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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches





Artikel
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Auf bedenklichen Wegen …
Eine Skizze zu Nietzsches Begriff des Wanderns
Auf bedenklichen Wegen …
Eine Skizze zu Nietzsches Begriff des Wanderns


Vielleicht ist es Nietzsches philosophische Haupterrungenschaft, dass er das Denken als einen Vorgang beschrieb, der leibhaftig geschieht. Reflexion ist für ihn eine kooperative Spannung von Leib und Geist. Das Denken ist geerdet in der nervösen Weltoffenheit des Leibes. Nietzsches Umkehrung des Christentums: Das Fleisch wird Wort. Damit zeigt sich Denken in Gesten. Im Folgenden soll eine Skizze geliefert werden, die die Haupttypen dieser reflexiven Gestiken andeutet. Es soll dadurch verdeutlicht werden, was es heißt, wenn sich Nietzsche selbst immer wieder als ein Wanderer beschreibt. Ein intellektueller Rundgang, der vom Stehen und dem Sitzen als Grundmodi der traditionellen Philosophie hin zum Gehen, (Aus-)Wandern und halkyonischen Fliegen als Nietzsches alternativen Modi eines befreiten Denkens und Lebens führt.
Wir gehören nicht zu Denen, die erst zwischen Büchern, auf den Anstoss von Büchern zu Gedanken kommen – unsre Gewohnheit ist, im Freien zu denken, gehend, springend, steigend, tanzend, am liebsten auf einsamen Bergen oder dicht am Meere, da wo selbst die Wege nachdenklich werden.1
I. Stehen
Wer steht, hat etwas zu sagen. Zumindest sollte diese Haltung einem genauen Standpunkt entsprechen, der in der exponierten Lage des Aufrechtseins eine Geltung für sich beansprucht. Die Agora, der Versammlungsplatz der antiken Polis, ist der prototypische Ort der Standpunktvertretung. Wer steht, will Mitsprache. Hannah Arendt sah in einer öffentlichen Mitsprache die Realisierung der vita activa als wesentlicher Dimension des Humanen. Das Streben nach Ruhm durch eine gelungene Interaktion in der Öffentlichkeit legitimiert die Gebürtigkeit, die „Natalität“. Eine solche Interaktion versteht es, den Impuls des Neuen, das mit jedem Leben auf die Welt kommt, in das schon vorhandene Gewand des Üblichen erfolgreich so einzuflechten, dass auch in anderen der Impuls zu ihrer innovativen Mitsprache stimuliert wird. An die Stelle des liegenden „Seins zum Tode“ der Sterblichen, das ihr Lehrer und Liebhaber Martin Heidegger als den dominanten Seinsmodus annahm, tritt bei Arendt das um Mitsprache ringende Sein, das auf der Geburt der Stehenden gründet. Über die „Freiheit frei zu sein“ (Arendt) belehrt jeder Gang durch die Straßen und Plätze einer Stadt. Die Orte des Urbanen erinnern uns gleich einem verborgenen Pantheon an die ruhmvollen Vorfahren, nach denen sie benannt sind. Für das Stehen bedeutet das: Wir stehen in dem Licht der Berühmten auf, die vor uns erfolgreich aufgestanden sind.
II. Sitzen
Wer steht, versteht nicht. Er will wirken. Wer sitzt, will nicht wirken. Er will verstehen. Wer sitzt, vertritt keine Standpunkte, sondern denkt über sie nach, zumindest in den europäischen Traditionsräumen. Blickt man nach Asien, so gewinnt die nichttätige Tätigkeit des Nur-Sitzens – zum Beispiel diejenige des „Zazen“ aus der japanischen Zentradition – vor allem den Zug ins Nicht-Denken. Demgegenüber realisiert sich europäisches Zazen in einer geistigen Sammlung, die durchdachte Zusammenhänge in begrifflicher Kohärenz hervorbringt. Das Unmittelbare versinkt und ein Sinnieren setzt ein, das weitgefasste Themen umfassen lernt. Die Nähe des alltäglichen „Geredes“ (Heidegger) weicht einer Konzentration, die, so das Pathos des sitzenden Denkens, die wesentlichen Dinge ergründet. Das typische Utensil des sitzenden Denkens ist das Buch. Der Sitzende sitzt zumeist um zu lesen und zu schreiben. Lesendes Schreiben und schreibendes Lesen sind die elementaren Bewegungen des sitzenden Denkens.
Das Ergebnis der europäischen sitzenden Bedächtigkeit könnte, wenn das Wort nicht allzukomisch klänge, als „Sitzpunkt“ tituliert werden. Mit dem Sitzen gewinnt das Denken eine erste Transformation. Sie schafft eine außeralltägliche Entschleunigung und Konzentration, die durch den Dialog mit abwesenden Geistern, vermittelt durch das Buch, neue Abstraktionsebenen erfindet und entdeckt. Mit dem Sitzen beginnt die vita contemplativa. Philosophisch ist das Sitzen wie ein luzides Sterben inmitten des Alltags.
Wenn der Sitzende wieder aufsteht, kehrt er zurück in die Welt der Standpunkte. Er tut dies idealerweise nicht nur, um seine alten Ansichten mit neuem Schwung zu vertreten. Wer philosophisch vom Sitzen wieder aufsteht, steht auf mit einer bestärkten aufklärerischen Anteilnahme. Diese äußert sich traditionell durch eine ungeläufig komplexe Form der Rhetorik, die ihre reflexiven Differenzierungsgewinne mitteilen möchte. Durch das Sitzen kommt die Besonnenheit in das Stehen.
III. Gehen
Wer geht, vertritt keine Standpunkte, er denkt auch nicht bloß über sie nach, sondern er denkt über das Nachdenken nach, das über Standpunkte nachdenkt. Mit Nietzsches Ansatz einer leibhaftigen Reflexion erreicht das Denken erstmals den Modus eines wahrhaften Gehens. Seine Idee, Leib und Geist als eine reflexive Nervosität aufeinander zu beziehen, entsteht als ein Verdacht gegenüber der sitzenden Bedächtigkeit und ihrer Grundfarbe des Graus. Nietzsches These: Die Unbeweglichkeit des Sitzens verleitet zu der Hypertrophie einer Bedächtigkeit, die das Leben zu sehr vom geistesgegenwärtigen Geist entfernt:
So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden. – Das Sitzfleisch – […] die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.2
Sitzendes Denken ist für Nietzsche zu unvital, um sachlich über das Leben nachdenken zu können. Es fehlt der Übermut und die Reaktivität der Geistesgegenwart. In der Langsamkeit des besinnlichen Sitzens geraten so schnell die weiten Horizonte und überraschenden Zusammenhänge aus dem Blick. Vor allem fehlt es dem Sitzen an der lebendigen Präsenz. Vor seiner zuschauenden Reflexion verflüchtigen sich die Phänomene. Denken als ein nervöses Reflektieren, das seinen Stimmungen ein Mitspracherecht erteilt, ist für das sitzende Denken ein Affront, der als Irrationalität wegrationalisiert wird.
Demgegenüber weiß der gehende Denker: Das Denken denkt nicht. Es sind Zustände, die denken. Das sitzende Denken ist ein verklemmtes Denken, das alles Mögliche bedenkt, nur nicht seine eigene Steifheit. Nietzsche erweitert so die universelle romantische Ironie gegenüber dem starren Text zu einer physiologischen Ironie gegenüber einer denkenden Identität. Nur weil man auf eine vielfältige Weise da ist, kann man Vielfalt denkend sein. Er dreht Descartes’ „Cogito ergo sum“, „ich denke, also bin ich“, um: „Sum ergo cogito“.
Mit Nietzsche erlangt die Philosophie somit eine erweiterte Sachlichkeit als leibliche Kohärenz. Die gelungene Theorie ist ein Gehen, das in das Erfahren gerät und beweglich genug ist, um es sprachlich auszuloten und zu verdeutlichen. Nietzsches Definition der vita contemplativa ist damit konstruktiv. Die „Denkend-Empfindenden“3 erdichten und verdichten Wirklichkeit durch ihre „vis creativa“ (ebd.), ihre schöpferische Kraft. Idealerweise unterwegs als „Spazierengehen mit Gedanken und Freunden“4. Nietzsche träumt sogar von einer umherschweifenden Urbanität, die seine früheren Träume von einem musikmythischen Bayreuth ablöst. Nach seiner Wagnerjüngerschaft geht es ihm um eine Kultur der Aufklärung mit „stille[n] und weite[n], weitgedehnte[n] Orte[n] zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen Hallengängen […] [W]ir wollen in uns spazieren gehen, wenn wir in diesen Hallen und Gärten wandeln.“5
IV. Wandern als Auswandern
Nietzsches gehendes Denken erkannte in einer kulturtherapeutischen Perspektive, dass eine Gesellschaft, die keine spaziergängerische Intellektualkultur zu Stande bringt, von ressentimen Kompensationen verstimmt wird. Eine sitzende Aufklärung verfällt letztlich einer Agonie, die sich an Moralisierungen auf eine ungute Weise ermuntert, indem sie immer wieder, unterstützt von irrationalen Mythen, zu polarisierenden Standpunkten mobilisiert. Wer das Gehen nicht kultiviert, wird das Marschieren ertragen müssen. Es ist diese giftige Kompensation für eine fehlende moderne Mobilität des Geistes, die Elias Canetti 1960 zu einer tiefsinnigen Deutung des deutschen Wesens und seiner romantischen „Sympathie mit dem Tode“ (Thomas Mann) verleitete: Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. In keinem modernen Land der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland.6
Wer das Marschieren nicht ertragen möchte, wandert aus. Daher ist die Beweglichkeit der Aufklärung ein Wandern. Man wandert, um gehen zu können. Und erst im neuerreichten Gehen wird man fähig, aus den hartnäckig mitgereisten Verstimmungen auszuwandern. So wird der Philosoph als Wanderer, der sich doppelt distanziert – von den Sitten einer Öffentlichkeit und von seinen verinnerlichten Prägungen –, zum Hüter des hellen Seins. Während Hegel den von ihm so genannten „Weg der Verzweiflung“ nur formal andachte, wird dieser für Nietzsche zu einer existenziellen Wahrheit. Krisen der Verzweiflung führen zu Überwindungen, die aus Umstimmungen hervorgehen, sich in Umwertungen kristallisieren und letztlich den Habitus von Umbeseelungen annehmen sollen. Dialektik wird zu einer „Kunst der Transfiguration“7, die sich von der Last der „kommandirenden Werthurtheile[]“8 und ihrer in Fleisch und Blut verinnerlichten Lebensgefühle befreien will. Dazu gehört, dass die Eiseskälte der fehlenden sozialen Nähe ertragen werden kann, um eine neue Lebendigkeit zu erlangen. Wandern besitzt so für Nietzsche, weil es sich überwinden und auch aus sich auswandern muss, die Intensität eines Bergsteigens. Nietzsches Geburt des Gedankens eines übermenschlichen Humanismus entsteht aus dem Geiste eines Daseins in Eis und Hochgebirge, dessen Movens eine „Wanderung im Verbotenen“9 ist. Nietzsches Metaphorik für diese Dimension des wandernden Denkens ist alpin:
Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! wie frei man athmet! wie Viel man unter sich fühlt! – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge […].10
Nietzsches Akklimatisierung an die Höhenluft bedeutet eine strikte Selektion von Ernährung, Wohnort und Art der Erholung. Um sich von Schopenhauers Pessimismus, Wagners romantisierender Tragik, dem preußischdeutschen Militarismus und der Stimmungsmache für die „pathetische und blutige Quacksalberei“11 der Revolutionen zu lösen, hört der Lebenswanderer Nietzsche intensiv Bizet, reist nach Sils und Genua, hält eine strikte Diät ein – „Keine Zwischenmahlzeiten, keinen Café: Café verdüstert. Thee nur morgens zuträglich“12 –, lebt im Verborgenen. Nietzsches Philosophie als „Entschluss zum Lebensdienste“ (Thomas Mann) im Modus des Wanderns ist weniger eine „Arbeit am Begriff“ (Hegel) als eine Kultur des Leiblichen. Dabei verabscheut der Kulturpsychologe Nietzsche „die Hoffnung auf plötzliche Genesung“13 und votiert für einen allmählichen Wandel durch kleine Dosen. Lebensreform des eigenen Lebens statt politischer Revolution gegen das System:
Soll eine Veränderung möglichst in die Tiefe gehen, so gebe man das Mittel in den kleinsten Dosen, aber unablässig auf weite Zeitstrecken hin! Was ist Grosses auf Einmal zu schaffen! So wollen wir uns hüten, den Zustand der Moral, an den wir gewöhnt sind, mit einer neuen Werthschätzung der Dinge Hals über Kopf und unter Gewaltsamkeiten zu vertauschen, – nein, wir wollen in ihm noch lange, lange fortleben – bis wir, sehr spät vermuthlich, inne werden, dass die neue Werthschätzung in uns zur überwiegenden Gewalt geworden ist und dass die kleinen Dosen derselben, an die wir uns von jetzt ab gewöhnen müssen, eine neue Natur in uns gelegt haben.14
Aus Genua schreibt Nietzsche von den Erfolgen seiner postheroischen Einsamkeit:
Wenn die Sonne scheint, gehe ich immer auf einen einsamen Felsen am Meer und liege dort im Freien unter meinem Sonnenschirm still, wie eine Eidechse; das hat mehrere Male meinem Kopfe wieder aufgeholfen. Meer und reiner Himmel! Was habe ich mich früher gequält! Täglich wasche ich den ganzen Körper und namentlich den ganzen Kopf, nebst starkem Frottiren.15
V. Wandern als Überwinden
Durch seine Beweglichkeit der Wanderung kommt aber bei Nietzsche noch eine weitere Dimension zu dieser Kinetik des Denkens hinzu. Nur am Leben zu sein auf therapeutischer Wanderschaft und an seiner Resilienz zu arbeiten, ist zu wenig. Leben will Lebendigkeit. Um sich zu erhalten, muss es sich in seiner Munterkeit steigern. Gehendes Denken mag mutig sein, erst durch das Wandern wird es übermütig. Der Wanderer Nietzsche erkennt: Der Flaschensauerstoff des Philosophen in der einsamen Höhenluft ist Selbstenthusiasmierung als eine Lust an einem neuen Weltentdecken. Wandern wird ein existenzielles Bearbeiten von existenziellen Themen.
Da Nietzsche eine konstitutive Erdung des Geistes im Leib wahrnimmt und reflektiert, muss seine Philosophie eine Thematisierung seiner Existenzspannung sein. Philosophie kommt nicht aus der Haut heraus, die es denken lässt. Der „Perspektivismus“ von Nietzsche hat daher enge Grenzen. Er verläuft in den Bahnen der Grundstimmungen, in denen man lebt. Für Nietzsche heißt das, dass er die bipolare Vitalität seines Lebens philosophieren muss. Im Wechselspiel seiner minimalen und maximalen Vitalwerte kommt sein Denken zur Welt:
Von der Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen und Werthen, und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewissheit des reichen Lebens hinuntersehn in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts – das war meine längste Übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn irgend worin wurde ich darin Meister.16
Nietzsches Wandern meint, mit den Konstitutionsbedingungen eines erwanderten lebendigen Denkens zu experimentieren. Verzweiflungen werden nicht einfach aufgelöst, sie werden vielmehr aufgesucht. Nietzsches Ethos der gefährlichen Philosophie erfindet Sprachspiele, die aus Verzweiflungsspielen hervorgegangen sind. Anders als in Heideggers Der Feldweg – als Manifest des gewollt idyllischen Gehens in der „Weite und Weile“ der horizontalen Gegenden –, gewinnt Nietzsches wilde Besinnlichkeit Vertikalität. Nietzsches Wandern wird zu einer Art Laboratorium für Höhenexperimente, die danach forschen, wie weit man gehen kann. Sloterdijk weist in einer jüngeren Publikation darauf hin, dass vor allem das Phänomen der Vegetationsgrenze eine gewichtige Inspiration für Nietzsche gewesen sein müsste, um bei seinen „Randgängen der Lebendigkeit“ ein erweitertes Verständnis für die Natur und die menschliche Existenz zu erlangen.17 Gerade weil Nietzsche nicht mit beiden Beinen mitten im Leben steht, sondern immer auch jenseits des Lebens und diese Todeszone der Existenz immer wieder aufsucht, entdeckt sich für ihn das Leben neu. So wird aus der Notlage der Wanderschaft die Tugend einer präziseren Philosophie des Lebens. Eine gelungene Rezeption seiner Erkenntnisse und „wahre Ekstasen des Lernens“18 durch seine Philosophie, hält Nietzsche aber nur bei den Lesern für möglich, die seinen Spielraum der Höhen und Tiefen des Lebens nachvollziehen können, „denn ich komme aus Höhen, die kein Vogel je erflog, ich kenne Abgründe, in die noch kein Fuss sich verirrt hat“ (ebd.).
Den Gipfel erreicht Nietzsches gefährliche Meditation des Zwischenbereichs von absolut unwirtlicher Felsenhaftigkeit der Existenz und „unendliche[r] Lichtfülle und Glückstiefe“19 in seiner Idee von der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“, die in ihm nach eigener Aussage im August 1881 an dem Pyramidenfelsen von Surley kam. Nietzsche versucht mit dieser Idee eines modernisierten Kosmos die größte Herausforderung des aus dem Flachland ausgewanderten Wanderers zu bestehen, die darin liegt, dass das Wahre nicht mehr als das Schwere, Ernste, Tragische – man denke an die europäischen Megaprägungen durch Platons melancholisches Konzept der „Anamnesia“ und Augustinus’ düstere Idee der „Erbsünde“ – aufgefasst und passiv ertragen wird. Der Schmerz der Wahrheit und die Wahrheit des Schmerzes wird dabei nicht geleugnet. Der Schmerz wird aber nicht mehr substanzialisiert. Ja zu sagen zu einem Kosmos, der alles genauso noch einmal wiederkehren lässt, bejaht ein Leben als Wanderschaft mit einer unternehmerischen Leistungsbereitschaft zur aktiven Gestaltung der Oszillation von Ankommenlassen und Sichüberwinden als neue Grundform eines postmetaphysischen Lebens, das sich darum bemüht, sein Bestes zu geben. Ohne Erfolge ist das Leben ein Irrtum, aber Scheitern gehört zum Geschäft des Seins. Dabei sein, dabei bleiben, bewusster bezeugen ist alles:
Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins.
Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins.
In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.20
Nietzsches Idee einer ewigen Wiederkunft ist ein postmetaphysisches Gedankenexperiment, das in einer Epoche, die vom Tod Gottes geprägt ist, eine existenzielle Resilienz provoziert. Mit dieser verlieren die in der Moderne politisch so verheerenden Schmerzkompensationen vom erlösenden Ganz-Anderen und vom rettenden Advent, der erhofften Wiederkunft Christi, ihr Charisma.
Das leibliche Denken, das das Spüren in das Reflektieren einführte, muss sich jedoch eingestehen: Die Zeit für eine allgemeine postmetaphysische Beweglichkeit ist noch nicht erreicht. Zuviel verlautbarendes Stehen, larmoyantes Sitzen, entrüstetes Marschieren und verwundetes Auswandern dominiert. Noch herrscht das Ressentiment. Eine entmutigende Philosophie der kulturkritischen Verdächtigung gibt den Ton an.
VI. Wandern als Fliegen
Nietzsches Wandern lässt seine Zeit hinter sich, um erneut in sie eintauchen zu können. Die erschwerte Beweglichkeit, die das Wandern als ein Auswandern aus überlebten Prägungen erfordert, beflügelt das Denken genauso wie die Versuche das Wandern als ein Experiment zu betreiben, das anzeigt, wie weit man gehen kann. Das Resultat ist eine Art physiologischer Dialektik: Im Wandern wandelt sich das Leben, das denkt, und das Denken, das lebt. Nietzsche erkannte: Wandern, das sich in seiner Schwere selbst bejaht, verändert seinen Aggregatzustand. Nun läuft Denken nicht mehr Gefahr, nur die Form eines betulichen Flanierens oder einer frivolen Munterkeit anzunehmen. Das Denken gelangt als ein Über-sich-hinaus-denken zu einem fluiden Modus. Als Über-Denken wird Philosophie zu einem Tanzen und letztlich von der eigenen Thermik getragen zu einem Fliegen. Das Ziel des Wanderns ist das Fliegen. Aus dem Wanderer und seinem Schatten wird ein Flieger und sein Himmel. Wege werden Startbahnen. Im Rückblick kann Nietzsche sagen: „Und all mein Wandern und Bergsteigen: eine Noth war’s nur und ein Behelf des Unbeholfenen: – fliegen allein will mein ganzer Wille“21.
Aus dem Wandern entsteht ein Fliegen, das, wenn es gelingt, halkyonisch wird. Das letzte Denken ist Halkyonik. Die höchste Kinetik des Denkens wiederholt so die Ruhe des antiken Denkens als Schau auf eine reflektiertere Art und Weise. Hier ist kein vormoderner Gott und keine moderne Selbstenthusiasmierung mehr nötig. Dasein reicht. Die Kontingenz, die im modernen Existenzialismus als „Ekel“ (Sartre), als das „Absurde“ (Camus), als „Seinsverlassenheit“ (Heidegger) philosophisch emotionalisiert wird, zeigt sich beim Wanderer Nietzsche als „der Himmel Zufall“ (ebd.). Damit wird der physiologische Stimmungsgrund des Ressentiments trockengelegt. Wenn das Dasein nicht mehr „fundamentalontologisch“ gedeutet wird, als etwas, was von fahlen und absurden Grundstimmungen durchzogen ist, verlieren die tragischen Deutungen des Seins ihre Berechtigung. Wo Heidegger suggeriert, dass „eine tiefe Langweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin und herzieht“22 und den klaren Willen des Erzkonservativen erkennen lässt, aus diesem Phänomen einen neuen Notstand als „Not der Notlosigkeit“ herbeizuphilosophieren, so weist Nietzsches Halkyonismus auf die Unschuld der Kontingenz hin. Langeweile als Flaute des Lebens stellt vielmehr eine Phase da, die neuen Winden vorhergeht. Kein wabernder Nebel taucht das Dasein grundsätzlich in ein fahles Grau. Es liegt vielmehr immer wieder offen zu Tage wie ein weites Feld, auf dem wie im tiefen Licht von Spätsommertagen Weltspannungen auftauchen wie schwebende, silberne Spinnenfäden, die zu Ideen verdichtet werden können. Gedanken werden zu einer Art Luftplankton. Halkyonische Kontingenz entdeckt das Realitätsprinzip als unverhoffte Leichtigkeit. Die deutlichste Verdichtung der hohen Töne, die das denkende Sein preisen, findet sich vielleicht in dem Abschnitt „Vor Sonnenaufgang“ im Zarathustra. In ihm preist das wandernde Cogito den Raum, der es fliegen lässt. Die Höhe als Ferne zum sozialen Du entbirgt eine neue Nähe zum Himmel, als Bedingung der Möglichkeit der Freiheit. Nietzsches Denken, das sich frei gewandert hat, beginnt zu singen, wenn es auf und aus diesen Denkhöhen zu sprechen kommt:
Oh Himmel über mir, du Reiner! Tiefer! Du Licht-Abgrund! Dich schauend schaudere ich vor göttlichen Begierden.
In deine Höhe mich zu werfen – das ist meine Tiefe! In deine Reinheit mich zu bergen – das ist meine Unschuld! [...]
Wir sind Freunde von Anbeginn: uns ist Gram und Grauen und Grund gemeinsam; noch die Sonne ist uns gemeinsam.
Wir reden nicht zu einander, weil wir zu Vieles wissen —: wir schweigen uns an, wir lächeln uns unser Wissen zu. [...]
Zusammen lernten wir Alles; zusammen lernten wir über uns zu uns selber aufsteigen und wolkenlos lächeln: –
– wolkenlos hinab lächeln aus lichten Augen und aus meilenweiter Ferne, wenn unter uns Zwang und Zweck und Schuld wie Regen dampfen.
Und wanderte ich allein: wes hungerte meine Seele in Nächten und Irr-Pfaden? Und stieg ich Berge, wen suchte ich je, wenn nicht dich, auf Bergen?
Und all mein Wandern und Bergsteigen: eine Noth war’s nur und ein Behelf des Unbeholfenen: – fliegen allein will mein ganzer Wille, in dich hinein fliegen!23
Quellen
Canetti, Elias: Masse und Macht. Frankfurt a. M. 1980.
Heidegger, Martin: Grundbegriffe der Metaphysik. Frankfurt a.M. 2001.
Sloterdijk, Peter: Wer noch kein Grau gedacht hat. Berlin 2022.
Fußnoten
1: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 366.
2: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 1.
3: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 301.
4: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 329.
5: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 280.
6: Vgl. Canetti, Masse und Macht, S. 190 f.
7: Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede, Abs. 3.
8: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 380.
10: Ebd.
12: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 1.
14: Ebd.
15: Brief an Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 8. Januar 1881.
16: Ecce Homo, Warum ich so weise bin, 1.
17: Vgl. Sloterdijk, Wer noch kein Grau gedacht hat, S. 207 f.
18: Ecce homo, Warum ich so gute Bücher schreibe, 3.
20: Also sprach Zarathustra, Der Genesene, 2.
21: Also sprach Zarathustra, Vor Sonnen-Aufgang.
22: Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, S. 119.
Auf bedenklichen Wegen …
Eine Skizze zu Nietzsches Begriff des Wanderns
Vielleicht ist es Nietzsches philosophische Haupterrungenschaft, dass er das Denken als einen Vorgang beschrieb, der leibhaftig geschieht. Reflexion ist für ihn eine kooperative Spannung von Leib und Geist. Das Denken ist geerdet in der nervösen Weltoffenheit des Leibes. Nietzsches Umkehrung des Christentums: Das Fleisch wird Wort. Damit zeigt sich Denken in Gesten. Im Folgenden soll eine Skizze geliefert werden, die die Haupttypen dieser reflexiven Gestiken andeutet. Es soll dadurch verdeutlicht werden, was es heißt, wenn sich Nietzsche selbst immer wieder als ein Wanderer beschreibt. Ein intellektueller Rundgang, der vom Stehen und dem Sitzen als Grundmodi der traditionellen Philosophie hin zum Gehen, (Aus-)Wandern und halkyonischen Fliegen als Nietzsches alternativen Modi eines befreiten Denkens und Lebens führt.
Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien I
Vietnam
Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien I
Vietnam


Unsere Autorin Natalie Schulte ist neun Monate in Südostasien mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. 5.500 km hat sie zurückgelegt durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. Mit im Gepäck zur Motivation und Auseinandersetzung war wie schon häufiger Also sprach Zarathustra. Aber auch jenseits dieses Werkes waren Gedanken Nietzsches häufig präsent. In ihrer kurzen Essayreihe erzählt sie von ihren Reiseerfahrungen mit und ohne Nietzsche.

Ankunft
Während ich im anschnalllosen, vor Schmutz starrenden und nach Rauch stinkenden Taxi durch die Straßen von Hanoi gefahren werde und durch die verschmierte Fensterscheibe (Öl, Butter?) nach draußen zu gucken versuche, bekomme ich leichte Zweifel, ob diese Verkehrszone eine glückliche Wahl gewesen ist. Nietzsche ist Wanderer gewesen, er hat herrlich verführerische Sätze über das Reisen zu Fuß geschrieben. Der Reiz des Wanderns hat mich allerdings nie ergriffen. Ich mag es nicht, Berge erst hoch- und dann wieder hinunterzutrotten. In den meisten Fällen blickt der Wandernde auch gar nicht nach oben zu all den farbenprächtigen, wogenden Baumwipfeln und dem azurblauen Himmel, sondern zu Boden. Zu den Steinen und Wurzelfallen, über die auch der außergewöhnlichste Vagabund nicht stolpern will. Noch viel schlimmer ist es, in Gesellschaft zu wandern oder auf gut besuchten Wanderpfaden. Immer den Blick auf den vorangehenden Wandererhintern frustriert mich dieses langsame Geeier bereits nach wenigen Minuten. Wandern in Gesellschaft bringt böse und misanthropische Gedanken hervor, die sich gegen die Schnelleren und Fitteren vor uns richten. Ich wäre auch nicht gern der Vordermann, wenn ich wüsste, dass jemand wie ich mit solchen Gedanken hinter mir ginge.
Wandern zu Aussichtspunkten an schönen Sommertagen erinnert mich an Ameisenkolonien, die in eine hoch gelegene Sackgasse laufen – was suchen sie da oben? Da ist nichts zu fressen –, sich einmal umschauen – „Oh ist das schön, das hat sich aber gelohnt, gell?“ –, um dann wieder den Pfad hinunterzuwuseln, wieder der Vorderfrau hinterher, dann in eine Herberge und am nächsten Tag auf einen anderen Hügel. Ein reichlich sinnloses Unterfangen von einer angenommenen Vogelperspektive aus betrachtet, die ich auf Dauer nicht empfehlen will.

Rollende Sprachfamilie
Reisen mag ich allerdings gerne. Rollendes Reisen auf Rädern, genauer auf einem Fahrrad. Damit bekenne ich mich zu einer relativ neuen deutschen Tradition. Ihr seht im Ausland – gewöhnlicherweise europäisches Ausland – Fahrradreisende, gewöhnlich zwei schnaufende, schwitzende Gestalten im Fahrraddress, mit quietschorangenen Fahrradtaschen, Wasserflasche an der Mittelstange und Handy am Lenker. Dann könnt ihr euch sicher sein, dies sind Deutsche. Wenn nicht, dann ist’s ein Schweizer, also sowas wie ein idealer Deutscher, seltener kann man auch einen Österreicher, Belgier oder Luxemburger auf dem Fahrrad vorfinden, nur jemandem aus Liechtenstein bin ich noch nie begegnet. Dennoch neige ich zur Ansicht, dass es da etwas in der Sprache geben muss, das zur steten, zähen und sicherlich auch etwas monotonen Bewegung verführt. Der deutschsprachige Waldschrat hat seinen Tannenwald verlassen, die gepolsterte Fahrradhose angezogen und den Asphalt erobert.
Nun wird man zugegeben müssen, dass man auch hin und wieder mit dem Fahrrad Berge wird hochfahren müssen, sich genauso wie beim Wandern eher langsam fortbewegt und, wenn man zu zweit reist, es wieder eine Vorderfrau oder so gibt. Ja, das gebe ich zu und ich mag die Berge auf Fahrradreisen lieber von unten und von der Ferne aus, da kann ich sie prächtig genießen. Wenn man sich aber einmal zwangsweise die olle Steigung hinauf gequält hat, dann darf man sie immerhin hinterher hinunterheizen und seine Gedanken frei fliegen lassen.

Fließender Verkehr
Vielleicht, so denke ich allerdings im Taxi, das hupend über eine rote Ampel fährt, hätte ich doch mehr auf Nietzsche hören und es nochmal mit dem Wandern probieren sollen, denn hanoianischer Verkehr verführt nicht gerade zur Selbstbeteiligung. Und ob es mir tatsächlich gelingen wird, lebend aus der Achtmillionen-Einwohner-Stadt mit dem Fahrrad herauszufahren, scheint mir keine Frage mehr zu sein, die ich unbedingt beantwortet haben möchte. Ampeln dienen eher dekorativen Zwecken, weit wichtiger ist das akustische Signal der Hupe: „Achtung hier komme ich“. Immerhin ist der Verkehr in der Innenstadt langsam, denn alles, was sich bewegt, egal ob Fußgänger (in der Regel Touristen), Fahrradfahrer (gewöhnlicherweise ärmere Händler), Rollerfahrer (die dominanteste und größte Menge), Autofahrer (privilegiert, aber leider zu wenig wendig, um sich gegen die Lückenfahrer durchzusetzen), bewegt sich auf der Straße. Es gibt zwar auch Bürgersteige in Hanoi, aber die dienen zum Parken und wenn sie nicht zugeparkt sind, werden sie von den dahintergelegenen Geschäften als zusätzlicher Verkaufs- und Sitzraum belegt. Möchte man eine Straße überqueren, halte man sich an folgende Regel: Laufe langsam und gleichmäßig in den fließenden Verkehr hinein, bleibe nicht stehen und kehre nicht um, der Verkehr wird einfach um dich herum weiter fließen und dich am Leben lassen (wahrscheinlich).

Verkehrsindividualisten und Geisterfahrer
Für Nietzsche herrschen in Asien die Regeln eines Ameisenstaates, in dem jeder seine Rolle und Stellung kennt, der voll ist von willfährigen, gleichgeschalteten Arbeitssklaven. Zwischen China und Vietnam und anderen asiatischen Staaten hat Nietzsche nicht unterschieden. Am liebsten schreibt er von China und der „Chineserei“, was soviel bedeutet wie Mittelmäßigkeit, Mangel an Individualität sowie Bescheidenheit und andere seiner Meinung nach verwerfliche Tugenden.1 Halten wir uns nicht mit der Tatsache auf, dass Nietzsche mitnichten ein Philosoph der politischen Korrektheit gewesen ist. Er wäre es heute nicht und sofern man sich vorstellt, dass es auch damals eine Stimmung gab, die diesem Begriff entsprochen hat, so hat Nietzsche auch zu seinen Lebzeiten den gesellschaftlich angepassten und anständigen Tonfall verpasst. Asien beginnt für ihn, so lassen einige Aphorismen vermuten, in Russland und dann hört Asien lange nicht auf. Viele Differenzen gibt es nicht. Asien ist eine Metapher und keine Realität. Würde Nietzsche das heutige Hanoi besuchen kommen, die Realität würde ihn überraschen. Das sich selbst als kommunistisch begreifende Land – und auch bei Kommunismus bzw. Anarchismus denkt Nietzsche an Gleichschaltung – besteht aus Verkehrsindividualisten. Jeder ist anders, jeder trifft seine Entscheidungen. Soviel Individualismus aushalten zu können, ist für einen Europäer schwer. Müsste man sich nicht zumindest über die „Geisterfahrer“ im Verkehr beschweren und sie lautstark zurechtweisen, diejenigen, die mit ihrem vollbeladenen Gefährt oder ihrem Motorroller einfach in die entgegengesetzte Richtung fahren, weil sie gleich links abbiegen wollen? Aber wie soll man schimpfen, wie sich beschweren, wenn die Hupe, jenes volltönende Instrument der Zurechtweisung, seines ursprünglichen Zweckes beraubt und zu einem bloß deskriptiven Hinweis degradiert wurde?

„heute dies, morgen jenes“
Individualistisch ist auch das Set an Berufen, das die Vietnamesen wählen können. Vormittags ist er Klempner in einer Motorrollerwerkstatt, abends ist er Koch. Sie arbeitet als Friseuse, aber nur ein paar Stunden, denn ihr Geschäft ist auch bestens ausgestattet, um hervorragend dem Beruf einer Schlosserin nachzukommen. Fußmassage im Hinterzimmer, Teeladen im Eingangsbereich, alles kein Problem. Vielfalt statt Einheit, das gilt umso mehr in kulinarischer Hinsicht. Es gibt endlose Stände vom am Abend aus dem Boden schießenden „Minirestaurants“. Aus irgendwelchen Geschäftsräumen in Hinterzimmern von Werkstätten, Kleiderläden, Schuhgeschäften werden Plastikstühle und -tische auf die Straße gestellt. Gaskocher, Töpfe, Lebensmittel und Zutaten desgleichen. Überall steigt Rauch und Dampf diverser exotischer Gerichte auf. Welche Formulare, Genehmigungen, Bescheide, Zertifikate und Sonderzulassungen müsste man sich im guten alten Europa besorgen, um sowohl Werkstatt als auch Restaurant sein zu dürfen? Eins davon ist kompliziert genug. Denn in einem Land, das aus seiner Normalbevölkerung Angestellte machen möchte, ist die „Kleinunternehmerin“ nicht gern gesehen. Wer hier wohl Steuern zahlt? Und wenn ja, für was? Was auf diese Art dem Staat entgeht, das möchte man in unseren Breiten auch nicht zur Selbsternährung tolerieren.

Phantasie ab dem ersten OG
Als Balanceakt zwischen Traumerfüllung und auf Dauer gestelltem Provisorium könnte man auch all die Privatbauten begreifen. Es gibt zwar eine typische Architektur, schmale, lange, hohe Gebäude, die sich, kollektivistisch gesehen, gut und gern in Reih und Glied anordnen ließen, die aber beständig durch ihre künstlerisch individuelle Gestaltung aus dem Gleichmaß heraustanzen wollen: Dort der schmiedeeiserne Balkon, hier eine in einen Erker eingelassene Jungfrau Maria, drüben das Marmorimitat, hüben die zimtfarbenen Säulen. Vor die sorgfältig und phantasievoll gestaltete Fassade ist im Erdgeschoss die hinsichtlich Vielseitigkeit und Hässlichkeit nicht zu überbietende Garage gestellt, der beständige Beweis dafür, dass „form follows function“ keineswegs zu einer ansprechenden Ästhetik führt. Pragmatismus auf der Erde, Phantasie ab dem ersten Ober- bis zum Dachgeschoss. Die vietnamesische Vertikale, hätte die vielleicht Nietzsche gefallen?

Brücken aus Konfekt
Es gibt, so muss ich einsehen, immer ein Problem beim Dialog mit Verstorbenen. Wie kann man sich denn sicher sein, dass er kein Selbstgespräch ist? Wo enden unsere Interpretationen und wo beginnen die Projektionen? Ich hätte gern eine Spezialistin gefragt. Und Vietnam wäre vermutlich ein geeignetes Land dafür gewesen. Denn die Kontaktpflege zu verstorbenen Ahnen mittels Altar und Opfergaben ist allgegenwärtig. Wenn die Brücke zwischen den Reichen Jenseits und Diesseits aus Obst, Dosentee und Süßigkeiten errichtet ist, vielleicht kann dann bei so viel genussreicher Materialität das Jenseits gar nicht zu einer schalen, blassen und unglaubwürdigen Illusion verkommen?! Der Junge der Händlerin kniet ehrfürchtig vor dem Altar, betet oder verhandelt. Dann nimmt er die Drachenfrucht vom Altar fort und reicht sie mir als Geschenk der Toten. Da habe ich schlicht nicht zu fragen gewagt.
Die Bilder zu diesem Artikel sind Photographien der Autorin.
Fußnoten
Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien I
Vietnam
Unsere Autorin Natalie Schulte ist neun Monate in Südostasien mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. 5.500 km hat sie zurückgelegt durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. Mit im Gepäck zur Motivation und Auseinandersetzung war wie schon häufiger Also sprach Zarathustra. Aber auch jenseits dieses Werkes waren Gedanken Nietzsches häufig präsent. In ihrer kurzen Essayreihe erzählt sie von ihren Reiseerfahrungen mit und ohne Nietzsche.
Diskurs, Macht, Wahn
Michel Foucaults Nietzsche-Interpretation revisited
Diskurs, Macht, Wahn
Michel Foucaults Nietzsche-Interpretation revisited


Jüngst erlebte die geisteswissenschaftliche Szene eine kleine Sensation: Im Nachlass Michel Foucaults (1926–1984), eines der bedeutendsten Vertreter des Poststrukturalismus, stießen seine Herausgeber auf ein ausgearbeitetes Buchmanuskript mit dem Titel Le discours philosophique, an dem der bekennende Nietzscheaner 1966 gearbeitet hatte. 2024 erschien es bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung. In dieser umfassenden Analyse des philosophischen Diskurses seit Descartes kommt Nietzsche eine entscheidende Rolle zu. Paul Stephan nimmt dieses Ereignis zum Anlass, sich die bis heute einflussreichste Nietzsche-Interpretation des 20. Jahrhunderts noch einmal genauer anzusehen.

I. Foucault – der Denker unserer Zeit
Daran, dass Foucault ein Nietzscheaner war, besteht kaum ein Zweifel. So hält Jan Rehmann in der ersten Auflage seiner kürzlich neu erschienenen und auch ins Englische übersetzten1 Studie Postmoderner Links-Nietzscheanismus fest: „Foucault hat sich von Beginn bis zum Ende seines Schreibens so durchgängig und häufig als Nietzscheaner bekannt, dass sein ‚fundamentaler Nietzscheanismus‘ in der Literatur kaum umstritten ist.“ (S. 19) Er untermauert dies anhand folgender Collage von Foucaults Selbstbekenntnissen in Sachen Nietzsche:
„Nietzsche war eine Offenbarung für mich“ (1982), „wir brauchten seine Figuren […] des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr, um aus dem Schlaf der Dialektik und der Anthropologie aufzuwachen“ (1963), „eine Einladung, die Kategorie des Subjekts in Frage zu stellen und es ihm selbst zu entreißen“ (1978), seine Ankündigung des Endes des Menschen „hat für uns einen prophetischen Wert angenommen“ (1966), seine „Präsenz ist immer wichtiger“ (1975), „Nietzsche und Heidegger, das war der philosophische Schock“, „aber schließlich hat sich ersterer durchgesetzt“ (1984).2
Ähnliche Huldigungen könnte man auch den Werken von Foucaults philosophischen Mitstreitern Jacques Derrida und Gilles Deleuze entnehmen, die sich gleichermaßen am Projekt des „Poststrukturalismus“ beteiligten, doch Foucaults Interpretation ist es, die den geläufigen Blick nicht nur auf Nietzsche, sondern auch die Welt, weit über den akademischen Diskurs hinaus am entscheidendsten beeinflusst hat. Der beste Beweis: Die Allgegenwart des von ihm federführend mitgeprägten, wenn auch in den verschiedenen Phasen seines Schaffens höchst unterschiedlich definierten, Worts „Diskurs“ selbst.
Foucault gab nicht zuletzt 1966 gemeinsam mit Deleuze die französische Übersetzung von Giorgio Collis und Mazzino Montinaris Neuedition von Nietzsches Schriften heraus, die heute als wissenschaftlicher Standard und Meilenstein in der „Entnazifizierung“ Nietzsches gilt.3 Sie machte insbesondere Nietzsches vermeintliches Hauptwerk Der Wille zur Macht, aus dem Deleuze in seiner Studie Nietzsche und die Philosophie von 1962 noch exzessiv zitiert hatte, als Fiktion Elisabeth Förster-Nietzsches und ihrer Mitarbeiter kenntlich und ersetzte es durch eine heterogene Pluralität zahlloser Nachlassfragmente. Besonders wirkmächtig war jedoch Foucaults Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie von 1971, eine Art Programmschrift seiner Nietzsche-Interpretation wie auch seines eigenen philosophischen Projekts: Nietzsche wird hier als radikaler Kritiker aller fixen Sinngefüge dargestellt, als fröhlicher Nihilist, der insbesondere dem Mythos eines einheitlichen Subjekts qua seiner Auflösung in kontingente historische Kräftespiele ein Ende bereitet habe.
Ich habe in den letzten Jahren wiederholt Seminare zu Foucaults Schriften und vor allem seiner Nietzsche-Interpretation an unterschiedlichen Hochschule und Universitäten unterrichtet und stieß dabei immer wieder auf einen bemerkenswerten Sachverhalt: Trotz der offenkundigen Leerstellen in seiner Theorie – wie insbesondere, wie er diese Theorie selbst aus dem Mahlstrom der Macht zu retten vermag, und ob er nicht implizit selbst normative Maßstäbe, einen Begriff von Wahrheit und sogar von Subjektivität voraussetzt –, werden seine Thesen von den Studenten meist ohne größere Einwände, wenn auch ohne regelrechte Begeisterung, „geschluckt“ und gegen die von mir oft vorgebrachte Kritik verteidigt. Und mir geht es – nach jahrelanger Beschäftigung mit Foucault – auch selbst so: Obwohl ich rational einsehe, dass er als Philosoph zweitrangig ist – in hoffnungslosen Selbstwidersprüchen befangen und in allem Originellen eigentlich nur ein Adept Nietzsches und Heideggers –, verspüre ich bei der Lektüre seiner Schriften eine eigentümliche Vertrautheit, die in einem merkwürdigen Kontrast zu Foucaults radikaler Rhetorik steht, und die nicht bloß das Resultat meiner Lektüre ist.
Wir leben, zumal, wenn wir uns im Diskurs – dieses verfluchte Wort! – der Sozial- und Kulturwissenschaften und von allem, was sich irgendwie als „kritisch“ und „links“ versteht, bewegen, in einem Dispositiv – also einer strategischen Diskursformation, so nennt’s der Meister –, das von Foucault so grundlegend wie von wohl keinem anderen Denker geprägt worden ist. Niemand entwickelte eine so reine, mit der Alltagsintuition so kompatible Version des „Postmodernismus“, der das kulturelle Klima bis in die Gegenwart bestimmt. Niemand, außer vielleicht die erwähnte Schwester, erreichte, im Guten wie im Schlechten, so viel für die Popularisierung Nietzsches und sein Fortwirken; und das, nachdem ihn seine Vereinnahmung durch die Nazis und Faschisten nach 1945 eigentlich so grundlegend desavouiert hatte. Wenn wir Nietzsche lesen, lesen wir ihn stets durch die Brille Foucaults – ja, wir gehen durch die Welt mit Foucaults Augen, er ist derjenige Theoretiker, der wie kein zweiter unsere Zeit definiert.
Das ist nicht unbedingt im Sinne eines Kausalzusammenhangs gemeint. Foucault war vor allem ein guter Diagnostiker, der in geradezu chamäloenhafter Weise, in dieser Hinsicht dem „Seismographen“ (Ernst Jünger) Nietzsche nicht unähnlich, die Grundstimmungen seiner Zeit erfasste und auf, zumindest halbwegs, plausible Begriffe brachte; Begriffe wie „Diskurs“, „Macht“, „Wahn“, „Genealogie“, „Dispositiv“ und viele andere, die nicht primär aufgrund ihrer theoretischen Kohärenz oder philosophischen Tiefe plausibel wirken, sondern eben genau, weil sie jenen Stimmungen entsprechen. Und es sind eben jene Stimmungen einer erschöpften, ihrer einstigen Ideale überdrüssig gewordenen Moderne, die unsere Zeit bis heute bestimmen, selbst wenn wir seit einigen Jahren ein gewisses Revival der objektiven Wahrheit jenseits des referenzlosen Flimmerns der Diskurse (Stichwort: Klima und Corona) und der von Foucaults Mitstreiter François Lyotard so genannten „großen Erzählungen“, deren Ende das „postmoderne Wissen“ definierten, erleben – man denke nur an den neu entdeckten Stolz auf den „freien Westen“ oder die Wiederbelebung längst tot geglaubter nationalistischer und imperialistischer Narrative. Wir leben sicherlich nach der Postmoderne, doch über dieses „Danach“ wurde noch nicht final entschieden. Gerade deswegen lohnt es sich, Foucaults „neues Buch“ einmal genauer in den Blick zu nehmen.

II. Zwischen System und Rausch – Eine eigenwillige Philosophiegeschichte
Foucault verfasste das über 400 Seiten lange unvollendete Manuskript Der Diskurs der Philosophie laut den Herausgebern im Jahr 1966. Es ist schon gespenstisch, das „neue Buch“ eines Toten in den Händen zu halten, der sich zumal, ähnlich wie Kafka, gegen jede posthume Edition seines Nachlasses verwehrte. Gespenstisch ist es allerdings vor allem deswegen, weil es so vertraut wirkt, gerade so, als hätte man es schon einmal gelesen. Das liegt nicht bloß daran, dass Foucault in ihm natürlich frühere Thesen aufgreift und spätere vorwegnimmt; es hat vor allem den Grund, dass er dort seinerseits eine „große Erzählung“ entwirft – dass man offenbar „großer Erzählungen“ bedarf, um das Ende derselben zu untermauern, gehört zu den oft thematisierten Grundparadoxien der Postmoderne –, die 1966 radikal, provokant und skandalös gewesen sein mag, doch 2025 längst Konsens ist, fast ein wenig langweilig und bieder wirkt, jedenfalls abgedroschen.
Langeweile stellt sich beim Lesen zumal ein, da das Buch für Foucaults Verhältnisse – seine Schriften überzeugen nicht zuletzt durch ihre polemisch, witzige und ausgeklügelte Rhetorik, mit der er die erwähnten Stimmungen bewusst mobilisiert und seine intellektuellen Unsauberkeiten übertüncht – äußerst technisch und trocken geschrieben ist. Meine persönliche Hypothese: Vielleicht wollte sich der damals noch nicht „angekommene“ Foucault damit gewissermaßen um einen permanenten Lehrstuhl für Philosophie bewerben. Von Gesellschaftskritik und insbesondere der späteren durchaus mit emanzipatorischen Anliegen zu vereinbarenden Machtkritik, die man heute mit Foucault im Allgemeinen verbindet, enthält das Buch kaum eine Spur, man hat, der Form wie dem Inhalt nach, eher das Gefühl, einen der spröden Wälzer des Systemtheoretikers Niklas Luhmann in den Händen zu halten und bisweilen klingt Foucault hier eher wie Hegel als Nietzsche.
Aufgrund des mitunter sehr technischen und für Laien kaum zugänglichen Charakter des Buches hier nur einige seiner Leitgedanken: Um 1640 – Stichwort: „Cogito ergo sum“ (Descartes) – entwickelte sich eine neue Ordnung des Wissens, innerhalb der die Philosophie eine völlig neue Rolle spielte. Eigentlich kann man Foucault zufolge die Philosophie vor und nach Descartes überhaupt nicht miteinander vergleichen, da beide Diskurse zwar über dieselben Gegenstände sprächen, dies aber in einem ganz anderen Modus täten: Die Philosophie sei vor Descartes Subdisziplin eines einheitlichen Kosmos des Wissens gewesen, nun trete sie Literatur und Wissenschaft als eigenständiger Modus der Wissensproduktion gegenüber. Diese neue „klassische“ Philosophie versuchte, universelle Wahrheit und partikulare Position eines Subjekts zu verbinden. Sie unternahm dies auf unterschiedliche Weisen, wobei Foucault, der vor allem in seinem Spätwerk immer wieder nachzuweisen versucht, wie unterschiedliche Diskurse interagieren und Teil von übergreifenden Machtgeflechten sind, überraschenderweise postuliert, dass sich diese Weisen logisch und notwendig aus Descartes’ Leitsatz ergäben und es keinerlei Wechselwirkung zwischen der Philosophie und den anderen Diskursen gegeben habe.
Von Descartes bis Husserl hätten die Philosophen versucht, eine universelle Wahrheit zu artikulieren, die zugleich die individuelle Wahrheit eines einheitlichen Subjekts ist. Dieses Projekt sei nach nur 300 Jahren an sein Ende gekommen: Das „Ereignis Descartes“ sei durch das „Ereignis Nietzsche“ abgelöst worden. Wenn es um die genaue Definition dieses Ereignisses geht, kippt Foucault von seinem sonst sehr technischen in einen sehr pathetischen und blumigen Stil, wie man ihn aus seinen Schriften eher gewohnt ist. Er beruft sich auf Georges Bataille, einen seiner wichtigsten „Lehrmeister“, und den Erfinder des „Theaters der Grausamkeit“, Antonin Artaud, beide überzeugte Nietzscheaner, und preist Nietzsche als eine Art Messias eines „radikale[n] Neuanfang[s]“ (S. 202), eines „zweite[n] Morgen[s]“ (ebd.) der Philosophie. Er bezieht sich vor allem auf Ecce homo und erblickt in Nietzsches Schriften ein Denken, in dem das einheitliche Subjekt durch eine „Vielheit von Subjekten“ (S. 212), einen „große[n] Pluralismus“ (S. 213), „eine nicht entzifferbare Vielheit von Masken oder Gesichtern“ (ebd.) ersetzt werde, in dem sich Philosophie und Literatur, Philosophie und Wahnsinn und sogar Philosophie und Religion aneinander annäherten: „[I]n diesem Sinne wird der philosophische Diskurs vom religiösen Diskurs nicht so weit entfernt sein: aber keine Exegese; das Wort Christi selbst.“ (S. 208)
Nüchterner fährt Foucault dann damit fort, dieses Projekt in den Kontext des allgemeinen linguistic turn – also die ab 1945 in den Geisteswissenschaften bestimmende Wendung vom Bewusstsein hin zur Sprache – zu stellen und versucht sich darin, die Methodologie einer „Archäologie“ als Analyse des „Diskurs-Archivs“ einer Kultur zu entwickeln, die er freilich abbricht. Vielleicht ist ihm selbst aufgefallen, dass zwischen einer solchen „Archäologie“ als minutiöser, seriös daherkommender Diskursanalyse und einem an Bataille und Artaud anknüpfenden Lob der Desubjektivierung und des anarchischen Mythos Welten liegen. Und wie erwähnt ist hier auch von „Macht“ noch keine Rede: Es waren womöglich erst die Ereignisse von 1968, die Foucault dazu brachten, seine Diskursanalyse entsprechend zu (re)politisieren und wieder stärker an seine ersten Werke Wahnsinn und Gesellschaft (1961) und Die Geburt der Klinik (1963) anzuknüpfen.

III. Was kommt nach der Postmoderne?
Freilich sind diese drei Grundtendenzen – Diskursanalyse, Kritik der Macht, Lob der Desubjektivierung – in Foucaults Denken ohnehin nicht besonders gut vermittelt. Doch das macht vielleicht genau seinen Erfolg aus. Ganz wie bei Nietzsche kann sich jeder seinen Foucault zusammenbasteln und er selbst scheint sich, wie man unschwer erkennen kann, wenn man seine zahlreichen Interviews betrachtet, in der Rolle des vieldeutigen Theoriedandys und schillernden Provokateurs auf dem schmalen Grat zwischen edginess und Machtposition im akademischen Betrieb gefallen zu haben. Im Mainstream wirkt er vor allem als Stichwortgeber einer „unideologischen“ Kulturwissenschaft ohne existenzphilosophischen, marxistischen oder psychoanalytischen Ballast, in linken Kreisen als – vielleicht sogar anarchistischer – Kritiker an repressiven Machtstrukturen, Künstlern und Künstlerphilosophen gilt er als Fortsetzer Batailles.
Die Grundstimmung, der Foucault Ausdruck verleiht: Man will kritisch sein und weist „repressive“ Ideologien zurück, doch möchte sich darum ebenso wenig mit allzu viel „metaphysischem“ Ballast bepacken, wie es noch die letzten großen „Systemlebauer“ des 20. Jahrhunderts in der Generation vor Foucault wie Adorno, Sartre, Bloch und Heidegger taten, in wie gebrochener Form auch immer. Foucault entpuppt sich so als recht präziser Vordenker dessen, was man heute als „linksliberalen Mainstream“ bezeichnet und ermöglicht in seiner Vieldeutigkeit je nach Bedarf mal mehr mal weniger radikale Anknüpfungen. Sein weitgehender Verzicht auf starke, nicht bloß ästhetisch motivierte, Werturteile lässt es ohnehin zu, seine Analysen stets sowohl als bloße Beschreibungen als auch als Kritiken zu lesen, selbst wenn von seinem Tonfall meist eine gewisse Wertung impliziert wird. Ein bisschen Kritik, ein bisschen Zynismus; ein bisschen Liberalität, aber bloß keine Systemkritik; individuelle „Lebenskunst“, aber bitte keine anspruchsvolle Ethik der Authentizität; Faszination an der Desubjektivierung, aber bitte nur in Kunst und Literatur … Foucault: Der führende Ideologe des juste milieu unserer Zeit.
Wie kommen wir nun über diese Ideologie hinaus und durchschauen sie, vielleicht sogar von Foucault selbst inspiriert, ihrerseits als Dispositiv der Macht, das uns unterdrückt und in unseren Lebensmöglichkeiten beschneidet? Was kommt nach der Postmoderne? Und sollten wir uns überhaupt nach „nachpostmodernen“ Zuständen sehnen? Vielleicht werden wir die Postmoderne als die Ära Foucaults und Deleuzes einmal mit ebenso viel sentimentaler Wehmut betrachten wie Nietzsche bisweilen das 18. Jahrhundert Rousseaus und Voltaires …4 Erst, wenn die faszinierten Pfaffen wieder die Waffen für die Kriege eines neuen Imperialismus segnen werden,5 werden wir den fröhlichen Nihilismus der Postmoderne vielleicht wieder zu schätzen wissen, doch dann mag es zu spät sein …
Oder ist ein anderer Ausweg möglich, der jenseits der Alternative von repressiven „großen Erzählungen“ und großer Erzählung über das Ende der großen Erzählungen liegt? Ein Weg dorthin mag eine unbefangene Relektüre der Schriften Nietzsches sein. Wenn Nietzsche etwa im Zarathustra verkündet: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch“6, ist das nicht im Sinne einer Reartikulation und vielleicht sogar Radikalisierung des klassischen Humanismus zu verstehen anstatt im Sinne eines „Tods des Menschen“, wie ihn Foucault Nietzsches Schriften als Diagnose wie Appell entnehmen zu können glaubte? Und der „letzte Mensch“, den Zarathustra dem Übermenschen gegenüberstellt, ist das nicht genau der selbstzufriedene, ohne „große Erzählungen“ lebende „Postmensch“ der Postmoderne? Sind sie nicht diejenigen, von denen es heißt: „[F]rech in kurzen Lüsten, und über den Tag hin warfen sie kaum noch Ziele“7, und sind sie nicht „die Buntgesprenkelten […][,] die ihr Gemälde seid von Allem, was je geglaubt wurde“8, Maskenmenschen ohne Identität, für die gerade der späte Nietzsche nur Verachtung übrig hatte? In Ecce homo scheint er gerade nicht die Desubjektivierung zu predigen, sondern sich im Gegenteil geradezu krampfhaft um eine „Selbstvertheidigung“9 als Abwehr des einsetzenden Wahns zu bemühen und ein kühnes Programm zu verkündigen, das geradezu antipostmodernistisch wirkt:
Meine Aufgabe, einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen grossen Mittag, wo sie zurückschaut und hinausschaut, wo sie aus der Herrschaft des Zufalls und der Priester heraustritt und die Frage des warum?, des wozu? zum ersten Male als Ganzes stellt –, diese Aufgabe folgt mit Nothwendigkeit aus der Einsicht, dass die Menschheit nicht von selber auf dem rechten Wege ist, dass sie durchaus nicht göttlich regiert wird, dass vielmehr gerade unter ihren heiligsten Werthbegriffen der Instinkt der Verneinung, der Verderbniss, der décadence-Instinkt verführerisch gewaltet hat.10
Auch der späte Nietzsche möchte nicht, wie Foucault in besagtem Essay behauptet, ein Wissen, das bloß dem Zerschneiden, jedoch nicht dem Verstehen dient (vgl. S. 180), sondern seine zerschneidende Kritik ist an ein primär bejahendes Projekt rückgekoppelt, das durchaus als Fortsetzung von demjenigen der Aufklärung begriffen werden kann: Die Menschen sollen sich in moralischen Fragen nicht mehr der bevormundenden Herrschaft von Natur und Ideologie unterwerfen, sondern endlich auf der Grundlage der Einsicht in ihre natürlichen Triebkräfte eine menschenfreundliche autonome Moral entwickeln. Man mag mit der konkreten Ausgestaltung dieser Moral in Nietzsches Spätwerk nicht einverstanden sein, doch dieses – ja bewusst offen formulierte – Programm bleibt zukunftsweisend. Es zeugt von wenig interpretatorischer Redlichkeit, darin bloß den Ausdruck eines ironisch-satirischen Maskenspiels zu erblicken, selbst wenn Nietzsches Gestus in Ecce homo grotesk wirken mag. Vielleicht wirkt er ja nur bizarr und größenwahnsinnig aus der Perspektive unserer eigenen Kleingeistigkeit und aufgrund der Verkümmerung unserer utopischen Phantasie?
Mit anderen Worten: Eine auf Nietzsche gestützte Neomoderne statt Postmoderne, das wäre vielleicht eine Alternative zu den ideologischen Radikalisierungen, die sich zu allem Überfluss auch noch auf Nietzsche berufen, und dem fortgesetzten postmodernen Skeptizismus, der ihnen gegenüber ohnmächtig bleibt? Oder handelte es sich dabei nicht nur wieder um ein neues „Dispositiv der Macht“, aus deren Fängen es ja, so der späte Foucault, ohnehin kein Entrinnen gäbe? Eine Frage, die wir nicht der Welt stellen, sondern die sie uns stellt …

Quelle des Artikelbilds: https://www.flickr.com/photos/kongniffe/5340624604
Literatur
Foucault, Michel: Der Diskurs der Philosophie. Berlin 2024.
Ders.: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Schriften. Dits et Ecrits. Bd. 2. Hg. v. Daniel Defert & François Ewald. Frankfurt a. M. 2002, S.166–191.
King, Matthew & Matthew Shape: On Jan Rehmann’s Deconstructing Postmodern Nietzscheanism: Foucault & Deleuze. In: Historical Materialism, online.
Rehmann, Jan: Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion. 1. Aufl. Bonn 2004.
Ders.: Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion. 2. Aufl. Kassel 2021.
Fußnoten
1: Vgl. für eine umfangreiche Rezension und Würdigung dieser Übersetzung Matthew King & Matthew Shape, On Jan Rehmann’s Deconstructing Postmodern Nietzscheanism (Link).
2: Ebd.
3: Vgl. dazu auch die Anmerkungen Jonas Pohlers in seinem Bericht über die vergangene Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft auf diesem Blog (Link).
4: Vgl. etwa Jenseits von Gut und Böse, Aph. 245.
5: Und eigentlich ist ja schon längst so weit …
6: Vorrede, 5.
7: Also sprach Zarathustra, Vom Baum am Berge.
8: Also sprach Zarathustra, Vom Lande der Bildung.
10: Ecce homo, Morgenröthe, 2.
Diskurs, Macht, Wahn
Michel Foucaults Nietzsche-Interpretation revisited
Jüngst erlebte die geisteswissenschaftliche Szene eine kleine Sensation: Im Nachlass Michel Foucaults (1926–1984), eines der bedeutendsten Vertreter des Poststrukturalismus, stießen seine Herausgeber auf ein ausgearbeitetes Buchmanuskript mit dem Titel Le discours philosophique, an dem der bekennende Nietzscheaner 1966 gearbeitet hatte. 2024 erschien es bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung. In dieser umfassenden Analyse des philosophischen Diskurses seit Descartes kommt Nietzsche eine entscheidende Rolle zu. Paul Stephan nimmt dieses Ereignis zum Anlass, sich die bis heute einflussreichste Nietzsche-Interpretation des 20. Jahrhunderts noch einmal genauer anzusehen.
Der Abdruck des Erziehers
Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches II
Der Abdruck des Erziehers
Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches II


Nachdem Tom Bildstein im ersten Teil dieses Artikels (Link) darlegte, wie sich Nietzsche im Laufe der 1870er Jahre vom Schopenhauer-Verehrer zum -Kritiker wandelte, untersucht er im Folgenden genauer, wie der reife Nietzsche Schopenhauers Pessimismus überwinden und ihm eine „lebensbejahende“ Philosophie entgegensetzen möchte. Schopenhauers „Wille zum Leben“, den der Misanthrop asketisch verneint sehen möchte, soll dem „Willen zur Macht“ weichen als Grundprinzip allen Lebens, das sich nicht widerspruchslos verneinen lässt.
Teil II: Nietzsches Schopenhauer-Kritik
V. Der Kampf gegen den nihilistischen Pessimismus
Der Wille stellt für Schopenhauer das monistische Weltprinzip dar, auf das alle Welterscheinungen zurückgeführt werden können. Es ist das metaphysische Wesen, das dem kantischen Ding an sich zugrunde liegt, das, was „das innere Wesen der Dinge ausmacht“15. Nietzsche setzt sich mit dem Schopenhauerschen Willensbegriff intensiv auseinander und betrachtet ihn als eine metaphysische Hypothese, die es zu widerlegen gilt, um eine das Leben konsequent bejahende Philosophie aus der Taufe heben zu können. Der Kampf gegen die Schopenhauersche Willensthese verwandelt sich bei Nietzsche zu einem Kampf gegen den nihilistischen Pessimismus.
Der Pessimismus an sich ist für Nietzsche eigentlich nicht das Hauptproblem: „Nicht der Pessimismus (eine Form des Hedonismus) ist die große Gefahr […] [,] [s]ondern die Sinnlosigkeit alles Geschehens!“16. Schopenhauers Begriff des Willens zum Leben, der die verschiedenen Manifestationen des ewigen Willens in der Stufenleiter der Natur unter einen einheitlichen Ausdruck eines „blinden Drangs“ bringt, der alle Lebewesen unermüdlich zur Sättigung des egoistischen Überlebenstriebs treibt und die Welt somit zum „Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen“17 macht, hat eine in Nietzsches Augen lebensgefährliche Abwertung des Daseins zur Folge. In Der Antichrist (1888) macht er deutlich: „Schopenhauer war lebensfeindlich: deshalb wurde ihm das Mitleid zur Tugend“18.
Nietzsche spielt mit seiner Aussage auf die im vierten und letzten Hauptteil der Welt als Wille und Vorstellung vorgetragene Mitleidsethik an. Der Schopenhauersche Begriff des Willens zum Leben birgt in sich schon das Moment seiner Negation. Diese nihilistische Moral der Selbstaufhebung des Willens führt ins Nichts, das bezeichnenderweise dem Schlusswort des Schopenhauerschen Hauptwerks entspricht. Diese von Schopenhauer selbst auch als Askesis verstandene Moral der Willensnegation präsentiert er als „die selbstgewählte büßende Lebensart und Selbstkasteiung zur anhaltenden Mortifikation des Willens“19. Diesen Lebensstil und seinen vernichtenden Umgang mit dem Willen zum – negativen – philosophischen Ausgangspunkt seines eigenen Mammutprojektes, der „Umwertung aller Werte“, machend, entwickelt sich Nietzsche schrittweise zum Anti-Schopenhauerianer.
VI. Wille zum Leben oder Wille zur Macht?
Seinen Begriff des Willens zur Macht konzipiert Nietzsche als einen doppelten Gegenentwurf zum Schopenhauerschen Willen zum Leben. Dieses Antimodell ist insofern doppelt, als es aus einer zweifachen, „ethischen“ und „metaphysischen“ – zwei Termini, die strenggenommen nicht mehr zu Nietzsches Philosophieverständnis passen – Opposition gegen die Schopenhauersche Philosophie erwächst. Der Begriff des Willens zum Leben spiegelt die multiplen physio-psychologischen Kämpfe, die die Wirklichkeit von innen her strukturieren, in Nietzsches Augen unzureichend wider. 1882 trifft er die Aussage: „Wille zum Leben? Ich fand an seiner Stelle immer nur Wille zur Macht“20.
Der Wille zur Macht ist ein verwickelter Begriff: Der Sinn und die zentrale Rolle, die Nietzsche ihm zuerteilt, sind schwierig zu entschlüsseln. Es ist nicht ganz klar, ob es sich, wie bei Schopenhauer, um einen Begriff mit metaphysischem Anspruch oder vielmehr um ein regulatives Prinzip einer neuen Lebensführung handelt. Denn man findet in Nietzsches Schriften Stellen, die sowohl die eine als auch die andere Hypothese bestätigen. In einem Nachlassfragment von 1885 trifft er beispielsweise eine stark an die Schopenhauersche Metaphysik erinnernde Aussage: „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“21. Später heißt es jedoch in einem Fragment, das den Titel „Wille zur Macht als Erkenntniss“ trägt – eine Idee, die Martin Heidegger zum Hauptgegenstand seiner Vorlesung vom Sommersemester 1939 an der Universität Freiburg machen wird22 –, dass es ihm mit seinem Begriff des Willens zur Macht weniger darum geht, die wahre Erkenntnis des Weltwesens zu offenbaren, als „dem Chaos so viel Regularität und Formen auf[zu]erlegen, als es unserem praktischen Bedürfniß genug thut“23.
Sicher ist, dass Nietzsche mit seiner Lehre vom Willen zur Macht den Versuch einer alternativen Auslegung und Bewertung des Lebens stellt, die einer neuen, gegen Schopenhauer gerichteten Lebensführung den Weg bereiten soll. Ziel ist es, mit anderen Worten, sich der nihilistischen Grundvorstellung zu widersetzen, wonach der Hauptantrieb des Menschen einem „blinden Drang“ zum Leben entspricht, der ihn dazu verleitet, ohne Grund an der Erhaltung seines Daseins festzuhalten – und im Gegenzug zu beweisen, dass der Mensch in Wahrheit nicht nach seinem (Über-)Leben, sondern nach Macht strebt.
VII. Ja oder nein?
Die gegensätzlichen Lebens- und Weltauslegungen beider Denker – als Spiegelbild des Willens zur Macht oder des Willens zum Leben – gehen mit gegensätzlichen Vorstellungen vom Sinn des Lebens einher. Die Schopenhauersche Daseinsauffassung als Manifestation des blinden, unersättlichen Willens zum Leben führt zwangsläufig zu seiner völligen Selbstverneinung. Im vierten Buch des ersten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung macht Schopenhauer deutlich, „daß das Leiden dem Leben wesentlich ist und daher nicht von außen auf uns einströmt, sondern jeder die unversiegbare Quelle desselben in seinem eigenen Inneren herumträgt“24. Der Schopenhauerschen Beantwortung der „Sinn-des-Lebens-Frage“ liegt also eine doppelte These zugrunde: Erstens, dass Leben und Leiden wesentlich zusammengehören, und zweitens, dass das Leiden sinnlos ist und somit vermieden werden sollte. Die Leidensvermeidung als Lebensaufgabe, die Schopenhauer nicht im hedonistischen Sinne eines Strebens nach Sinnenlust versteht – denn alles Glück ist negativer Natur und besteht nur in einer kurzen Unterbrechung der einzig „positiven“ Mangelerscheinung – kann nur durch eine asketische Negation dessen, wovon das ewige Leid seine Nahrung erhält, vom Willen zum Leben, geschehen. Die Schopenhauersche Philosophie, die man durchaus mit Rudolf Malter25 als eine Soteriologie26 verstehen kann, reagiert demzufolge mit einem entschiedenen „Nein!“ auf den egoistischen Willen zum Leben, um nicht nur dem individuellen, sondern auch dem Leid in der Welt allgemein ein Ende zu setzen.
Nietzsche reagiert ganz anders auf das Problem des Leidenscharakters des Lebens. Das neue Leben, das er mit der Idee des Willens zur Macht zu denken sucht, setzt eine gewisse Leidensbereitschaft des Menschen, einen gewissen Willen zum Leiden voraus. „Der Wille zum Leiden ist sofort da, wenn die Macht groß genug ist“27, schreibt Nietzsche 1883 in sein Notizbuch. Sein „wahrer“ Pessimismus kommt mit diesem Begriff des Willens zum Leiden zur Geltung. Seine alternative Vorstellung des Pessimismus, die er ebenfalls als einen „Pessimismus der Stärke“ oder als einen „klassischen Pessimismus“ bezeichnet, richtet Nietzsche gegen den „romantischen“ Pessimismus, den in seinen Augen nicht nur Schopenhauer, sondern auch Alfred De Vigny, Fjodor Dostojewski, Giacomo Leopardi, Pascal und alle Weltreligionen vertreten.
Gegen diese Vertreter des romantischen Pessimismus, vor allem aber gegen Schopenhauers Negation des Willens zum Leben, soll „ein höchster Zustand der Daseins-Bejahung concipirt [werden], in dem sogar der Schmerz, jede Art von Schmerz als Mittel der Steigerung ewig einbegriffen ist: der tragisch-dionysische Zustand“28. Mit seinem tragisch-dionysischen Pessimismus antwortet Nietzsche somit auf die Frage nach dem In-Kauf-Nehmen des Leids für das Leben im genau entgegensetzten Sinne zum Schopenhauerschen „Nein!“ mit einem überzeugten, durchaus kämpferischen und neuen „Ja!“.
VIII. Atheismus und Amoralismus
Seit Schopenhauer muss die Philosophie auf eines ihrer ältesten und stärksten Argumente zur Erklärung dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, verzichten: Gott. Die Wirklichkeit verlangt nun nach einer atheistischen Auslegung ihrer selbst; sie will als solche, d. h. nicht mehr als bloßes Geschöpf eines unerreichbaren Schöpfers wahrgenommen werden. Der Anspruch, den Schopenhauer an die Philosophie stellt und der darin besteht, das Wesen der Welt ohne den Rückhalt einer ultimativen Gottesthese zu deuten, imponiert Nietzsche. In seinen Augen war Schopenhauer „als Philosoph der erste eingeständliche und unbeugsame Atheist, den wir Deutschen gehabt haben“29.
An den Schopenhauerschen, für eine neue, anti-transzendente Methode richtungsweisenden Atheismus, wird Nietzsche mit seiner Philosophie unmittelbar anknüpfen. „Der Atheismus war das, was mich zu Schopenhauer führte“30, erklärt er in Ecce Homo (1889). Auch in diesem Zusammenhang wird Nietzsche mehr die Diagnose, die Schopenhauer vom Zustand der Metaphysik macht, als das von ihm vorgeschlagene Therapeutikum wertschätzen. Denn Gottes Tod führt bei Schopenhauer, anders als bei Nietzsche, nicht gleichzeitig zum Untergang der moralischen Werte. Atheismus und Amoralismus gehen für Schopenhauer nicht miteinander einher. Obwohl er der christlichen Gotteslehre nicht folgt, bleibt er der philanthropischen Moral des Christentums nichtsdestotrotz treu. Die Menschenliebe (caritas), die als erstes vom Christentum „theoretisch zur Sprache gebracht und förmlich als Tugend, und zwar als die größte von allen, aufgestellt“31 wurde, erkennt Schopenhauer als das allerwichtigste Prinzip der in einem engen Zusammenhang mit seiner Metaphysik stehenden Moral an. Er bleibt somit Christ im Herzen, wenngleich er die christliche Gotteslehre mit seiner Vernunft verwirft.
Nietzsche geht insofern einen bedeutenden Schritt weiter als sein Erzieher. In seinen Augen war dieser noch viel zu sehr Moralist, um die Notwendigkeit der Ankunft eines neuen mächtigen, lebensbejahenden Menschen zu erkennen. „Schopenhauer war nicht stark genug zu einem neuen Ja“32, heißt es in einem nachgelassenen Fragment aus dem Jahre 1887. Dieses neue „Ja“, zu dem er seine Leser gegen seinen Erzieher erziehen will, setzt eine Überwindung der Moral voraus. Um die Moral zu überwinden, muss der Mensch den Hang zum Mitleid gegenüber seinen Mitmenschen, den Nietzsche im Gegensatz zu Schopenhauer nicht als „natürlich“, sondern als kulturell erschaffen betrachtet, vehement bekämpfen. „Die Überwindung des Mitleids rechne ich unter die vornehmen Tugenden“33, wird Nietzsche somit in Ecce Homo schreiben. Doch wer ist dieser Überwinder der Moral, der am Ende als das Ideal der Selbsterziehung des Menschen vor Nietzsches Augen steht?
IX. Der „Buddha von Frankfurt“ gegen das „umgekehrte“ Zarathustra-Ideal
Schopenhauers Denken wurde nachhaltig von seinen antagonistischen Jugenderlebnissen der übermannenden Schönheit der Natur und dem niederschmetternden Elend des Menschen- und Tierreichs geprägt. In einem Rückblick auf seine Jugend schreibt der zu diesem Zeitpunkt schon in der Mitte seiner Vierzigerjahre stehende Privatgelehrte: „In meinem 17ten Jahre, ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte“34. Die nicht nur für seine eigene Philosophie, sondern auch für sein Selbstverständnis als Mensch eine zentrale Rolle spielende Buddha-Figur wird Schopenhauer sogar über seinen Tod hinaus begleiten. Bis heute geben manche seiner aufmerksamen Leser:innen ihm den Beinamen „der Buddha von Frankfurt“.
Auch Nietzsche nennt Schopenhauer und Buddha in einem Atemzug. Das Ziel seiner Philosophie besteht jedoch darin, sich über die schopenhauerianisch-buddhistische Anschauung des Lebens hinwegzusetzen, um einem neuen Propheten eine Bühne zu bieten. Es geht ihm darum, dass die Menschheit, vermittelst eines neuen „Hellsehers“, eine neue „frohe Botschaft“ erhält, wonach das Leben „nicht mehr, wie Buddha und Schopenhauer, im Bann und Wahne der Moral“35 betrachtet werden muss. Nietzsche will uns die Augen für ein „umgekehrte[s] Ideal“ öffnen, nämlich „für das Ideal des übermüthigsten[,] lebendigsten und weltbejahendsten Menschen“ (ebd.).
Der Prophet dieser radikalen Affirmation der Welt und des Lebens heißt Zarathustra. Allerdings hat die Figur, die man in Nietzsches Werken wiederfindet, anders als die Buddha-Referenz im Schopenhauerschen Denken, nicht viel mit der historisch übermittelten Lehre des Gründers des Zoroastrismus zu tun. Nietzsches Zarathustra vermittelt seinen Jüngern eine bis dahin noch nie ausgesprochene Lehre: jene des Übermenschen, mit welcher er „der Menschheit das grösste Geschenk gemacht, das ihr bisher gemacht worden ist“36. Dieses Geschenk besteht in Nietzsches Augen darin, die Menschheit vom traditionell überlieferten Laster des schlechten Gewissens, des erlahmenden Selbstmitleids und der überzeugten Selbstkasteiung befreit zu haben.
Der Zarathustra Nietzsches erkennt, wie der Buddha Schopenhauers, den immerwährenden Kreislauf des Seins, doch er zieht aus dieser Erkenntnis einen anderen Schluss; Ziel des Lebens ist es nicht, diesen ewigen Kreislauf wie im Buddhismus zu durchbrechen, sondern „die ewige Wiederkunft des Gleichen“ zu wollen:
Zarathustra ist ein Tänzer –; wie der, welcher die härteste, die furchtbarste Einsicht in die Realität hat, welcher den „abgründlichsten Gedanken“ gedacht hat, trotzdem darin keinen Einwand gegen das Dasein, selbst nicht gegen dessen ewige Wiederkunft findet, — vielmehr einen Grund noch hinzu, das ewige Ja zu allen Dingen selbst zu sein, „das ungeheure unbegrenzte Ja- und Amen-sagen.“37
X. Fazit: Rosenkrieg und Patrizid
Aus unseren überblickenden Betrachtungen der Werke und nachgelassenen Fragmente Nietzsches lässt sich zweifelsohne schließen, dass die Themen, Motive und Argumente der Schopenhauerschen Philosophie eine zentrale, omnipräsente Rolle in seinem Denken spielen. Der Wille zum Leben und zur Macht, der Pessimismus, der Atheismus, die ewige Wiederkunft, der Nihilismus, das Mitleid, die Musik als Metaphysik, das Genie: Jedes dieser Hauptmotive der Nietzscheschen Philosophie findet im Denken Schopenhauers ein Vorbild.
Der Erzieher, der ihm in seinen jungen Jahren eine tiefere, willensphilosophische und pessimistische Sicht auf die Welt bot, blieb bis zum Schluss eine intellektuelle Herausforderung für Nietzsche: Das Modell eines Philosophen, für das er selbst die Alternative sein wollte. Die Geschichte der Nietzsche-Schopenhauer-Beziehung entspricht demnach einer sich in einen Rosenkrieg verwandelnden, einseitigen Liebesgeschichte. Nicht bei der Weltanschauung seines geliebten Erziehers stehen zu bleiben, sondern, von ihr ausgehend, eine gegensätzliche, größere Sicht der Dinge anzubieten: Darauf kam es Nietzsche wirklich an. Ob er Schopenhauer in allen Punkten richtig verstanden hat, spielt für ihn letztlich keine große Rolle. Am Ende zählt für ihn vor allem eins; sein im Dienste des Übermenschen vollbrachter Patrizid:
Ich bin fern davon zu glauben, dass ich Schopenhauer richtig verstanden habe, sondern nur mich selber habe ich durch Schopenhauer ein weniges besser verstehen gelernt; das ist es, weshalb ich ihm die grösste Dankbarkeit schuldig bin.38
Tom Bildstein (geb. 1999) lebt in Brüssel und ist seit 2023 Doktorand der Philosophie an der Université libre de Bruxelles (ULB). Er schreibt zurzeit an einer Dissertation in Französisch über die „Wege des Willens“ in der Philosophie Arthur Schopenhauers. Er ist darüber hinaus Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft und beschäftigt sich intensiv mit dem Problem des Dinges an sich bei Kant und Schopenhauer, das zugleich das Thema seiner Masterarbeit und eines mit Raphael Gebrecht (Bonn) geführten und im Blog der Schopenhauer-Gesellschaft veröffentlichten Gesprächs (Das Problem des Dinges an sich, 2023; Link) war. Zudem ist er Autor eines wissenschaftlichen Artikels: Nietzsche et „la grande erreur fondamentale de Schopenhauer“ (erschienen in der Zeitschrift Voluntas: Revista Internacional de Filosofia, 2024). 2024 gewann er den Essaypreis der Schopenhauer-Gesellschaft mit seiner Einreichung Der Mut zum Idealismus. Schopenhauers kompendiarischer Kantianismus.
Quellen
Heidegger, Martin: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis. Frankfurt am Main 1989.
Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991.
Schopenhauer, Arthur: Der handschriftliche Nachlaß, Band 4, I. München 1985.
Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung I. Frankfurt am Main 1986.
Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung II. Frankfurt am Main 1986.
Der.: Kleinere Schriften. Frankfurt am Main 2006.
Quelle zum Artikelbild
Photo der Erstausgabe von Die Welt als Wille und Vorstellung, Foto H.- P. Haack Wikimedia (Link)
Fußnoten
15: Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 397 (Kap. 24).
16: Nachgelassene Fragmente 1885, Nr. 39[15].
17: Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 744 (Kap. 46)
18: Der Antichrist, 7.
19: Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 504. (§ 68).
20: Nachgelassene Fragmente 1882, Nr. 5[1], 1.
21: Nr. 38[12].
22: Vgl. Heidegger, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis.
23: Nachgelassene Fragmente 1888, Nr. 14[152] (Herv. d. Verf.).
24: S. 415 (§57).
25: Vgl. Malter, Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens.
26: Es handelt sich hierbei um einen altgriechischen Begriff (sōtḗr bedeutet „Retter“), der im christlichen Kontext die Erlösungslehre bezeichnet.
27: Nachgelassene Fragmente 1883, Nr. 16[79] (Fettsetzung im Orig.).
28: Nachgelassene Fragmente 1884, Nr. 14[24].
29: Die fröhliche Wissenschaft, 357.
30: Ecce homo, Unzeitgemäße, 2.
31: Schopenhauer, Kleinere Schriften, S. 583.
32: Nr. 10[5].
33: Warum ich so weise bin, 4.
34: Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß 4, I, S. 96 (§36).
35: Jenseits von Gut und Böse, 56.
Der Abdruck des Erziehers
Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches II
Nachdem Tom Bildstein im ersten Teil dieses Artikels (Link) darlegte, wie sich Nietzsche im Laufe der 1870er Jahre vom Schopenhauer-Verehrer zum -Kritiker wandelte, untersucht er im Folgenden genauer, wie der reife Nietzsche Schopenhauers Pessimismus überwinden und ihm eine „lebensbejahende“ Philosophie entgegensetzen möchte. Schopenhauers „Wille zum Leben“, den der Misanthrop asketisch verneint sehen möchte, soll dem „Willen zur Macht“ weichen als Grundprinzip allen Lebens, das sich nicht widerspruchslos verneinen lässt.
Der Abdruck des Erziehers
Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches. Teil I: Vom Jünger zum Kritiker
Der Abdruck des Erziehers
Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches I


Es ist kein Geheimnis, dass einer der wichtigsten philosophischen Bezugsfiguren für Nietzsche der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) gewesen ist. Grund genug, der Geschichte der Schopenhauer-Rezeption Nietzsches in einem zweiteiligen Artikel nachzugehen. Im ersten Teil untersucht der Schopenhauer-Forscher Tom Bildstein wie sich der junge Leipziger Philologiestudent Nietzsche erst von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) begeistern ließ, um sich binnen weniger Jahre zum scharfen Kritiker des Frankfurter „Miesepeters“ zu wandeln. – Link zu Teil 2.
Teil I: Vom Jünger zum Kritiker
Nietzsche hat den Ruf eines Freigeistes. Das Bild, das die Nachwelt von ihm gezeichnet hat, ähnelt dem eines ungebundenen, selbstdenkenden und über die Wirklichkeit autonom urteilenden Philosophen. Das Bild kann jedoch täuschen, denn ganz frei von überlieferten Weltansichten und Wertvorstellungen war Nietzsche keineswegs. Sein freier Geist musste erst einmal zur Freiheit erzogen werden. Seine philosophische Erziehung verdankt Nietzsche vor allem einer Person: dem pessimistischen Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860). Dem Autor der Welt als Wille und Vorstellung (1818) widmet Nietzsche seine dritte Unzeitgemäße Betrachtung, die er unter dem Titel Schopenhauer als Erzieher (1874) veröffentlicht. Nietzsches Dialog mit seinem Erzieher beschränkt sich allerdings nicht nur auf diese Unzeitgemäße Betrachtung: Er zieht sich durch beinahe alle seine veröffentlichten Werke und kann zudem in zahlreichen Briefen und nachgelassenen Fragmenten nachvollzogen werden. Inwieweit wurde Nietzsches Philosophie durch Schopenhauer bestimmt und worin bestehen die zentralen Divergenzpunkte dieser beiden Denker?
I. Nietzsches erste Bekanntschaft mit Schopenhauer oder das Leipziger Schopenhauer-Erlebnis
Manche Bücher liest man aus purem Zufall. Zieht uns ein Buch dabei in seinen Bann, erhält das unvermutete Leseerlebnis zeitgleich einen mystischen Schein. Es kommt einem vor, als ob die Lektüre dieses einen Buchs in Wahrheit nicht vom Zufall, sondern vom Schicksal bestimmt sei. Eine ähnlich magische Wirkung hatte die erste, eher zufällige Schopenhauer-Lektüre auf den jungen Nietzsche. Als dieser zwischen Oktober 1865 und August 1867 – das genaue Datum ist nicht bekannt – in einem Leipziger Antiquariat stand und Schopenhauers Hauptwerk, Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) in seinen Händen hielt, flüsterte ihm, nach eigener Aussage, eine „dämonische“ Stimme zu: „Nimm dir dies Buch mit nach Hause“1. Zu Hause angekommen, ließ Nietzsche sich von diesem Monumentalwerk in den Bann ziehen: „So zwang ich mich vierzehn Tage hintereinander immer erst um zwei Uhr nachts zu Bett zu gehen und es genau um sechs Uhr wieder zu verlassen. Eine nervöse Aufgeregtheit bemächtigte sich meiner“ (ebd.).
Das Leipziger Leseerlebnis machte Nietzsche unverzüglich zum Schopenhauerianer. Der junge Student der klassischen Philologie fand sich in diesem Lebensabschnitt, d. h. mit Mitte 20, in den Texten Schopenhauers wieder. „[H]ier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt[,] Leben und eigen Gemüt in entsetzlicher Großartigkeit erblickte“ (ebd.), schreibt er in dem Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre (1867/68). Nietzsche wird sich von der Schopenhauerschen Philosophie, vor allem von ihrem Kernstück, der Willensmetaphysik, in seiner ersten Schaffensperiode, bis Mitte der 1870er Jahre, welt- und lebensanschaulich führen lassen. „[S]eitdem Schopenhauer uns die Binde des Optimismus vom Auge genommen“, schreibt Nietzsche 1866 in einem Brief an seinen Freund Hermann Mushacke, „sieht man schärfer. Das Leben ist interessanter, wenn auch häßlicher“2.
II. Die Geburt der Geburt aus dem Geiste der Schopenhauerschen Metaphysik
Die Autorität Schopenhauers wird Nietzsche in seinen jungen Jahren nicht nur als Menschen, sondern auch als Philosophen bestimmen. Sein philosophisches Erstlingswerk, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), ist sowohl terminologisch als auch ideologisch durch Schopenhauers Philosophie tief geprägt. Die Geburt, die in ihrer zweiten Auflage von 1886 den Untertitel: Griechenthum und Pessimismus erhielt, kann als der Versuch Nietzsches verstanden werden, zum einen seine Gräkophilie, zum anderen seine Begeisterung für die Willens- und Musikmetaphysik Schopenhauers und ihrer kompositorischen Umsetzung durch Wagner dialektisch zu vereinen und gegeneinander auszuspielen. Den „ungeheure[n] Gegensatz“3 des Apollinischen mit dem Dionysischen, den Nietzsche zum zentralen Thema dieser Schrift macht, findet er im Schopenhauerschen Hauptwerk in der Opposition von Wille und Vorstellung vorgebildet. Die Musik wird Nietzsche „nach der Lehre Schopenhauer’s“, wie er selbst in der Geburt schreibt, insofern als die „Sprache des Willens“4 verstehen.
Nietzsches Begeisterung für seine Metaphysik und Ästhetik schlug jedoch zu keiner Zeit, wie der US-amerikanische Philosoph Paul Swift in Becoming Nietzsche (2005) – einer zwar älteren, aber immer noch sehr lesenswerten und kompakten Studie zu den frühen Inspirationsquellen Nietzsches5 – richtig anmerkt, in eine Apologetik der Schopenhauerschen Philosophie um. Nietzsche bedauert später selbst, dass er in seiner ersten philosophischen Schrift „mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Wertschätzungen auszudrücken suchte, welche dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, von Grund aus entgegen gingen!“6. Die Tatsache, dass er den ästhetischen und erkenntnistheoretischen Zugang zur Welt zu dieser Zeit nur mittels der durch Kant und Schopenhauer vererbten Begriffe zu denken vermochte, hinderte ihn daran, die Neuartigkeit seiner eigenen Betrachtungen zu erkennen. Um sein Denken frei entfalten und zu einer neuen Größe zu verhelfen, musste sich Nietzsche zunächst einmal kritisch mit diesem Grundgerüst auseinandersetzen.
III. Vom Erzieher zum philosophischen Gegner
Mit Schopenhauer als Erzieher veröffentlicht Nietzsche 1874 den dritten Teil seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen. Es handelt sich dabei um die einzige Schrift, die er seinem „erste[n] philosophische[n] Lehrer“7 direkt widmet. Schopenhauer wird in diesem Text, wie in beinah allen seinen Schriften bis dahin, noch überwiegend in das positive Licht eines „Vorbilds“ gestellt. Es ist allerdings das letzte Mal, dass Nietzsche einen rundum schonenden Umgang mit seinem „Erzieher“ haben wird. In Schopenhauer als Erzieher gibt sich Nietzsche noch als ein treuer Leser seines Meisters: „Ich gehöre zu den Lesern Schopenhauers, welche[,] nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, dass sie alle Seiten lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat“8. Diese besondere Faszination für die Schopenhauer wird er in dieser Schrift durch ihren „aus drei Elementen gemischten“ Eindruck: „seine[] Ehrlichkeit, seine[] Heiterkeit und seine[] Beständigkeit“ (ebd.) erklären.
In Schopenhauer als Erzieher macht sich somit eine Wende in der Nietzsche-Schopenhauer-Beziehung bemerkbar. Das Interesse, das bis dahin eher seiner Philosophie galt, gilt jetzt mehr Schopenhauer als Philosophen und Menschen. Am 19. Dezember 1876 behauptet Nietzsche in einem Brief an Cosima Wagner, er „stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner [Schopenhauers; TB] Seite; schon als ich über Sch. schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hinweg sei; mir lag alles am Menschen“9. Nietzsche ist zu dieser Zeit besonders von Schopenhauers außerakademischen Karriere und seiner Verachtung der unfreien und unauthentischen Universitätsphilosophie angetan. Er sieht die Rolle des neuen, durch Schopenhauer gegen seine Zeit erzogenen Philosophen darin, „der Richter der ihn umgebenden sogenannten Kultur“10 zu werden. Um dieser Devise in aller Konsequenz folgen zu können, ist Nietzsche nun bestrebt, seine eigene Integrität als Philosoph unter Beweis zu stellen. Das bedeutet allerdings auch, dass er, als unbeugsamer Richter der ambienten Kultur, Schopenhauers „gefährlichen“ Einfluss auf sie anprangern werden muss.
IV. Nietzsche contra Schopenhauer
Dass Nietzsche nicht nur die Fähigkeit hat, sich mit Hingabe für einzelne Ideen und Denker zu begeistern, sondern auch dazu in der Lage ist, ehemals hochgeachtete Autoren und Gedanken nachher intensiv zu kritisieren, lässt sich spätestens aus seinen polemischen Schriften11 gegen seinen zweiten Erzieher12, dem Schopenhauerianer Richard Wagner, ableiten. Seine beiden Meister betreffend hofft Nietzsche, wie man in seinen nachgelassenen Fragmenten von 1884 lesen kann, dass die kommenden, ihrer Zeit und Kultur überlegenen Menschen, „endlich so viel Selbstüberwindung haben [werden], um den schlechten Geschmack für Attitüden und die sentimentale Dunkelheit von sich abzuthun, und gegen Richard Wagner ebenso sehr als gegen Schopenhauer <sich wenden>“13.
Der Haltungswandel Nietzsches zu seinen Erziehern mag auf den ersten Blick überraschen: Lehnt er nun vollständig die Wurzeln seines eigenen Denkens ab? So radikal verfährt Nietzsche nun doch nicht. Schopenhauer und Wagner werden nicht einfach aus seinem Geist gestrichen: Statt mit ihnen zu denken, denkt Nietzsche nun gegen sie. Seine beiden Erzieher wird er sozusagen zu den idealen Widersachern – er nennt sie 1888 in einem Brief an den dänischen Essayisten Georg Brandes (1842–1927) seine „antagonistischen Meister“14 – seines eigenen kultur- und lebensphilosophischen Denkens ernennen. Schopenhauer wird darüber hinaus eine wichtige Rolle bei den terminologischen Überlegungen Nietzsches spielen, insofern die Grundbegriffe der Philosophie seines Erziehers den Ausgangspunkt der Festlegung der zentralen Termini seines eigenen Denkens ausmachen werden.
Tom Bildstein (geb. 1999) lebt in Brüssel und ist seit 2023 Doktorand der Philosophie an der Université libre de Bruxelles (ULB). Er schreibt zurzeit an einer Dissertation in Französisch über die „Wege des Willens“ in der Philosophie Arthur Schopenhauers. Er ist darüber hinaus Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft und beschäftigt sich intensiv mit dem Problem des Dinges an sich bei Kant und Schopenhauer, das zugleich das Thema seiner Masterarbeit und eines mit Raphael Gebrecht (Bonn) geführten und im Blog der Schopenhauer-Gesellschaft veröffentlichten Gesprächs (Das Problem des Dinges an sich, 2023; Link) war. Zudem ist er Autor eines wissenschaftlichen Artikels: Nietzsche et „la grande erreur fondamentale de Schopenhauer“ (erschienen in der Zeitschrift Voluntas: Revista Internacional de Filosofia, 2024). 2024 gewann er den Essaypreis der Schopenhauer-Gesellschaft mit seiner Einreichung Der Mut zum Idealismus. Schopenhauers kompendiarischer Kantianismus.
Quellen
Nietzsche, Friedrich: Rückblick auf meine Leipziger Jahre. In: Werke in drei Bänden. Autobiographisches aus den Jahren 1856–1869. München 1954. Link.
Swift, Paul A.: Becoming Nietzsche. Early Reflections on Democritus, Schopenhauer and Kant. Lanham 2005.
Quelle zum Artikelbild
Photographie Schopenhauers vom 3. 9. 1852, Link
Fußnoten
1: Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre.
2: Brief v. 11.07.1866; Nr. 511.
3: Die Geburt der Tragödie, 1.
4: Die Geburt der Tragödie, 16.
5: Vgl. insb. das zweite Kapitel derselben, „Nietzsche on Schopenhauer in 1867“.
6: Die Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik, 6.
7: Schopenhauer als Erzieher, 4.
8: Schopenhauer als Erzieher, 2.
9: Bf. Nr. 581 (Herv. d. Verf.).
10: Schopenhauer als Erzieher, 8.
11: Der Fall Wagner (1888) und Nietzsche contra Wagner (1889)
12: In einem Brief vom 13. Dezember 1875 an seinen lebenslangen Freund Carl von Gersdorff stellt Nietzsche Schopenhauer und Wagner zusammen als seine Erzieher dar (vgl. Bf. Nr. 495).
13: Fragment Nr. 26[462].
14: Bf. v. 19.02.1888; Nr. 997.
Der Abdruck des Erziehers
Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches I
Es ist kein Geheimnis, dass einer der wichtigsten philosophischen Bezugsfiguren für Nietzsche der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) gewesen ist. Grund genug, der Geschichte der Schopenhauer-Rezeption Nietzsches in einem zweiteiligen Artikel nachzugehen. Im ersten Teil untersucht der Schopenhauer-Forscher Tom Bildstein wie sich der junge Leipziger Philologiestudent Nietzsche erst von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) begeistern ließ, um sich binnen weniger Jahre zum scharfen Kritiker des Frankfurter „Miesepeters“ zu wandeln. – Link zu Teil 2.