtungen über die Regierung Polens von 1772.

Der späte Nietzsche imaginiert sich immer wieder als Nachfahren polnischer Adliger. Es handelt sich dabei nicht nur um eine persönliche Marotte, sondern sagt etwas über Nietzsches philosophische Positionierung aus: Polen ist für ihn eine Art ‚Anti-Nation‘, ein Volk der „großen Einzelnen“ – und nicht zuletzt die polnische Adelsrepublik die politische Utopie eines radikaldemokratischen Gemeinwesens, das gerade in seinem Scheitern seiner Vorstellung eines „aristokratischen Radikalismus“ entspricht. Paul Stephan geht in diesem long read der tieferen Bedeutung dieses Themas bei Nietzsche nach und hinterfragt seine Verklärung der alten Rzeczpospolita: Aus politischer Sicht handelt es sich um kein so erstrebenswertes Modell, wie es Nietzsche suggeriert. Weiter führen in dieser Hinsicht Jean-Jacques Rousseaus Betrachtungen über die Regierung Polens von 1772.

I. Der ‚Polen-Komplex‘

„Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang [reinen Bluts; PS], dem auch nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches.“1 Abgesehen von dem – aus heutiger Sicht geradezu als ‚Trumpesk‘ zu bezeichnenden – Superlativ dieser Aussage, hatte Nietzsche durchaus Gründe, an seine ab 1880 in Briefen und im Nachlass immer wieder betonten polnische Abkunft zu glauben. Wie er jedenfalls mehrfach berichtet,2 wird er wiederholt von Exilpolen für einen der ihren gehalten und ließ sich seine polnische Abkunft durch ein Dokument von einem vermeintlichen Ahnenforscher bestätigen.3 Sogar seine Schwester teilt diese Familienlegende. Kernargument der beiden ist, dass ihr auf den ersten Hörer tatsächlich ein wenig slawisch klingende Familienname sich vom polnischen „Nietzky“ herleite. Im 18. Jahrhundert sei einer ihrer Vorfahren von August dem Starken in den Grafenstand erhoben worden, habe das Land jedoch aufgrund seines protestantischen Glaubens nach dessen Tod verlassen müssen. Max Oehler wies erst in den 30er Jahren – freilich nicht ohne das problematische Interesse, Nietzsche als ‚Reinblütler‘ im Sinne der NS-Ideologie auszuweisen – nach, dass es sich bei dieser gesamten Erzählung um eine reine Wunschphantasie handeln dürfte, die der Familie einen gewissen exotischen Glanz und nicht zuletzt einen Tropfen blauen Bluts verleihen sollte.4 Die Pastorenfamilie musste es zumal in ihrer Identität bestätigen, von einem Märtyrer des Protestantismus abzustammen. Vielleicht ist die Legende somit auch Hintergrund von Nietzsches berühmtem Satz aus dem 377. Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft:

Wir sind, mit Einem Worte – und es soll unser Ehrenwort sein! – gute Europäer, die Erben Europa‘s, die reichen, überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes: als solche auch dem Christenthum entwachsen und abhold, und gerade, weil wir aus ihm gewachsen sind, weil unsre Vorfahren Christen von rücksichtsloser Rechtschaffenheit des Christenthums waren, die ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand und Vaterland zum Opfer gebracht haben.

Diesem Satz ist zumal zu entnehmen, was für Nietzsche ein weiterer Grund für die Obsession für seine polnische Abkunft gewesen sein dürfte: Im Laufe der 1870er Jahre entfremdete er sich subjektiv und durch die Aufgabe seiner preußischen Staatsbürgerschaft auch objektiv immer mehr vom von ihm verachteten Bismarckreich und verstand sich als umherschweifender Kosmopolit, als „guter Europäer“ eben, als ewiger Heimatloser. Sein Wunsch danach, ein Pole zu sein, entspricht diesem Bedürfnis nach einer immer stärkeren Distanzierung von Deutschland – verrät aber zugleich auch den Drang zu einer neuen Heimat, einer neuen identitären Bindung. Zwischen beiden Impulsen scheint auf den ersten Blick eine gewisse Widersprüchlichkeit zu bestehen – doch nur auf den ersten Blick. Bei näherer Betrachtung entpuppen sie sich als durchaus miteinander kompatibel.

II. Das Nachlassfragment

Welcher Art ist diese neue Identität, die Nietzsche erst in Ecce homo öffentlich macht, die aber in privaten Äußerungen schon ab 1880 eine nicht unerhebliche Rolle spielt? Was bedeutet es für ihn, ein Pole zu sein? Aufschluss darüber gewährt ein 1882 verfasstes, in der Forschung nur selten beachtetes, Nachlassfragment, das sich in Gänze zu betrachten lohnt:

Man hat mich gelehrt, die Herkunft meines Blutes und Namens auf polnische Edelleute zurückzuführen, welche Niëtzky hießen und etwa vor hundert Jahren ihre Heimat und ihren Adel aufgaben, unerträglichen religiösen Bedrückungen endlich weichend: es waren nämlich Protestanten. Ich will nicht leugnen, daß ich als Knabe keinen geringen Stolz auf diese meine polnische Abkunft hatte: was von deutschem Blute in mir ist, rührt einzig von meiner Mutter, aus der Familie Oehler, und von der Mutter meines Vaters, aus der Familie Krause, her, und es wollte mir scheinen, als sei ich in allem Wesentlichen trotzdem Pole geblieben. Daß mein Äußeres bis jetzt den polnischen Typus trägt, ist mir oft genug bestätigt worden; im Auslande, wie in der Schweiz und in Italien, hat man mich oft als Polen angeredet; in Sorrent, wo ich einen Winter verweilte, hieß ich bei der Bevölkerung il Polacco; und namentlich bei einem Sommeraufenthalt in Marienbad wurde ich mehrmals in auffallender Weise an meine polnische Natur erinnert: Polen kamen auf mich zu, mich polnisch begrüßend und mit einem ihrer Bekannten verwechselnd, und Einer, vor dem ich alles Polenthum ableugnete und welchem ich mich als Schweizer vorstellte, sah mich traurig längere Zeit an und sagte endlich „es ist noch die alte Rasse, aber das Herz hat sich Gott weiß wohin gewendet.“ Ein kleines Heft Mazurken, welches ich als Knabe componirte, trug die Aufschrift „Unsrer Altvordern eingedenk!“ – und ich war ihrer eingedenk, in mancherlei Urtheilen und Vorurtheilen. Die Polen galten mir als die begabtesten und ritterlichsten unter den slavischen Völkern; und die Begabung der Slaven schien mir höher als die der Deutschen, ja ich meinte wohl, die Deutschen seien erst durch eine starke Mischung mit slavischem Blute in die Reihe der begabten Nationen eingerückt. Es that mir wohl, an das Recht des polnischen Edelmanns zu denken, mit seinem einfachen Veto den Beschluß einer Versammlung umzuwerfen; und der Pole Copernikus schien mir von diesem Rechte gegen den Beschluß und den Augenschein aller andern Menschen eben nur den größten und würdigsten Gebrauch gemacht zu haben. Die politische Unbändigkeit und Schwäche der Polen, ebenso wie ihre Ausschweifung waren mir eher Zeugnisse für ihre Begabung als gegen dieselbe. An Chopin verehrte ich namentlich, daß er die Musik von den deutschen Einflüssen, von dem Hange zum Häßlichen, Dumpfen, Kleinbürgerlichen, Täppischen, Wichtigthuerischen freigemacht habe: Schönheit und Adel des Geistes und namentlich vornehme Heiterkeit, Ausgelassenheit und Pracht der Seele, insgleichen die südländische Gluth und Schwere der Empfindung hatten vor ihm in der Musik noch keinen Ausdruck. Mit ihm verglichen, war mir selbst Beethoven ein halbbarbarisches Wesen, dessen große Seele schlecht erzogen wurde, so daß sie das Erhabene vom Abenteuerlichen, das Schlichte vom Geringen und Abgeschmackten nie recht zu unterscheiden gelernt hat. (Unglücklicherweise, wie ich jetzt hinzufügen will, hat Chopin einer gefährlichen Strömung des französischen Geistes zu nahe gewohnt, und es giebt nicht wenige Musik von ihm, welche bleich, sonnenarm, gedrückt und dabei reich gekleidet und elegant daherkommt – der kräftigere Slave hat die Narkotica einer überfeinerten Cultur nicht von sich abweisen können.)5

Man sollte sich nicht davon täuschen lassen, dass dieses Fragment im Präteritum geschrieben ist. Dieser gesamte Themenkomplex spielt in Nietzsches Nachlass, seine Kindheits- und Jugendschriften mit eingeschlossen, vor 1880 überhaupt keine Rolle. Es scheint sich sogar so zu verhalten, dass Nietzsche erst dadurch, dass er für einen Polen gehalten worden ist, überhaupt auf den Gedanken kam, sich an diese Familienlegende zu erinnern.

1877 berichtet er jedenfalls in einem Brief an seine Freundin Malwida von Meysenbug noch davon, dass er sich mit zwei polnischen Damen bei einem Kuraufenthalt sehr gut verstanden habe, ohne auf sein eigenes Polentum auch nur mit einer Silbe einzugehen.6 Und 1878 notiert er in einem Nachlassfragment interessanterweise geradezu das Gegenteil von dem, was er fünf Jahre später niederschrieb:

Polen das einzige Land abendländisch-römischer Cultur, das nie eine Renaissance erlebt hat. Reformation der Kirche ohne Reform des gesammten Geisteslebens, deshalb ohne dauernde Wurzeln zu schlagen. Jesuitismus – adelige Freiheit richten es zu Grunde. Genau so wäre es den Deutschen ohne Erasmus und der Humanisten Wirkung gegangen.7

Kurz gesagt: Es geht Nietzsche in diesem Fragment um die Fiktion einer vermeintlich seit seiner Kindheit existierenden kontinuierlichen Anschauungsweise, die über die krassen Brüche, die sein Denken immer wieder erfuhr, hinwegtäuschen soll. Während seiner Studentenzeit war er schließlich noch glühender preußischer Patriot, Verehrer Bismarcks und sympathisierte bis in die frühen 70er Jahre mit dem deutschen Nationalismus.

Warum wurde Nietzsche überhaupt für einen Polen gehalten? Angesichts der Häufigkeit, mit der Nietzsche von solchen Begegnungen berichtet, ist diese Erzählung nicht unglaubwürdig, so misstrauisch man gegenüber der von Nietzsche in seinen Briefen bisweilen betriebenen Selbststilisierung auch sein sollte. 1884 traf er sich in Nizza mit seiner Freundin Resa von Schirnhofer, die über diese Begegnung 1937 einen bemerkenswerten Bericht verfasste, der einen äußerst lebendigen Eindruck davon vermittelt, wie Nietzsche auf seine Zeitgenossen gewirkt hat. Darin heißt es:

Damals war mir das [eben jene vermutete polnische Abkunft Nietzsches; PS] neu und interessierte mich, da ich auf einem historischen Gemälde Jan Matjeko’s [sic] in Wien charakteristisch formverwandte Köpfe gesehen hatte von einer nicht bloss oberflächlichen im Schnurrbartwuchs bestehenden Ähnlichkeit, was ich auch zu ihm geäussert hatte, worüber er sehr erfreut schien. Denn er war sehr stolz auf seine polnische Charakterphysiognomie.8

Von Schirnhofer dürfte bei dieser Äußerung vor allem an Matejkos Gemälde Sobieski bei Wien gedacht haben (vgl. das Artikelbild), das angesichts des 200-jährigen Jahrestags des Siegs des vereinigten christlichen Heeres am 12. September 1683 gegen die osmanische Armee, die Wien belagert hatte, ebendort ausgestellt worden war. Die Türken erlitten damals eine krachende Niederlage, die den Niedergang des osmanischen Reiches besiegelte. Entscheidend für den christlichen Sieg war ein vom polnisch-litauischen König Johann III. Sobieski kommandierter Vorstoß seiner Elitekavallerie gewesen. Ein polnisches Verdienst, das anzuerkennen sich viele selbsternannte ‚Retter des Abendlandes‘ bis heute schwertun. 1883 war es jedenfalls eine veritable Provokation, dieses Gemälde angesichts der Nichtexistenz des polnischen Nationalstaats in Wien zu zeigen, die vom Nationalisten Matejko genau als eine solche intendiert war. Entgegen den damals üblichen Gepflogenheiten war das Gemälde kostenlos zu sehen und er ließ eine erläuternde Broschüre patriotischen Inhalts drucken.9

Die Barttracht des Königs und seiner Ritter ähnelt in der Tat zum Verwechseln dem Walrossbart Nietzsches. Und es handelt sich dabei um keinen Einzelfall: Dieser Barttyp hat auf polnischen Königsportraits eine lange Tradition.10 Von Schirnhofer spielt die Rolle des Barts in ihrem Bericht ein wenig herunter, doch es spricht einiges dafür, dass vor allem er es war, der die Polen dazu verleitete, Nietzsche für einen der ihren zu halten. Dies darf allerdings nicht zu dem Trugschluss verleiten, Nietzsche habe sich seinen Schnauzer aus diesem Grund wachsen lassen. Es spricht vielmehr einiges dafür, dass sich der Student Nietzsche seinen heute ikonischen Bart von dem wohl bekanntesten Träger dieses auch schon damals äußerst auffälligen Typs abgeschaut haben dürfte – dem späteren Reichskanzler Otto von Bismarck.11 Aus dem Preußen- war also ein Polenbart geworden.

Diese Wandlung ist ebenso wenig ein Widerspruch wie die erwähnte Gleichzeitigkeit von Nietzsches Selbstdefinition als Pole und als „guter Europäer“. Denn die Polen gelten Nietzsche ja gerade als Volk von Freigeistern, von „große[n] Einzelnen“12. Ein paradoxes ‚antikollektivistisches Kollektiv‘, das sich insbesondere durch seine bemerkenswerte Verfassung auszeichnet. Wenn man sich vor Augen führt, dass auch schon der junge Patriot Nietzsche Bismarck vor allem bewunderte, weil er ihn für einen „großen Einzelnen“, ein politisches Genie nach seinem Geschmack, hält (eine Wertung, die sich bemerkenswerterweise auch nach seinem Bruch mit dem Reich in seinen Schriften noch immer wieder vorfindet), dann wird klar, dass sein Bart vor allem eins zum Ausdruck bringen soll: seine eigene Zugehörigkeit zu jenem erlauchten Kreis „großer Einzelner“, die seiner Auffassung nach die Weltgeschichte lenken und lenken sollen. Wenn Nietzsches Schwester also anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs behaupten sollte: „Bismarck ist Nietzsche in Kürassierstiefeln, und Nietzsche mit seiner Lehre vom Willen zur Macht als Grundprinzip des Lebens ist Bismarck im Professorenrock“13, ist das durchaus nicht vollkommen unberechtigt. Doch anders als etwa im Fall von Heideggers peinlichem Schnurrbärtchen von 1933,14 wäre es verkehrt, aus der optischen Ähnlichkeit zwischen Bismarcks und Nietzsches Bart eine politische Affinität zwischen beiden zu folgern: Nietzsche verehrt Bismarck und seine Politik des „Blut und Eisens“, die er sogar noch in Jenseits von Gut und Böse ausdrücklich als südliches Antidot zum ‚Geist des Nordens‘ begrüßt,15 nicht, weil es eine nationalistische Politik ist, sondern aus ähnlichen Gründen, aus denen heraus er etwa Goethe, Napoleon oder eben Kopernikus und die Polen schlechthin bewundert: Weil sie alle seiner Vorstellung „großer Einzelner“ entsprechen, die sich über die Meinung des „Pöbels“16 hinwegsetzen und eine wahrhaft „große Politik“17 im Sinne des „Lebens“ (ebd.) betreiben.

III. Individualistische (Anti-)Politik

Das Nachlassfragment ist wie wohl kaum ein anderes dazu geeignet, um die Problematik von Nietzsches Auffassung von „großen Einzelnen“ zu verdeutlichen. Sie wirkt erst einmal wie das Bekenntnis zu einem geradezu anarchistischen Individualismus, der nur den Haken hat, auf den Adel beschränkt zu sein. Nietzsche geht sogar so weit, den Eigensinn des Individuums gegenüber der Stabilität des Gemeinwesens in Schutz zu nehmen: Dass mit einer Konsensdemokratie kein Staat zu machen ist, ist für ihn kein Argument gegen diese politische Form, im Gegenteil. Zugleich plädiert er jedoch für keinen völlig enthemmten Individualismus, wie er ihn etwa mit der deutschen Kleinbürgerlichkeit und der französischen Dekadenz assoziiert: Seine Vorliebe gilt eben nicht einfach nur Einzelnen schlechthin, sondern großen Einzelnen, deren Größe er etwa mit Ritterlichkeit, Schönheit der Seele und ästhetischem Geschmack assoziiert – die jedoch zugleich keine eigentliche Tugendhaftigkeit ist, da er ja auch den ausschweifenden und unbändigen Charakter der ‚polnischen Seele‘ feiert. Man sieht, dass seine Bestimmung von „Größe“ hier wie auch anderswo reichlich vage ist: Beethoven, den er sonst als eines der größten Genies verklärt,18 wird nun plötzlich abgewertet, worin genau die Ähnlichkeit zwischen Chopin, Kopernikus und polnischen Edelleuten bestehen soll, ist prima facie vollkommen unklar. Jedenfalls bedient er sich, und hier liegt der Hase im Pfeffer, primär ästhetischer Kriterien, um ein politisches Urteil zu fällen – moralische und im üblichen Sinne politische Kriterien werden ausgeblendet und sogar dezidiert abgewertet.

Offensichtlich changiert Nietzsche in diesem Fragment zwischen zwei Momenten, die auch sonst sein Denken wie auch seine politische Wirkungsgeschichte bestimmen: Einmal demjenigen eines radikalen Individualismus, der ihn für Anarchisten interessant macht – einmal demjenigen der ästhetischen Verklärung einer aristokratischen „Herren-Moral“, die auf seine faschistische Rezeption verweist. In dieser Passage neigt Nietzsche eher dem anarchistischen zu als dem faschistischen Pol zu – und doch folgt aus ihr kein Lob einer universalisierten Willkürfreiheit.

IV. Utopie und Wirklichkeit

Man kann das ‚Polen-Fragment‘ kaum hinreichend würdigen, wenn man nicht berücksichtigt, ob sie sich denn überhaupt auf irgendeine historische Realität bezieht oder ob es sich um eine typische Nietzsche’sche Halbwahrheit oder gar Fiktion handelt. In diesem Fall fällt der ‚Faktencheck‘ allerdings überraschenderweise zu Gunsten des Dichterphilosophen aus: In der Zeit der polnisch-litauischen Adelsrepublik, die vom 16. Jahrhundert bis zur Zerschlagung Polens im späten 18. Jahrhundert währte, war die polnische Gesellschaft in der Tat von einem in der Geschichte wahrscheinlich einzigartigen Individualismus geprägt. Jedenfalls alle Angehörigen des Adels – etwa 15 % der Bevölkerung19 – begegneten sich auf Augenhöhe und konnten gleichberechtigt an einem politischen System partizipieren, das neben konsens- sogar rätedemokratische Elemente beinhaltete. Auf den Adelsversammlungen konnte tatsächlich jedes Mitglied ein Veto gegen alle Beschlüsse der Versammlungen einlegen – was nicht nur zur Folge hatte, dass dieser eine Beschluss zurückgenommen, sondern dass die komplette Versammlung aufgelöst werden musste und nicht mehr beschlussfähig war. Eine Regelung, die – wie man erwarten mag – von den meisten Historikern als einer der konstitutionellen Hauptgründe für den Untergang Polens angesehen wird.20 Schon gegen Mitte des 18. Jahrhunderts waren selbst republikanische Stimmen wie Jean-Jacques Rousseau, der 1772 auf eine entsprechende Bitte hin einen umfassenden Vorschlag zur Neuordnung des polnischen Staats verfasste, der Ansicht, dass jenes „liberum veto“ ein Unding sei, das schnellstmöglich beseitigt werden müsse.21 Es hatte nämlich nicht nur die Lahmlegung aller politischen Entscheidungen zur Folge: Sowohl der Hochadel als auch sogar ausländische Mächte bedienten sich seiner gezielt, um den polnischen Staat zu korrumpieren und ihren Einfluss zu vergrößern. Eine scheinbar demokratische Regelung war in Wahrheit ein Instrument in den Händen der Mächtigsten.

Die Zeit der „goldenen Freiheit“ war, um es zugespitzt zu sagen, eine Zeit der dunkelsten Unfreiheit für all diejenigen, die nicht dem Adel angehörten und an denen die Adligen ihre Willkürfreiheit ausüben durften. Während die Adelsversammlungen – Nietzsche spielt darauf wohl an – oft in wilde Saufgelage mit zünftigen Prügeleien ausarteten, lebte die große Mehrheit der Bevölkerung in bitterster Armut. Eine außerordentliche soziale Ungleichheit, eine Oligarchenherrschaft hinter radikaldemokratischer Fassade, die Rousseau in deutlichen Worten beklagt. Betrachtet man also die politische Realität des alten Polens, dann verblasst das romantische Bild, das Nietzsche von ihm zeichnet, schnell. Es ist eher ein Beispiel für eine besonders schlechte als eine besonders gelungene politische Ordnung nach allen dafür üblichen Kriterien. Einzig Nietzsches ästhetisierter Blick lässt sie als irgendwie akzeptabel erscheinen.

Rousseau ist der Ansicht, dass das Problem nicht das Vetorecht per se ist. Doch es funktioniert ihm zufolge nicht in einer Gesellschaft, die von sozialer Ungleichheit und antagonistischen Partikularinteressen geprägt ist und in der es folglich keinen starken Sinn des Zusammenhalts gibt. Er hält insbesondere die Entwicklung eines patriotischen Heroismus für erforderlich, um Polen vor dem Untergang zu bewahren: Jeder Einzelne soll bereit sein, sich für das Vaterland aufzuopfern. Dieser Gedanke weist eine oberflächliche Ähnlichkeit zu Nietzsches Betonung der Ritterlichkeit und Größe der alten Polen auf, doch bei Rousseau ist damit keinerlei Individualismus verbunden, im Gegenteil: Jeder Einzelne soll sich Rousseau zu Folge nicht primär als Individuum, sondern als Pole verstehen. Es ist ein moralischer Heroismus, während es bei Nietzsche ein amoralischer ist.

Rousseaus Kritik der polnischen Gesellschaft geht einerseits von pragmatischen politischen Kriterien aus – sein Ziel ist die Bewahrung des polnischen Staates –, andererseits von dem moralischen Endzweck aller Politik, den er schon 1762 im Gesellschaftsvertrag artikulierte: Eine Gesellschaft ohne Herren und Knechte, in der Allgemein- und Partikularinteresse zusammenfallen. Seine Überlegungen flossen in die polnische Verfassung von 1791 ein – die den umliegenden absolutistischen Monarchien zu radikal war, so dass sie umgehend Polen besetzten und unter sich aufteilten. (Mit der alten Verfassung der „goldenen Freiheit“ hatten sie schon eher leben können.) – Und sie waren auch eine wichtige Inspirationsquelle der Revolutionäre von 1789, die größtenteils glühende Verehrer des „Bürgers von Genf“ waren.

V. Fazit

Man mag anerkennen, dass Nietzsches Lob ritterlichen Eigensinns und aristokratischer Exzessivität ein legitimes Antidot darstellt zur Kleinbürgerlichkeit moderner Gesellschaften. Der späte Rousseau hingegen propagierte einen Nationalismus, der aus einer liberalen Perspektive hochproblematisch erscheint und der im 19. und 20. Jahrhundert eine unrühmliche Wirkungsgeschichte haben sollte.

Doch unterm Strich ist Rousseau recht zu geben: Die Konsensdemokratie ist ein Modell, dass in einer antagonistischen Gesellschaft keinen Sinn ergibt, das bis heute von manchen Liberalen gefeierte „goldene Zeitalter“ Polens war in der Tat eines der Korruption, der gesellschaftlichen Anarchie im schlechtesten Sinne und außerhalb von Nietzsches ausschweifender Phantasie auch nicht gerade der kulturellen Blüte. Kopernikus lebte nicht nur zeitlich vor der Entstehung der polnisch-litauischen Adelsrepublik, es ist auch vollkommen anachronistisch, ihn einer der später etablierten Nationen zuzurechnen. Er dürfte sich selbst wohl primär als Untertan seines Dienstherrn, des Fürstbischofs von Ermland, begriffen haben. Chopins wiederum lebte nach der Zerschlagung Polens, sein Vater war Franzose und Frankreich seine Hauptwirkungsstätte.

Das ‚alte Polen‘ ist ein romantischer Sehnsuchtsort, doch es ist keine erstrebenswerte politische Utopie. Auch in diesem auf den ersten Blick recht sympathisch wirkenden Nachlassfragment zeigt sich Nietzsche freundlich ausgedrückt nicht gerade von seiner hellsten Seite. Bemerkenswert ist allerdings, wie es ihm gelingt, zugleich die Seichtigkeit des modernen Individualismus zu kritisieren wie auch den modernen Kollektivismus zu hinterfragen. In dieser Fähigkeit zur Verschmelzung ganz unterschiedlicher, ja: widersprüchlicher, Perspektiven, liegt das ungeheure Potential und die Radikalität seines Denkens. Doch wenn es um ein im eigentlichen Sinne politisches Denken geht, ist man wohl doch besser beraten, sich an Rousseau zu halten.22

Quellen

Benne, Christian: Liberum veto. Wie demokratisch ist Nietzsches aristokratischer Radikalismus? In: Martin A. Ruehl & Corinna Schubert (Hg.): Nietzsches Perspektiven des Politischen. Berlin & Boston 2023, S. 161–180.

Ders: Sich sich selber erzählen. In: Ders. & Dieter Burdorf (Hg.): Rudolf Borchardt und Friedrich Nietzsche. Schreiben und Denken im Zeichen der Philologie. Berlin 2017, S. 95–111.

Dabrowski, Patrice M.: Commemorations and the Shaping of Modern Poland. Bloomington & Indianapolis 2004.

Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche. Eine Biographie. Bd. I. München & Wien 1978.

Oehler, Max: Zur Ahnentafel Nietzsches. Weimar 1939.

Rousseau, Jean-Jacques: Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlagene Reform. In: Sozialphilosophische und Politische Schriften. München 1981, S. 507–561.

Ders: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. In: Sozialphilosophische und Politische Schriften. München 1981, S. 269–392.

Schirnhofer, Resa von: Vom Menschen Nietzsche. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 22 (1968), S. 250–260.

Sommer, Andreas Urs: „Bismarck ist Nietzsche in Kürassierstiefeln, und Nietzsche … ist Bismarck im Professorenrock“. In: Zeitschrift für Ideengeschichte VIII/2 (2014), S. 51 f.

Stephan, Paul: Bedeutende Bärte. Eine Philosophie der Gesichtsbehaarung. Berlin 2020.

Artikelbild

Jan Matejko: Sobieski bei Wien (1883). Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_am_Kahlenberg#/media/Datei:Sobieski_Sending_Message_of_Victory_to_the_Pope.jpg.

Fußnoten

1: Ecce homo, Warum ich so weise bin, 3.

2: Vgl. etwa den Bericht seiner Freundin Resa von Schirnhofer (Vom Menschen Nietzsche, S. 252). Nietzsche berichtet von dieser Anekdote in mindestens fünf Briefen in den 80er Jahren. An seinen wichtigen Briefpartner Georg Brandes schreibt er etwa am 10. 4. 1888 gleich zu Beginn eines kurzen Lebenslaufs: „Im Auslande gelte ich gewöhnlich als Pole; noch diesen Winter verzeichnete mich die Fremdenliste Nizza’s comme Polonais.“ Für eine vollständige Auflistung jener Briefe vgl. mein eigenes Buch Bedeutende Bärte,S. 101 f., wo ich dem hier beschriebenen Zusammenhang zwischen Nietzsches Bart und seinem ‚Polentum‘ bereits ausführlich nachgegangen bin (vgl. ebd., S. 102–105).

3: Vgl. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 27 f.

4: Vgl. Oehler, Zur Ahnentafel Nietzsches.

5: Nachgelassene Fragmente 1882, 12[2].

6: Vgl. Brief vom 4. 8.

7: Nachgelassene Fragmente 1878, 30[54].

8: Vom Menschen Nietzsche, S. 252. Im erwähnte nBrief an Brandes schreibt Nietzsche auch selbst: „Man sagt mir, daß mein Kopf auf Bildern Matej<k>o’s vorkomme.“

9: Vgl. Dabrowski, Commemorations, S. 59 f.

10: Man betrachte etwa Matejkos Porträt des Königs Stanisław Leszczyński oder die Auflistung alle Könige und Herzöge Polens auf Wikipedia. Im 20. Jahrhundert knüpfte der nationalistische polnische Diktator Józef Piłsudskian diese Tradition an – und sieht damit auf manchen Porträts Nietzsche geradezu zum Verwechseln ähnlich (vgl. etwa dieses Photo).

11: Vgl. auch dazu, wie zum Verhältnis Bismarck/Nietzsche allgemein, ausführlicher Stephan, Bedeutende Bärte, S. 95–99.

12: Nachgelassene Fragmente 1884, 29[23].

13: Zit. n. Sommer, „Bismarck ist Nietzsche …“, S. 52.

14: Vgl. das dort abgebildete Photo und auch Stephan, Bedeutende Bärte, S. 69 f.

15: Vgl. Aph. 254.

16: Nachgelassene Fragmente 1888, 14[182].

17: Nachgelassene Fragmente 1888, 25[1].

18: So heißt es in einem sehr typischen Nachlassfragment: „Beethoven, Goethe, Bismarck, Wagner – unsere vier letzten großen Männer“. Nietzsche preist hier„die monologische heimliche Göttlichkeit der Musik Beethovens, das Selbsterklingen der Einsamkeit,die Scham noch im Lautwerden…“ (ebd.) Kein Wort von Chopin.

19: Vgl. den entsprechen Eintrag auf Wikipedia.

20: Vgl. für eine erste Übersicht den entsprechenden Artikel auf der englischsprachigen Wikipedia.

21: Vgl. Rousseau, Betrachtungen über die Regierung Polens.

22: Für eine etwas wohlwollendere, in manchen Details gegenläufige, Darstellung von Nietzsches Polen-Begeisterung vgl. die entsprechenden Forschungsbeiträge von Christian Benne (Sich sich selber erzählen und Liberum veto).

Ist Nietzsche ein Pubertätsphilosoph?

Ist Nietzsche ein Pubertätsphilosoph?

3.5.24
Natalie Schulte

In ihrem Beitrag zur Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ geht unsere Stammautorin Natalie Schulte der Frage nach, ob man den Denker als „Pubertätsphilosophen“ bezeichnen kann und berichtet über ihre eigene Beziehung zu ihm.

In ihrem Beitrag zur Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ geht unsere Stammautorin Natalie Schulte der Frage nach, ob man den Denker als „Pubertätsphilosophen“ bezeichnen kann und berichtet über ihre eigene Beziehung zu ihm.

Ja, genau, ich leugne es nicht länger, weigere mich nicht, nein, ich gebe es zu, ich gehöre zu denjenigen, die Nietzsches Zarathustra mit 15 Jahren mit Taschenlampe im Bett gelesen haben und sich dem Ideal des Übermenschen, nun, sagen wir mal, recht verbunden fühlten. Gehörte zu den kleinen frühreifen Atheistchen, die jedem noch so aufgeklärten Religionslehrer richtig auf den Senkel gehen, gehörte zu denjenigen, die sich gemeint gefühlt haben, wenn Nietzsche von dem ominösen „wir“ geschrieben hat. Und dann kommt noch hinzu, ich bin niemals davon losgekommen. Ich bin hängen geblieben, bei Nietzsche oder vielleicht auf Nietzsche, habe Abschlussarbeiten über ihn geschrieben und meine Dissertation. Anzumerken ist, zwischendurch gab es auch andere, Kant beispielsweise oder Husserl, aber davon soll dieser Artikel nicht handeln, sondern nur von dem einen, von dem ich nicht losgekommen bin, von dem ich wahrscheinlich nicht wieder loskommen werde, denn seiner einprägsamen Zitate sei Dank sitzt ein kleiner Nietzsche in meinem Kopf und gibt gelegentlich – zum Glück nur gelegentlich! – seinen Senf hinzu.  

Aber warum, so können wir zunächst unbedarft fragen, sollte Nietzsche überhaupt ein Pubertätsphilosoph sein und was impliziert dieser Vorwurf? Nietzsche hoffte lange Zeit auf eine angemessene Reaktion auf seine Philosophie, zumindest auf eine etwas größere Leserschaft, die ihm aber verwehrt blieb. In einem Paket an Mutter und Schwester sendete er unverkaufte Exemplare des Zarathustra als „Bücher-Ballen“ und schrieb lakonisch dazu: „[S]tellt ihn hübsch in eine Ecke und laßt ihn schimmeln“1. In seinen Büchern hadert er mit den Lesern, wünscht sich die richtigen, die Auserwählten und imaginiert sich Millionen von Lesern in Ecce Homo, um dann doch zu fragen: „Hat man mich verstanden?“2. Es gibt gegen Ende etwas intellektuelle Korrespondenz, die über das persönliche Umfeld hinausreicht, beispielsweise mit Georg Brandes, der Nietzsches Philosophie den Beinamen des „aristokratischen Radikalismus“ verpasst, der Nietzsche wohl gefällt,3  und der in der späteren Diskussion um Nietzsches fragwürdigen Ruhm für ihn eintritt. Dennoch, Nietzsche bekommt von seiner Würdigung nichts mehr mit, denn die Welle setzt ein, als er bereits der geistigen Umnachtung anheimgefallen ist. Dann allerdings ist die Woge gewaltig, unter Literaten und unter Künstlern. Gottfried Benn urteilt stellvertretend für eine – seine – ganze Generation: „Er [Nietzsche] ist [...] der weitreichende Gigant der nachgoetheschen Epoche“4. Schließlich muss auch die akademische Philosophie von ihm Notiz nehmen, aber selbstreflektierend fragt sie: Sollte sie das überhaupt? Ist Nietzsche nicht nur ein „Modephilosoph“ (Heinrich Rickert), ein dekadenter, zerstörerischer Aphorismenschreiber, der anstatt zu argumentieren die Leser und Leserinnen mit einprägsamen Bildern überwältigt? Ist Nietzsche nicht vielmehr unter die Künstler und Dichter, wie Alois Riehl zu zeigen versucht,5 zu rechnen, und nur ein wenig, etwas nachhinkend sozusagen, unter die Denker?

Einige wie Ludwig Stein und Ferdinand Tönnies wünschen Nietzsches Einfluss zurückzudrängen, ihnen bangt vor den moralischen und politischen Implikationen, die sie durch Nietzsches Philosophie heraufbeschworen sehen. Ein Amoralismus breche sich in ihr Bahn, eine intellektuelle Zerstörungslust ohne Gleichen. Blind sei, wer nicht erkenne, dass diese Philosophie aufs Schärfste zurückgewiesen werden müsse.

Unter all den harten Vorwürfen wie moralische Verkommenheit, Geisteskrankheit, mangelnde Argumentationsstärke und kaum vorhandene Originalität findet sich auch derjenige von Nietzsches Anziehungskraft auf junge, emotionale und geistig noch nicht stark entwickelte Charaktere, also kurz gesagt – Jugendliche. Diese seien aufgrund ihres heftigen Wunsches nach eigener Genialität, wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit und unreifer Emotionalität besonders geeignet, von einer solchen Philosophie verführt zu werden. Obwohl der Vorwurf geistiger Verführung der Jugend gegenüber einem Philosophen fast so alt ist wie die Philosophie selbst, können wir uns tatsächlich fragen, ob es nicht etwas gibt, das Nietzsche gerade für Jugendliche anziehend macht und es unter Umständen rechtfertigen würde, dass die Herren und Damen Kollegen auch heute noch mit leichter Belustigung auf ihre werten Nietzscheforschenden blicken?

Wer etwas Nietzsche gelesen hat, wird nicht leugnen können, dass dieser in der Sprache der Eindringlichkeit spricht, dass er fordert und warnt, ihm auf seinen Gedankenwegen zu folgen, dass er Persönlichkeitsentwicklungen wie die der freien Geister beschreibt, die wie ein Abenteuer anmuten. Und abenteuerlich ist auch sein Vokabular, es geht auf Ab- und Seitenwege, in Dickichte, das Denken schifft auf hohem Meer, sucht nach neuen Ufern und unentdeckten Ländern, fliegt von Gipfeln in allertiefste Abgründe, ist auf der Jagd und muss befürchten, gejagt zu werden. Dieses Denken ist feuriges Dasein und fordert vom Adepten nichts weniger als das eigene Leben zu ändern, zumindest aber auf den Prüfstand zu stellen, denn „Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?“6 muss sich der Mutige fragen. Dabei bleiben die Metaphern unbestimmt, jeder muss selbst interpretierend eingreifen und deuten, was beispielsweise mit dem Appell zum Häuserbau am Vesuv7 gemeint sein könnte. Es gibt in Nietzsches Philosophie etwas Rastloses, etwas, das bloß nicht stillstehen will, eine Sehnsucht nach der Fremde und den eigenen Entdeckungen, die so groß ist, dass die Liebe zur bisherigen geistigen Heimat in Verachtung umschlagen kann: „Lieber sterben als hier leben“8. Es ist ein Aufbruch ins Ungewisse, das nur schillernd hin und wieder Hinweise darauf gibt oder zu geben scheint, was es ist: Ist es die „grosse Politik“9 oder doch ein Leben als Künstler? Geht es darum, die hiesige Kulturlandschaft zu revolutionieren oder um bloße Selbstgestaltung? Darum, das Glück im Moment oder in momentaner Ewigkeit zu finden oder nicht doch um das eigene Werk?

Und ist all das etwa nicht die perfekte Philosophie für Jugendliche? All das Drängen und Sehnen? Der Wunsch, auserwählt zu sein, eine „eigentliche“ Aufgabe zu haben, und immer die beredte Verachtung für die Behaglichkeit des sich Einrichtens in heimeliger Gemeinschaft, sprich die alltägliche Erwachsenenwelt, wo man sich abgefunden hat, pragmatisch ist und möglicherweise eine realistische, wir können aber auch sagen: ideallose, Selbsteinschätzung gewonnen hat. Und all das wird einem nicht in langer, trockener Abhandlung präsentiert, sondern in kleinen, sprachlich brillanten Häppchen. Man kann das Buch an beliebiger Stelle aufschlagen und sich einen eleganten Spruch einverleiben, da baut doch nichts aufeinander auf, da zielt es nirgendwo in Richtung eines Fazits. Und es fehlt auch die strenge Begriffsarbeit, welche die philosophischen Bücher so öde gestalten, keine zig Definitionen, keine faden Syllogismen. Fachtermini Fehlanzeige und die wenigen unverständlichen, weil beispielsweise lateinischen, Passagen kann man getrost überspringen. Es sind – auch auf die Gefahr hin, einige Nietzsche-Experten zu brüskieren, die behaupten, dass man ihn nicht verstehen könnte, ohne weitreichende Kenntnisse griechischer oder schopenhauerischer oder weiß der Geier welcher Philosophie – Bücher, die wirklich jeder lesen kann und jeder deuten darf. Sie setzen auch kein philosophisches Vorwissen voraus, aber geben ab und zu ein kleines Aperçu zu einem vorgängigen prominenten Denker zum Besten, sodass dem jungen Leser auch gleich die richtigen Vorurteile für sein weiteres Studium mit auf den Weg gegeben werden.

Vielleicht, so können wir gnädigerweise eingestehen, ist es ja ganz schön, wenn jemand durch Nietzsche seinen Weg zur steinigen Philosophie findet, aber was, wenn er dabei bleibt? Sollte man nicht irgendwann den Weg zu einem ernsthaften Philosophieren finden und den pathosgeladenen Ballast hinter sich lassen, sich nüchterner und gelassener mit den Themen auseinandersetzen und gar einen produktiven Beitrag leisten in einer humanitären Gesellschaft, auf die Nietzsche – entschuldigen Sie bitte – gespuckt hätte?

So leicht ist es mit der Bewunderung für Nietzsche allerdings nicht und war es auch schon als Jugendliche nicht. Es gab zu viele Thesen, die nicht nur leicht und spöttisch waren, es gab auch Passagen von triefender Verachtung für die Schwachen, die Mitleidigen, es gab die bösartigen Kommentare über Frauen und die Beschwörung von Führern, wie die Erde sie noch nicht gesehen hat10. „Bist du ein Nietzsche-Fan?“, hat man mich gefragt, als ich Jenseits von Gut und Böse las. Nein, denn es ist unmöglich, ein Nietzsche-Fan zu sein. Es ist zum einen unmöglich, weil es so viele gegensätzliche Thesen gibt, dass kritiklose Zustimmung einen nur in unauflösbare Widersprüche verheddert, die schwerlich zu ignorieren sind. Es ist zum anderen unmöglich, weil Nietzsche sich größte Mühe gegeben hat, nicht sympathisch gefunden zu werden, auch wenn er selbst anderes behauptet. Und es ist ihm gelungen. Nur wer kein Unbehagen bei der maßlosen Selbsterhöhung von Ecce Homo empfindet, keinen Widerwillen beim Sprechen über die „Missrathnen“11, keine Abneigung gegen den Schwulst eines von Tauben und Löwen geliebkosten Zarathustra12 kann in den Rang eines Nietzsche-Fans erhoben werden. Und das muss auch unter Nietzscheanern eine seltene Gattung sein. Ja, man wird angezogen von etwas, das dem eigenen Geschmack zusagt, das ein „Mehr von Leben“  verlangt – und dasjenige, von dem man abgestoßen wird, das gibt Rätsel auf. Welche Aussage von Nietzsche ist die wahre? Diejenige, die ich befürworte oder die, die ich ablehne? Was hat er „eigentlich“ gemeint? Man glaubt, Nietzsche sei der Philosoph der Leidenschaft? Weit gefehlt ... Wie sehr warnt er in Menschliches Allzumenschliches vor der Romantik, im Zarathustra vor der lächerlich-selbstbetrügerischen Projektionskraft der Dichter und Philosophen, wie häufig versucht er zu enttarnen, wie unsere Wünsche und Leidenschaften unser Denken deformieren und – krank machen. Man vergesse nicht: Voltaire, nicht Rousseau ist Menschliches Allzumenschliches gewidmet.  

Hinter jede Aussage über das, was Nietzsche eigentlich meinte, ist zunächst ein Fragezeichen zu setzen. Und mit der Frage beginnt das eigene Philosophieren. Was spricht dafür, dass Nietzsche es so meint und was dagegen? Was wünschst du dir selbst, wenn du Nietzsche so interpretierst? Wie würdest du dafür und wie dagegen halten?

Nietzsche wird nicht klarer mit der Zeit, nicht durchsichtiger. Er wird im Gegenteil immer vielfältiger, immer changierender, ambig. Was ist von einem Pastorensohn zu halten, der im Antichrist mitten in einer Tirade gegen das Schwache, das „Missrathene“, Christliche schreibt, dass jeder, der „Theologen-Blut im Leibe hat [...] von vornherein zu allen Dingen schief und unehrlich“13 stehe? Ist das eine Selbstwiderlegung, ist das Blut geistig zu verstehen, ist das verrückt? Oder spielt da jemand mit dem Leser? Ironisiert sich da jemand, der sich zuweilen als „Hanswurst“14  beschreibt?

Wer ist Nietzsche? Was ist seine Philosophie?

Er lässt einen nicht in Ruhe, er führt in ein Labyrinth, in dem es weniger um das Ergebnis eines Denkens geht als um die vielfältigen Bewegungsrichtungen und schließlich auch um die Sackgassen, die Fehlschläge, die Winkel.  

Man kommt dabei nicht umhin festzustellen, dass das ein oder andere verloren geht, an das man gern geglaubt hätte. Es kann passieren, dass zum Lachen reizt, was andere rührend oder erhebend finden, es kann auch sein, dass die Skepsis gelegentlich gegen sich selbst gerichtet wird bei den wärmenden Gefühlen der Anteilnahme und des Mitleids. Man kommt aus der Beschäftigung mit Nietzsches Philosophie nicht unbeschadet hinaus, aber möglicherweise mit mehr Perspektiven, einem weiteren Horizont und einer Fragwürdigkeit, die das Dasein spannender schillern lässt als jede Antwort, die zufriedengestellt hätte.  

Quellen

Benn, Gottfried: Doppelleben. In: Autobiographische und Vermischte Schriften Bd. 4. Wiesbaden 1977.

Riehl, Alois: Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker. Schutterwald 2000.

Fußnoten

1: Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche vom 16. 4. 1885.

2: Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 7.

3: Vgl. Brief an Georg Brandes vom 2. 12. 1887.

4: Benn, Doppelleben, S. 154.

5: Vgl. seine Monographie Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker von 1897.

6: Ecce homo, Vorwort, 3.

7: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, 283.

8: Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede, 3.

9: Vgl. etwa Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 1.

10: Vgl. Jenseits von Gut und Böse, 10.

11: Der Antichrist, 2.

12: Vgl. Also sprach Zarathustra, Das Zeichen.

13: Der Antichrist, 9.

14: Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 1.

Darts & Donuts
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Ich empfinde alle Menschen als schädlich, welche dem, was sie lieben, nicht mehr Gegner sein können: sie verderben damit die besten Dinge und Personen.

(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

Nietzsche sagt: „ChatGPT ist dumm.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

Nietzsche sagt: „Man soll den Computern misstrauen, sie haben ein Hirn, eine Hand, einen Fuß und ein Auge, aber kein Herz.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.

(ChatGPT auf die Bitte hin, einen Aphorismus im Stile Nietzsches zu verfassen)

Werk. – Es gibt keine irreführendere und falschere Ansicht als die, dass das Schreiben oder das Werk lustvolle Angelegenheiten seien. Es ist ganz das Gegenteil! Das Werk ist einer der größten Gegner und schlimmsten Feinde. Und wer aus Freiheit und nicht aus Gewohnheit schreibt, vermisst an ihm Umgangsformen und Gewissen – der ist ein Schwein!

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Gefährliche Wahrheit. – Viele psychische Pathologien machen ihren Wirt ultrasensibel. Sie bekomme Antennen für die kleinsten seelischen Regungen ihres Gegenübers, sehen den kleinsten Verrat, die kleinste Inkongruenz, den kleinsten Reißzahn, den hässlichsten Hund im Menschen. Als Feind des Menschengeschlechts zückt der Arzt seinen Notizblock und ruft also „die Pfleger“ herein.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Glück: Keinen mehr nötig zu haben und so rückhaltlose Zuwendung sein können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 44)

Dein Rechthaben nicht offen zur Schau stellen. Nie der Weg sein. Dem, der Recht hat, will man leicht Unrechttun und man fühlt sich gemeinsam im Recht dabei, weil das Gefühl für Gleichheit ständig trainiert wird und die Übung der Freiheit eine Seltenheit geworden ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 43)

Wahre Liebe: Durch den Anderen hindurch lieben.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 42)

Zusammensein wollen: Weil es leichter ist? Weil es bereichert? Weil man keinen Willen kennt, der lange Wege allein gehen kann?

(Neue Sprüche und Pfeile, 41)

Helfen wollen: Weil es sichgehört? Weil einem Gleiches widerfahren kann? Weil man hat und gerne gibt? Weil einem nicht die aktuelle Armut betroffen macht, sondern die Schande, dass Chancen ungenutzt bleiben müssen?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 40)

Keine Größe ohne ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten. Aus dem Schein zu einem Mehr an Sein. Aus den Erfolgen der Sprünge in eine Rolle, in der man sich nicht kannte, entsteht der Glaube anein Können, das mehr aus einem machen kann.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 39)

Wem die Stunde schlägt. – Wer sich einen Termin macht, etwa ein Date in zwei Wochen, freut sich, trifft allerlei Vorbereitungen, fiebert darauf hin, hält durch und überlegt, was er sagen soll und so weiter. – Dann ist der Tag da. In der Zukunft glänzte alles noch, fühlte sich anders an. Man denkt sich: Es ist alles ganz wie vorher. Alles, was ich getan habe, war nur Selbstzweck, man erwartete das Warten und Vorstellen und nicht die Sache selbst, nicht den Kairos, den man nicht erwarten kann.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Niederes und höheres Bewusstsein. – Bin ich vor die Wahl gestellt, entweder erdrückt zu werden, tot zu sein und zu schweigen oder zu lästern und ungläubig zu sein – Gift in meinen Drüsen mir zu sammeln, wie mir angeboren, Reptil, das ich bin –, ich würde immer das Zweite wählen und mich niedrig, schlecht, negativ und ungebildet nennen lassen. Lieber will ich mich von meinem Gift befreien als es mir zu Kopf steigen zu lassen. Tritt einer dann in meine Pfützen, sei’s so – gebeten hat man ihn nicht!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Schwere und die Sinnlosigkeitder Dinge. – Wer einmal den unbegründeten Wunsch verspüren sollte, sich über die wesentlichen Dinge Gedanken zu machen, das Sein der Dinge und die Zeit, der ist besser beraten, es zu unterlassen. Der Verstand tendiert dazu, solche Dinge zäh und schwer zu machen. Am Ende findet man sich beim Denken und Überlegen dabei wieder, das Ding selbst nachzuahmen und denkt den Stein, das Stein-Seins, verfällt in gedachte Inaktivität.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Nichts. – In der Indifferenz ist noch alles und jedes zu ersaufen. Der größte Mut, der Hass, die Heldentaten, die Langeweile selbst verschlingt sich und die große Dummheit, Eitelkeit.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Für Franz Werfel. – Ein Autor, der dir sagt: „Ach, meine Bücher…, lass dir Zeit, lies erst dies ein oder andere. Das kann ich dir empfehlen: Ich liebe Dostojewski.“ – Das ist Größe und nicht die eitle Schwatzerei derjenigen, die ihre eigene Person und die Dringlichkeit der eigenen Ansichten vor sich hertragen.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Illusions perdues. – Wieso ist es so,dass das schönste, romantischste, bewegendste, rührendste, herzaufwühlenste Buch gegen die blasseste Schönheit von zweifellos hässlichem Charakter keine Chance hat und so attraktiv wie eine uralte Frau wirkt?

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Wider einfache Weltbilder. – Wir sind ein krankendes Geschlecht; schwitzend, von Bakterien übersät. Wir haben Bedürfnisse, geheimen Groll, Neid; die Haare fallen uns aus, die Haut geht auf mit Furunkeln; wir vertrauen, langweilen uns, sind vorlaut; pöbeln, sind übertrieben schüchtern, schwätzen Unsinn, konspirieren, sind erleuchtet, sind verblendet, eitel, machthungrig, einschmeichelnd, kriecherisch – jenseits von Gut und Böse.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vom Unglauben getragen. – Wie könnte man es nicht anbeten, das großartige formlose Unding, welches das Sein ist? Monströs wie allerfüllend. Das große Nichts, das die Alten die Hölle nannten, qualmt und beschenkt uns mit den schönsten Schatten.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Das herzliche Lachen der Literatur. – Hat jemals ein Mensch, der vor einem Buch saß, sich den Bauch und die Tränen vor Lachen halten müssen? Ich schon; aber nur in der Vorstellung – und aus Schadenfreude über solche Idiotie.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Ananke. – Weil die Literatur, obzwar sie die dümmste, platteste, schlechteste Grimasse der Zeit darstellt, doch von ihr den kleinsten Kristallsplitter Reinheit enthält, ist sie unerbittlich erbarmungslos und erschreckend in ihrer Folge. Wir wissen nur eins: Sie wird kommen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Kind in der Bibliothek. – Die Mutter muss dem Kind verbieten: „Nein, wir gehen nicht da rein!“ Das Kind sagt: „Da!“, und will ein Regal hochklettern. Bücherregale sind Klettergerüste. Weil es das nochnicht gelernt hat, läuft es wie ein Betrunkener nach seiner Mutter.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Authentisch sein wollen: Weil es sich schickt? Weil man die Halbwahrheiten satt hat? Weil man einsah, dass nur ein Eingestehen zu tieferen und offeneren Bindungen führt?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 38)

Herausragend sein wollen: Weil man Bewunderer will? Weil man es den Mittelmäßigen zeigen möchte? Weil man das Banale nicht mehr aushält?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 37)

Weil die Kritik zunehmend nicht widerlegen, sondern vernichten will, ist die gute Moral der Moderne die kategorische Revisionierbarkeit. Sein ist Versuch zum Sein. Daher bemisst sich kompetente Urteilskraft an der Distanz zum guillotinenhaften Verurteilen. Korrekte Korrektheit ist selbstironisch.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 36)

Wer nicht von sich auf Andere schließt, verpasst die Chance zu einer Welt genauso wie jemand, der von Anderen nicht auf sich schließt. Im revidierbaren Mutmaßen lichtet sich das Zwielicht des Miteinanders ein wenig und es erhöht sich die Möglichkeit zu einem halbwegs zuverlässigen Versprechen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 35)

Im Gehen wird das Denken weich und weit. Wer die Welt um sich hat, für den wird das Rechthaben zu einer unschönen Angewohnheit. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, laufen einem die Sätze wie angenehme Begegnungen über den Weg, die einen überraschen mit der Botschaft, wie wunderbar egal man doch ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 34)

Ohne Erfolge wäre das Leben ein Irrtum. Die Karriere ist die Musik des Lebens, auch für die, die sich für thymotisch unmusikalisch halten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 33)

Schonungslose Ehrlichkeit belügt sich selbst, weil es ihr nicht um Wahrheit geht, sondern um den Effekt des Entblößens als bloße Intensität des Auftrumpfens. Sie will nicht aufzeigen, sie will es den Anderen zeigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 32)

Abhängigkeit macht angriffslustig. Man will sich selber beweisen, dass man etwas ist und attackiert die lebenswichtigen Helfer, als wären sie Meuterer. Dabei ist man selbst derjenige, der meutert. Für das klassikerlose Tier gilt: Es gibt ein falsches Leben im richtigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 31)

Sich Zeit lassen, wenn die Zeit drängt. Panik macht ungenau. Fünf vor zwölf ist es immer schon für diejenigen, die überzeugt sind, genau zu wissen, was zu tun ist, ohne dass sie die Komplexität der Lage je verstanden hätten. Es ist die Tragödie des Weltgeistes, dass seine selbsternannten Apostel erst einen überwältigenden Eindruck mit ihrer Entschiedenheit machen und dann einen schockierenden Eindruck mit den Wirkungen ihrer Entscheidungen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 30)

Ein Schreibfehler. – Was heißt erwachsen werden? – ...die kindlichen Züge anlegen ...!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Geschlechterkampf. – Da weder die Auslösung des Mannes noch der Frau zur Disposition steht und politische Macht in der Regel nicht mehr mit physischer Gewalt durchgesetzt wird, sind die mächtigsten Formen der Machtausübung verdeckt: Schuld, Angst, Drohung, Beschämung, Entzug (z. B. von Liebe und Solidarität), Zurschaustellung. Sie alle operieren mit Latenzen und unsichtbaren Scheingebilden, entfesseln dieFantasie.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Gewissensqual über das Gewissen: Das Gewissen, das sich nicht selber beißen lernt, wird zum Mithelfer der Gewissenlosigkeit. Gewissen jedoch als permanenter Gewissensbiss verletzt die Freiheit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 29)

Die erzwungene Höflichkeit provoziert die Lust zur Unhöflichkeit. Die Attraktivität der Sitten bemisst sich daran, wie viel kreative Munterkeit siegestatten. Sitten, die Recht haben wollen, werden unweigerlich zu Unsitten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 28)

Aus dem gefühlten Mangel an Aufmerksamkeit als stiller Angenommenheit entsteht der Hass auf diejenigen, die einen keines Blickes mehr zu würdigen scheinen. Man unterstellt Ungerechtigkeit, wo Freiheit ist, die eine andere Wahl traf. Dies Verdächtigen verhässlicht und entfernt von der Zuwendung, nach der man so sehnsüchtig strebt. Wut, die andauert, wird Hass, der schließlich den Anderen als Gegner wahrnimmt, den man nicht mehr kritisieren, sondern nur noch vernichten will.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 27)

Schatten über der rechten Hand. – Ist der Todesengel derselbe wie der der Liebe? – Erkennen wir nicht den Schatten aneinander, überall?

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Die Freiheit in der Literatur. – Kein Mensch wird geboren und liest „die Klassiker“.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Immerhin. – Man hat als Mensch genug Zeit bekommen, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Respekt. – Da duzt man die Leute undschon verlieren die allen Respekt – Demokratie!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vorsicht. – Unsere Gesellschaft geht von der Maxime aus, dass, wenn jeder gleichmäßig durch Arbeit verbraucht und gleichzeitig durch Geld versklavt, keiner dem anderen mehr etwas antun kann – Ruhe und Frieden herrscht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

 2023. – Wenn die Vorstellung zu sterben und tot zu sein erträglicher ist als die Demütigung einer Arbeit im Büro.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Dada. – Das Heute schafft noch aus dem unsinnigsten Blödsinn eine Ideologie zu machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Das Beständige. – Wenig auf dieser Erde ist ewig und bleibt über die Zeit hinweg erhalten. Bildung nicht, Geschichte nicht, Bräuche nicht, Sitten nicht. Ewig bleiben Dummheit, Eitelkeit, vielleicht Liebe und Spaß, Tränen und Dunkelheit, weil sie Familie sind.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Theater. – Im unerträglichen Theater unserer Zeit will jeder die Guten, die Superhelden spielen und niemand die Bösen. Ihre Zahl ist deswegen zu klein und die der Guten zu hoch. Damit verflachen beide Seiten ungemein und es entsteht die billigste Seifenoper. Wären wir nicht musikalisch begleitet, wir wollten nach Hause gehen, an den Schreibtisch und unsere Charaktere nochmal gründlich überdenken und -arbeiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Mädchen mit einem Korb Erdbeeren. – Das Wetter ist schön. Ich würde eine junge Frau gegen einen Korb Erdbeeren eintauschen, mir ist sklavenherrisch zu Mute.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Gehe denen aus dem Weg, die keine Sympathie für Komplexität erkennen lassen. Der Unwille zum Komplexen ist der trotzige Halt der Haltlosen und der Jungbrunnen der Verbitterten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 26)

Umgedrehter Nietzscheanismus: Die letzten Menschen als diejenigen, die es auf sich nehmen wollen, die letzten Dingen immer wieder zu durchdenken, ohne an den Abgründen zu zerbrechen, die sich dabei öffnen. Ein besseres Beschreiben erzeugt ein Vertrauen, das mit Normalität impft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 25)

Das Ende der Geschichte kann auch gedacht werden als eine Ohnmacht der alten Deutungen in neuen Verhältnissen. Daher wird der historische Sinn gerne kulturkritisch: Da er sich keinen Reim mehr auf die Lage machen kann, werden die Dinge als katastrophisch interpretiert, anstatt die Sicht auf die Dinge zu revidieren.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 24)

Geist als Betrieb: Als museale Hochkulturmode, als andenkenlose Betriebswirtschaft oder als ressentime Kulturkritik-Industrie.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 23)

Wenn man wieder kreativ sein muss. – Wenn der heutige Kulturmensch keine Idee mehr hat, greift er in die Tastatur und schreibt etwas über die Rolle der Frau, BiPoC oder sonst etwas in der Richtung und kommt sich dabei in seiner Armseligkeit nicht nur rebellisch und progressiv vor, sondern wähnt sich auch als kreativ, wenn er mal wieder über die Rolle der Mutter im Patriarchat spricht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fitness. – Ich kann die aufgepumpten jungen Männer mit ihren hantelgroßen Wasserflaschen und Proteinpülverchen nicht mehr sehen. Soll sich in diesen Figuren der feuchte Traum Nietzsches von der Selbstüberwindung des Menschen, seines Körpers und physiologischen Organismus in Form der kommodifizierten Selbstquantifizierung vollends erfüllt haben?

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Sichtbar durch Agitation. – Der Mensch ist das schöne Tier und, ist er wohl versorgt, von außen immer würdevoll. Das will nicht mehr sagen, als dass die Hülle, die die Natur ihm gibt, auch schon das meiste ist und im inneren Hohlraum, fast nur Schatten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Wissenschaftliche Erlösung: Nach einer neuen Erkenntnis der Gehirnforschung ist es unmöglich, zugleich Angst zu haben und zu singen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 22)

Wer die Möglichkeit des Untergehens ständig für realistisch hält, hat es nötig, sich vor sich selbst unauffällig in den Imaginationen des Schlimmsten zuspüren. Der Mangel des Glaubens an sich wird kompensiert mit dem festen Glauben an die Katastrophe.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 21)

Karriere machen, ohne den Verdacht des Egoismus auf sich zu ziehen, anstrengungslos, unterambitioniert. Aber doch das Verlangen, gesehen zu werden in der bemühten Mühelosigkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 20)

Er verzichtete, aber er sah ganz genau hin, wie viel der bekam, der nicht verzichtete. Der schielende Verzicht hat die schärfsten Augen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 19)

Sinn ist der Ersatz für fehlende Initiative. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, wird offen für die Erfindung von Gründen, wer an seinem Zustand schuld sein soll. Die Langeweile der Haltlosen wird zum Verbrechen der Vitalen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 18)

Philologe sein. – Permanentes Standgericht.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Weil es Mut braucht, sich Künstler zu nennen. –  Kunst ist das Gegenteil von Angst.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Leipzig. – Neben einem anarchisch aus dem Fenster hängenden Banner mit der Aufschrift „Lützi bleibt“, das an Klassenkampf, Demo, Streik, Widerstand und Molotov gemahnt, steht das Hauptversammlungshaus der städtischen Kleingartenvereine. Noch zwei Häuserblöcke weiter, ein Yoga-Studio.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Kreative ist nicht apolitisch. Er interessiert sich nicht einmal für Politik. Erst wenn die Räume enger werden, die ihn animieren, beginnt er sich politisch zu engagieren aus apolitischen Motiven.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 17)

Der Verlierer denkt: „Die Wahrheit, die meinen Sieg verhindert, muss Lüge sein!“ Der Sieger denkt: „Solange ich den Sieg nötig habe, habe ich noch nicht gewonnen.“

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 16)

Wer lange genug allein ist, will sich selber nicht mehr verstehen. Darin liegt die Möglichkeit einer reifen Gedankenlosigkeit. Man treibt dann noch Philosophie wie man Jahreszeiten erlebt. Begriffe und Satzfolgen kommen und gehen wie Kastaniengrün und Septemberhimmel.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 15)

Im gelingenden Bewundern überwindet man sich zu sich. Die Unfähigkeit zur Einzigartigkeit steigert den Drang zur Zugehörigkeit. Wenn Konsens zum Kommando wird, wird Freiheit zur Ungerechtigkeit. Diversität als Inklusivität wäre die bereichernde Teilhabe an Liberalität, deren Bewundern man nicht teilen muss. Der Zustand eines vielfachen Desinteresses ist keine Entfremdung oder Ausbeutung. Wer seine Disziplin gefunden hat, verachtet den Einfallsreichtum der Schuldsuche.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 14)

Früher entsprach der Wahrnehmung der Schönheit das Kompliment. Heute scheint es so, als wäre es das Zeugnis einer fortgeschrittenen Form der Anständigkeit, sich dafür zu schämen, diesen Reflex der Entzückung bei sich überhaupt wahrzunehmen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 13)

Die Freudlosen werden leicht die strengen Apostel eines Sinns des Lebens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 12)

Das Gewissen wächst im Horchen auf das Bewirkte. Es formt sich als Ohr der Reue.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 11)

Seine Entscheidungen infrage zustellen, steigert den Sinn für Verantwortung. Man weiß nie, was man alles getan hat. Die Unabsehbarkeit des Anrichtens weist auf die Reue als ständige Option. Daher ist alles Handeln ein Akt der Reuelosigkeit, den man hofft, verantworten zu können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 10)

Hilflosigkeit: Der letzte Stolz.

(Michael Meyer-Albert, Neue Pfeile und Sprüche, 9)

Die Krise lehrt weite Gedanken oder sie verleiht die zweifelhafte Stärke zu einer unschönen Exzentrik.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 8)

Im fehlerhaften Menschen genießt Gott seine Unfehlbarkeit. Im unfehlbaren Gott erträgt der Mensch seine Fehlbarkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 7)

Wer das wilde Leben nötig hat, denkt nicht wild genug. Golden, treuer Freund, ist alle Theorie. Und fahl des Lebens grauer Baum.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 6)

Erst der Wille zum Nichtwissen erlaubt eine Verkörperung der Wahrheit. Das Wort darf nicht ganz Fleisch werden.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 5)

Poesie. –  Eine Definition: Die Summe all’ dessen, was keine öffentliche Redaktion, die auf ihren Ruf, ihr Image und Inserate achten will, veröffentlichen würde.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Fortschritt. – Wenn die Städter auf das Land und seine der Vergangenheit Zeit entstammenden primitiven Sitten süffisant herabblicken, blickt die Zukunft gehässig auf sie, die Idioten, herab.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Glaube daran, dass es keine Wahrheit gäbe, ist selbst wieder eine Wahrheit, die es auf Dauer nicht mit sich aushält. Zweifel wird dogmatisch, depressiv oder paranoid.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 4)

Die Einsamkeit des Philosophen ist seine gute Gesellschaft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 3)

Wissen ist Ohnmacht. Die Mutigsten beherrschen die Kunst des Vergessens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 2)

Von nichts kommt nichts? Wäre dann der, der nichts tut, schuldloser?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 1)

Nietzsche. – Es geht darum Zündkerzen in den Zeitgeist zu setzen. Entzünden sollen sie andere! Wie im menschlichen Körper ein winziger, brennender, strahlender, leuchtender Kristallsplitter Wahrheit in ein System eingesenkt reicht, um ein Gerinnsel und einen Schlaganfall auszulösen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Rotten, Tribalismus. – Der*Die Deutsche ist Neurotiker*In und chronifiziert, staatlich anerkannt feige. Talent ist in Deutschland rar gesät.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Ablehnung. – Man darf nicht vergessen, dass selbst in dem „je te déteste“ oder „tu me détestes“ eine Form von Beziehung steckt. Sie ist nicht Indifferenz, sondern eine Form von Wille, Wunsch oder Velleität des Dialogs.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Schlagfertigkeit. – Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welche geringen Anlässe die Menschen benutzen, um einer den anderen zu demütigen oder auch nur sein kleines Mütchen am anderen abzukühlen. Dennoch: Auch aus der Ablehnung kann noch eine Lust über das eigene Wachstum, eine Lust an der Ablehnung entspringen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Smalltalk. – Aus oberflächlich und anfänglichen Gesprächen lernt man manchmal Leute kennen (oder erzeugen diese Gespräche ihre Menschen?), die, wenn man ihnen zuhört, genau demjenigen Menschenbild der Konkurrenz entsprechen, von dem die Lehrbücher der Ökonomie scheiben, und es gruselt einen. – Ein Scherz, bitte ein Scherz, nur einen, fleht man innerlich! Und zeig mir, dass es ein Mensch ist! – Man einigt sich auf einige Statusmodalitäten der Berufswahl und stellt einige politische Ansichten zur Schau.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Im Dreck spielen. – Im menschlichen Verkehr liegt doch etwas Dreckiges. Die ganze Summe aus Verlogenheit, Untreue, Illoyalität und Machtspielen, die ihn so unappetitlich, aber gleichzeitig schmerzlich wie unerlässlich machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Kleinlichkeit. – Am Ende des Tages – und man glaubt es kaum – kommt es genau auf die Frage an: Willst du Kaffee oder Tee trinken? – Daran entscheidet sich alles! Ich habe mal eine Frau kennengelernt,die nicht mit der Gewohnheit vertraut war, morgens einen Tee oder Kaffee zu trinken. Sie machte sich schlicht keine Gedanken darum, trank vielleicht mal ein lauwarmes Glas Wasser. Sie ist mir dadurch unheimlich und suspekt geworden. – Einen Tag nachdem ich das geschrieben hatte ging mir mein Wasserkocher kaputt. (Höchste göttliche Ahnung!)

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fähigkeit der Vision. — Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man der Vision — das heisst einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen“ — gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

(Nietzsche, Morgenröthe, 66)

„Alle Wahrheit ist einfach.“ — Ist das nicht zwiefach eine Lüge? —

(Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 4)

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