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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien III

Thailand

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien III

Thailand

26.4.25
Natalie Schulte

Neun Monate lang reiste unsere Autorin Natalie Schulte mit dem Fahrrad durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. In ihrem vorletzten Beitrag zur Reihe „Wanderungen mit Nietzsche“ sinniert sie über Begegnungen mit wilden Tieren, die sie auf ihrer Reise getroffen hat oder hätte treffen können. Dass dabei Überlegungen zu der Bedeutung der Tiere, wie sie in Nietzsches Philosophie vorkommen, miteinfließen, wird kaum verwundern.

Neun Monate lang reiste unsere Autorin Natalie Schulte mit dem Fahrrad durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. In ihrem vorletzten Essay zur Reihe „Wanderungen mit Nietzsche“ sinniert sie über Begegnungen mit wilden Tieren, die sie auf ihrer Reise getroffen hat oder hätte treffen können. Dass dabei Überlegungen zu der Bedeutung der Tiere, wie sie in Nietzsches Philosophie vorkommen, miteinfließen, wird kaum verwundern.

Von Tieren als Monstern

Lange bevor es überhaupt nach Südostasien losging, habe ich mich mit dem Thema „wilde Tiere“ auseinandergesetzt. Es war unklar, in welch abgeschiedene Bereiche, in welche Urwälder und Sümpfe wir eintauchen würden. Ich beschäftigte mich also mit der Frage, wie man am besten gegen ein Krokodil kämpft, was bei einem Schlangenbiss zu tun ist oder welches das gefährlichste Tier auf unserer Reise sein würde. Nach meiner Recherche rangierte weit oben, zu meinem eigenen Erstaunen, der Elefant. Dieser träge Dickhäuter mit den schwermütigen Augen und den Augenringen, die mich an lang durchwachte Nächte erinnern, kann in entsprechender Stimmung zum Monster mutieren. Diese Stimmung wird beim männlichen Elefanten ausgelöst durch einen Testosteronschub, welcher die Fortpflanzungsphase einleitet, die als Musth bezeichnet wird. Musth leitet sich aus dem persischen مست (mast) ab, bedeutet so viel wie „unter Drogen“ oder „im Rausch“ und bezeichnet äußerst treffend das Verhalten des Elefanten während dieser mehrmonatigen Periode. Er ist so aggressiv, dass er nicht nur männliche Rivalen attackiert, sondern auch Säugetiere oder unschuldige Gegenstände. Kein Wunder also, dass mich der Gedanke erschaudern ließ, auf einem verschlungenen Urwaldpfad plötzlich einem dicken Elefanten gegenüberzustehen, dem ein schwarzes Sekret an den Schläfen (deutliches Anzeichen der Musth-Phase) herabrinnt. Trotzdem schreckte mich dieses Wissen nicht davon ab, mich weiter in das sonderbare Dickicht detailreicher Artikel vorzuarbeiten.

Gute Unterhaltung

Ich tauchte ein in ein Reich unglaublicher Geschichten, gefährlichster Begegnungen, tödlichster Gifte und ungewöhnlicher Rettungen. Und bald darauf machte ich eine interessante Erfahrung. Selten war in Gesellschaft mein neu erworbenes Wissen so gefragt wie zu dieser Zeit. Jahrelang hatte ich mein Umfeld mit philosophischen Gedanken traktiert, hatte sie zu begeistern versucht für den Unterschied zwischen „transzendent“ und „transzendental“, für die synthetische Einheit der Apperzeption als Bedingung der Erkenntnis oder für die Geheimnisse der ontologischen Differenz. Und dabei hätte ich ihnen einfach etwas über Tiere erzählen müssen, um sie in meinen Bann zu schlagen.

Im Übrigen habe ich keine Entschuldigung, dass ich für diese Erkenntnis so lange brauchte. Zahlreiche Philosophen klagten in ihren Werken über dieses Leid, andere beklagten ihr Publikum. Auch Nietzsche ist bei diesem Thema nicht stumm geblieben. Im Aphorismus 41 der Morgenröthe schlägt er sich sogar auf die Seite des Publikums. So schreibt er, dass die Philosophen gleich den religiösen Naturen immer schon versucht  hätten, „den praktischen Menschen das Leben schwer zu machen und es ihnen womöglich zu verleiden: den Himmel verdüstern, die Sonne auslöschen, die Freude verdächtigen, die Hoffnungen entwerthen, die thätige Hand lähmen“1. Darüber hinaus, gleich den Künstlern, hätten Philosophen einen schlechten Charakter und seien „zumeist unleidlich, launisch, neidisch, gewaltsam, unfriedlich“ (ebd.). Als wäre das alles nicht genug, brächten die Philosophen aber noch eine dritte schlechte Eigenschaft mit, und zwar die Freude am „Dialektische[n], die Lust am Demonstriren“, womit sie „vielen Menschen Langeweile gemacht“ (ebd.) hätten.

Auch Nietzsche – wir wissen es – ist nicht genug gelesen worden, zumindest nicht bevor er, wie wir Nietzscheforscher es pietätvoll ausdrücken, der geistigen Umnachtung anheimfiel. Dabei hat er doch alles richtig gemacht: Zahlreiche Tiere kommen bei ihm vor, Tiger, Schlangen, Flugtiere, Kamele, Löwen, Katzen, Adler, um hier nur einige zu nennen.

Tiger

Mag sein, am Anfang der Geburt der Tragödie wird nicht wirklich viel über, sagen wir mal, Tiger gesprochen. Tiger und Panther, das sind die dionysischen Begleittiere beim Festumzug.2 Aber nach und nach gewinnt der Tiger einen Charakter in Nietzsches Philosophie. Der Tiger ist das Tier, in dessen Zentrum ein großer Wille wohnt: Eine Spannung unter Druck, stets bereit zum Sprung, zum Kampf, zum Ziel. Der Tiger, ein Einzelgänger, ein Raubtier, grausam und gewalttätig.

Trotz Nietzsches Vorliebe für das Amoralische kommt der Tiger dabei nicht immer gut weg. Zarathustra jedenfalls erklärt, dass ihm Tigerseelen nicht gefallen: „Wie ein Tiger steht er immer noch da, der springen will; aber ich mag diese gespannten Seelen nicht, unhold ist mein Geschmack allen diesen Zurückgezognen.“3

Und wer, dem Tiger gleich, auf das große Ziel lauert, alles für die eine Tat aufspart, der läuft Gefahr, dass ihm genau diese Tat nicht gelingt. Die höheren Menschen, denen Zarathustra eine Zeit lang zu Rate steht, nehmen sich auf genau diese Art zu ernst. Sie meinen, der eine Versuch sei alles: „Scheu, beschämt, ungeschickt, einem Tiger gleich, dem der Sprung missrieth: also, ihr höheren Menschen, sah ich oft euch bei Seite schleichen. Ein Wurf missrieth euch.“4

In Südostasien gibt es inzwischen nur noch wenige Tiger. In Vietnam, Laos, Kambodscha sind sie bereits ausgestorben. Der einzige Hoffnungsschimmer ist Thailand. Aber wir werden zum Glück keinem begegnen. Und der einzige Hinweis auf Elefanten sind gelegentliche Straßenschilder, die Autofahrer vor den die Straße kreuzenden Dickhäutern warnt. Einmal jagt uns die Lokalbevölkerung in einem Dorf einen tüchtigen Schrecken ein: Wir wollen gerade Abendessen besorgen, als man uns eindringlich warnt, bei Dämmerung bloß nicht mehr durch die Straßen zu fahren. Das Radio hat berichtet, eine Horde wilder Elefanten streife gerade durch die Gegend. Tollkühnheit (und Hunger) treibt uns dennoch zur Suche, aber nachdem wir mit mulmigem Gefühl und ängstlicher werdenden Blicken in den knackenden Urwald rechts und links der Straße zehn Minuten später immer noch keinen Essensstand gefunden haben, radeln wir eilig zurück zur Herberge und trösten unsere leeren Mägen mit Instant-Nudeln. Die Gefahr der Gefahren bleibt für mich – zum Glück – auch an diesem Abend ein Phantom.

Ungeahnte Gefahr

Viel dominanter, das wissen wir nach wenigen Tagen, ist ein weit weniger exotisches Tier: der Hund. Es gibt zahlreiche Hunde in Thailand. Sie sind uneingeschränktes Lieblingshaustier. Daneben gibt es etliche verwilderte Kläffer sowie kleine und große Rudel. Thailands Straßen (genau wie Vietnams und Kambodschas) verfügen selten über einen Bürgersteig. Das Leben findet auf der Straße statt. Frühmorgens begegnen wir den Hunden, wenn sie auf noch leeren Seitenstreifen als Herren des Wegs breitbeinig patrouillieren gehen. Mittags liegen sie dösend im schmalen Schatten. Das einzige, was sie aus ihrem Schlummer und zu einem kurzen, heftigen Sprint zu bewegen vermag, sind: Fahrradfahrer. Nachmittags künden die Kläffkonzerte den jeweiligen Hostelbesitzern von unserer Ankunft. Ihr Gebell ist unser steter Begleiter.  

Die größte Gefahr besteht darin, dass sie ungesehen, da zuvor im Schatten liegend, direkt auf einen zugeschossenen kommen. Der Schreck verleitet dazu, den Lenker herumzureißen und eine gewagte Kurve in den Schnellstraßenverkehr hinein zu unternehmen. Die zweite Gefahr: von ihnen gebissen zu werden. Tatsächlich scheinen die Hunde aber kaum zu wissen, was sie mit uns anfangen sollen, wenn sie uns eingeholt oder gar überholt haben. Solche siegreichen Erfahrungen vergönnen ihnen die sonstigen motorbestückten Zweiräder nun mal nicht. Ihr Gebell wird verhaltener, eine erhobene Hand lässt sie davonschnellen wie von einem Schlag. Erst in sicherer Entfernung verkünden sie wieder den Machtanspruch ihrer lokalen Gang. Und dann schließlich, nach zwei, drei weiteren lauten Bellern, trollen sie sich: „Denen haben wir‘s gezeigt“, raunt der Anführer seiner Gang beim Rückweg zu.

Ein Hundeleben

Nicht nur in Südostasien ist der Hund viel häufiger als der Tiger, sondern auch bei Nietzsche. Das sprichwörtliche Hundeleben ist elend und erbärmlich und dürfte, nebenbei gesagt, dem Leben vieler Hunde in Thailand durchaus entsprechen. Um das Hundeleben im übertragenen Sinn wiederum geht es Nietzsche, denn, wir haben es schon beim Tiger geahnt, Tiere sind bei Nietzsche häufiger Menschen, genauer gesagt, Menschentypen.

Wer ist also der Typus Mensch, der ein Hundeleben führt? Ist er vielleicht gar ein philosophischer Charakter, der, wir haben es gesehen, in menschlicher Gesellschaft manchmal nicht gut ankommt? Ein einsamer Mensch, ein kontemplativer Geist, der „seiner Begabung unvorsichtig die Zügel schiessen lässt“5, dem kann es, so Nietzsche, leicht passieren, „dass er als Mensch zu Grunde geht und fast nur noch in der ‚reinen Wissenschaft‘ ein Gespensterleben führt.“ (Ebd.) Wer am bereits oben erwähnten dialektischen Hang leidet, „das Für und Wider in den Dingen aufzusuchen“ (ebd.), läuft Gefahr, „an der Wahrheit überhaupt irre“ (ebd.) zu werden, sodass er „ohne Muth und Zutrauen leben muss“ (ebd.) und schließlich ausriefe: „es möchte kein Hund so länger leben!“ (Ebd.)

Einem von der Gesellschaft missverstandenen, ausgeschlossenen Menschen empfiehlt Nietzsche dennoch, im Verkehr mit anderen ausgesucht höflich zu bleiben, denn „[d]er Cynismus im Verkehre ist ein Anzeichen, dass der Mensch in der Einsamkeit sich selber als Hund behandelt.“6

Der Hundehalter

Weit häufiger als man selbst sind es aber andere, die einen als Hund behandeln. Und angesichts einiger Zitate Nietzsches ließe sich fragen, ob man sich nicht hauptsächlich einen Hund deswegen zulegt, um ihn als solchen behandeln zu können. Der Hundehalter als Paradebeispiel eines Menschen, der es nötig hat, seinen Zorn an jemandem auszuleben, der sich nicht wehren wird:  

Das sind mir stolze Gesellen, die, um das Gefühl ihrer Würde und Wichtigkeit herzustellen, immer erst Andere brauchen, die sie anherrschen und vergewaltigen können: Solche nämlich, deren Ohnmacht und Feigheit es erlaubt, dass Einer vor ihnen ungestraft erhabene und zornige Gebärden machen kann! – sodass sie die Erbärmlichkeit ihrer Umgebung nöthig haben, um sich auf einen Augenblick über die eigene Erbärmlichkeit zu heben! – Dazu hat Mancher einen Hund, ein Andrer einen Freund, ein Dritter eine Frau, ein Vierter eine Partei und ein sehr Seltener ein ganzes Zeitalter nöthig.7

Der hündische Charakter

Der einsame Hund – möglicherweise ein Philosoph – ist nun jemand ganz anderes als der hündische Charakter. Zwar haben beide vielleicht gemeinsam, dass man sie ungestraft beschimpfen darf. Aber der hündische Charakter ist einer, der seines Herrn bedarf. Solcherlei Wunsch nach Unterordnung kann Nietzsche freilich nicht gutheißen, nein, unter die Hundeliebhaber ist er wahrlich nicht zu rechnen:  

Denn der Anblick eines Unfreien würde mir meine grössten Freuden vergällen; das Beste wäre mir zuwider, wenn es Jemand mit mir theilen müsste, – ich will keine Sclaven um mich wissen. Desshalb mag ich auch den Hund nicht, den faulen, schweifwedelnden Schmarotzer, der erst als Knecht der Menschen „hündisch“ geworden ist und von dem sie gar noch zu rühmen pflegen, dass er dem Herrn treu sei und ihm folge wie sein [Schatten][.]8

Nephila pilipes

So wie Nietzsche als Wanderer seinen Schatten als Begleitung vorzieht und einsam über die Waldwege Sils Marias zieht, so lassen wir unsere hündischen Begleiter in der wild-bergigen Umgebung von Khao Hua Chang vorerst hinter uns. Dafür schließen wir Bekanntschaft mit einem weiteren Tier, das zwar nicht unbekannt, aber in dieser Größe doch eine außerordentlich beachtliche Sorte ist – eine Spinnenart, in unserem Fall die Nephila pilipes oder phantasieanregender auf Englisch: giant golden orb-weaver spider. Das mehr als handtellergroße Exemplar, das den Eingang unseres Bungalows bewacht, hat ein gut quadratmetergroßes Netz direkt über unseren Köpfen gespannt. Diese Netze sind so fest, dass kleinere Vögel sogar in ihnen gefangen und von den Spinnen gefressen werden, während die größeren, nachdem sie losgekommen sind, sich einem aufwendigen Reinigungsprozess unterziehen müssen, um die Reste des Netzes, das an ihnen hängen blieb, wieder von sich zu entfernen. Definitiv sollten sich Flugtiere von den Fallen der Nephila lieber fernhalten.

Die Tarantel

Die größte Spinne, der Nietzsche begegnet sein könnte, würde vermutlich aus der Familie der Wolfsspinnen stammen, beispielsweise die Lycosa tarantula (Echte Tarantel). Diese war und ist zwar nicht im Engadin heimisch, aber im Mittelmeerraum, z.  B. in Süditalien und Südfrankreich und damit in einer von Nietzsches bevorzugten Klimazonen, wie zahlreiche Aufenthalte belegen. Die Taranteln, die in Nietzsches Philosophie unter anderem im Zarathustra vorkommen, stehen für jene, die Moral predigen, aber aus Missgunst und Neid handeln: „Tarantel! Schwarz sitzt auf deinem Rücken dein Dreieck und Wahrzeichen; und ich weiss auch, was in deiner Seele sitzt. Rache sitzt in deiner Seele: wohin du beissest, da wächst schwarzer Schorf; mit Rache macht dein Gift die Seele drehend!“9 Nietzsche beschreibt sie als vergiftete Wesen, die sich für gerecht halten, in Wahrheit aber aus dunklen Trieben agieren. Rechts- und Linksintellektuelle jeglicher Colour darf die geneigte Nietzsche-Leserin mit den Taranteln assoziieren.

Wahre Künstlerinnen

Während die Wolfsspinne zu den Spinnen gehört, die geschickt ohne Netz jagen, ist unsere Nephila eine Artistin der Webkunst. Zwar machen ihre Gebilde einen etwas desolat chaotischen Eindruck, aber sie ist gleich uns Menschen in der Moderne angekommen und darf sich meinetwegen auch künstlerische Freiheit gönnen. Während wir im Morgengrauen durch die menschenleere Hügellandschaft fahren, säumen die Netze der Nephila rechts und links Palmen wie Strommasten. Tausende und Abertausende Spinnen und Spinnennetze, in denen sich das Licht verfängt.

Verfangen in unseren eigenen Spinnennetzen sind nach Nietzsche wir Menschen allesamt. Eingeschlossen sind wir durch unsere menschlichen Sinne und unser menschliches Denkvermögen in einer Wahrnehmungsweise, die uns immer nur einen Teil der Welt überhaupt sichtbar und begreifbar macht. Wir selbst sind die Spinne, deren Netz nur eine bestimmte Art von Beute fangen kann und für alles andere sind wir blind. So leben wir in unserer menschengemachten Welt und haben keine Ahnung, was sie jenseits der menschlichen Wahrnehmung überhaupt ist:  

Die Gewohnheiten unserer Sinne haben uns in Lug und Trug der Empfindung eingesponnen: diese wieder sind die Grundlagen aller unserer Urtheile und „Erkenntnisse“, – es giebt durchaus kein Entrinnen, keine Schlupf- und Schleichwege in die wirkliche Welt! Wir sind in unserem Netze, wir Spinnen, und was wir auch darin fangen, wir können gar Nichts fangen, als was sich eben in unserem Netze fangen lässt.10

Gefangen und Befreien

Unsere Ideen und Werte und Ideale können ebenfalls als Spinnennetze begriffen werden. Als ihre Denker und Verbreiter basteln wir selber an den Netzen mit, so wie wir als Menschen einer Kultur und einer bestimmten Zeitspanne auch die „Opfer“ der bestehenden sind.  

Indem Nietzsche Zarathustra das Selbstgemachte aller Spinnennetze, aller Ideen – einschließlich Gott – erkennen lässt, fühlt sich dieser von ihnen befreit. Es mag zwar immer noch Netze geben, aber statt eines einzigen Netzes, von dem her überhaupt alles seine Bedeutung empfangen kann, gibt es möglicherweise so viele wie auf der Straße von Khao Hua Chang nach Amphoe Sichon: „Oh Himmel über mir, du Reiner! Hoher! Das ist mir nun deine Reinheit, dass es keine ewige Vernunft-Spinne und -Spinnennetze giebt“11.

Angesichts der Existenz von so vielen Netzen ist es nach Zarathustras Meinung durchaus angebracht, hin und wieder gründlich aufzuräumen, Ideale zu entstauben und die alten Spinnennetze zu entfernen. Während Zarathustra fleißig seine Seele reinigt: „Oh meine Seele, ich erlöste dich von allen Winkeln, ich kehrte Staub, Spinnen und Zwielicht von dir ab“12, mache ich mich, nachdem wir erschöpft in unserem nächsten Zimmerchen ankommen, ganz prosaisch an den Frühjahrsputz.

Chrysopelea ornata

Aber was wäre eine Reise ohne wenigstens ein wirkliches Erschrecken vor einem Tier? In Angkor Wat bin ich einer Schlange begegnet, die so schnell in ihrem Loch verschwand, dass ich mich nicht einmal an ihre Farbe erinnere. Die zweite Schlange macht da schon einen lässigeren Eindruck. Die sich deutlich vom Busch abhebende helle Musterung lässt meinen Blick etwas länger auf dem Schlauch verweilen, der sich im Blätterwerk verfangen hat. Eine hübsche, schlanke Schlange von gelbgrüner Färbung, wie mein messerscharfes Auge nach einem kurzen Moment erkennt. Wir stehen bzw. hängen uns gegenüber, Blick in Blick verhakt, bevor ich, langsam rückwärts weichend, den Rückzug einschlage.

Dass einem Priesterfeind wie Zarathustra Schlangen gefallen, wird wohl nicht verwundern. Die Schlange ist, neben seinem Adler, eins von den zwei symbolischen Begleittieren Zarathustras. Sie steht für die Weisheit und die Wissenschaft, für die Wiederkunft und den Teufel. Nicht selten scheint Zarathustra die Gesellschaft seiner beiden Tiere der menschlichen vorzuziehen und selbst im Vergleich mit den höheren Menschen hat die Schlange einen angenehmeren Geruch.13

Lebensfeindliche Wahrheit  

Aber es wäre wohl kein Buch Nietzsches, wenn es sich gar so eindeutig mit der Schlange verhielte. Es gibt die schwarzen, dicken Schlangen, die sich im Tal des Todes verkriechen, um zu sterben und deren ganze Existenzweise mit einer Form von lebensfeindlicher Weisheit verbunden ist. In einer alptraumhaften Vision sieht Zarathustra eine schwarze Schlange, die einem Hirten „in den Schlund“14 kriecht, um sich dort festzubeißen. Der Hirte droht an der Wahrheit, welche die Schlange symbolisiert, zu ersticken. Die einzige Möglichkeit zu überleben besteht darin, der Schlange den giftigen Kopf abzubeißen. Verschlinge die Wahrheit, die dich zu töten droht, ist ein Aufruf, der sich leichter in symbolischen Bildern als in der Wirklichkeit umsetzen lässt, wie ich befürchte.  

Als ich am Abend auf warmen Steinstufen sitze und in die Nacht hinausblicke, frage ich mich, von welchem Charakter meine Schlange wohl gewesen ist. Das helle, hoffnungsfrohe Grün stimmt mich jedenfalls optimistisch. Es handelt sich bei der gesichteten Schlange um die Chrysopelea ornata, zu Deutsch: Goldschlange. Wenn mich schon dieser Name für sie einnimmt, dann noch mehr die Tatsache, dass es sich um eine flugfähige – na gut, segelfähige – Schlange handelt, die gut und gern 30 Meter per Luft überwinden kann. Eine fliegende Schlange, das ist doch schon fast ein Drache, denk ich mir und nehme sie als gutes Omen.  

Ein klein wenig abergläubisches Spinnennetz, so könnte mir eine Denkerin vorwerfen, muss ich beim Ausmisten wohl vergessen haben.  

Die Bilder zu diesem Artikel sind Photographien der Autorin.  

Fußnoten

1: Morgenröthe, Aph. 41.

2: Vgl. Geburt der Tragödie, Abs. 1 & 20.

3; Also sprach Zarathustra, Von den Erhabenen.

4: Also sprach Zarathustra, Vom höheren Menschen, 14.

5: Schopenhauer als Erzieher, Abs. 3.

6: Menschliches, Allzumenschliches II, Vermischte Meinungen und Sprüche, Aph. 256.

7: Morgenröthe, Aph. 369.

8: Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten, Schlussdialog.

9: Also sprach Zarathustra, Von den Taranteln.

10: Morgenröthe, Aph. 117.

11: Also sprach Zarathustra, Vor Sonnenaufgang.

12: Also sprach Zarathustra, Von der grossen Sehnsucht.

13: Vgl. Also sprach Zarathustra, Das Lied der Schwermuth, 1.

14: Also sprach Zarathustra, Von Gesicht und Räthsel, 2.

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien III

Thailand

Neun Monate lang reiste unsere Autorin Natalie Schulte mit dem Fahrrad durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. In ihrem vorletzten Beitrag zur Reihe „Wanderungen mit Nietzsche“ sinniert sie über Begegnungen mit wilden Tieren, die sie auf ihrer Reise getroffen hat oder hätte treffen können. Dass dabei Überlegungen zu der Bedeutung der Tiere, wie sie in Nietzsches Philosophie vorkommen, miteinfließen, wird kaum verwundern.

Sternenweh

Prolegomena einer Kritik der extraterrestrischen Vernunft

Sternenweh

Prolegomena einer Kritik der extraterrestrischen Vernunft

12.4.25
Michael Meyer-Albert

Am 12. April 1961 glückte dem sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin das Unglaubliche: Als erster Mensch in der Geschichte verließ er die schützende Atmosphäre unseres Heimatplaneten und umrundete in dem Raumschiff Wostok 1 die Erde. 2011 wurde der Jahrestag dieser „übermenschlichen“ Tat zum Internationalen Tag der bemannten Raumfahrt erklärt. Die Sterne sind nun nicht mehr so weit weg. Mit dem erreichten technischen Fortschritt erhält die Phantasie einer Expansion der menschlichen Zivilisation in den Weltraum eine konkrete Plausibilität. Der folgende Text versucht sich auf diese Ausblicke philosophisch einen Reim zu machen und beschreibt zuletzt den Ansatz eines möglichen Weltraumprogramms von Nietzsche her. Zu seinen Lebzeiten gab es zwar noch nicht einmal Flugzeuge, seine Konzepte lassen sich jedoch auf dieses Thema wie sooft trotzdem in produktiver Weise anwenden.

Redaktioneller Hinweis: Einige schwierige Fachbegriffe haben wir in den Fußnoten erläutert.

Am 12. April 1961 glückte dem sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin das Unglaubliche: Als erster Mensch in der Geschichte verließ er die schützende Atmosphäre unseres Heimatplaneten und umrundete in dem Raumschiff Wostok 1 die Erde. 2011 wurde der Jahrestag dieser „übermenschlichen“ Tat zum Internationalen Tag der bemannten Raumfahrt erklärt. Die Sterne sind nun nicht mehr so weit weg. Mit dem erreichten technischen Fortschritt erhält die Phantasie einer Expansion der menschlichen Zivilisation in den Weltraum eine konkrete Plausibilität. Der folgende Text versucht sich auf diese Ausblicke philosophisch einen Reim zu machen und beschreibt zuletzt den Ansatz eines möglichen Weltraumprogramms von Nietzsche her. Zu seinen Lebzeiten gab es zwar noch nicht einmal Flugzeuge, seine Konzepte lassen sich jedoch auf dieses Thema wie sooft trotzdem in produktiver Weise anwenden. Redaktioneller Hinweis: Einige schwierige Fachbegriffe haben wir in den Fußnoten erläutert.
„Er hat des Adlers Auge für die Ferne,
Er sieht euch nicht! – er sieht nur Sterne, Sterne!“
Nietzsche, Ohne Neid

I. Earth Now

Einer der bekanntesten Appelle Nietzsches ist, „der Erde treu bleiben“.1 Damit drückt Nietzsche, wie eine moderne, philosophisch gestimmte thrakische Magd2, aus, dass es entgegen der metaphysischen Dynamik, die den Menschen mit dem Wahnsinn einer überirdischen, vermeintlich wahreren Wirklichkeit infiziert, darauf ankomme, das Humane mit dem Diesseits zu befreunden. Die besondere Schwierigkeit bestünde darin, dass es nach all den Jahrhunderten des kulturellen Trainings mit den Glaubenssätzen und Glaubensgefühlen zu einem Entzug führe, wenn dieses Training ausbliebe: „Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen!“3 Daher wirbt Nietzsche für eine Art philosophischen Gegenwahnsinn gegen den Wahnsinn der religiösen „Hinterwelten“ und als Stütze und Ermunterung für das Durchstehen des Gottesentzugs. Die wahre Enthüllung ist die Offenbarung der Leere und Feindseligkeit der Offenbarung, die den Reichtum des Lebens diffamierte. Solange Gott lebt, muss die Erde tot sein. Erst wenn Gott tot ist, kann die Erde anfangen zu leben. Apocalypse now als earth now.

Abb. 1: Juri Gagarin im Moskauer Kosmonautenmuseum.

II. Erdflucht

Seit einiger Zeit kommt es nun zu einer nachmetaphysischen Form der Untreue zur Erde. Drei Motive lassen sich dabei unterscheiden. Man könnte argumentieren – die Mehr-Wissen-Hypothese –, dass der Drang ins All eine simple Fortsetzung des Forschungsdrangs des Menschen sei. Wenn Aristoteles behauptet, alle Menschen strebten nach Wissen, so wäre das Streben in den Kosmos keine qualitativ andere Form der terrestrischen Versuche Wissen zu schaffen.  

Dass nicht die szientistische, sondern die soziale Deutung der Weltraumfahrt plausibel ist, wird mit dem Hinweis auf die Pläne einer „multiplanetarischen“ Zivilisation, wie sie etwa kreative Unternehmer wie Elon Musk mit seiner Firma „Space X“ beeindruckend erfolgreich vorantreiben, bekräftigt.4  Es lassen sich in den unabstreitbar philantrophischen Intentionen dieser Form der Weltraumkolonisation, die ihren ersten Außenposten auf dem Mars errichten will, auch abgründigere Motive finden. Demnach ist es vor allem ein Fluchtmotiv vor einem Dritten Weltkrieg, womöglich forciert durch den Klimawandel oder aber auch durch die Auswirkungen der Künstlichen Intelligenz, die dazu drängt auf dem Mars – und nicht auf dem zu erdnahen und daher unsicheren Mond – eine Zufluchtsbasis für die menschliche Zivilisation zu errichten. Diese Form der Erdflucht – die Flucht-nach-vorne-Hypothese – ist mit weniger altruistischen Konnotationen belegt, da die Idee einer extraterrestrischen Arche Noah den unnoblen Eindruck macht, womöglich ein Exodus für eine reiche Elite zu sein. Zudem wirft unweigerlich der Schatten der Frage, wer über die Form des sozialen Miteinanders jenseits der Nationalstaaten und Rechtssysteme entscheidet, ein Zwielicht auf die Utopie einer „multiplanetarischen Menschheit“.

Eine dritte Deutung der Abkehr von der Erde – die Wir-wollen-nicht-allein-sein-Hypothese – geht eher von einem psychologischen Motiv aus. Sie unterstellt, dass der Hauptantrieb für die Expansion in die Leere des Alls eine Leere der Psyche sei. Vor allem die Neugier und die Sehnsucht nach anderem intelligenten Leben beflügelt dieses Weltraumverlangen. Das Fermi-Paradox aus dem Jahr 1950 – so viele Jahrmillionen hatte das Leben Zeit und doch empfangen wir keine Signale von anderen hochentwickelten Zivilisationen –, oder auch die Drake-Formel aus dem Jahr 1961 – sie gibt die Variablen an, die die Wahrscheinlichkeit bestimmen, mit der eine Kommunikation einer anderen zur Kommunikation fähigen und willigen intelligenten Zivilisation in unserer Galaxie möglich ist –, sind die prominentesten Beispiele einer theoretisierenden Einsamkeit, die sich nach anderem Leben sehnt. Ein erster konkreter Kontaktversuch bestand in der Arecibo-Botschaft, die Frank Drake zusammen mit Carl Sagan am 16. November 1974 von Puerto Rico aus ins All schickte. Dass derlei Bemühungen aber auch reichlich riskant sein könnten, darauf wiesen realkosmologische Kollegen vehement hin und kritisierten die naive Gesprächsbereitschaft der Arecibo-Botschaft: Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass Außerirdische friedlich seien. Die Weite des Alls sei ein Schutz vor unliebsamen Kontakten. Sie wirke, so grandios veranschaulicht in der zurecht sehr erfolgreichen Trisolaris-Trilogie (ab 2007) von Liu Cixin, wie ein „dunkler Wald“. Egal ob Tragik oder Glück: Die 100 Milliarden Galaxien im All mit ihren jeweils 100 Milliarden Sternen lassen es als sehr wahrscheinlich erscheinen, dass es irgendwo anderes intelligentes Leben gibt. Zugleich lässt aber die Ausdehnung des Universums es als sehr unwahrscheinlich erscheinen, dass eine Kommunikation möglich ist. Auch wenn wir nicht allein sind, sind wir allein.

Dass die Neugier den dunklen Wald zu betreten aber überwiegt, zeigte letztlich das Projekt Breakthrough Starshot, zehn Tage nach der Entdeckung eines erdähnlichen Planeten ausgerechnet in dem erdnächsten Sternsystem Alpha Centauri (4,34 Lichtjahre entfernt) im Jahr 2016 ins Leben gerufen und ironischerweise unterstützt von Stephen Hawking, einem der größten Physiker der letzten Jahrzehnte, der zu den Kritikern der Arecibo-Botschaft gehörte. Ziel ist es bei diesem „Sternenwagnis“ (Sagan), eine Art Kamera so stark zu beschleunigen, dass sie den Exoplaneten in einer relativ kleinen Zeitspanne erreichen kann, um von dort aus Daten zu übermitteln. Vielleicht sind wir dann doch nicht mehr ganz so allein.

Abb. 2: „Let’s go!“ / „Pojechali!“ – Gagarin berühmte letzte Worte vor dem Start seines Raumschiffs auf einem Graffiti in Charkiw.

III. Die Dialektik der Raumfahrt

Am 12. April 1961 gelang dem Kosmonauten Juri Gagarin an Bord des Raumschiffs Wostok 1 in rund 100 Minuten eine Umrundung der Erde. Zwei Jahre später schrieb Adorno in einen Text über Gustav Mahlers Lied der Erde:

Von [der Erde] heißt es [...], dass sie lange – nicht ewig – fest stehe, und der Abschied Nehmende nennt sie gar die liebe Erde, als die im Verschwinden umfasste. Sie ist dem Werk nicht das All, sondern was fünfzig Jahre später die Erfahrung des in großen Höhen Fliegenden einholen durfte, ein Stern. Dem Blick der Musik, der sie verlässt, rundet sie sich zur überschaubaren Kugel, wie man sie mittlerweile aus dem Weltraum bereits fotografiert hat, nicht das Zentrum der Schöpfung sondern ein Winziges und Ephemeres5 […].6

Natürlich muss Adorno als spin doctor einer anonymen Gnosis7 mit formvollendeten Sirenentönen seinen Spekulationen am Ende einen Dreh ins Negative und Entmutigende geben. Er resümiert: „Aber die sich selber ferngerückte Erde ist ohne die Hoffnung, die einst die Sterne verhießen. Sie geht unter in leeren Galaxen. Auf ihr liegt Schönheit als Widerschein vergangener Hoffnung, die das sterbende Auge füllt, bis es erfriert unter den Flocken des entgrenzten Raumes.“8

Gegen Adorno lässt sich aus seinen inspirierenden Gedanken allerdings auch eine philosophisch hoffnungsvollere Botschaft ableiten. Durch das Bedenken der Raumfahrt und nicht nur durch den emotionalen Flug mittels der Musik Mahlers zeigt sich eine „sich selber ferngerückte Erde“ als ephemere Entität. So wird durch den spekulativen Blick des Philosophen die Erde neu entdeckt. Durch das Fernrohr der Gedanken erscheint sie als verwundbare Seltenheit. Das Ganze ist das wahrhaft Verwundbare. Die Erde ist der kosmische safe space. Wenn der späte Heidegger von der Erde als dem „Irrstern“ spricht, so könnte Adorno die Erde als den „ephemeren Stern“ bezeichnen.

Die Dialektik der Raumfahrtprojekte besteht darin, dass ihre Wucht des positivistisch Allgemeinen die basale Fragilität des Lebensraums Erde als schonenswerte Besonderheit offenbart. Die expansive Bewegung ins Unendliche löst eine Besinnung aus, die das Verständnis von Heimat nun in planetarische Maßstäbe setzen kann. Die vollends verlassene Erde strahlt im Zeichen ephemeren Zuhauseseins. Der besinnliche Astronaut kann „unter den Flocken des entgrenzten Raumes“ das Globale als das Lokale denken. Von der ungeheuren atemlosen Kälte des Alls her erfahren wird die Erde zum „global village“ (McLuhan). So gewinnt der Transterrist eine nicht-bodenständige Bodenständigkeit. Sie könnte sich in einem weltoffenen Vorrang für das Autochthone verkörpern. Der Andere wird zum Einheimischen, der seine Fremde behalten darf.

Erst das Curriculum eines zeitweisen Kosmopolitismus befähigt zu einem nicht engstirnigen und nicht formalistischen Kosmopolitismus. Man könnte diesen Erdeignungstest oder terrestrische Matura als „Gagarium“ bezeichnen. Er verlangte für robustere Gemüte eine Flugstunde, für empathische Geiste könnte auch Mahlers Musik oder eine intensivierte philosophische Besinnung ausreichen. In einem so provozierten Jammern und Schaudern wird eine Katharsis ausgelöst: Die in Schrecken versetzende Fremde des bestirnten Himmels um einen gibt einen Sinn für Weltveränderungsideen und ihre strengen Sitten, die zu kategorisch gelebt werden, um für ein allgemeines Dekorum auf der „lieben Erde” zu taugen. Der Stresstest des Im-All-Seins wird so täglich neu bestanden dadurch, dass an Bord des „spaceship earth“ (Buckminster Fuller) alle Systeme nicht nur funktionieren, sondern dass ein ziviles Miteinander herrscht, womit eine Lebendigkeit ermöglicht wird, die sich wieder und wieder übertreffen kann. Nur wer weit weg war, besitzt „die Freiheit, frei zu sein” (Arendt). Erst wenn die „Hausfrömmigkeit“ (Goethe), die nur den Nächsten fördern will, die Weite einer „Weltfrömmigkeit“ erlangt, wird man zum fähigen Kosmonauten in koexistierenden und kokonkurrierenden Mitsprachewelten. Eigentlich hätte Gagarin, könnte man denken, angesichts des autoritären Sozialismus seines Heimatlandes, nach seiner Landung sofort in den liberalen Westen auswandern müssen.

IV. Der „asketische Stern“

Vermutlich wäre für Nietzsche eine zu einer neuen Treue verführende Untreue zur Erde – die Erfahrung des Alls als der Seitensprung, der die offene Ehe mit der Erde bekräftigt – eine verführerische Idee. Andererseits würde er in den Bestrebungen der dreifachen Erdflucht als Wissensdurst, als soziale Fluchtbewegung, als Ausdruck einer Einsamkeit immer noch die metaphysischen Mächte am Werk sehen. Die Dynamik in ein realexistierendes Jenseits auszuwandern, lässt den Reichtum des Diesseits zu unentdeckt. Der expansive Drang ins All zeugt von einer asketischen Sicht auf die irdische, allzuirdische Erden.  

Gegenüber der Aktivität das erdliche Dasein mittels der Raumfahrt zu überwinden, ließe sich Nietzsches Ausbruchsprojekt zu den Sternen als geistige Expedition verstehen. Er ergänzt damit das Gagarium. Ihm kommt es darauf an, die metaphysische Schlacke einer jahrtausendealten Tradition aus den Gedanken und den Gemeinwesen loszuwerden. Nietzsches spekulativer Blick auf die Erde expliziert sie als „asketischer Stern“, als eine planetarische Strafkolonie von ressentimen Gläubigen, die sich das Leben aus metaphysischen Gründen schwer machen:

Von einem fernen Gestirn aus gelesen, würde vielleicht die Majuskel-Schrift unsres Erden-Daseins zu dem Schluss verführen, die Erde sei der eigentlich asketische Stern, ein Winkel missvergnügter, hochmüthiger und widriger Geschöpfe, die einen tiefen Verdruss an sich, an der Erde, an allem Leben gar nicht loswürden und sich selber so viel Wehe thäten als möglich, aus Vergnügen am Wehethun: – wahrscheinlich ihrem einzigen Vergnügen.9

Gegen diese ressentime Lebensform rebelliert Nietzsches Philosophie. Sie tut dies mit der Methode einer redlichen Reflexion. Diese Antiasketik gewinnt aber wieder eine eigene Asketik. In ihren schonungslosen Analysen wird auch an dem verklärenden Ast gesägt, auf dem man selbst sitzt. Es desillusioniert und deprimiert, wenn man die Masse an „Geist der Schwere“10 innewird, die man selber ist: Immer ist da ein Hoffen auf den Advent11, ein Hoffen auf die ultimative Gerechtigkeit des Jüngsten Gerichts, eine sich aufopfernde Empathie für ferne Ungerechtigkeiten, ein Misstrauen gegen die Werke und die Freiheit des Humanen als Erbsünde, ein kategorisches Verurteilen von Verfehlungen von bestimmten Geboten als absolutes Gutsein, eine tragische Trauer um die Ferne zum wahren Sein.

Abb. 3: Gagarin inspiriert die Raumfahrt bis heute: Die NASA-Astronautin Kate Rubins im Juri-Gagarin-Kosmonautentrainingszentrum in Swjosdny Gorodok, Russland (deutsch: „Sternenstädtchen“).

V. Sternwerdung

Nietzsche reflektiert die beschränkenden Effekte der befreienden Reflexion mit. Weil eine schonungslose Selbstanalyse als Dauerzustand zu einer antiasketischen Asketik wird, die leicht den Blick und das Gefühl auf ein Jenseits des asketischen Sterns verliert, braucht es einen guten „Willen zum Schein“12. Genau dieser Schein erscheint für Nietzsche, wie für Adorno, in der Kunst. Kunst gewinnt allerdings für den postwagnerischen Nietzsche eine erweiterte Bedeutung. Kunst wird Lebenskunst. Und Lebenskunst besteht für den freien Geist darin, sich selbst über das Denken in eine „künstlerische[] Ferne“13 zu sich selber zu versetzen. Philosophie ist die Kunst der Zäsur. Der fähige Denker versteht es, Schluss zu machen mit sich als ein Denken. Ein Mittel dafür ist es auch für Nietzsche, sich über seine kosmische Dimension klarer zu werden. Wie auch Adorno kommt Nietzsche zu der Einsicht, dass das bloße Vorhandensein von Leben in der Form des Menschen an sich schon ein unglaublicher kosmologischer Zufall sei. Die astrale Ordnung, in der wir leben und über das Leben nachdenken können, ist, blickt man auf die ungeheuerliche Weite des Alls um uns, eine Ausnahme.14

Dieser Aphorismus ist allerdings auch eine der Stellen, die eine fatale Ambiguität in Nietzsches Denken erkennen lässt. Einerseits folgt er in seinem mittleren und späten Denken der Marschroute, dass die Fragilität des Lebens geschützt werden muss. Das Sein ist zu hart, um es ohne Schein zu ertragen. Lebenskunst ist nötig, um hell zu leben.  

Andererseits ergibt sich, wie etwas aus dieser kosmologischen Reflexion auch eine Sicht auf die Natur als eine brutale Chaotik, die eine eigene Brutalität als eine quasi naturhafte Handlung verstehen lassen. Wenn das Gesetz des Weltalls kalte Chaotik ist, dann kann ein rücksichtsloser Wille zur Macht als gesetzestreue Handlung begriffen werden. Vor allem der späte Nietzsche substanzialisiert zunehmend die zu verklärende Verletzlichkeit des wahrheitsfähigen Tieres falsch zu einer Ontologie des Chaos, die dann einen letalen Naturalismus der Macht legitimiert.

Nietzsche jedoch nur auf diese Lesart zu reduzieren, zeugt selbst wieder von einem philosophischen Willen zur Macht seiner Interpretation. Man verstellt sich so die Sicht auf Nietzsches zukunftsträchtiges Weltraumprogramm. In diesem geht es um eine existenzielle Umwertung der Werte des asketischen Sterns. Nietzsche hegt in seinem Denken die Hoffnung auf einen innerweltlichen Exodus aus der Welt. Es geht darum, sich selbst so zu erziehen, dass man jenseits von Lebensverdruss und ressentimer Vergeltungsgier für diesen Zustand eine intelligente Lebensfreude entwickelt. Ein bloßer Schutz des Ephemeren auf der ephemeren Erde reicht nicht. Es ist zu wenig, nur wokelinks ein behutsamer safe space für den Anderen zu sein und es ist zu wenig, nur wertekonservativ den beruflichen Verpflichtungen der Tagesforderungen gerecht zu werden. Beides wäre zu langweilig, würde in the long run Missvergnügen hervorrufen, was wieder zu den asketischen Intensitäten einer Moral des Verurteilens disponierte. Das Ephemere ist zu steigern zu einer geistig anregenden Lebendigkeit:

Heil euch, brave Karrenschieber,
Stets „je länger, desto lieber“,
Steifer stets an Kopf und Knie,
Unbegeistert, ungespässig,
Unverwüstlich-mittelmässig,
Sans genie et sans esprit!15

Nietzsches Utopie ist es, dass es einmal „Übermenschen“ gibt, die wie unaugustinische, unplatonische Außerirdische untragisch-munter, bei allem Wissen um die Abgründe die Erde bewohnen und sich gegenseitig mit einer „Mitfreude“ beleben, Lichtjahre entfernt von allen arischen Possen der Kraft. Anstatt zu fernen Sterne aufzubrechen, geht es darum, selber Stern zu werden. „Lass leuchten!“ (Peter Rühmkorf) Die Erde wird zum Lernstern, als Trainingscamp für einen planetarischen Esprit. In einem solaren Humanismus wird der Mensch zur Sonne, für sich und andere. Als Sonnenschein der Erde verwirklichen helle Leben dann paradoxerweise den christlichen Auftrag aus Matthäus 5, das „Licht der Erde“ zu sein. Ihr Ja zum Leben ist verbunden mit dem sicheren Willen, nie wieder auf dem asketischen Stern zu leben:

Wozu sollte er wieder hinab in jene trüben Gewässer, wo man schwimmen und waten muss und seine Flügel missfarbig macht! – Nein! Da ist es zu schwer für uns, zu leben: was können wir dafür, dass wir für die Luft, die reine Luft geboren sind, wir Nebenbuhler des Lichtstrahls, und dass wir am liebsten auf Aetherstäubchen, gleich ihm, reiten würden und nicht von der Sonne weg, sondern zu der Sonne hin! Das aber können wir nicht: – so wollen wir denn thun, was wir einzig können: der Erde Licht bringen, „das Licht der Erde“ sein! “16

Ohne eine solche solare Aufklärung wird man bei allen Weltraumexpeditionen – was nicht schwer ist vorherzusehen – immer nur die toxischen Prägungen des „Geistes der Schwere“ exportieren bis sie erfrieren „unter den Flocken des entgrenzten Raumes“17. Ohne eine antiressentime Aufklärung steht die Raumfahrt unter keinem guten Stern. Nur Sterne können zu den Sternen aufbrechen. Weil sie wissen, was sie wollen, besitzt ihr Wollen weniger toxische Nebenwirkungen:

Langsam bis in die Krone verfilzt;
Ausfälle nicht mehr zu leugnen.
Dabei weißt du genau, was du willst:
einmal dich richtig ereignen –18  

Quellen

Adorno, Theodor W.: Mahler. Eine musikalische Physiognomik. In: Gesammelte Schriften Bd. 13. Frankfurt a. M. 1971, S. 149–319.  

Bildquellen

Artikelbild: Sepdet (2018), Quelle: https://www.deviantart.com/sepdet/art/Jurij-Gagarin-743180694

Abb. 1: fiyonk14 (2020), Quelle: https://www.deviantart.com/fiyonk14/art/Yuri-Gagarin-837583118

Abb. 2: V.Vizu (2008), Quelle: Wikimedia

Abb. 3: NASA/Stephanie Stoll (2016), Quelle: https://www.flickr.com/photos/nasa2explore/26685986293/

Fußnoten

1: Vgl. Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3.

2: Eine thrakische Magd soll den ersten abendländischen Philosophen, Thales, der Legende nach verspottet haben, weil er bei der Beobachtung der faszinierendn Sterne in einen Brunnen gefallen war.

3: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 109.

4: Vgl. die Webseite von „Space X“.

5: Anm. d. Red.: Von altgriechisch ephēmeros; nur einen Tag lang dauernd, vergänglich.

6: Adorno, Mahler, S. 296 f.

7: Anm. d. Red.: „Gnosis“ meint die Überzeugung, dass die Welt, in der wir leben, nicht die Schöpfung Gottes, sondern eines untergeordneten, bösartigen „Demiurgen“ ist.

8: Ebd., S. 297.

9: Zur Genealogie der Moral, 3. Abh, Abs. 11.

10: Vgl. Also sprach Zarathustra, Vom Geist der Schwere.

11: Anm. d. Red: Der Begriff „Advent“ bezeichnet neben der ersten Ankunft Christi seine Wiederkunft.

12: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 230.

13: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 107.

14: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 109.

15: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 228.

16: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 293.

17: Adorno, s. o.

18: Rühmkorf, „Lass leuchten!“

Sternenweh

Prolegomena einer Kritik der extraterrestrischen Vernunft

Am 12. April 1961 glückte dem sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin das Unglaubliche: Als erster Mensch in der Geschichte verließ er die schützende Atmosphäre unseres Heimatplaneten und umrundete in dem Raumschiff Wostok 1 die Erde. 2011 wurde der Jahrestag dieser „übermenschlichen“ Tat zum Internationalen Tag der bemannten Raumfahrt erklärt. Die Sterne sind nun nicht mehr so weit weg. Mit dem erreichten technischen Fortschritt erhält die Phantasie einer Expansion der menschlichen Zivilisation in den Weltraum eine konkrete Plausibilität. Der folgende Text versucht sich auf diese Ausblicke philosophisch einen Reim zu machen und beschreibt zuletzt den Ansatz eines möglichen Weltraumprogramms von Nietzsche her. Zu seinen Lebzeiten gab es zwar noch nicht einmal Flugzeuge, seine Konzepte lassen sich jedoch auf dieses Thema wie sooft trotzdem in produktiver Weise anwenden.

Redaktioneller Hinweis: Einige schwierige Fachbegriffe haben wir in den Fußnoten erläutert.

Eine schrecklich nette Familie

Nietzsche als Hausfreund der Wagners im „Tribschener Idyll“

Eine schrecklich nette Familie

Nietzsche als Hausfreund der Wagners im „Tribschener Idyll“

6.4.25
Christian Saehrendt

Richard Wagner lebte sechs Jahre lang am Vierwaldstättersee. Er hatte das Landhaus der Luzerner Patrizierfamilie Am Rhyn, das in schöner landschaftlicher Lage am Tribschenhorn errichtet worden war, im April 1866 mieten können. Nietzsche war in jener Zeit häufig dort Gast gewesen und genoss den Familienanschluss. Es war für ihn eine Episode, die ihn lebenslang prägte, sodass man die Auseinandersetzung mit Wagner – in ihrer ganzen Palette von unbedingter Adoration bis rüder Ablehnung – vielleicht sogar als Herzstück seines Denkens betrachten kann. Heute befindet sich in dem Gebäude das Richard Wagner Museum. Dessen aktuelle Sonderausstellung thematisiert den Antisemitismus des Komponisten.

Richard Wagner lebte sechs Jahre lang am Vierwaldstättersee. Er hatte das Landhaus der Luzerner Patrizierfamilie Am Rhyn, das in schöner landschaftlicher Lage am Tribschenhorn errichtet worden war, im April 1866 mieten können. Nietzsche war in jener Zeit häufig dort Gast gewesen und genoss den Familienanschluss. Es war für ihn eine Episode, die ihn lebenslang prägte, sodass man die Auseinandersetzung mit Wagner – in ihrer ganzen Palette von unbedingter Adoration bis rüder Ablehnung – vielleicht sogar als Herzstück seines Denkens betrachten kann. Heute befindet sich in dem Gebäude das Richard Wagner Museum. Dessen aktuelle Sonderausstellung thematisiert den Antisemitismus des Komponisten.
Abb. 1: Die monströse Wagner-Büste im Garten des Wagner Museums. Thomas Hunziker schuf das Werk im Auftrag der Schweizerischen Richard-Wagner-Gesellschaft. (Foto: Saehrendt 2024.)

I. Daddy issues und Manipulation

Wagner vollendete in diesem herrschaftlichen Anwesen die Werke Meistersinger von Nürnberg und Siegfried, er setzte dort die Arbeit an der Götterdämmerung fort und komponierte den Huldigungsmarsch sowie das Siegfried-Idyll. In jenem Landhaus überarbeitete er allerdings auch sein verheerendes Pamphlet Das Judenthum in der Musik. Wenige Wochen, nachdem Wagner in Tribschen eingezogen war, besuchte ihn dort seine Geliebte Cosima von Bülow. Das erste gemeinsame Kind von Cosima und Richard, die 1865 geborene Isolde, hatte Cosima noch ihrem Mann als Kuckuckskind unterschieben können.1 Erst zwischen ihren Töchtern und ihrem Ehemann Hans in München und Wagner in Tribschen pendelnd, übersiedelte Cosima schließlich dauerhaft mit ihren Kindern an den Vierwaldstättersee. 1867 kam hier Tochter Eva zur Welt und 1869 wurde Wagners einziger Sohn Siegfried geboren. Im gleichen Zeitraum hatte Hans von Bülow, ebenfalls ein ergebener Wagner-Fan, in die Scheidung von Cosima eingewilligt, so dass diese Richard im August 1870 in der protestantischen Gemeinde der Matthäuskirche in Luzern heiraten konnte. Als Wagners repräsentatives Domizil entwickelte sich das Landhaus Tribschen nun zum Treffpunkt seiner prominenten Förderer und Bewunderer, hier sind vor allem zu nennen: der bayrische König Ludwig II., Cosimas Vater Franz Liszt und eben – Friedrich Nietzsche.

Die von Anfang an fragile und beiderseits mit hohen Erwartungen aufgeladene Freundschaft Nietzsches mit Richard Wagner bestand zehn Jahre und schlug schließlich in heftige Abneigung um. Genauer betrachtet war es auch keine ebenbürtige Freundschaft, sondern eine Vater-Sohn-Beziehung: Wagner diente als (Ersatz-)Vaterfigur2 und der weit jüngere Nietzsche wurde von dieser Beziehung viel stärker geprägt als Wagner. Nietzsche blickte vor allem anfänglich schwärmend zum „Genie“ Wagner auf, während Wagner Nietzsche auch unter Aspekten der Nützlichkeit betrachtete. In diesem Sinn nutzbringend angelegt war die Gastfreundschaft, die Nietzsche zwischen 1869 und 1872 in Wagners Villa in Tribschen genoss und die ihn zu insgesamt dreiundzwanzig Aufenthalten dort bewegte. Die Wagners hatten ihm im Haus sogar ein eigenes Zimmer eingerichtet. Er hat die Zeit dort im Rückblick als die glücklichste seines Lebens beschrieben.3 Zudem hält sich Nietzsche zu den wenigen Auserwählten, die frühzeitig Wagners Genius in vollem Umfang erkannt haben wollten. Er ist in Tribschen stets willkommen, selbst als Cosimas Entbindungstermin ansteht, soll Nietzsche einen lange zuvor geplanten Besuch nicht verschieben, sondern als Glücksbringer und Pate für den kleinen Siegfried anreisen. Er bekommt engen Familienanschluss und wird von Wagner, der erst spät Vater wurde, quasi adoptiert: „Genau genommen sind Sie, nach meiner Frau, der einzige Gewinn, den mir das Leben zugeführt: nun kommt zwar glücklicherweise noch Fidi [sein Sohn; Anm. CS] dazu, aber zwischen dem und mir bedarf es eines Gliedes, das nur Sie bilden können, etwa wie der Sohn zum Enkel.“4 Cosima und Richard sehen in Nietzsche zeitweilig einen potentiellen Mentor und Erzieher ihres ersten Sohnes, der eine außergewöhnliche Ausbildung erhalten soll. Es erstaunt heute, dass die Geistesgröße Friedrich Nietzsche bei seinen Besuchen auch höchst profane Aufgaben im Haushalt übernimmt wie das Aufstellen eines Puppentheaters oder die weihnachtliche Dekoration der Stube, zudem macht er Besorgungen und Schreibarbeiten für Richard. Doch diese Dienste führt Nietzsche gerne aus, waren sie doch Zeichen seiner Integration in die Familie und des Vertrauens seines Ersatzvaters Richard.

Abb. 2: Das Wagner-Museum wirbt mit Nietzsche: Ankündigungsplakat für Veranstaltungen im Museum, u. a. für den Vortrag Friedrich Nietzsche und Richard Wagner – Stationen einer Sternenfreundschaft von Joachim Jung, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Nietzsche-Haus in Sils Maria. / Das Landhaus der Luzerner Patrizierfamilie Am Rhyn am Tribschenhorn. (Fotos: Saehrendt 2024)

II. Verehrung und Verrat

Zu jener Zeit tritt Nietzsche als ergebener Fan Wagners auf und wirbt in seinem Bekanntenkreis für ihn. Werner Ross zufolge heuerte Wagner Nietzsche de facto als akademisches PR-Zugpferd an und sorgte persönlich dafür, dass er eine Professur in Basel erhält.5 Wagner brauchte einen aufstrebenden Intellektuellen, der die Hochwertigkeit seines musikalischen Projekts beglaubigt. Durch die familiäre Einbindung wird der Einfluss auf Nietzsche verstärkt. Dieser liefert prompt: Die Geburt der Tragödie, das erste bedeutende Werk Nietzsches, enthielt ein Vorwort an Richard Wagner und war explizit ihm gewidmet. Nietzsche stellte Wagner darin als möglichen Neubegründer einer der griechischen vergleichbaren Kultur dar und distanzierte sich als bekennender Wagnerianer zugleich von der wissenschaftlichen Philologie. Nach dem akademischen Misserfolg seiner Geburt der Tragödie erwägt Nietzsche zeitweilig, die Universität zu verlassen, um deutschlandweit in Vorträgen für die Bayreuther Festspiele zu werben. Die Wagners raten davon ab und versuchen Nietzsche eher darin zu bestätigen, in der philologischen Akademikerzunft zu bleiben, weil er ihnen als ordentlicher Professor nützlicher zu sein scheint.6 Allerdings blockiert die ablehnende Rezeption der Geburt der Tragödie durch seine akademische Peer Group Nietzsches weitere wissenschaftliche Karriere – als Philologe ist er quasi ruiniert und wird somit als akademischer Kronzeuge für Wagner wertlos. Die erotisch-platonische Lockvogelrolle, die Cosima in Bezug auf Nietzsche spielte, hatte sie zuvor bereits an dem jungen bayrischen König Ludwig II. erprobt. Richard Wagner selbst war es, der die Brieffreundschaft zwischen Ludwig II. und Cosima initiierte. In Cosima glaubte Ludwig eine Seelenverwandte gefunden zu haben, mit der er gemeinsam Wagner auf geistiger Ebene huldigen konnte. Umso größer war seine Enttäuschung, als er von der sehr prosaisch-körperlichen Liaison Cosimas mit Wagner erfuhr. Sein offenherzig-schwärmerischer Austausch mit Cosima war nun abrupt beendet. Bis 1885 schrieb er nur noch selten, kurz angebunden und sachlich. Später wurde deutlich – ähnlich wie im Falle Nietzsches – wie abfällig die Wagners, die ausgerechnet am 25. August, an Ludwigs Geburtstag (und Nietzsches späterem Todestag!) in Luzern getraut wurden, über ihn dachten und sprachen. Cosima nennt ihn 1869 in ihrem Tagebuch einen „Crétin“7 mit „Sparren im Kopf“ (ebd.). Und ihren Gatten zitiert Cosima, der über das Dreiecksverhältnis wie folgt urteilte: „Du bist die Schwester des Königs von Bayern, ihr habt euch die Hände gereicht, um mein Leben zu erhalten, er freilich als törichtes Wesen, du als gutes Weib.“ (ebd.)

Nach Ludwig wird auch mit Friedrich abgerechnet. Die von den Wagners forcierte familiäre Einbindung erklärt vielleicht auch den späteren heftigen Groll, die Empfindung des „Vaterverrats“ der Wagners gegenüber Nietzsche, nachdem dieser sich von Richard distanziert hatte. Auch für Nietzsche war die nachträgliche Entzauberung des Tribschener Idylls ein aufwühlendes Ereignis, und die Auseinandersetzung mit Wagner blieb für ihn bis zuletzt hochgradig emotional. Thomas Mann hat in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (1917) vom „grotesken Spätstil“ Nietzsches gesprochen, Ausdruck einer „Lebenstragödie, in die das Gekicher klinischen Größenwahns schon vernehmlich hineinklang.“ Dies habe auch explizit Nietzsches Äußerungen über Wagner betroffen: „Seine Psychologie des Christentums, Wagners, des Deutschtums etwa war grotesk-fratzenhafte Fanatiker-Psychologie.“ (S. 338 f.) Man darf bei der Bewertung der Beziehung zwischen Wagner und Nietzsche eben nicht vergessen: Wagner war eine idealisierte (Ersatz)-Vaterfigur gewesen, nicht ein ebenbürtiger Freund Nietzsches. „Um in Wagner zu finden, was er suchte, musste er sich die wirkliche Persönlichkeit Wagners erst zum Idealbild vergrößern,“ sagte Rudolf Steiner in seiner Nietzsche-Gedächtnisrede am 13. September 1900 in Berlin, und kommentierte die Entzweiung der beiden: „Nietzsche ist nicht von dem wirklichen Wagner abgefallen, denn er war ja niemals dessen Anhänger, er wurde sich nur klar über seine Täuschung.“8 Ein sachliches Urteil über Wagner war Nietzsche unmöglich, er schwankte zwischen früher glühender Liebe und später kalter Verachtung. Cosima spielte in diesem Kontext eine mehrdeutige und wichtige Rolle.

In mehreren Briefen an diverse Adressaten kommt Cosima auf den verstorbenen Nietzsche zu sprechen, ihre derartigen „Nachrufe“ sind unfassbar gemein. Cosima Wagner und Houston Stewart Chamberlain, der Schwiegersohn Richard Wagners und ein einflussreicher Antisemit seiner Zeit9, diskutierten im Briefwechsel mehrfach die Idee, Chamberlain könne ein Buch über Nietzsche verfassen, um der florierenden Nietzsche-Rezeption entgegenzutreten, die beiden höchst zuwider war. Schließlich handele es sich um die „Werke eines Wahnsinnigen“10, der nun posthum Ruhm ernte, „gespendet von einer verwahrlosten Bildungscanaille“ (ebd.), schäumte Chamberlain. Die um 1900 verstärkt einsetzende Nietzsche-Verehrung in der Kunstszene und im Bildungsbürgertum sah Chamberlain als wahre „Epidemie“11, die sich durch ein Buch, eine Gegenschrift, nicht stoppen lasse. Gegen diesen „Wahn“ (ebd.) könne man „mit Widerspruch nicht viel ausrichten. Man muss isolieren, was sich noch intakt befindet, die Krankheit sich austoben lassen und dann mit Positivem bei der Hand sein.“ (Ebd.) Cosima gibt im Blick auf Nietzsches Persönlichkeit zu bedenken: „Auch die Rasse spricht hier. Er war slawischen Ursprungs.“12 Nietzsche und seine Gedankenwelt wird von beiden posthum als etwas Krankes, Ansteckendes, Fremdes denunziert – mehr Verrat dieser „schrecklich netten Familie“ an ihrem früheren „Sohn“ ist kaum denkbar.  

Abb. 3: Blick in den Salon des Museums mit dem Wagners berühmten Érard-Flügel. (Foto: Saehrendt 2024.)

III. Zu Besuch im Museum

1931 kaufte die Stadt Luzern das Landhaus der Familie Am Rhyn und verwandelte es bald darauf in das „Richard Wagner Museum“13. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten wurde eine Reihe von Möbelstücken, Instrumenten, Kunstwerken und Dokumenten durch das Museum erworben oder dauerhaft entliehen, so dass heute eine ungefähre Vorstellung von der ursprünglichen Ausstattung des Hauses möglich ist. Im Erdgeschoss, vor allem im Salon mit Seeblick, sind wieder antike und reich verzierte Möbel zu sehen. An den Wänden hängen mehrere Werke Franz von Lenbachs, die Cosima und ihren ersten Mann Hans von Bülow zeigen. Die ursprüngliche Ausstattung der Räume war noch weit prächtiger gewesen. Wagner hatte eine auffällige Präferenz für teure und taktil reizvolle Stoffe wie Samt und Seide sowie für extravagante Kleidung. Dank des umfangreichen Sponsorings des Königs von Bayern konnte Wagner diese Obsession (die möglicherweise fetischistisch-sexuell bzw. transvestitisch motiviert war)14 in den Räumen der Villa Am Rhyn voll ausleben. Seidene Hausschuhe im Bestand der Sammlung zeugen noch heute davon. Das Schmuckstück der Dauerausstellung ist jedoch Wagners Pariser Érard-Flügel (Baujahr 1858), zu dem er eine enge Bindung hatte. Wagner ließ ihn sich mehrmals bei Umzügen nachsenden, musste ihn aber eines Tages notgedrungen verkaufen – um ihn nach einigen Jahren, als er wieder „flüssig“ war, wieder zurückzukaufen. Nach mehrmaliger und umfangreicher Restaurierung wird er noch heute benutzt, wenn Konzerte anlässlich der öffentlichen Museumsführungen stattfinden.15

Abb. 4: Wagners Totenmaske in graziler Tischvitrine. Ausstellungsobjekt im Wagner Museum. / Marmorbüste Cosimas im Salon des Wagner-Museums. Kopie (1906) der Plastik von Gustav A. Kietz, Bayreuth 1873. Im Hintergrund ist ein Gemälde zu sehen, das den Wagner-Hauptsponsor Ludwig II. zeigt. (Fotos: Saehrendt 2024.)

IV. Wagners Antisemitismus

Das geistige Klima im Hause Wagner, ob in Luzern oder später in Bayreuth, war von Antisemitismus geprägt. Nicht nur überarbeitete Wagner in Tribschen sein Pamphlet über Das Judenthum in der Musik, auch Cosima, beeinflusst von einer konservativen katholischen Erziehung und vom Antisemitismus ihres ersten Mannes, ließ kaum eine Gelegenheit aus, gegen Juden zu hetzen. „Über die Juden Gehässigkeiten auszutauschen, sich lachend miteinander in Abfälligkeiten zu verständigen, war eine immer wiederkehrende Situation zwischen Cosima und Wagner“, resümiert Sabine Zurmühl in ihrer Cosima-Wagner-Biographie.16 Lange Zeit spielte Wagners Antisemitismus in der Dauerausstellung des Wagnermuseums kaum eine Rolle. Das Luzerner Stadtparlament hat in den vergangenen Jahren das Museum, welches eine städtische Einrichtung ist, dazu aufgefordert, den Antisemitismus Wagners und die eigene Gründungsgeschichte, die ja noch in einem Wagner-unkritischen Zeitgeist erfolgt war, genauer zu untersuchen. Dabei sollen die Geschichte des Hauses, die Person Richard Wagner und die Rolle der Stadt Luzern durch eine unabhängige Projektgruppe beleuchtet werden. In der neuen Sonderausstellung Tabu Wagner? Jüdische Perspektiven wird seit April dieses Jahres Wagners Antisemitismus ausdrücklich thematisiert. Dabei soll erörtert werden, wie Wagner und seine Judenfeindlichkeit heute auf Juden und Jüdinnen wirkt und inwieweit sein Werk deshalb als tabubelastet gelten darf.

Quellen

Wagners Érard-Flügel. In: Richard Wagner Museum, online: https://www.richard-wagner-museum.ch/geschichte/fluegel-von-erard/

Alschner, Stefan: Wozu das denn? Richard Wagners rosa Schlafrock. In: DHM-Blog, 11.05.2022. Online: https://www.dhm.de/blog/2022/05/11/wozu-das-denn-richard-wagners-rosa-schlafrock/

Bermbach, Udo: Die Frau, die Richard Wagner überragte. In: NZZ, 13.08.2023. Online: https://www.nzz.ch/feuilleton/die-frau-die-richard-wagner-ueberragte-ld.1750646

Borchmeyer, Dieter: Nietzsche, Cosima, Wagner. Porträt einer Freundschaft. Frankfurt a. M. 2008.

Gohlke, Christian: Die Schwester des Märchenkönigs hielt ihn für einen „Crétin“. In: NZZ, 31.05.2021. Online: https://www.nzz.ch/feuilleton/cosima-wagner-und-ludwig-ii-die-schwester-des-maerchenkoenigs-ld.1626954

Janz, Curt Paul: Das Gesetz über uns. Friedrich Nietzsches Wagner-Erfahrung. In: Thomas Steiert (Hg.): Der Fall Wagner. Ursprünge und Folgen von Nietzsches Wagner-Kritik. Bayreuth 1991, S. 13–32.

Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen. Frankfurt a. M. 1956.

Pretzsch, Paul (Hg): Cosima Wagner und Houston Stewart Chamberlain im Briefwechsel 1888–1908. Leipzig 1934.

Ross, Werner: Der wilde Nietzsche oder die Rückkehr des Dionysos. Stuttgart 1994.

Steiner, Rudolf: Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit. Dornach 1963.

Zelger-Vogt, Marianne: Wahn ohne Frieden. Wenn eine Mutter die eigene Tochter verleugnet. In: NZZ, 29.06.2023. Online: https://www.nzz.ch/feuilleton/wahn-ohne-frieden-als-cosima-wagner-die-eigene-tochter-verleugnete-ld.1744651

Fußnoten

1: Vgl. Zelger-Vogt, Wahn ohne Frieden.

2: Vgl. Janz, Das Gesetz über uns, S. 21.

3: Vgl. Borchmeyer, Nietzsche, Cosima, Wagner, S. 13.

4: Zit. n. ebd., S. 34.

5: Vgl. Der wilde Nietzsche oder die Rückkehr des Dionysos, S. 52.

6: Vgl. ebd., S. 43.

7: Gohlke, Die Schwester des Märchenkönigs hielt ihn für einen „Crétin“.

8: Rudolf Steiner, Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit, S. 178.

9: Chamberlain legte mit seinen Grundlagen des 19. Jahrhunderts eine Kompilation Wagnerscher Ideen und Thesen Arthur de Gobineaus vor und folgerte, dass die „germanische Rasse“ zur Führung der Welt bestimmt sei. Bis 1915 gab es elf Auflagen. Eine Volksausgabe wurde 100.000fach unter deutschen Soldaten verteilt.

10: Paul Pretzsch (Hg.), Cosima Wagner und Houston Stewart Chamberlain im Briefwechsel, S. 613 (Bf. v. 9. 3. 1901).

11: Ebd., S. 612 (Bf. v. 9. 3. 1901).

12: Ebd., S. 502 (Bf. v. 6. 1. 1897). (Anm. d. Red.: Zu Nietzsches vermeintliche polnischen Wurzeln vgl. auch Paul Stephans entsprechenden Artikel auf diesem Blog.)

13: Für mehr Informationen zum Museum vgl. dessen Website.

14: Vgl. Stefan Alschner, Wozu das denn?

15: Vgl. Wagners Érard-Flügel.

16: Sabine Zurmühl: Cosima Wagner – ein widersprüchliches Leben (Köln 2022). Zit. n. Udo Bermbach, Die Frau, die Richard Wagner überragte.

Eine schrecklich nette Familie

Nietzsche als Hausfreund der Wagners im „Tribschener Idyll“

Richard Wagner lebte sechs Jahre lang am Vierwaldstättersee. Er hatte das Landhaus der Luzerner Patrizierfamilie Am Rhyn, das in schöner landschaftlicher Lage am Tribschenhorn errichtet worden war, im April 1866 mieten können. Nietzsche war in jener Zeit häufig dort Gast gewesen und genoss den Familienanschluss. Es war für ihn eine Episode, die ihn lebenslang prägte, sodass man die Auseinandersetzung mit Wagner – in ihrer ganzen Palette von unbedingter Adoration bis rüder Ablehnung – vielleicht sogar als Herzstück seines Denkens betrachten kann. Heute befindet sich in dem Gebäude das Richard Wagner Museum. Dessen aktuelle Sonderausstellung thematisiert den Antisemitismus des Komponisten.

Bangladesch begehrt auf

Der Wille zur Revolution

Bangladesch begehrt auf

Der Wille zur Revolution

28.3.25
Estella Walter

Für insgesamt 20 Jahre herrschte in Bangladesch ein eisernes, autoritäres Regime unter Sheikh Hasina, der Tochter des ersten Präsidenten seit der Unabhängigkeit des Landes von Pakistan, Sheikh Mujibur Rahman. Doch innerhalb kürzester Zeit brachen im Juli 2024 landesweite Aufstände von einer solchen Gewaltigkeit aus, dass sie Hasina nach nur einem Monat stürzten und ins Exil trieben. Wie kam es zu diesem Sieg von unten und wie helfen uns Nietzsches Wille zur Macht und seine Ausarbeitungen von Foucault und Deleuze weiter, um diesen historischen Moment zu verstehen?

Für insgesamt 20 Jahre herrschte in Bangladesch ein eisernes, autoritäres Regime unter Sheikh Hasina, der Tochter des ersten Präsidenten seit der Unabhängigkeit des Landes von Pakistan, Sheikh Mujibur Rahman. Doch innerhalb kürzester Zeit brachen im Juli 2024 landesweite Aufstände von einer solchen Gewaltigkeit aus, dass sie Hasina nach nur einem Monat stürzten und ins Exil trieben. Wie kam es zu diesem Sieg von unten und wie helfen uns Nietzsches Wille zur Macht und seine Ausarbeitungen von Foucault und Deleuze weiter, um diesen historischen Moment zu verstehen?

In Gedenken an Abu Sayed und allen Namenlosen der Juli-Revolution 2024

I. Eine Chronik der Juli-Revolution

Nachdem Bangladesch, damals noch Ostpakistan, sich 1971 von seiner Kolonialmacht Pakistan unabhängig gekämpft hatte und zur souveränen Nation geworden war, etablierte die Regierung unter Rahman ein Quotensystem des Beamtensektors, das besonders Veteranen, die im Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatten, und einige Minderheiten bevorzugte. Das System blieb jahrzehntelang intakt – wenn auch mit Schwankungen – und wurde nach dem langsamen Sterben der ursprünglichen Freiheitskämpfer um deren Nachkommen erweitert. Der Beamtensektor, wie auch hier im Westen, geht selbstverständlich mit besseren Arbeitskonditionen und höheren Positionen einher, sodass im Effekt ganze Familien in privilegierte Stellungen innerhalb der bangladeschischen Gesellschaft aufrückten, während der Großteil der Bevölkerung sich in immer prekärere Arbeitsbedingungen gezwungen fand. Die öffentliche Kritik am Quotensystem wuchs und führte immer wieder zu Protesten in ganz Bangladesch, wurde jedoch in den autokratisch geführten und von Korruption durchzogenen Regierungsperioden der Premierministerin Sheikh Hasina (1996-2001 & 2009-2024), die der Partei ihres Vaters, der Awami League, zugehörte, vehement fortgesetzt. Nachdem Hasina unter dem Druck der Proteste versprach, das Quotensystem abzuschaffen, wurde dieses im Juni 2024 durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshof erneut eingesetzt.  

Was dann geschah, dürfte wohl ganz Bangladesch und darüber hinaus überrascht haben, inklusive aller Involvierten selbst: Aus friedlichen Protesten einer studentischen Gruppe in Dhaka gegen die Gerichtsentscheidung wurde schnell eine nationale, studentisch geführte Aufstandsbewegung, die tausende Studierende auf die Straße trieb. Hasina reagierte auf die Proteste zunächst, indem sie alle Beteiligten als Razakars denunzierte – eine Miliz, die zur Zeit des Unabhängigkeitskriegs mit dem pakistanischen Militär zusammengearbeitet hatte – und also mit Verrätern des bangladeschischen Befreiungskampfes gleichsetzte. Was sich im weiteren Verlauf entwickelte, kann wohl als Pingpong bezeichnet werden zwischen auf der einen Seite den Mobilisierungen der widerständischen Kämpfe, angefangen von einzelnen bereits bestehenden studentischen Gruppen bis hin zu breiten Massen der Studierenden, und staatlich-polizeilicher Repression inklusive regimenaher, studentischer Kaderorganisationen auf der anderen Seite. Am 16. Juli wurde der Student Abu Sayed, einer der Organisatoren der Students Against Discrimination-Bewegung, mit offenen Armen auf der Straße stehend von der Polizei erschossen. Die Empörung über seine brutale Ermordung radikalisierte die Aufstände, die Menge der Protestierenden wuchs zu einem ausgereiften und bemerkenswert gut organisierten Netzwerk, das sich den Repressionen sowohl durch Polizei- und Milizgewalt als auch Schließung der Wohnheime, Ausgangssperren und des kompletten Shutdown des Internets bis schließlich hin zu Hasinas Shoot-on-Sight-Kommando, das zu mehreren Massakern führen sollte, widersetzen konnte. Hasina, die dem Druck der von der öffentlichen Meinung unterstützten Aufstände trotz brutaler Unterdrückungsversuche nicht mehr Stand hielt, erklärte sich zu Verhandlungen bereit. Die organisierte Menge, mittlerweile hatten sich auch große Teile der Arbeiterklasse z. B. aus der Textil- und Transportbranche angeschlossen, hatte zu diesem Zeitpunkt jedoch nur eine Forderung, nämlich den Rücktritt Hasinas und einen Neuaufbau der Regierung. Diese wehrte sich mit weiteren Tötungsmanövern bis schließlich am 4. August über eine Millionen Menschen zu Hasinas Residenz marschierten, dort jedoch nur ein leeres Haus vorfanden. Einen Tag später, am 5. August, trat Hasina nach über 15 Jahren an der Macht vom indischen Exil aus als Premierministerin zurück. Die Konsequenzen ihrer Führung in nur diesem einen Monat sind verheerend: die Todeszahl wird auf 1.400 Personen geschätzt – viele davon bis zur Unkenntlichkeit massakriert, sodass eine Identifizierung nicht möglich war – die Zahl der Verletzten liegt bei über 20.000. Dennoch: Bangladesch, trotz aller Verluste, jubelt, denn das Ende des Hasina-Regimes ist etwas, was sich viele nicht mehr in ihrer Lebenszeit erträumt hätten.

Abbildung 1: Abu Sayed kurz vor seiner Ermordung

II. Der Wille zur Macht und das Revolutionäre

Die Geschwindigkeit und Spontanität der Ereignisse, das Ausmaß an Gewalt und Blutvergießen, die Dimension des organisierten revolutionären Widerstandes sowie sein schlussendlicher Erfolg sind bemerkenswert und bedürfen eines Erklärungsversuches. Im Sammelsurium Nietzscheanischer Konzepte fällt einem dort unmittelbar der Wille zur Macht ins Auge. Nietzsche, der die Welt weder dialektisch noch teleologisch verstand, geht vielmehr von materiellen Kräfteverhältnissen aus, denen „eine innere Welt zugesprochen werden [muss]“1 und die sich in allem Lebenden ausdrücken. Sie sind der Wille zur positiven, das heißt selbstbejahenden und immer schon vollständigen, kompletten, Macht. Als solchem fehlt es ihm an nichts, er ist sich selbst genügend, hat weder einen singulären Ursprung noch ein Äußeres, von dem er abhängen würde. Das bedeutet, dass sich die materiellen Kräfte in ihrer Äußerung und nur durch diese verwirklichen. „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem. Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem“2, um Nietzsche sprechen zu lassen. Doch dürfen wir uns von Nietzsches Jargon nicht in die falsche Richtung leiten lassen, der Wille zur Macht sollte sich nicht als gottesgleiche metaphysische Totalität vorgestellt werden, „er ist Prinzip der Synthesis der Kräfte. In dieser sich auf die Zeit beziehenden Synthesis durchlaufen die Kräfte dieselben Differenzen, in ihr reproduziert sich das Verschiedene“3. Wir haben es mit Differenz zu tun, die den quantitativen Kräften ihre jeweilige qualitative Verschiedenheit, also die Fülle bzw. Vielheit der materiellen Realität, zukommen lässt. In den Verhältnissen dieser Kräfte liegt das für das Lebendige Ausschlaggebende, aus ihnen geht das Leben hervor oder, akkurater, sie sind das Leben selbst. Denn wir dürfen nicht vergessen, der Wille ist ein innerer, der die realen Vielheiten aus sich selbst heraus reproduziert, ohne sich eine künstliche, ihm äußerliche Opposition schaffen zu müssen, von der er zu zehren hätte. Er ist in sich schöpferische Kraft, hört niemals auf zu produzieren, sich zu steigern, zu revolutionieren, angetrieben vom Begehren zu werden.

Was passiert, wenn dieser Wille zur Macht reaktionär, total, verneinend und repressiv wird, dem Stillstand unterliegt anstatt des ewigen Werdens, lässt sich in den materiellen Verhältnissen klar erkennen. Die Moderne des Menschen ist charakterisiert durch globale Ausbeutungsverhältnisse, die sich auch lange nach dem vermeintlichen Verschwinden des europäischen Kolonialismus nicht ausmerzen lassen. Vielmehr fließen sie zähflüssig im neokolonialen Hangover über den Globus, wo sie ihre eigenen raffinierten Mechanismen sowohl der materiellen als auch der kulturellen Ent- und Aneignung finden. Der sogenannte globale Süden wurde zur produktiven Fabrik, zum Ort der Mehrwertproduktion durch Exploitation für den Rest der Welt und, mehr noch, zum outgesourcten Kampfplatz geopolitischer Interessen. Die Folgen bekommen Milliarden von Menschen zu spüren: Umweltkatastrophen, Vertreibung und Enteignung, prekäre und lebensgefährliche Arbeits- und Lebensbedingungen, Hungertode, ungerechtfertigte, teilweise lebenslange Inhaftierungen, politische Repressionen, Folter und Kriege bis hin zu Genoziden. Wo Nietzsche die Welt durch den Willen zur Macht als grundlegend produktive, bereichernde, relativ freie und heterogene Kraft konzipiert, sieht man in ihr gewaltige Selbstzerstörung bis hin zur Vernichtung – man sieht den gegen sich selbst gekehrten Willen zum Nichts, der fleißig damit beschäftigt ist, sich beide Beine abzusägen.  

Abbildung 2: Siegeszug nach Hasinas Rücktritt

III. Der bangladeschische Wille zur Befreiung

Für die Großmächte spielt Bangladesch eine zentrale Rolle in der Region und Hasinas Regime bot strategische Vorteile. Auf der einen Seite liegt Bangladesch zwischen den zwei in Konkurrenz stehenden Giganten Indien und China, die beide um die Kontrolle südasiatischer Gebiete kämpfen, auf der anderen Seite wiederum sind die USA auf Indien als Verbündeter gegen China angewiesen. Während Hasina mit ihnen allen liebäugelte, vor allem aber von Indien und den USA gestützt wurde, herrscht in der bangladeschischen Bevölkerung ein anderer Ton, denn für die Masse bedeuten jene Großstaaten in erster Linie um die Ecke lauernde Kräfte des Imperialismus, die sich in Konflikten um Wasserressourcen, antimuslimischer und -bangladeschischer Gewalt von Seiten Indiens unter dem rechten Premierminister Narendra Modi und der Vorherrschaft multinationaler, westlicher Konzerne äußern. Dass eine solche Lage in Bangladesch unter Hasina, einer Premierministerin berüchtigt für Wahlbetrug, Korruption und eine eiserne Hand gegen jede Form der Opposition, die also die eigene Bevölkerung unterdrückte und gleichzeitig das Land an imperiale Mächte verkaufte, zu immer stärkeren Revolten führen würde, dürfte nicht überraschen. Denn das Aufbegehren gegen Totalität liegt in der Natur des Willens zur Macht, ihm ist das Revolutionäre inhärent. Foucaults Überlegungen in seiner Analyse der Iranischen Revolution 1979 schließen sich dem an:

Aufstände gehören zur Geschichte, aber in gewisser Weise entkommen sie ihr. Die Bewegung, durch die ein Einzelner, eine Gruppe, eine Minderheit oder ein ganzes Volk sagt: „Ich gehorche nicht mehr“, und bereit ist, das Leben zu riskieren angesichts einer für ungerecht erachteten Macht, scheint mir irreduzibel zu sein. Das liegt daran, dass keine Macht in der Lage ist, sie absolut unmöglich zu machen.4

Immer wieder zeigt sich: Wo sich ein Machtverhältnis konsolidiert, bis keine bewegliche Differenz mehr möglich scheint, da eruptiert der Wille zur Macht wie heiße Lava, die den versteinerten Boden zum Schmelzen bringt. Jeder Versuch, das Leben zu verunmöglichen, führt zur Emergenz einer noch radikaleren Gegenkraft, die sich ihren Weg zur Befreiung bahnt. So auch in Bangladesch. Es mag wohl die Gerichtsentscheidung zur Weiterführung des Quotensystems als Auslöser gedient haben, als letzter Stoß, der das Magma über die Oberfläche hinausschießen ließ. In jedem Fall kam es im Juli 2024 zum entscheidenden Moment in der Geschichte, der die Mengen dorthin trieb, wo das Risiko des Todes dem Zwang des Gehorsams vorgezogen wurde und der Kampfgeist von vereinzelten Gruppen zur breiten Masse überschwappte. Denn, wie der palästinensische Schriftsteller und Widerstandskämpfer Ghassan Kanafani sagte, „unser Land zu befreien, Würde zu haben, Respekt zu haben, unsere bloßen Menschenrechte zu haben; dies sind Dinge so wesentlich wie das Leben selbst“5. Was den Kampfgeist provoziert ist also keineswegs eine einfache Frage des bloßen Überlebens, sondern dessen, was dem Leben einen Wert verleiht, ein Begehren so essenziell, dass es universal wirkt und ganze Bevölkerungen trotz, oder viel eher gerade aufgrund, ihrer Differenzen zu einem kollektiven Willen trägt. Schließlich ist es gerade die Differenz, für die es sich in einem totalitären, absoluten Regime zu kämpfen lohnt und so ist auch die revolutionäre Organisationsform „vielfältig, zögernd, verwirrt und obskur sogar für sich selbst“6. Die politische Landschaft Bangladeschs ist durchkreuzt von solchen divergenten Achsen unterschiedlicher Religionen, Ideologien und Klassen und entsprechend war das Netzwerk aus Gruppen und Bewegungen keine Vereinheitlichung, sondern ein Zusammentreffen getrieben von der kollektiv erfahrenen Unmöglichkeit der herrschenden Zustände.  

Gilles Deleuze bezeichnet solche Organisationsformen des Begehrens als Rhizome, ein dezentralisiertes System aus Wurzeln, das in alle Richtungen wächst, „die unterschiedlichsten Formen annehmen [kann], von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung“7, und in dieser flexiblen Verbundenheit, die keine zentrale Führungsmacht kennt, liegt seine Potenz. Es wird bewegt weniger von einer utopischen Vorstellung eines Noch-Nicht, sondern ist vielmehr spontaner Ausbruch eines heterogenen Leuchtfeuers, das dem Unaushaltbaren Widerstand leistet und sich den repressiven Gegenreaktionen anzupassen weiß. An den Universitäten, in den Fabriken und auf den Straßen Bangladeschs schoss das Begehren für ein Leben in Würde und Respekt aus dem Boden, wie es für Graswurzelbewegungen üblich ist – denn eine wahrhaft befreiende Revolution kann nur von unten kommen, dort wo die materielle, reale Differenz operiert. Revolutionär kann nur die Minorität sein. Damit ist keine quantitative Unterzahl gemeint, sondern das außerhalb der dominanten Vorherrschaft Liegende, marginale Sub-Systeme, Abweichungen, das Verschiedene und es gilt die Majorität eines herrschenden Regimes zu minorisieren, ihr ihre Vorherrschaft zu nehmen und in den Prozess des Werdens zu überführen, wo sie selbst zum Sub-System wird. Eine Revolution ist niemals vollzogen, wenn eine Majorität durch eine andere ersetzt wird, sondern erst dann, wenn die Minorität zum inneren Prinzip der Gesellschaft wurde. In diesem Sinne müssen auch die Juli-Aufstände verstanden werden und in diese Sinne gehört Shadik Kayem, einem der führenden Studenten, das Schlusswort:

Wir wollten ein demokratisches Bangladesch aufbauen, in dem die Menschen in Freiheit und Würde leben können ... Wir haben gemeinsam Ideen entwickelt und uns gegenseitig geholfen, die Bewegung zu organisieren und die Studenten zu motivieren. Ich sage nicht, dass dieser oder jener der Vordenker der Bewegung ist. Ich sage, dass alle Studierenden und Massen, die uns geholfen und sich beteiligt haben, die Helden sind.8

Quellen

ABC’s Richard Carleton interviewing Ghassan Kanafani, 16. 10. 1970. Online: https://www.abc.net.au/news/2024-09-19/abc-richard-carleton-interviewing-ghassa/104368218.

Chandan, Khan & Md Shahnawaz: A chronicle of the July Uprising, o. J. Online: https://thegreatwave.thedailystar.net/news/a-chronicle-of-the-july-uprising.

Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie. Übersetzt von Bernd Schwibs. Reihe Passagen. München 1976.

Deleuzees & Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin 1992.

Ghamari-Tabrizi, Behrooz: Foucault in Iran. Islamic Revolution after the Enlightenment. Muslim International. Minneapolis 2016.

Bildquellen

Artikelbild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Abu_Sayed_holding_flag.png#

Abb. 1: https://www.newagebd.net/post/country/242084/yunus-to-visit-abu-sayeeds-family-in-rangpur

Abb. 2: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_victory_celebration_of_Bangladeshi_student%27s_one_point_movement.jpg

Fußnoten

1: Nachgelassene Fragmente 1885 36[31].

2: Nachgelassene Fragmente 1885 38[12].

3: Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, S. 56.

4: Ghamari-Tabrizi, Foucault in Iran, 70. Frei übersetzt von der Autorin.

5: ABC’s Richard Carleton interviewing Ghassan Kanafani. Frei übersetzt von der Autorin.

6: Ghamari-Tabrizi, Foucault in Iran, 61. Frei übersetzt von der Autorin.

7: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus, S. 16.

8: Khan Chandan & Md Shahnawaz, A chronicle of the July Uprising.

Bangladesch begehrt auf

Der Wille zur Revolution

Für insgesamt 20 Jahre herrschte in Bangladesch ein eisernes, autoritäres Regime unter Sheikh Hasina, der Tochter des ersten Präsidenten seit der Unabhängigkeit des Landes von Pakistan, Sheikh Mujibur Rahman. Doch innerhalb kürzester Zeit brachen im Juli 2024 landesweite Aufstände von einer solchen Gewaltigkeit aus, dass sie Hasina nach nur einem Monat stürzten und ins Exil trieben. Wie kam es zu diesem Sieg von unten und wie helfen uns Nietzsches Wille zur Macht und seine Ausarbeitungen von Foucault und Deleuze weiter, um diesen historischen Moment zu verstehen?

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien II

Kambodscha

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien II

Kambodscha

20.3.25
Natalie Schulte

Unsere Autorin Natalie Schulte ist neun Monate lang in Südostasien mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und berichtet in einer kurzen Essayreihe von ihren Reiseerfahrungen mit und ohne Nietzsche. Diesmal geht es um die weite Ebene Kambodschas und die Tempelanlagen von Angkor mitten im Dschungel.

(Link zu Teil 1 zu Vietnam)

Unsere Autorin Natalie Schulte ist neun Monate lang in Südostasien mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und berichtet in einer kurzen Essayreihe von ihren Reiseerfahrungen mit und ohne Nietzsche. Diesmal geht es um die weite Ebene Kambodschas und die Tempelanlagen von Angkor mitten im Dschungel.

Über die Grenze

Bei Cửa Khẩu Quốc Tế Mộc Bài oder für Zungenfaule auch kurz „Moc Bai“ geht es über die Grenze nach Kambodscha. Früh sind mein Freund und ich aufgestanden, früher noch als sonst, falls es Verzögerungen beim Grenzübergang gibt. Am Himmel prangt tagtäglich die glühend gelbe Sonne, brennt uns bereits mittags darnieder und keinesfalls sollte man es so weit kommen lassen, dass sich das eigne „heisse[] Herz […] [n]ach himmlischen Thränen und Thau-Geträufel“1 verzehrt, daher wir gewöhnlicherweise 5 Liter Wasser auf unseren Gepäckträger geschnallt haben.

Man würde meinen, so eine menschengemachte Linie zwischen dem einen und dem anderen Land sei unsichtbar und abgesehen von dem großen Beamtenaufgebot beim Übergang würde sich nicht viel Welt ändern. Dem ist, wie wir überrascht feststellen, nicht so. Nach dem Hoch und Runter vietnamesischen Küstengebiets, den vielen aneinandergedrängten Dörfern und Städten, den aufragenden Bergen liegt das Land plötzlich weit und flach vor uns. Ein gigantischer Himmel streckt sich von Horizont zu Horizont im hellen Licht des anbrechenden Tages.  

Aufwärts fließende Ströme

Was hätte Nietzsche wohl zu diesem flachen Land gesagt? Denn trotz der vielversprechenden Namen werden wir weder das Kardamomgebirge noch die Elefantenberge sehen. Das Land bleibt für uns ein Pfannkuchen, was immerhin für mehr als 2/3 des Landes zutrifft. Ein großer Teil liegt nur so wenige Meter über dem Meeresspiegel, dass zur Regenzeit der Fluss seine Fließrichtung ändert, nicht mehr zum Meer, sondern zum Tonle-Sap-See fließt, der prompt von schon nicht unbeachtlichen 2.500 km² auf bis zu 20.000 km² anschwillt. Der Bodensee zum Vergleich ist nur 536 km² groß.

Nietzsches Lust an Umkehrungen hätte also eine hübsche bildliche Entsprechung bekommen. Und wer weiß, welch lustig-göttlicher Geist da am Werk war, als er mit prächtiger Tatze Kambodschas Mitte flach drückte. Müsste sich da nicht auch ein Freigeist, Reisender und Abenteurer im nietzscheschen Sinne wohlfühlen, der „[m]it einem bösen Lachen [um]dreht […], was er verhüllt, durch irgend eine Scham geschont findet: [d]er versucht, wie diese Dinge aussehn, wenn man sie umkehrt“2? … Aber Nietzsche hat ja nun nicht gerade die Ebene geliebt.  

Von Höhen und Herausforderungen

Die wäre ihm zu wenig kontrastreich gewesen, denn an landschaftlichen Gegensätzen konnte es ihm, wie auch seinem philosophischen Propheten Zarathustra nie genug sein: „Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger, sagte er zu seinem Herzen, ich liebe die Ebenen nicht und es scheint, ich kann nicht lange still sitzen.“3 So liegen auch die vielsagenden glückseligen Inseln, auf denen Zarathustra mit seinen Freunden weilt, nicht nur naturgemäß am Meer, sondern beherbergen einen ganzen Bergkamm und dazu noch einen „schwarze[n] traurige[n] See“ (ebd.). Von den höchsten Höhn soll’s in die tiefsten Tiefen gehen, denn das Leben in seiner ganzen Fülle erfährt nur der, der seine Spannweite zwischen den extremsten Gegensätzen aufzuspannen vermag. Wer sich dagegen bloß „behaglich“ in seinem Leben einrichten möchte, der hat nach Nietzsche eben nicht viel vom Glück verstanden: „Ach, wie wenig wisst ihr vom Glücke des Menschen, ihr Behaglichen und Gutmüthigen! – denn das Glück und das Unglück sind zwei Geschwister und Zwillinge, die mit einander gross wachsen oder, wie bei euch, mit einander – klein bleiben!“4

Wir ahnen, nach Nietzsche ist keine Herausforderung je groß genug und gäbe es keine hohen Berge, so müssten wir sie selbst zusammenschaufeln, um sie zu besteigen. Und in der Tat könnte dieses Zusammenschaufeln in einer gottlosen Welt von uns verlangt werden. Denn nachdem wir – ebenfalls Nietzsches Philosophie zufolge – den Schwamm nahmen, „um den ganzen Horizont wegzuwischen“5, liegt‘s jetzt an uns, fröhlich nach Pinseln zu greifen und Eilande mit Gebirgen an die hinterste Linie zu setzen.  

Gebirge jedenfalls sehen wir Radelnden durch Kambodscha nicht. Wir sehen den großen See, dessen umliegende Holzbauten auf Pfählen im rotbraunen Matsch des Slumgebiets stecken. Wir sehen tropische Steppe, und „[b]oshaft abendliche Sonnenblicke“6, die durch schwarze Palmen blinzeln, wir sehen die gelbe, rote, grüne Stoppelsteppe und über uns die blaue Kuppel des Himmels. Nie habe ich so viel Himmel gesehen, so viele Sonnenaufgänge, so malerische Wolken.  

Schiefe Ebene

Nein, uninspiriert, so kann man diese Landschaft nicht nennen. Also welche Worte hätte ein auf dem Fahrrad radelnder Nietzsche wohl verfasst, wenn nicht diese hier: „Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen, - er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? in’s Nichts? in’s ‚durchbohrende Gefühl seines Nichts‘?“7

Wollen wir einen Moment lang vergessen, dass einem das Fahrradfahren unter brennender Sonne selten das Gefühl vermittelt, abwärts zu rollen, es sei denn ins „Nichts“, dann dürfen wir voilà die schiefe Ebene „umdrehen“, das „Rollen“ durchs „Strampeln“ ersetzen und schon evozieren diese Zeilen in mir das Bild eines Radfahrenden in Kambodscha. Nietzsche schrieb übrigens in diesem Abschnitt nichts über Landschaften, sondern über die in ihrer Grandiosität von der Wissenschaft gekränkte Menschheit. Die Kränkungen sind seit Nietzsche noch berühmter geworden, er selbst gehört mitunter hinzu, ansonsten sind es herkömmlich, wenn wir denn Freuds leicht selbstverliebter Selbststilisierung zu folgen bereit sind, wie wir wissen: Kopernikus: ‚Wir sind nicht der Mittelpunkt des Sonnensystems‘, Darwin: ‚Wir sind kein Abbild Gottes, sondern nächster Verwandter des Menschenaffen‘ und Freud: ‚Wir sind nicht Herr unserer eigenen Psyche‘. Das Interessante ist nun Nietzsche zufolge weniger die Kränkung als solche, sondern, dass wir auf sie stolz sind. Dass wir ehrliche Achtung vor der Ehrlichkeit haben, die uns so herabwürdigt. Das ist ein äußerst erhabenes, religiöses Gefühl: ‚Wie klein der Mensch doch ist‘, was für ‚ein Nichts der Mensch ist‘. Wissenschaft und Religion eignet eine Gemeinsamkeit, ihre Wurzel im asketischen Ideal, welches das irdische, menschliche Leben verleugnet, geringschätzt und ablehnt.

Nirwana und Nihilismus

Und wo wir gerade bei dem ‚Nichts‘ und den Religionen angekommen sind: In Kambodscha ist der Buddhismus allerorts präsent. Die in das farbenprächtige Orange der Morgensonne getunkten Gewänder der Mönche springen einem sofort ins Auge. Mönche allein oder in Gruppen begegnen uns auf der Straße, in Cafés und natürlich, als hätte sie ein Künstler ins Bild gesetzt, auf den herben, grauen Mauern Angkor Wats. Nicht alle scheinen allerdings dem Leben so abgeneigt, zumindest nicht den irdischen Genüssen und Süchten, wie ein paar rauchende Mönche vermuten lassen. Trotzdem, so weisen die zahlreichen Benimmschilder Angkors uns an, sollte man es als Frau tunlichst meiden, einen von ihnen anzufassen, um ihn nicht zu verunreinigen. Nun ja, die Misogynie der Religionen, sei es Christentum, Judentum, Islam oder auch Buddhismus, sind wir ja gewöhnt, hüben wie drüben. Da fällt es mir als Frau ein wenig schwerer, zu bedauern, dass die Menschheit vor ein paar hundert Jahren damit begann, mit großem Schwamm über die Leinwand zu wischen …

Trotzdem kommt man nicht umhin, ein wenig Wehmut angesichts des Transzendenzverlustes zu verspüren, wenn man durch den Urwald und die Tempel von Angkor streift. Mehr als 1.000 Tempelanlagen befinden sich in dem rund 200 km² großen Gebiet. Angkor Wat selbst ist die größte Tempelanlage der Welt. Die ersten wurden um 700 n. Chr. gebaut, die letzten um das 13. Jahrhundert, als sich das Zentrum des Khmer-Reiches langsam nach Phnom Penh verschob.

Vergängliche Gottheiten  

Kraxelt man die großen, schwarzen Stufen des Baksei Chamkrong hinauf, die wie für einen Riesen gemacht zu sein scheinen, kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, sich der Würde eines Gottes angemessen gezeigt zu haben, mag sich doch Shiva, dem der Tempel geweiht ist, seine Opfer unter auf den Steinstufen verunglückenden Pilgern bereits selbst gewählt haben. Von den Höhen von Phnom Bakheng blickt man auf die Wipfel der Urwälder, lauscht den Geräuschen der Tiere, bewundert die rauchigen Streifen von Sonnenlicht, die durch Geäst und Blätter wandern. Hohe Geistigkeit, Selbstdisziplin, Streben, die alten harten Mauern scheinen zu fordern, zu wispern, zu fragen: ‚Wer bist du, dass du meine Höhe erklimmen darfst?‘

Des Thaus Trosttropfen

Hoch oben stehe ich und meine mich von einem elitären Geist umflattert. Rings um mich her seh’ ich all die Touristen in ihrer quietschbunten „bin-im-Urlaub“-Gagarobe durch die heiligen Hallen der Grabstätte alter Götter strömen. Da fühle ich einen narzisstischen Moment lang mit Nietzsche, als er nur sich und seinesgleichen individuelle Freiheit zugestehen wollte: „[E]s ist eine Nothdurft ersten Ranges, welche hier gebietet und fordert. Wir Andern sind die Ausnahme und die Gefahr, – wir bedürfen ewig der Vertheidigung! – Nun, es lässt sich wirklich etwas zu Gunsten der Ausnahme sagen, vorausgesetzt, dass sie nie Regel werden will.8

Nur fürchte ich, auch ich bin nicht des Geistes Kind, den er in seinem esoterischen Zirkel gern gesehen hätte. Nach sieben Tagen in den luftigen Höhen vergangener Zeit werden wir Fahrradfahrenden uns wieder auf die Drahtesel schwingen, weiter die bloße Ebene erkunden und uns nicht nach Bergen sehnen. Im allerersten Morgengrauen fahren wir los, es geht gen thailändische Grenze, bald ist es Zeit für einen neuen Übergang. Und siehe da, an diesem Morgen, als wir von Sieam Reap aufbrechen, liegt sanfter Nebel über den Feldern, als wollte uns Kambodscha darüber hinwegtrösten, dass es auch in diesem Land nur Grabmäler von Göttern gibt. Und mir ist, als hört ich leise eine Stimme flüstern:

Ein Tropfen Thau’s? Ein Dunst und Duft der Ewigkeit? Hört ihr’s nicht? Riecht ihr’s nicht? Eben ward meine Welt vollkommen, Mitternacht ist auch Mittag, –
Schmerz ist auch eine Lust, Fluch ist auch ein Segen, Nacht ist auch eine Sonne,  – geht davon oder ihr lernt: ein Weiser ist auch ein Narr.9

Link zu Teil 3 (Thailand)

Die Bilder zu diesem Artikel sind Photographien der Autorin.

Fußnoten

1: Also sprach Zarathustra, Das Lied der Schwermuth, 3.

2: Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede, 3.

3: Also sprach Zarathustra, Der Wanderer.

4: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 338.

5: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 125.

6: Also sprach Zarathustra, Das Lied der Schwermuth, 3.

7: Zur Genealogie der Moral, 3. Abh., Abs. 25.

8: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 76.

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien II

Kambodscha

Unsere Autorin Natalie Schulte ist neun Monate lang in Südostasien mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und berichtet in einer kurzen Essayreihe von ihren Reiseerfahrungen mit und ohne Nietzsche. Diesmal geht es um die weite Ebene Kambodschas und die Tempelanlagen von Angkor mitten im Dschungel.

(Link zu Teil 1 zu Vietnam)

Darts & Donuts
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Zum ersten April. – Dieser Tag hat für mich stets eine besondere Bedeutung. Es ist einer wenigen Anlässe im Jahr, an dem sich das ernste, allzuernste Abendland ein wenig Leichtsinn, Satire und Verdrehung erlaubt, ein schwacher Abglanz der antiken Saturnalien. Der Fest- und Ehrentag der Narren sollte zum Feiertag werden – und wir freien Geister werden die Hohepriester des Humbugs sein, Dionysos unsere Gottheit. Es wird ein Tag der Heilung sein. Wie viele dieser Tage werden nötig sein, um in uns und um uns endlich wieder ein solches Gelächter erschallen zu lassen, wie es den Alten noch möglich war? In das Lachen wird sich so stets ein wenig Trauer mischen – doch wird es darum nicht tiefer genossen werden, gleich einem mit bitteren Kräutern versetzten Weine? Der Ernst als Bedingung einer neuen, melancholischen Heiterkeit, welche ihnen unverständlich gewesen wäre? Aphrodite muss im Norden bekanntlich einen warmen Mantel tragen, um sich nicht zu verkühlen – doch vermag uns eine Lust zu spenden, die selbst die Römer erröten ließe. Wir haben so doch unsere eigene ars erotica und unsere eigene ars risus. Unsere Freuden sind mit Tränen benetzt und erhalten erst dadurch das nötige Salz.

(Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 384)

Zum ersten April. – Dieser Tag hat für mich stets eine besondere Bedeutung. Es ist einer wenigen Anlässe im Jahr, an dem sich das ernste, allzuernste Abendland ein wenig Leichtsinn, Satire und Verdrehung erlaubt, ein schwacher Abglanz der antiken Saturnalien. Der Fest- und Ehrentag der Narren sollte zum Feiertag werden – und wir freien Geister werden die Hohepriester des Humbugs sein, Dionysos unsere Gottheit. Es wird ein Tag der Heilung sein. Wie viele dieser Tage werden nötig sein, um in uns und um uns endlich wieder ein solches Gelächter erschallen zu lassen, wie es den Alten noch möglich war? In das Lachen wird sich so stets ein wenig Trauer mischen – doch wird es darum nicht tiefer genossen werden, gleich einem mit bitteren Kräutern versetzten Weine? Der Ernst als Bedingung einer neuen, melancholischen Heiterkeit, welche ihnen unverständlich gewesen wäre? Aphrodite muss im Norden bekanntlich einen warmen Mantel tragen, um sich nicht zu verkühlen – doch vermag uns eine Lust zu spenden, die selbst die Römer erröten ließe. Wir haben so doch unsere eigene ars erotica und unsere eigene ars risus. Unsere Freuden sind mit Tränen benetzt und erhalten erst dadurch das nötige Salz.

(Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 384)

Die Apokalyptik der Identität als Projekt. – Furcht und Zittern im Rückzug auf das Partikulare – zirkeln zwischen Sinn und Zwang. Bedingt die Verdrängung der Allgemeinheit die Autoaggression; die Reduktion der Zukunft, die Rückkehr des Tabus – oder umgekehrt? Zur „Republik des Universums“ sprach also der Philosoph des Mythos: „fear knows only how to forbid, not how to direct“.

(Sascha Freyberg)

„Die Waffe gegen dich zum Werkzeug machen, und wenn’s nur ein Aphorismus wird.“

(Elmar Schenkel)

Ich empfinde alle Menschen als schädlich, welche dem, was sie lieben, nicht mehr Gegner sein können: sie verderben damit die besten Dinge und Personen.

(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

Nietzsche sagt: „ChatGPT ist dumm.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

Nietzsche sagt: „Man soll den Computern misstrauen, sie haben ein Hirn, eine Hand, einen Fuß und ein Auge, aber kein Herz.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.

(ChatGPT auf die Bitte hin, einen Aphorismus im Stile Nietzsches zu verfassen)

Werk. – Es gibt keine irreführendere und falschere Ansicht als die, dass das Schreiben oder das Werk lustvolle Angelegenheiten seien. Es ist ganz das Gegenteil! Das Werk ist einer der größten Gegner und schlimmsten Feinde. Und wer aus Freiheit und nicht aus Gewohnheit schreibt, vermisst an ihm Umgangsformen und Gewissen – der ist ein Schwein!

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Gefährliche Wahrheit. – Viele psychische Pathologien machen ihren Wirt ultrasensibel. Sie bekomme Antennen für die kleinsten seelischen Regungen ihres Gegenübers, sehen den kleinsten Verrat, die kleinste Inkongruenz, den kleinsten Reißzahn, den hässlichsten Hund im Menschen. Als Feind des Menschengeschlechts zückt der Arzt seinen Notizblock und ruft also „die Pfleger“ herein.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Glück: Keinen mehr nötig zu haben und so rückhaltlose Zuwendung sein können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 44)

Dein Rechthaben nicht offen zur Schau stellen. Nie der Weg sein. Dem, der Recht hat, will man leicht Unrechttun und man fühlt sich gemeinsam im Recht dabei, weil das Gefühl für Gleichheit ständig trainiert wird und die Übung der Freiheit eine Seltenheit geworden ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 43)

Wahre Liebe: Durch den Anderen hindurch lieben.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 42)

Zusammensein wollen: Weil es leichter ist? Weil es bereichert? Weil man keinen Willen kennt, der lange Wege allein gehen kann?

(Neue Sprüche und Pfeile, 41)

Helfen wollen: Weil es sichgehört? Weil einem Gleiches widerfahren kann? Weil man hat und gerne gibt? Weil einem nicht die aktuelle Armut betroffen macht, sondern die Schande, dass Chancen ungenutzt bleiben müssen?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 40)

Keine Größe ohne ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten. Aus dem Schein zu einem Mehr an Sein. Aus den Erfolgen der Sprünge in eine Rolle, in der man sich nicht kannte, entsteht der Glaube anein Können, das mehr aus einem machen kann.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 39)

Wem die Stunde schlägt. – Wer sich einen Termin macht, etwa ein Date in zwei Wochen, freut sich, trifft allerlei Vorbereitungen, fiebert darauf hin, hält durch und überlegt, was er sagen soll und so weiter. – Dann ist der Tag da. In der Zukunft glänzte alles noch, fühlte sich anders an. Man denkt sich: Es ist alles ganz wie vorher. Alles, was ich getan habe, war nur Selbstzweck, man erwartete das Warten und Vorstellen und nicht die Sache selbst, nicht den Kairos, den man nicht erwarten kann.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Niederes und höheres Bewusstsein. – Bin ich vor die Wahl gestellt, entweder erdrückt zu werden, tot zu sein und zu schweigen oder zu lästern und ungläubig zu sein – Gift in meinen Drüsen mir zu sammeln, wie mir angeboren, Reptil, das ich bin –, ich würde immer das Zweite wählen und mich niedrig, schlecht, negativ und ungebildet nennen lassen. Lieber will ich mich von meinem Gift befreien als es mir zu Kopf steigen zu lassen. Tritt einer dann in meine Pfützen, sei’s so – gebeten hat man ihn nicht!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Schwere und die Sinnlosigkeitder Dinge. – Wer einmal den unbegründeten Wunsch verspüren sollte, sich über die wesentlichen Dinge Gedanken zu machen, das Sein der Dinge und die Zeit, der ist besser beraten, es zu unterlassen. Der Verstand tendiert dazu, solche Dinge zäh und schwer zu machen. Am Ende findet man sich beim Denken und Überlegen dabei wieder, das Ding selbst nachzuahmen und denkt den Stein, das Stein-Seins, verfällt in gedachte Inaktivität.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Nichts. – In der Indifferenz ist noch alles und jedes zu ersaufen. Der größte Mut, der Hass, die Heldentaten, die Langeweile selbst verschlingt sich und die große Dummheit, Eitelkeit.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Für Franz Werfel. – Ein Autor, der dir sagt: „Ach, meine Bücher…, lass dir Zeit, lies erst dies ein oder andere. Das kann ich dir empfehlen: Ich liebe Dostojewski.“ – Das ist Größe und nicht die eitle Schwatzerei derjenigen, die ihre eigene Person und die Dringlichkeit der eigenen Ansichten vor sich hertragen.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Illusions perdues. – Wieso ist es so,dass das schönste, romantischste, bewegendste, rührendste, herzaufwühlenste Buch gegen die blasseste Schönheit von zweifellos hässlichem Charakter keine Chance hat und so attraktiv wie eine uralte Frau wirkt?

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Wider einfache Weltbilder. – Wir sind ein krankendes Geschlecht; schwitzend, von Bakterien übersät. Wir haben Bedürfnisse, geheimen Groll, Neid; die Haare fallen uns aus, die Haut geht auf mit Furunkeln; wir vertrauen, langweilen uns, sind vorlaut; pöbeln, sind übertrieben schüchtern, schwätzen Unsinn, konspirieren, sind erleuchtet, sind verblendet, eitel, machthungrig, einschmeichelnd, kriecherisch – jenseits von Gut und Böse.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vom Unglauben getragen. – Wie könnte man es nicht anbeten, das großartige formlose Unding, welches das Sein ist? Monströs wie allerfüllend. Das große Nichts, das die Alten die Hölle nannten, qualmt und beschenkt uns mit den schönsten Schatten.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Das herzliche Lachen der Literatur. – Hat jemals ein Mensch, der vor einem Buch saß, sich den Bauch und die Tränen vor Lachen halten müssen? Ich schon; aber nur in der Vorstellung – und aus Schadenfreude über solche Idiotie.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Ananke. – Weil die Literatur, obzwar sie die dümmste, platteste, schlechteste Grimasse der Zeit darstellt, doch von ihr den kleinsten Kristallsplitter Reinheit enthält, ist sie unerbittlich erbarmungslos und erschreckend in ihrer Folge. Wir wissen nur eins: Sie wird kommen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Kind in der Bibliothek. – Die Mutter muss dem Kind verbieten: „Nein, wir gehen nicht da rein!“ Das Kind sagt: „Da!“, und will ein Regal hochklettern. Bücherregale sind Klettergerüste. Weil es das nochnicht gelernt hat, läuft es wie ein Betrunkener nach seiner Mutter.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Authentisch sein wollen: Weil es sich schickt? Weil man die Halbwahrheiten satt hat? Weil man einsah, dass nur ein Eingestehen zu tieferen und offeneren Bindungen führt?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 38)

Herausragend sein wollen: Weil man Bewunderer will? Weil man es den Mittelmäßigen zeigen möchte? Weil man das Banale nicht mehr aushält?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 37)

Weil die Kritik zunehmend nicht widerlegen, sondern vernichten will, ist die gute Moral der Moderne die kategorische Revisionierbarkeit. Sein ist Versuch zum Sein. Daher bemisst sich kompetente Urteilskraft an der Distanz zum guillotinenhaften Verurteilen. Korrekte Korrektheit ist selbstironisch.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 36)

Wer nicht von sich auf Andere schließt, verpasst die Chance zu einer Welt genauso wie jemand, der von Anderen nicht auf sich schließt. Im revidierbaren Mutmaßen lichtet sich das Zwielicht des Miteinanders ein wenig und es erhöht sich die Möglichkeit zu einem halbwegs zuverlässigen Versprechen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 35)

Im Gehen wird das Denken weich und weit. Wer die Welt um sich hat, für den wird das Rechthaben zu einer unschönen Angewohnheit. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, laufen einem die Sätze wie angenehme Begegnungen über den Weg, die einen überraschen mit der Botschaft, wie wunderbar egal man doch ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 34)

Ohne Erfolge wäre das Leben ein Irrtum. Die Karriere ist die Musik des Lebens, auch für die, die sich für thymotisch unmusikalisch halten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 33)

Schonungslose Ehrlichkeit belügt sich selbst, weil es ihr nicht um Wahrheit geht, sondern um den Effekt des Entblößens als bloße Intensität des Auftrumpfens. Sie will nicht aufzeigen, sie will es den Anderen zeigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 32)

Abhängigkeit macht angriffslustig. Man will sich selber beweisen, dass man etwas ist und attackiert die lebenswichtigen Helfer, als wären sie Meuterer. Dabei ist man selbst derjenige, der meutert. Für das klassikerlose Tier gilt: Es gibt ein falsches Leben im richtigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 31)

Sich Zeit lassen, wenn die Zeit drängt. Panik macht ungenau. Fünf vor zwölf ist es immer schon für diejenigen, die überzeugt sind, genau zu wissen, was zu tun ist, ohne dass sie die Komplexität der Lage je verstanden hätten. Es ist die Tragödie des Weltgeistes, dass seine selbsternannten Apostel erst einen überwältigenden Eindruck mit ihrer Entschiedenheit machen und dann einen schockierenden Eindruck mit den Wirkungen ihrer Entscheidungen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 30)

Ein Schreibfehler. – Was heißt erwachsen werden? – ...die kindlichen Züge anlegen ...!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Geschlechterkampf. – Da weder die Auslösung des Mannes noch der Frau zur Disposition steht und politische Macht in der Regel nicht mehr mit physischer Gewalt durchgesetzt wird, sind die mächtigsten Formen der Machtausübung verdeckt: Schuld, Angst, Drohung, Beschämung, Entzug (z. B. von Liebe und Solidarität), Zurschaustellung. Sie alle operieren mit Latenzen und unsichtbaren Scheingebilden, entfesseln dieFantasie.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Gewissensqual über das Gewissen: Das Gewissen, das sich nicht selber beißen lernt, wird zum Mithelfer der Gewissenlosigkeit. Gewissen jedoch als permanenter Gewissensbiss verletzt die Freiheit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 29)

Die erzwungene Höflichkeit provoziert die Lust zur Unhöflichkeit. Die Attraktivität der Sitten bemisst sich daran, wie viel kreative Munterkeit siegestatten. Sitten, die Recht haben wollen, werden unweigerlich zu Unsitten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 28)

Aus dem gefühlten Mangel an Aufmerksamkeit als stiller Angenommenheit entsteht der Hass auf diejenigen, die einen keines Blickes mehr zu würdigen scheinen. Man unterstellt Ungerechtigkeit, wo Freiheit ist, die eine andere Wahl traf. Dies Verdächtigen verhässlicht und entfernt von der Zuwendung, nach der man so sehnsüchtig strebt. Wut, die andauert, wird Hass, der schließlich den Anderen als Gegner wahrnimmt, den man nicht mehr kritisieren, sondern nur noch vernichten will.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 27)

Schatten über der rechten Hand. – Ist der Todesengel derselbe wie der der Liebe? – Erkennen wir nicht den Schatten aneinander, überall?

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Die Freiheit in der Literatur. – Kein Mensch wird geboren und liest „die Klassiker“.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Immerhin. – Man hat als Mensch genug Zeit bekommen, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Respekt. – Da duzt man die Leute undschon verlieren die allen Respekt – Demokratie!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vorsicht. – Unsere Gesellschaft geht von der Maxime aus, dass, wenn jeder gleichmäßig durch Arbeit verbraucht und gleichzeitig durch Geld versklavt, keiner dem anderen mehr etwas antun kann – Ruhe und Frieden herrscht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

 2023. – Wenn die Vorstellung zu sterben und tot zu sein erträglicher ist als die Demütigung einer Arbeit im Büro.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Dada. – Das Heute schafft noch aus dem unsinnigsten Blödsinn eine Ideologie zu machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Das Beständige. – Wenig auf dieser Erde ist ewig und bleibt über die Zeit hinweg erhalten. Bildung nicht, Geschichte nicht, Bräuche nicht, Sitten nicht. Ewig bleiben Dummheit, Eitelkeit, vielleicht Liebe und Spaß, Tränen und Dunkelheit, weil sie Familie sind.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Theater. – Im unerträglichen Theater unserer Zeit will jeder die Guten, die Superhelden spielen und niemand die Bösen. Ihre Zahl ist deswegen zu klein und die der Guten zu hoch. Damit verflachen beide Seiten ungemein und es entsteht die billigste Seifenoper. Wären wir nicht musikalisch begleitet, wir wollten nach Hause gehen, an den Schreibtisch und unsere Charaktere nochmal gründlich überdenken und -arbeiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Mädchen mit einem Korb Erdbeeren. – Das Wetter ist schön. Ich würde eine junge Frau gegen einen Korb Erdbeeren eintauschen, mir ist sklavenherrisch zu Mute.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Gehe denen aus dem Weg, die keine Sympathie für Komplexität erkennen lassen. Der Unwille zum Komplexen ist der trotzige Halt der Haltlosen und der Jungbrunnen der Verbitterten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 26)

Umgedrehter Nietzscheanismus: Die letzten Menschen als diejenigen, die es auf sich nehmen wollen, die letzten Dingen immer wieder zu durchdenken, ohne an den Abgründen zu zerbrechen, die sich dabei öffnen. Ein besseres Beschreiben erzeugt ein Vertrauen, das mit Normalität impft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 25)

Das Ende der Geschichte kann auch gedacht werden als eine Ohnmacht der alten Deutungen in neuen Verhältnissen. Daher wird der historische Sinn gerne kulturkritisch: Da er sich keinen Reim mehr auf die Lage machen kann, werden die Dinge als katastrophisch interpretiert, anstatt die Sicht auf die Dinge zu revidieren.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 24)

Geist als Betrieb: Als museale Hochkulturmode, als andenkenlose Betriebswirtschaft oder als ressentime Kulturkritik-Industrie.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 23)

Wenn man wieder kreativ sein muss. – Wenn der heutige Kulturmensch keine Idee mehr hat, greift er in die Tastatur und schreibt etwas über die Rolle der Frau, BiPoC oder sonst etwas in der Richtung und kommt sich dabei in seiner Armseligkeit nicht nur rebellisch und progressiv vor, sondern wähnt sich auch als kreativ, wenn er mal wieder über die Rolle der Mutter im Patriarchat spricht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fitness. – Ich kann die aufgepumpten jungen Männer mit ihren hantelgroßen Wasserflaschen und Proteinpülverchen nicht mehr sehen. Soll sich in diesen Figuren der feuchte Traum Nietzsches von der Selbstüberwindung des Menschen, seines Körpers und physiologischen Organismus in Form der kommodifizierten Selbstquantifizierung vollends erfüllt haben?

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Sichtbar durch Agitation. – Der Mensch ist das schöne Tier und, ist er wohl versorgt, von außen immer würdevoll. Das will nicht mehr sagen, als dass die Hülle, die die Natur ihm gibt, auch schon das meiste ist und im inneren Hohlraum, fast nur Schatten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Wissenschaftliche Erlösung: Nach einer neuen Erkenntnis der Gehirnforschung ist es unmöglich, zugleich Angst zu haben und zu singen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 22)

Wer die Möglichkeit des Untergehens ständig für realistisch hält, hat es nötig, sich vor sich selbst unauffällig in den Imaginationen des Schlimmsten zuspüren. Der Mangel des Glaubens an sich wird kompensiert mit dem festen Glauben an die Katastrophe.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 21)

Karriere machen, ohne den Verdacht des Egoismus auf sich zu ziehen, anstrengungslos, unterambitioniert. Aber doch das Verlangen, gesehen zu werden in der bemühten Mühelosigkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 20)

Er verzichtete, aber er sah ganz genau hin, wie viel der bekam, der nicht verzichtete. Der schielende Verzicht hat die schärfsten Augen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 19)

Sinn ist der Ersatz für fehlende Initiative. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, wird offen für die Erfindung von Gründen, wer an seinem Zustand schuld sein soll. Die Langeweile der Haltlosen wird zum Verbrechen der Vitalen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 18)

Philologe sein. – Permanentes Standgericht.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Weil es Mut braucht, sich Künstler zu nennen. –  Kunst ist das Gegenteil von Angst.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Leipzig. – Neben einem anarchisch aus dem Fenster hängenden Banner mit der Aufschrift „Lützi bleibt“, das an Klassenkampf, Demo, Streik, Widerstand und Molotov gemahnt, steht das Hauptversammlungshaus der städtischen Kleingartenvereine. Noch zwei Häuserblöcke weiter, ein Yoga-Studio.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Kreative ist nicht apolitisch. Er interessiert sich nicht einmal für Politik. Erst wenn die Räume enger werden, die ihn animieren, beginnt er sich politisch zu engagieren aus apolitischen Motiven.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 17)

Der Verlierer denkt: „Die Wahrheit, die meinen Sieg verhindert, muss Lüge sein!“ Der Sieger denkt: „Solange ich den Sieg nötig habe, habe ich noch nicht gewonnen.“

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 16)

Wer lange genug allein ist, will sich selber nicht mehr verstehen. Darin liegt die Möglichkeit einer reifen Gedankenlosigkeit. Man treibt dann noch Philosophie wie man Jahreszeiten erlebt. Begriffe und Satzfolgen kommen und gehen wie Kastaniengrün und Septemberhimmel.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 15)

Im gelingenden Bewundern überwindet man sich zu sich. Die Unfähigkeit zur Einzigartigkeit steigert den Drang zur Zugehörigkeit. Wenn Konsens zum Kommando wird, wird Freiheit zur Ungerechtigkeit. Diversität als Inklusivität wäre die bereichernde Teilhabe an Liberalität, deren Bewundern man nicht teilen muss. Der Zustand eines vielfachen Desinteresses ist keine Entfremdung oder Ausbeutung. Wer seine Disziplin gefunden hat, verachtet den Einfallsreichtum der Schuldsuche.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 14)

Früher entsprach der Wahrnehmung der Schönheit das Kompliment. Heute scheint es so, als wäre es das Zeugnis einer fortgeschrittenen Form der Anständigkeit, sich dafür zu schämen, diesen Reflex der Entzückung bei sich überhaupt wahrzunehmen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 13)

Die Freudlosen werden leicht die strengen Apostel eines Sinns des Lebens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 12)

Das Gewissen wächst im Horchen auf das Bewirkte. Es formt sich als Ohr der Reue.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 11)

Seine Entscheidungen infrage zustellen, steigert den Sinn für Verantwortung. Man weiß nie, was man alles getan hat. Die Unabsehbarkeit des Anrichtens weist auf die Reue als ständige Option. Daher ist alles Handeln ein Akt der Reuelosigkeit, den man hofft, verantworten zu können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 10)

Hilflosigkeit: Der letzte Stolz.

(Michael Meyer-Albert, Neue Pfeile und Sprüche, 9)

Die Krise lehrt weite Gedanken oder sie verleiht die zweifelhafte Stärke zu einer unschönen Exzentrik.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 8)

Im fehlerhaften Menschen genießt Gott seine Unfehlbarkeit. Im unfehlbaren Gott erträgt der Mensch seine Fehlbarkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 7)

Wer das wilde Leben nötig hat, denkt nicht wild genug. Golden, treuer Freund, ist alle Theorie. Und fahl des Lebens grauer Baum.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 6)

Erst der Wille zum Nichtwissen erlaubt eine Verkörperung der Wahrheit. Das Wort darf nicht ganz Fleisch werden.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 5)

Poesie. –  Eine Definition: Die Summe all’ dessen, was keine öffentliche Redaktion, die auf ihren Ruf, ihr Image und Inserate achten will, veröffentlichen würde.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Fortschritt. – Wenn die Städter auf das Land und seine der Vergangenheit Zeit entstammenden primitiven Sitten süffisant herabblicken, blickt die Zukunft gehässig auf sie, die Idioten, herab.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Glaube daran, dass es keine Wahrheit gäbe, ist selbst wieder eine Wahrheit, die es auf Dauer nicht mit sich aushält. Zweifel wird dogmatisch, depressiv oder paranoid.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 4)

Die Einsamkeit des Philosophen ist seine gute Gesellschaft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 3)

Wissen ist Ohnmacht. Die Mutigsten beherrschen die Kunst des Vergessens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 2)

Von nichts kommt nichts? Wäre dann der, der nichts tut, schuldloser?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 1)

Nietzsche. – Es geht darum Zündkerzen in den Zeitgeist zu setzen. Entzünden sollen sie andere! Wie im menschlichen Körper ein winziger, brennender, strahlender, leuchtender Kristallsplitter Wahrheit in ein System eingesenkt reicht, um ein Gerinnsel und einen Schlaganfall auszulösen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Rotten, Tribalismus. – Der*Die Deutsche ist Neurotiker*In und chronifiziert, staatlich anerkannt feige. Talent ist in Deutschland rar gesät.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Ablehnung. – Man darf nicht vergessen, dass selbst in dem „je te déteste“ oder „tu me détestes“ eine Form von Beziehung steckt. Sie ist nicht Indifferenz, sondern eine Form von Wille, Wunsch oder Velleität des Dialogs.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Schlagfertigkeit. – Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welche geringen Anlässe die Menschen benutzen, um einer den anderen zu demütigen oder auch nur sein kleines Mütchen am anderen abzukühlen. Dennoch: Auch aus der Ablehnung kann noch eine Lust über das eigene Wachstum, eine Lust an der Ablehnung entspringen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Smalltalk. – Aus oberflächlich und anfänglichen Gesprächen lernt man manchmal Leute kennen (oder erzeugen diese Gespräche ihre Menschen?), die, wenn man ihnen zuhört, genau demjenigen Menschenbild der Konkurrenz entsprechen, von dem die Lehrbücher der Ökonomie scheiben, und es gruselt einen. – Ein Scherz, bitte ein Scherz, nur einen, fleht man innerlich! Und zeig mir, dass es ein Mensch ist! – Man einigt sich auf einige Statusmodalitäten der Berufswahl und stellt einige politische Ansichten zur Schau.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Im Dreck spielen. – Im menschlichen Verkehr liegt doch etwas Dreckiges. Die ganze Summe aus Verlogenheit, Untreue, Illoyalität und Machtspielen, die ihn so unappetitlich, aber gleichzeitig schmerzlich wie unerlässlich machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Kleinlichkeit. – Am Ende des Tages – und man glaubt es kaum – kommt es genau auf die Frage an: Willst du Kaffee oder Tee trinken? – Daran entscheidet sich alles! Ich habe mal eine Frau kennengelernt,die nicht mit der Gewohnheit vertraut war, morgens einen Tee oder Kaffee zu trinken. Sie machte sich schlicht keine Gedanken darum, trank vielleicht mal ein lauwarmes Glas Wasser. Sie ist mir dadurch unheimlich und suspekt geworden. – Einen Tag nachdem ich das geschrieben hatte ging mir mein Wasserkocher kaputt. (Höchste göttliche Ahnung!)

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fähigkeit der Vision. — Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man der Vision — das heisst einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen“ — gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

(Nietzsche, Morgenröthe, 66)

„Alle Wahrheit ist einfach.“ — Ist das nicht zwiefach eine Lüge? —

(Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 4)

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