Nietzsche POParts
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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches
Artikel
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Ein Tag in Nietzsches Zukunft
Bericht über die Tagung Nietzsches Zukünfte in Weimar
Ein Tag in Nietzsches Zukunft
Bericht über die Tagung Nietzsches Zukünfte in Weimar
Vom 7. bis 11. Oktober 2024 fand in Weimar die von der Klassik Stiftung Weimar organisierte Veranstaltung Nietzsches Zukünfte. Global Conference on the Futures of Nietzsche statt. Unser Stammautor Paul Stephan war am ersten Tag vor Ort und gibt einen Einblick in den gegenwärtigen Stand der akademischen Diskussionen um Nietzsche. Seine Frage: Wie ist es um die Zukunft der akademischen Nietzsche-Forschung bestellt, wenn man sie aus der Perspektive von Nietzsches eigenem radikalen Verständnis von Zukunft heraus betrachtet?
„Die Zukunft, das Wunderbar-Unbekannte der Zukunft ist der einzige Gegenstand des Nietzscheschen Festes.“1
Zusammenfassung
Nietzsche ist einer der großen Denker der Zukunft. „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ lautet der Untertitel von Jenseits von Gut und Böse und schon in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung konzipiert Nietzsche die Zukunft als primäre Zeitform, von der her sich Vergangenheit und Gegenwart erst adäquat verstehen lassen.
Was liegt also näher als „Nietzsches Zukünften“ – ein Plural, den er auch immer wieder selbst gebraucht – eine eigene Konferenz zu widmen? Ich wohnte dem ersten Tag der Tagung Nietzsches Zukünfte bei, veranstaltet von der Klassik Stiftung Weimar. Sie dauerte vom 7. bis zum 11. Oktober und versammelte erwiesene Nietzsche-Expertinnen und -experten aus der ganzen Welt, die aufgefordert waren, ihre jeweilige Perspektive auf Nietzsches Zukunft aus dem Kontext der Erfahrung ihres Heimatlandes heraus darzulegen.
Nach Grußworten von Ulrike Lorenz, der Präsidentin der Stiftung, und Helmut Heit, Leiter des Kollegs Friedrich Nietzsche, der die Konferenz gemeinsam mit seinen Assistentinnen Corinna Schubert und Evelyn Höfer organisiert hatte, folgte ein Panel, bei dem die Nietzsche-Forscher David Simonin aus Frankreich, Hans Ruin aus Schweden und Martine Prange aus den Niederlanden als Repräsentanten ihrer jeweiligen Herkunftsländer über die beiden gestellten Fragen sprachen. Im nächsten Panel referierten die südafrikanische Forscherin Vasti Roodt und Willow Verkerk aus Kanada. Den Abschluss des ersten Konferenztages bildete ein Panel, bei dem die vier Herausgeber der Nietzsche-Studien, des vielleicht wichtigsten Organs der internationalen akademischen Nietzsche-Forschung, Christian Emden, Helmut Heit, Vanessa Lemm und Claus Zittel, miteinander diskutierten.
Weitgehend einig waren sich die meisten Vortragenden, dass Nietzsches Zukunft in der Weiterführung der poststrukturalistischen Nietzsche-Interpretation liege und in philologischen, textimmanenten Zugangsweisen.2 Man müsse sich auf die Texte Nietzsches einlassen, um ihr radikales Potential zu erfahren, das vor allem in der Destruktion bestehender Wahrheiten und Gewissheiten bestehe. Immer wieder wurde die Vieldeutigkeit, Rätselhaftigkeit und Komplexität von Nietzsches Werk betont, das man keinesfalls auf bestimmte „Lehren“ reduzieren könne.
Mich überzeugte diese Sichtweise nur bedingt. Handelte es sich hier wirklich um einen Ausblick in Nietzsches Zukunft oder eher ein Resümee der letzten 20 Jahre Nietzsche-Forschung? Ist Nietzsche wirklich einfach nur ein Ironiker, Maskenspieler und Fallensteller – oder begeistert er nicht gerade immer wieder durch seine inhaltlich bestimmten Aussagen, die es neben allem Widersprüchlichen und Doppeldeutigem doch auch gibt – und von denen während der Tagung durchaus auch immer wieder die Rede war?
I. Nietzsches Zukünfte
Nietzsche ist einer der großen Denker der Zukunft. „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ lautet der Untertitel von Jenseits von Gut und Böse und schon in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung konzipiert Nietzsche die Zukunft als primäre Zeitform, von der her sich Vergangenheit und Gegenwart erst adäquat verstehen lassen: Wir brauchen eine Vorstellung davon, was sein wird, um zu verstehen, was war und was ist. – Ein wichtiger, um nicht zu sagen: zukunftsweisender, Gedanke, den später Heidegger in Sein und Zeit aufgreifen würde.
Nicht zuletzt der „Übermensch“ ist eine offene Utopie, deren philosophischen Gehalt man fast übersetzen könnte als „Zukunft um jeden Preis“. Nietzsches Einsicht: Der Mensch ist wesentlich ein Tier, das in der Zukunft lebt, das eine Vorstellung von ihr so sehr benötigt wie das täglich Brot, das zwischen Angst und Hoffnung schwankt. Doch er will den Menschen keine konkrete Zukunft vorschreiben, er denkt sie bewusst als radikal offen. Kein Wunder, dass er von ihr wiederholt im Plural spricht, wenn er etwa schreibt: „Hinaus, hinaus, mein Auge! Oh welche vielen Meere rings um mich, welch dämmernde Menschen-Zukünfte! Und über mir – welch rosenrothe Stille! Welch entwölktes Schweigen!“3
Nietzsche wendet sich damit gegen die gesamte von Platon her stammende Tradition in der Philosophie, die Wahrheit wesentlich als Wiedererinnerung, als Re–Konstruktion von etwas Vergangenem versteht. Für ihn ist Wahrheit wesentlich etwas, das aktiv mit Mut geschaffen werden muss, etwas, das noch nicht ist: „Muthig, unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig – so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann“4.
Jede Generation, jeden Einzelnen fordert Nietzsche immer wieder dazu auf, sich diese Wahrheit zu schaffen, das Unerhörte hörbar zu machen, das Ungesehene sichtbar, das Undenkbare denkbar. Kein Wunder, dass er der vielleicht wichtigste philosophische Vordenker der Avantgarden und radikaler politischer Bewegungen aller Art ist. Hegel wollte noch die Gegenwart begreifen und diese als Resultat der gesamten Weltgeschichte: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ Nietzsche hingegen ist der Philosoph der Morgenröte und des Aufbruchs – für ihn hat, wie zur selben Zeit für Marx, die eigentliche Geschichte noch gar nicht erst begonnen.
Mit dieser Philosophie des „Noch nicht“ inspirierte Nietzsche vor allem den unorthodoxen Marxisten Ernst Bloch, der diesen Aspekt von Nietzsches Denken so konsequent wie kein anderer Denker aufgriff und weiterdachte, zu einem ganzen System der Hoffnung und der Utopie ausbaute. Sicher gibt es auch Elemente in Nietzsches Werk – dies ist keine Überraschung – die dieser Betonung der Zukünftigkeit widersprechen: der Mythos der „ewigen Wiederkunft“, der keine echte Zukunft kennt, da es ja alles schon einmal gab; die eigenartige nostalgische Fixierung auf die „Herrenmoral“ als rückwärtsgewandter „Utopie“, die doch keine ist. Doch dieser Nietzsche hat eben keine Zukunft, gegen ihn gilt es den radikalen Abenteurer zu verteidigen, der hinaus aufs „offene Meer“5 und alle „Schatten“6 des toten Gottes hinter sich lassen wollte. Sicher kann man fragen, ob er nicht ‚zu weit‘ geht, ob das Neue nicht stets Elemente des Alten enthalten und in sich aufheben muss; doch das Pathos des Neuen ist es, das wesentlich ist, und das Nietzsche immer wieder gerade für junge Leserinnen und Leser interessant macht, die in seinen Schriften einen Katalysator ihres eigenen Aufbruchswillens erblicken.
Wie steht es mit diesen Gedanken in einer Zeit, die anscheinend „No future“ zu ihrem Slogan erkoren hat und die von schalen Heilsversprechen, Erschöpfung und Relativismus – Nietzsche würde sagen: Nihilismus – gekennzeichnet ist? In der sich die Jungen als „letzte Generation“ fühlen und die Alten schon allein aus demographischen Gründen immer mehr Macht haben und echten Fortschritt scheinbar blockieren? Gibt es noch eine Zukunft? Und wenn Nietzsche und Heidegger Recht haben, würde eine verneinende Antwort bedeuten: Dann gibt es auch keine Gegenwart und keine Vergangenheit. Und worin könnte in einer solchen posthistorischen Welt Nietzsches Zukunft bestehen?
II. „Nietzsches Zukünfte“ in Weimar
Mit der Erwartung, auf diese Fragen wenn nicht Antworten, so doch Fingerzeige zu erhalten, fuhr ich nach Weimar, um dem ersten Tag der Tagung Nietzsches Zukünfte beizuwohnen, veranstaltet unter den Fittichen von niemand geringerem als der Klassik Stiftung Weimar, einer der größten Kulturinstitutionen Deutschlands. Sie ging vom 7. bis zum 11. Oktober und versammelte erwiesene Nietzsche-Expertinnen und -experten aus der ganzen Welt, die aufgefordert waren, ihre jeweilige Perspektive auf Nietzsches Zukunft aus dem Kontext der Erfahrung ihres Heimatlandes heraus darzulegen.
Die Präsidentin der Stiftung, Ulrike Lorenz, verortete in ihrer Begrüßung die Tagung im Kontext ihres gesamten Wirkens und betonte, dass es sich um die Abschlussveranstaltung des Themenjahrs „Aufbruch“ handelte. Dieses habe man bewusst in das Jahr der Thüringer Wahlen gelegt, um, so ihre unausgesprochene Aussage, dem dann ja auch eingetretenen Wahlsieg der AfD etwas entgegenzusetzen.
Ein weiteres Grußwort sprach Helmut Heit, Leiter des Stabsreferats Forschung der Stiftung sowie des ihr ebenfalls angegliederten Kollegs Friedrich Nietzsche, eine Einrichtung, die sich eigens der Pflege und Fortführung der Weimarer Nietzsche-Tradition widmet. Er hat die Konferenz gemeinsam mit seinen Assistentinnen Corinna Schubert und Evelyn Höfer organisiert. Heit betonte, dass Weimar der Ausgangspunkt des „Ereignis Nietzsche“ gewesen sei, auch wenn der Philosoph hier nur seine letzten drei Lebensjahre, umnachtet und gepflegt von seiner Schwester, verlebt habe. Die mit der Schwester und ihrer umstrittenen Edition einiger Nachlassfragmente Nietzsches als Wille zur Macht verbundene Schattenseite dieses Erbes verschwieg er nicht, betonte jedoch zu Recht, dass die Weimarer Nietzsche-Rezeption bis zum Ersten Weltkrieg unter progressiven Vorzeichen stand und eng mit der kulturellen Avantgarde jener Zeit, vor allem dem Jugendstil, verbunden war. Ebenso wies er darauf hin, dass sich die Klassik Stiftung Weimar darum bemüht, Nietzsches hier zu einem Großteil lagernden Nachlass auf die Liste des immateriellen Weltkulturerbes der UNESCO setzen zu lassen. Über den diesbezüglichen Antrag sei jedoch noch nicht befunden worden.
Für die fortgesetzte Weiterwirkung jenes „Ereignisses“ machte Heit folgende Faktoren verantwortlich: dass Nietzsche immer wieder neue Multiplikatoren wie etwa die erwähnte Elisabeth Förster-Nietzsche, Georg Brandes, Lou Salomé, den chinesischen Schriftsteller Lu Xun, Heidegger, Foucault oder Judith Butler gefunden habe; die stilistische und inhaltliche Vielfalt von Nietzsches Philosophie; die Ästhetik seines Stils, die insbesondere Künstler immer wieder auf ihn aufmerksam gemacht habe; dass er immer wieder wichtige Fragen von wiederkehrender Relevanz auf anregende Weise angesprochen habe; dass er als radikaler Kritiker immer wieder die Jugend anspreche und Innovationen beflügele. Nietzsches Gegenwart sei noch immer unsere Zeit und Nietzsche habe sie kritisch auf den Begriff gebracht.
Es folgte ein Panel, bei dem die Nietzsche-Forscher David Simonin aus Frankreich, Hans Ruin aus Schweden und Martine Prange aus den Niederlanden als Repräsentanten ihrer jeweiligen Herkunftsländer über die beiden gestellten Fragen sprachen. Es zeichnete die Konferenz generell wohltuend aus, dass durch die Fokussierung auf diese beiden Probleme – Nietzsches Wirkung in den verschiedenen Kulturkreisen und seine Zukunft in ihnen – der rote Faden der Beiträge immer gut erkennbar war und sie sich stets klar aufeinander bezogen.
David Simonin betonte, wie früh, schon in den 1870ern, Nietzsche in Frankreich entdeckt worden sei, auch wenn er erst ab den 1960ern im Zuge des Poststrukturalismus – im Laufe der Konferenz meist als „French Theory“ bezeichnet7 – Einzug in die akademische Forschung erhalten habe. Er unterschied dabei drei Perspektiven auf Nietzsche in der heutigen französischen Diskussion: polemische, die Nietzsche und vor allem seine linken Interpreten teils vehement kritisieren; dialogische, die Nietzsche im Lichte gegenwärtiger kultureller Probleme interpretieren und aneignen; sowie philologische – er bezog sich hierbei besonders auf das Projekt nietzschesource.org –, die sich Nietzsche aus einer eher historisierenden, kontextualisierenden und werkimmanenten Sicht nähern. Die Zukunft Nietzsches läge aus seiner Sicht in letzterem Ansatz, zu dem er sich auch selbst bekannte. Er sprach davon, dass es bald vielleicht möglich sein könnte, Nietzsches Leben mit Hilfe von Virtual Reality-Technologien direkt und in 3D nachzuerleben und ihn etwa auf einer Zugfahrt durch die Schweizer Alpen zu begleiten.
Hans Ruin stellte die skandinavische Nietzsche-Rezeption vor. Diese sei bis weit in das 20. Jahrhundert hinein sehr fruchtbar und wichtig für die skandinavische Kultur gewesen, wobei Nietzsche vor allem als Vordenker progressiver und avantgardistischer – so genannter „kulturradikaler“ – Positionen angeeignet worden sei. Bis in die 1980er Jahre hinein habe es in Schweden jedoch keine Diskussion über Nietzsche gegeben, er verglich die damalige Situation sogar mit der Zensur in der DDR. Die schwedischen Übersetzungen von Nietzsches Werken seien bis auf diejenige des Zarathustra vergriffen gewesen. Nietzsches Einfluss auf die skandinavische Kultur sei verdrängt worden, Ruin sprach von einem „verborgenen Erbe“, das erst ab den 90er Jahren durch Forscher wie ihn selbst und Thomas H. Brobjer wiederentdeckt worden sei, die auch eine Neuübersetzung von Nietzsches Werken ins Schwedische bewirkt hätten. In den Nuller Jahren sei es in diesem Zuge zu einem Aufschwung der schwedischen Nietzsche-Forschung gekommen. Ruin bezeichnete es als Zeichen für die Gesundheit einer Kultur, wenn sie in der Lage sei, Nietzsches Texte zu lesen, zu verdauen und mit ihnen zu sprechen.
Martine Prange schließlich legte dar, dass Nietzsche für die Kultur und vor allem die Philosophie ihres Landes eine nur untergeordnete Rolle gespielte habe. Diese führte sie neben der generell geistfeindlichen, sehr „krämerischen“ Mentalität des Landes vor allem auf die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende „Amerikanisierung“ der niederländischen Kultur und Philosophie zurück, die mittlerweile so weit gehe, dass das Niederländische als Wissenschaftssprache durch das Englische fast vollständig verdrängt worden sei. Ebenso sei das niederländische Forschungssystem in den letzten Jahren extrem kompetitiv und marktförmig strukturiert worden, so dass für Forschungen zu geistesgeschichtlichen Themen kaum noch Fördermittel vergeben würden, überall gebe es nur angewandte Ethik. Die neue rechte Regierung habe die ohnehin knappen Forschungsmittel nun noch einmal gekürzt und malträtiere nun „Langzeitstudenten“ mit Strafgebühren, so dass Prange sich sehr pessimistisch zeigte, jedenfalls, was die akademische Nietzsche-Forschung in den Niederlanden betrifft. Sie betonte den engen Zusammenhang zwischen Forschung und Politik und verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass Trump nicht wiedergewählt werde. Mit dieser deutlichen Anklage der schlechten politischen Rahmenbedingungen für geistesgeschichtliche Forschung traf Prange einen Nerv und erhielt viel Zuspruch. Ruin sprach in der Diskussion gar von der Amerikanisierung Europas als kultureller „Dekadenz“.
Im nächsten Panel sprachen die südafrikanische Forscherin Vasti Roodt und Willow Verkerk aus Kanada. Roodt vertrat die Auffassung, dass Nietzsche kein politischer Denker gewesen sei in dem Sinne, dass seiner Philosophie kein Beitrag für den Aufbau einer gerechten demokratischen Gesellschaft zu entnehmen sei. Er sei ein Denker, der vor allem über persönliche Probleme spreche, indem er immer wieder auf die unseren expliziten Wertungen zu Grunde liegenden impliziten Hintergrundwertsetzung hinweise und zum unendlichen Projekt einer Kritik dieser Vorurteile aufrufe. Sie griff Nietzsches Unterscheidung von bloßer Gelehrsamkeit, die ihre Zwecke nicht selbst setzen könne, und echter zwecksetzender Philosophie auf und warnte vor der Dominanz der ersteren. Nietzsche rufe auch heute noch zu einem „rendezvous at questions and question marks“ auf.
Ihr Vortrag provozierte seinerseits einige kritische Rückfragen. Insbesondere blieb offen, wieso Nietzsches Kritik unserer unbewussten Wertsetzungen nicht auch auf politische Wertsetzungen angewandt werden könne. Roodt relativierte ihre Einschätzung in der Folge in der Diskussion auch ein wenig und betonte, dass sie aus der Perspektive einer instabilen Demokratie spreche, die noch in den Kinderschuhen stecke.
Willow Verkerks Vortrag war vor allem deswegen spannend, weil sie über eine breite internationale Erfahrung verfügt und unter anderem in Belgien, Kanada, Großbritannien und Japan geforscht hat. Sie unterschied zwischen einer eher europäischen Herangehensweise an Nietzsche, die in etwa dem entspricht, was Simonin „philologische“ Interpretation genannt hatte und einer eher englischsprachigen, die sie als „toolboxing Nietzsche“ bezeichnete, also ein in philologischer Hinsicht eher oberflächliches Herausgreifen einzelner Textstellen des Philosophen, um sie zur Unterfütterung eigener Überlegungen zu verwenden. Sie selbst verortete sich als feministische Forscherin, deren Hauptanliegen es sei, diese europäische Methode nach Kanada zu importieren.
Ein solches „toolboxing“ hätten schon Heidegger und die Vertreter der French Theory betrieben und aus dieser Brille näherten sich auch ihre Studenten Nietzsche meist, wobei sie besonders stark von Gilles Deleuzes und marxistischen Nietzsche-Interpretationen inspiriert seien. Als relevante Kernkonzepte Nietzsche benannte sie vor allem seine genealogische Methode, insbesondere in ihrer Weiterentwicklung durch Michel Foucault, den radikalen Feminismus Judith Butlers und die Critical Race Studies; seine Diagnose des Nihilismus bzw. des „letzten Menschen“, die in der jüngeren Zeit vielfach als Anklage des umweltbezogenen bzw. ökologischen Nihilismus verstanden werde; seine Kritik der Metaphysik und den daraus folgende Perspektivismus; seine Kritik des „souveränen Individuums“, dessen Autonomie ein Resultat von Disziplinierung sei, in der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral; und schließlich Nietzsches Auffassung vom Selbst als Verkörperung des Willens zur Macht, die Nietzsche zu einem Vordenker der Phänomenologie, speziell derjenigen Maurice Merleau-Pontys, und der Psychoanalyse mache. Als weitere Problemfelder, die mehr Aufmerksamkeit einer künftigen Nietzsche-Forschung verdienten, benannte Verkerk Nietzsches Einfluss auf den frühen Feminismus und Anarchismus. Sie verwies zudem darauf, dass Nietzsches Kritik des Mitleids in jüngster Zeit zustimmend in den Disability Studies aufgegriffen werde.
In der folgenden Diskussion wurde von verschiedenen Forschern betont, dass die intensive Vertiefung in Nietzsches Schriften an sich, unabhängig von allen Inhalten derselben, ein transformatives Bildungserlebnis sei, das bei einer rein instrumentellen Annäherung an sie verlorengehe. Verkerk berichtete etwa von den starken emotionalen Reaktionen, die Nietzsches Texte bei ihren Studenten immer wieder hervorriefen8 und die dazu einlüden zu hinterfragen, woher sie eigentlich rührten.
Zum Abschluss des offiziellen Teils des ersten Tages der Konferenz diskutierten noch die vier prominenten Nietzsche-Forscher Christian Emden aus den USA, Helmut Heit, Vanessa Lemm aus Großbritannien und Claus Zittel aus Stuttgart direkt zur Frage „Hat Nietzsches Philosophie eine Zukunft?“. Es handelte sich nicht zuletzt deswegen um eine illustre Runde, da es sich um die aktuellen Herausgeber der Nietzsche-Studien, des wahrscheinlich wichtigsten internationalen Organs der akademischen Nietzsche-Forschung, handelt.
Vanessa Lemm betonte, dass Nietzsche für ein ganz neues Verständnis von Philosophie und einen neuen philosophischen Lebensentwurf stehe. Er betrachte die Philosophie als grundsätzlich relationales Unterfangen, sei ein Denker der Relation. Claus Zittel stimmte ihr darin zu, dass Nietzsche ein Kritiker jedwedes absoluten Wahrheitsanspruchs gewesen sei. Diese perspektivistische und relativierende Denk- und Schreibmethode Nietzsches mache in einer Zeit grassierender ‚Absolutismen‘ seine große Aktualität aus. Er sei ein Denker der „Differenz“ (womit Zittel eines der Hauptschlagworte der poststrukturalistischen Philosophie aufgriff), der uns immer wieder zur Relativierung der eigenen Positionen bis zur radikalen Konsequenz auffordere, zur stetigen Selbstaufhebung. Er schärfe unser Bewusstsein dafür, dass Positionierungen immer nur transitorisch sein können, und diagnostiziere in seinen Schriften unterschiedliche Verfallslogiken, ohne eine Gegenposition zu artikulieren, treibe ein Spiel mit Mehrdeutigkeiten, Rätseln und Masken, das man nur recht verstände, wenn man Nietzsche im Original lesen könne.
Christian Emden pflichtete Zittel bei, dass Nietzsche keine Botschaft oder Lehre vermittele, sondern er vor allem ein Kritiker sei und darin sein Potential liege. Ähnlich wie zuvor Verkerk benannte er die genealogische Methode und die Diagnose des Nihilismus – verstanden als radikale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Werten überhaupt – als zentrale relevante Themen seines Denkens. Sie ergänzte noch die Frage nach dem Verhältnis von Normativität und Natur, wie sie das posthumanistische Denken bzw. der Neue Materialismus aufwerfe und die Frage danach, was Philosophie überhaupt sei.
Alle vier Herausgeber waren sich somit weitgehend einig darin, eine eher philologische, werkimmanente Lektüre Nietzsches zu favorisieren – Zittel warnte etwa vor einer „Flucht aus dem Text“ – und Interpretationen abzulehnen, die Nietzsches Texten Positionen entnehmen möchten. Nietzsche wolle scheitern und kein System schaffen, so Heit; das Scheitern sei die große Konstante in Nietzsches Leben, so Emden; Nietzsche habe erkannt, dass in der Moderne nur noch „falsche Götter“ möglich seien und die Lüge ihre Unschuld verloren habe, so Zittel. Sein berüchtigtes Spätwerk Ecce homo etwa sei eine reine Parodie, so Zittel weiter. Lemm sprach von der Gefahr politisierender Interpretationen Nietzsches und vom philologischen Ansatz als wichtigstem Gegenmittel gegen dieselben, als zentralem Fortschritt der Nietzsche-Forschung der letzten Jahrzehnte, der sich, wie Zittel ergänzte, um 2000 vollzogen habe. Wichtig an Nietzsche sei also vor allem seine Schreibweise, nicht so sehr, was er im Einzelnen schreibe – wobei die Herausgeber der Nietzsche-Studien einhellig zustanden, dass sie in ihrer Zeitschrift keine allzu experimentellen Texte abdrucken möchten.
Nietzsche erscheint so als Vordenker des „Antihumanismus“ und des Neuen Materialismus – so Lemm, die sogar davon sprach, dass die menschliche Intelligenz durch KI ersetzt werden sollte –; nicht als Überwinder des Nihilismus, sondern selbst als Nihilist, so Zittel und Emden, auch wenn er zugleich, so Emden und Heit, die Notwendigkeit von, wenn auch nie absoluten, Wertsetzungen für unsere menschliche Existenz betone.
Zuletzt wurde aus dem Publikum die Frage aufgeworfen, wo denn Nietzsches Philosophie nun eigentlich noch eine Zukunft habe. An der Universität? Diesbezüglich äußerten sich die Herausgeber der Nietzsche-Studien eher verhalten. Zittel empfahl, nicht aus Karrieregründen ein Forschungsthema zu wählen, das nicht zu einem passe, Lemm plädierte dafür, eine stärkere innerakademische und kulturelle Wertschätzung der Philosophie offensiv einzufordern.
III. Und nun?
Es handelte sich bei der Veranstaltung um ein Stelldichein des Mainstreams der aktuellen akademischen Nietzsche-Forschung, eine wechselseitige Bestätigung der eigenen Überzeugungen in familiärer Atmosphäre, die sich etwa darin zeigte, dass man sich meist duzte und mit Vornamen ansprach. Von den etwa 70 Zuhörern waren nahezu alle aus professionellen Gründen dort, selbst nach Studenten der umliegenden Universitäten suchte man vergebens. Kritisch könnte man sagen: linksliberale Anhänger des Postmodernismus unter sich. Aus der Sicht der anwesenden Forscher liegt die „Zukunft“ Nietzsches vor allem in der unbeirrten Fortsetzung der Gegenwart, einer textimmanenten, philologischen Lektüre Nietzsches in Anknüpfung an die Klassiker der „French Theory“ wie Foucault, Deleuze, Jacques Derrida, Butler oder jüngst Bruno Latour, den wichtigsten Verfechter des Neuen Materialismus.
Dagegen ist erst einmal nichts einzuwenden. Man möchte sich nicht ausmalen, wie eine Nietzsche-Konferenz aussähe, die von Ideologen der stärksten Partei Thüringens organisiert würde – man würde fast meinen, dass von zwei unterschiedlichen Philosophen die Rede sei. Nietzsche als radikaler Kritiker und Relativierer aller, vor allem rechter, Ideologien und „Wahrheiten“: Gerne! Mehr davon!
Besonders gut veranschaulichten diesen Blick auf Nietzsche die die Tagung visuell begleitenden Zeichnungen der deutsch-iranischen Künstlerin Farizane Vaziritabar. In einem karikaturhaften Stil hinterfragen sie immer wieder aufs Neue den Nietzsche-Kult vergangener Dekaden und seine (Selbst-)Heroisierung, ohne ihn darum jedoch ins Lächerliche zu ziehen. Er erscheint auf ihnen als Maskenspieler und Religionskritiker, als Vordenker der kritischen Philosophen des 20. Jahrhunderts von Sigmund Freud über Theodor W. Adorno und Jean-Paul Sartre bis hin zur „French Theory“. Als Titelbild der Tagung wurde indes, ganz dem Plädoyer Lemms entsprechend, ein KI-generierter Pop-Nietzsche gewählt.
Und doch sind Zweifel angebracht. Nietzsche kritisiert Skeptizismus, Nihilismus und nicht zuletzt die philologische Forschung in seinen Texten selbst immer wieder – auch wenn diesbezüglich natürlich wie stets das berühmte spöttische Diktum Kurt Tucholskys gilt: „Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen“. Wie Natalie Schulte, Tucholskys Bonmot aufgreifend, auf diesem Blog kürzlich betonte, sind Nietzsches Texte zwar mehrdeutig und oftmals verrätselt, aber darum auch nicht beliebig ausdeutbar. Seinen Perspektivismus verknüpft er mit der Aufforderung, eine „Rangordnung der Werthe zu bestimmen“9. Er ist nicht einfach nur Maskenspieler und Ironiker, sondern kritisiert an zahllosen Stellen die Maskerade und die Beliebigkeit der Moderne.10 Er möchte, dass sich Europa, dass sich die Welt, eine neue, selbstbestimmte Zukunft gestaltet,11 auch wenn er vage wird, wenn es um deren konkrete Gestalt geht. Ein Aufruf, der ja nicht bedeuten kann, es bei einem allgemeinen Hinweis auf die Relativität jeder Positionierung zu belassen, sondern der darauf hinausläuft, im Angesicht ihrer Relativität entschieden und mutig Positionen zu beziehen. Zukunft ist nicht zuletzt etwas, das ist Heidegger, Nietzsche und Bloch gleichermaßen zu entnehmen, das uns nicht einfach wie ein Gegenstand gegeben ist, sondern dass wir aufgerufen sind, aktiv zu gestalten: Wir sind es, die Nietzsche eine Zukunft geben oder nicht und es liegt an uns, als seinen Lesern und Interpreten, sie in verantwortungsvoller Weise zu gestalten, ohne dabei durch irgendeine Vergangenheit oder Gegenwart determiniert zu sein. Diese erhalten ihren Sinn vielmehr erst im Lichte dieses Entwurfs.
Diese Eindeutigkeit Nietzsches, die es in vielerlei Hinsicht neben aller „Differenz“ eben auch gibt, anzuerkennen, darin würde eher die Zukunft einer Nietzsche-Forschung liegen, die auch jenseits des eigenen Dunstkreises als relevant erschiene. Doch diese Anerkennung ist womöglich schwieriger und schmerzhafter als die ewig selbe Leier von Vieldeutigkeit, Ambiguität, Relativität etc., verweist sie doch nicht zuletzt auf Nietzsches problematisches politisches Erbe, auf das eingangs Heit und später vor allem, wenn auch eher subtil, Roodt hinwies. Die traurige, so von Roodt nicht ausgesprochene, aber doch überdeutlich angedeutete, Wahrheit: Womöglich wäre Nietzsche selbst eher ein Befürworter von politischen Projekten wie dem südafrikanischen Apartheidsregime als ihr Kritiker gewesen.
Es bräuchte nach Jahrzehnten der Philologisierung und Relativierung Nietzsches also wahrscheinlich eine erneute „inhaltistische“ – um einen Begriff Andreas Urs Sommers aufzugreifen, der bei der Konferenz ebenfalls sprach12 – Wende der Nietzsche-Forschung, die mit einer unzweideutigen politischen Positionierung im Sinne der politischen Ideale der Moderne, auf die Roodt hinwies, einhergeht. Sie sollte die mit diesen Idealen unvereinbaren Positionierungen Nietzsches schonungslos aufdecken und kritisieren, aber zugleich eben auch auf die wichtigen und zukunftsträchtigen Aspekte seines Denkens hinzuweisen, die diesen Positionierungen widersprechen und die bei der Konferenz zu Recht immer wieder benannt wurden. Denn belässt man es bei der reinen Skepsis, unterminiert man damit ja alle, auch die emanzipatorischen, Positionierungen; man unternimmt im Sinne der Emanzipation nur die halbe Arbeit der Kritik.
Dafür spricht zumal, dass während der Konferenz trotz aller Beteuerung von Nietzsches Vieldeutigkeit, Rätselhaftigkeit etc. es immer wieder die Inhalte seiner Schriften – wie etwa seine Einsichten zur Psychologie – waren, die auch von den Forschern selbst in den Vordergrund gerückt wurden. Ganz kann der „Textismus“ – so Sommers Ausdruck – dieses Moment also offensichtlich nicht tilgen, möchte er auch nur ein Körnchen lebensweltlicher Relevanz retten. Hic rhodus, hic salta! – Hier blüht die Rose eines erneuerten Nietzscheanismus, hier tanzt, ihr Forschenden!
Dieses Umdenken ist umso notwendiger, weil die Zukunft Nietzsches sonst wohl unweigerlich von anderen Kräften geschrieben werden wird als sich die Teilnehmer der Konferenz unisono wünschen würden. Nur am Rande wurde auf die Gefahr eines erneuerten Rechtsnietzscheanismus hingewiesen.13
Dies soll alles nicht die Verdienste der philologischen Nietzsche-Interpretation schmälern. Es soll vielmehr darauf hingewiesen werden, dass es, im Sinne eines hegelianischen Dreischritts, wohl an der Zeit ist, auf die zahllosen Vereindeutigungen Nietzsches, die bis in die 70er Jahre erfolgten, und die sukzessiven Veruneindeutigungen seiner Philosophie einen neuen Weg zu finden im Sinne einer informierten Vereindeutigung, die die Ergebnisse der philologischen Forschungen nicht ignoriert, sondern aufgreift, um einer erneuten Auseinandersetzung mit den Inhalten von Nietzsches Denken den Weg zu bereiten. Das von Verkerk erwähnte wachsende Interesse ihrer Studenten an marxistischen Nietzsche-Interpretationen – genauso wie an feministischen, rassismuskritischen oder solchen innerhalb der Disability Studies – erweckt Hoffnung, dass sich diese Entwicklung, als Antwort auf den erneuerten Rechtsnietzscheanismus, dessen Renaissance jenseits der universitären Nietzscheforschung schon längst stattfindet, ebenso unweigerlich vollziehen wird. Und ebenso notwendig wird sich der anscheinend noch unentschlossene Mainstream der akademischen Nietzsche-Forschung in dieser Hinsicht positionieren müssen. Ein erneuerter aufgeklärter Humanismus, wie ihn etwa Bloch in seiner spezifischen Synthese von Marx und Nietzsche verfocht, könnte die Frucht dieser Bemühungen sein, vielleicht gar ein kollektiver kultureller Aufbruch wie derjenige, der sich um 1900 in Weimar und ganz Europa, angespornt nicht zuletzt von Nietzsches Ideen – die damals ganz „naiv“ verstanden wurden – vollzog.
IV. Anekdotisches Nachspiel
Während der Pausen hielt ich mich immer wieder vor dem Tagungsort, dem Kulturzentrum mon ami im Herzen Weimars, auf. Passanten kommen und gingen und begutachteten neugierig, was dort heute denn los sei. Manche fragten auch einfach nur nach der Toilette, niemand blieb. Einer zitierte aus dem Kopf eine der zahllosen misogynen Stellen aus Jenseits von Gut und Böse14 und meinte feist: „Das ist frauenfeindlich – na und?“ Ob er wohl ein paar Wochen zuvor Höcke gewählt hat? Ob ihn die Teilnahme an der Konferenz im Sinne des erhofften „Aufbruchs“ vom Gegenteil überzeugt oder ihn zumindest zu einer Relativierung seiner Position gebracht hätte?
Auf der Heimfahrt begegnete ich dann einem Einheimischen, der sich als Dichter von recht originellen Rätselversen zu erkennen gab. Sie erinnerten mich teilweise ein wenig an Nietzsches Aphorismen. Stolz zeigte er mir auf dem Smartphone einen Fernsehbericht von einer seiner Lesungen und erzählte mir, dass er von seinen Büchern schon mehrere tausend Stück verkauft hatte. Ich schwieg lieber über die Verkaufszahlen der meinen und wahrscheinlich überbot er in Sachen Verkaufserfolg so gut wie alle der Forscher, die heute gesprochen hatten. Und noch nicht einmal das Weimarer Lokalfernsehen hat sich in Nietzsches Zukünfte verirrt.
Wie die Einsichten der Philosophie populär machen, ohne sie zu popularisieren? Das war vielleicht die eigentliche Hintergrundfrage der Konferenz und die schwindenden Forschungsgelder sind ja nur ein Ausdruck dieses Problems. Welche Zukunft hat die Philosophie? Hat die Philosophie als akademische Disziplin?
Doch vielleicht ist die Frage so auch falsch gestellt. Die Philosophie wird, sofern sie irgendeinen Wert hat, immer eine Zukunft haben. Wenn sie ihn nicht hat, müsste man mit Nietzsche darüber nicht trauern, sondern einsehen: „[W]as fällt, das soll man auch noch stossen! Das Alles von Heute – das fällt, das verfällt: wer wollte es halten! Aber ich – ich will es noch stossen!“15 Nietzsche wird immer seine Leserinnen und Leser finden, solange wir in einer Kultur leben, die der seinigen gleicht. Er, Platon, Hegel, Kant, so viele andere: Sie alle sind zu etwas vorgedrungen, das vielleicht sogar ewig gilt, solange es Menschen gibt. Selbst wenn es nicht so wäre, so müssen doch wir, als Philosophen, die sich selbst ernst nehmen, daran glauben. Und ebenso ist es mit der Zukunft des Humanum, mit der Zukunft der Demokratie bestellt. Hoffnung ist ein Prinzip, ein Prinzip, das sich selbst erfüllend Zukunft ermöglicht. Das Denken, das Hoffnung und Glauben vergiftet, kann keine Zukunft haben. Oder, in den Worten des frühen Nietzsche, gegen die Philologie gerichtet, einen bedeutenden Humanisten aus Weimar zitierend:
Historie aber, die nur zerstört, ohne dass ein innerer Bautrieb sie führt, macht auf die Dauer ihre Werkzeuge blasirt und unnatürlich: denn solche Menschen zerstören Illusionen, und „wer die Illusion in sich und Anderen zerstört, den straft die Natur als der strengste Tyrann.“16
Die Photographien zu diesem Artikel stammen von Paul Stephan. Das Artikelbild ist eine Zeichnung von Farizane Vaziritabar.
Literatur
Bataille, Georges: Nietzsche und die Faschisten. In: Wiedergutmachung an Nietzsche. München 1999.
Sommer, Andreas Urs: Was bleibt von Nietzsches Philosophie? Berlin 2018.
Fußnoten
1: Georges Bataille, Nietzsche und die Faschisten, S. 164.
2: Auf der Tagung wurde mehr oder weniger davon ausgegangen, dass diese beiden Interpretationsstränge letztendlich ein Strang seien. Bzw. es wurde unterstellt, dass beide Stränge letztendlich auf dieselbe Interpretation hinausliefen. Ich sehe hier allerdings durchaus eine gewisse Spannung, die man vertieft hätte diskutieren müssen. Der Begriff der „Philologie“ wurde zudem synonym mit „textimmanenter Lektüre“ gebraucht, was man auch bezweifeln könnte angesichts der Vielfalt philologischer Methoden.
3: Also sprach Zarathustra, Das Honig-Opfer.
4: Also sprach Zarathustra, Vom Lesen und Schreiben.
5: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 343.
6: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 108.
7: Wobei Simonin betonte, dass diese Theorieströmung mittlerweile gar nicht mehr so „french“ sei.
8: So sei ein männlicher Student bei der Diskussion einer scheinbar misogynen Passage in Tränen ausgebrochen und er habe verzweifelt gefragt „Wie kann man so etwas nur denken?“, während ein Kommilitone begeistert gemeint habe, dass Nietzsche doch vollkommen Recht habe in seiner Kritik des Feminismus.
9: Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 17.
10: Man denke nur an den berühmten Abschnitt Vom Lande der Bildung im Zarathustra. Einer seiner letzten Sätze lautet: „So liebe ich allein noch meiner Kinder Land, das unentdeckte, im fernsten Meere: nach ihm heisse ich meine Segel suchen und suchen“. Hans Ruin wies darauf hin, dass die schwedische Feministin Ellen Key einen fast gleichlautenden Satz aus einem anderen Abschnitt des Buches ihrem Hauptwerk Das Jahrhundert des Kindes voranstellte.
11: Heit verwies zu Recht auf die wichtige Stelle aus Ecce homo: „Meine Aufgabe, einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen grossen Mittag, wo sie zurückschaut und hinausschaut, wo sie aus der Herrschaft des Zufalls und der Priester heraustritt und die Frage des warum?, des wozu? zum ersten Male als Ganzes stellt“ (Morgenröthe, Abs. 2). – Hier berühren sich Nietzsche und Marx, hier wagt sich selbst noch der späte Nietzsche ganz weit in das Niemandsland der Utopie vor, orientiert sich ins Blaue hinein, von dem wenige Jahrzehnte später Bloch schrieb. Es ist keine fröhliche, sondern eine traurige Wissenschaft, in derartigen Lichtblicken eine reine „Parodie“ zu erblicken.
12: Vgl. Sommer, Was bleibt von Nietzsches Philosophie?, S. 28–41.
13: Simonin etwa sprach nur in einem Nebensatz von einigen französischen „Youtubern“, die neuerdings für eine rechte Nietzsche-Interpretation werben würden. Wenn er damit jedoch Autoren wie Julien Rochedy meint, deren Videos zu Nietzsche bisweilen Hunderttausende, wenn nicht Millionen, von Klicks erreichen – seiner Nietzsche-Interpretation werden wir in Kürze einen eigenen Artikel auf diesem Blog widmen –, dann wirkt das wie eine gehörige Untertreibung; Simonin dürfte froh sein, mit einem seiner zweifellos wissenschaftlich fundierteren Artikel auch nur ein paar Hundert Leser zu erreichen.
14: Es war, wenn ich mich recht entsinne, der 145. Aphorismus.
15: Also sprach Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 20.
16: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Abs. 7.
Eine philosophische Serenade über das Grau
Ein Sommerabend mit Sloterdijk im Gütchenpark zu Halle
Eine philosophische Serenade über das Grau
Ein Sommerabend mit Sloterdijk im Gütchenpark zu Halle
Einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart, Peter Sloterdijk (Jahrgang 1947), war Anfang Juli zu Gast in Halle. Der stark von Nietzsche beeinflusste Denker gab dort einen Abend lang seine Gedanken zum „Grau“ zum Besten und zeigte eindrucksvoll, auf welche Höhen sich die Philosophie aufschwingen kann.
I. Sommerabendphilosophie
Müßiggang ist aller Philosophie Anfang. Keine Anstrengung der Argumente und kein analytisches Kopfzerbrechen zeichnet relevantes Denken aus. Zu Beginn von einem der klassischen Texte der Philosophie wird daher für die Rast im Schatten unter einer Platane geworben, um sich den großen Themen angemessen widmen zu können:
PHAIDROS: Nun, siehst du dort jene höchste Platane?
SOKRATES: Wie sollte ich nicht?
PHAIDROS: Dort ist sowohl Schatten als auch ein mäßiger Luftzug, auch Rasen, um uns niederzusetzen oder, wenn wir lieber wollen, uns niederzulegen!
SOKRATES: So magst du nur zugehen!1
Dieses Motiv der Philosophie als Kunst der Pause hat sich auch in der Moderne erhalten. So votiert Nietzsche in scherzhaften Versen für eine Outdoor-Philosophie, die von gegenseitiger Sympathie getragen ist:
Schön ist’s, mit einander schweigen,
Schöner, mit einander lachen, —
Unter seidenem Himmels-Tuche
Hingelehnt zu Moos und Buche
Lieblich laut mit Freunden lachen
Und sich weisse Zähne zeigen.2
Das Philosophieren im schützenden Grau des Schattens als der Ort, an dem die Zeit in Gedanken gefasst werden kann, widerspricht der von Hegel in Umlauf gebrachten Haltung der Philosophie als einer Arbeit des Begriffs. Dennoch ließe sich auch eine Textstelle bei dem Meisterdenker des 19. Jahrhunderts finden, die einen Einspruch gegen das brütende Reflektieren andeutet. So endet die berühmte Vorrede zu seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1821 mit den Worten: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“3
Es sind diese Gedanken, mit denen im Juli 2024 eine philosophische Serenade im Gütchenpark zu Halle zwischen Peter Sloterdijk und Stefano Vastano – organisiert vom Literaturhaus Halle – ihren Anfang nahm. Sie spielen auf ein Thema an, dass Sloterdijk, der in seinem Schaffen immer wieder darauf hinwies, dass er maßgeblich von Nietzsches Denken beeinflusst ist, in seinem vor zwei Jahren erschienenen Buch Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre ausführlich entfaltete. Während am bedenklich grauen Sommerabendhimmel die Schwalben ihre jahreszeitlichen Kapriolen vollführten und von Zeit zu Zeit ein dumpfes Geraune aus der Stadt hörbar wurde, das von der gleichzeitig stattfindenden Europameisterschaft im Fußball herrührte, lauschten die rund 80 überwiegend rentierhaft ergrauten Teilnehmer dem etwa 90-minütigen Gespräch. Interessant zu beobachten war das Zusammenspiel von Vastano und Sloterdijk. Ersterer unterbreitete in stark italienischem Akzent dem am 26. Juni 77 Jahre alt gewordenen, hünenhaft gebeugten Philosophen Sätze wie Melodievorschläge, woraufhin Sloterdijk wie ein selbstspielendes Klavier in freier Fortführung improvisierte und in himmlischen Längen weite Kontexte vergegenwärtigte, während der Tag zur Neige ging.
II. Graue Theorie
Sloterdijk erläuterte, dass das Grau eigentlich die basale Farbe der westlichen Philosophie sei. Gleich zu Beginn der Philosophie bei Platon nämlich komme es im Höhlengleichnis zu der einflussreichen Unterscheidung von wirklichem Wesen und vordergründigem Erscheinen, was durch eine Art cineastische Betrugstheorie geschildert wird. Im siebten Buch der Politeia lässt Platon Sokrates philosophisch die Wirklichkeit als eine Art unfreiwillige Kinoveranstaltung konstruieren. Demnach sei die Masse der Menschen innerhalb einer dunklen Höhle gefesselt, in der sie befangen sind von einem Schattenspiel, das durch ein Kerzenlicht hinter ihnen, vor dem unerkennbare Träger Dinge entlangführen, auf die Höhlenwand vor ihnen projiziert wird. Das, was die meisten für die eigentliche Realität halten und das, was sie demnach in Atem versetzt, sind so gesehen nur Illusionen. Für Platon besteht die Wahrheit darin, aus der Höhle zu klettern und das Licht der Wirklichkeit zu schauen. Der Unterschied von Platon und Sloterdijk liegt nun darin, dass Sloterdijk bei seinem Referat auf die Unterscheidungen aufmerksam macht, die durch die grauen Schatten auf der grauen Höhlenwand entstehen. Es gäbe Differenzen im Grau in Grau. So entsteht die Welt der Erscheinungen aus den Graunuancen zwischen Schatten und Wand. Für diese Wahrheit ist kein Ausbrechen nötig.
Insofern, so ließe sich spekulieren, folgt Sloterdijk hier Nietzsches Projekt, den Platonismus umzudrehen. Anstatt für einen Exodus aus der Höhle ans Licht zu werben und sich für den Schwarz-Weiß-Unterschied stark zu machen, thematisiert postplatonische Philosophie die Dämmerung. Darin steckt die Umkehrung des mächtigsten abendländischen Vorurteils. Es ist nicht alles nicht Gold, was nicht glänzt. Würde nicht ein ganz anderes Licht auf die Wirklichkeit fallen, wenn das Wesen der Ontologie darin läge, dass die Essenz des Seins seine Erscheinung wäre? Weniger die Reflexion und die Idee als die Aufmerksamkeit für die Objekte und die Atmosphären, in denen sie sich zeigten, würde so zentral werden. Das Licht der Aufklärung, die die Idee über ihr Ideenmachen aufgab und die Höhlen nicht mehr als Scheinwelten diffamiert, leistet keine klare und deutliche Definition der glasklaren Tatsachen mehr. Was sie allenfalls leisten kann, ist eine bessere Beschreibung des Graus, der Uneindeutigkeit, des Ambivalenten, der komplexen Mischungen des Möglichen. Kein „Lichtzwang“ (Celan) verlangt eine schattenlose Ausleuchtung von allem und jedem als massiv vorhandenes Objekt. Das Explizieren wird vorsichtiger. So steht die postplatonische Theorie als ein gutes Erwachen der Aufklärung zu sich selbst in dem Zwielicht einer Utopie: Zwischen dem Hellen und dem Dunklen öffnet sich die Vielfalt des Grauen als die wahre Buntheit des Lebens. Im Grau lassen sich noch Welten genug entdecken. Damit werden Platons und Hegels Gedanke als konzeptionelle Höhlen denkbar, aus denen das Denken sich zu befreien hat: Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann lässt sich mitunter das Leben wieder in einer neuen Gestalt erkennen und verstehen, die es verjüngen kann.
III. Spannende Langweile
Wenn die vollends aufgeklärte Welt nicht mehr, wie es die kritische, allzuselbstunkritische Theorie zu Beginn der Dialektik der Aufklärung gegen die Vernunftkultur der Moderne gewendet dozierte, im Zeichen triumphalen Unheils erstrahlen muss, öffnet sich die Chance, den Strukturwandel der modernen Lebensgefühle genauer zu analysieren. Folgerichtig zeigte Sloterdijk dann an Heideggers Meditationen zur Langweile aus seiner Wintersemestervorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik – vielleicht die beste Vorlesung des, wie Emmanuel Levinas einmal sagte, „leider größten Denkers des 20. Jahrhunderts“ – aus dem Jahren 1929/30 die Grundstimmung des Graus genau auf. Nur der Mensch kann ein Tier sein, das sich langweilt, weil er offen ist zu einer Welt, die einen angehen kann. Der Stein ist „weltlos“, das Tier ist „weltarm“. Erst durch die Wahrnehmung und Teilnahme am Weltreichtum entsteht das Wesen, das, erstaunlich aktivistisch konnotiert für Heidegger, „weltbildend“ sein kann. Fällt diese Weltbildung aus, so fällt das Selbst aus, das dafür offen steht und so fällt man sich selbst auf als ein penetrantes Fehlen. Langweile ist die ernüchternde Selbsterkenntnis als Emotion: Ich bin Nebel, also bin ich. Aber auch hier versucht Sloterdijk, wiederum Nietzsches Projekt folgend, eine Umwertung der Schwere. Wo Heidegger suggeriert, dass „eine tiefe Langweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebeln hin und herzieht“4 und den klaren Willen des Erzkonservativen erkennen lässt, aus diesem Phänomen einen neuen Notstand herbeizuphilosophieren, bemüht sich Sloterdijk in dem Fehlen der intrinsischen Initiative eine vorfunkelnde Freiheit zu erkennen. Wen nichts angeht, wer sich selbst in der Langeweile verliert, der ist radikal dispositionierbar für alles Mögliche. In der grauen Muße wächst die Fähigkeit „unalarmiert aufmerksam“ (Sloterdijk) die Welt an sich herankommen zu lassen. Und es wächst darin die Fähigkeit, die Appelle des Dringlichen an sich abperlen zu lassen. Sloterdijk wies hierbei auf Melvilles Figur Bartleby hin, der seine Umwelt damit zur Weißglut brachte, dass er sich mit einem notorischen „I would prefer not to“ – Sloterdijk übersetzte ad hoc mit „Lieber nicht“ – den Zumutungen entzog, mit dem man ihm konfrontierte. (Der Verfasser kann allerdings die Anwendung dieses Spruches nur bedingt empfehlen, angesichts der unmittelbaren und für den Verlauf des Abends nachhaltig negativen Wirkung, die sie machte, als seine Begleiterin bei der Veranstaltung den Wunsch äußerte, ob er so freundlich wäre, ihr noch ein Glas Wein zu holen.)
IV. Politik des Grau
Über eine Anspielung auf die Figur der „grauen Eminenz“ machte Sloterdijk zuletzt auf die politischen Implikationen aufmerksam, die seine Gedanken berühren. Dazu schreibt er in seinem Buch: „[D]ie zur Durchmischung einladende Liberalität der Moderne kann die erwünschte Regenbogengesellschaft nicht erzwingen. Zugleich ist es für Entmischung und reinfarbige Identitäten zu spät.“5 Daraus folgert Sloterdijk, dass das Grau die politisch rationalste Farbe der Zeit sei. Das Grau ist das Schicksal. Die toxischen Dualismen von wahr und falsch, gut und böse lösen sich in ihrer Unbedingtheit auf. Aus dem epochalen, utopischen Aufbruch in bessere Welten durch die rotbraunen oder die braunroten Mobilisierungen taucht der Horizont auf, der ein besseres Wohnen in dem nunmehr interessanteren Grau des Alltags in Aussicht stellt. Grau ist die Vermittlung der Extreme, das Zwielicht des Konsenses, die wunderbar unaufdringliche Langweile der Mitte, deren Lebensdramatiken nicht mehr den Kampf auf Leben und Tod brauchen, um etwas zu fühlen. Damit unterstützt Sloterdijk durch seine chromatischen Spekulationen die These von Francis Fukuyama, dass die Geschichte des Geschichtemachens an ein Ende gekommen sei. Nach der Geschichte, das heißt nach dem archaischen Heroismus, der immer den starken Kontrast eines Schwarz-Weiß-Denkens brauchte, um seine Intensitäten zu legitimieren. Viel Feind, viel Ehr’, viel unnötiges Blutvergießen.
Dennoch bleibt die Dimension des Thymos – das „Muthafte“ –, so Sloterdijk, weiterhin bedeutungsvoll als der Seelenteil, der laut Platon für die Regungen der Kränkung, Anerkennung und des Stolzes zentral ist. In der grauen Geschichte seien es nicht mehr die Heldenepen der Krieger und die Missionsprojekte der Priester, die die Epoche färbten. Ein postheroischer Heroismus gehe in der Moderne von den Unternehmern, Künstlern und Sportlern aus. Sie sind es, die nach dem Tod Gottes die heiligen Spiele erfinden, die einerseits einen neuen Trost geben können, die andererseits aber auch die thymotischen Energien neu ritualisieren. Weniger die unsichtbare Hand des Marktes, als die unsichtbaren Hände einer neuthymotischen Sittlichkeit regeln wie erweiterte checks and balances das Gemeinwesen. Die Prestigekämpfe um das profitablere Geschäft, das erfolgreichere Werk, die neue Rekordmarke domestizieren den Überschuss des strebenden Seelenteils, der das, was ist, übersteigen will, ohne das, was ist oder ihn daran hindert, vernichten zu müssen. Aus Feinden müssen keine Freunde werde. Es reicht, wenn sie sich als Gegner, Mitbewerber, Kontrahenten gegenübertreten. Das immer wieder anschwellende diffuse Gejubel aus der Stadt, das während des Gesprächs anbrandete und dem zeitgleich stattfindenden Spiel der deutschen Nationalmannschaft galt, wies eindrücklich auf den etablierten Strukturwandel des Heroischen in der modernen Welt hin.
Gelingt eine zivile Integration des Thymotischen nicht, etwa indem das Thymotische zu unterkomplex gleichgesetzt wird mit dem Kriegerischen und als toxische Männlichkeit weggecancelt werden soll, so gewinnt das Phänomen des Zynismus ein neues Charisma. Sloterdijk zitiert hier ein Bonmot von Rochefoucauld, wonach die Heuchelei eine Verbeugung des Lasters vor der Tugend sei. Zynismus mache sich diese Mühe nicht mehr. Er imponiere, indem er seine amoralische Enthemmung offen zur Schau stelle. Die paradigmatische Szene dafür liefere Napoleon, der sich 1804 selbst zum Kaiser krönte. Dieser Rückfall in die Monarchie geschah in Frankreich, der Zweitheimat von Sloterdijk, seit 1789 immerhin vier Mal. Die bedenklichen Entwicklungen in den USA weisen aktuell auf die virulente Dimension des wilden Thymos als Trumpismus hin, der sich in seinem Zynismus selbst feiert und die rechtlichen Graubereiche unverschämt zu seinen Gunsten ausnutzt.
Den Abend beendete Sloterdijk in einer Mischung von Heiterkeit und Sorge mit den Worten, man hoffe doch, man habe sein Pensum erfüllt. Die Schwalben schwiegen, der Tag ergraute und der letzte Meisterdenker fuhr, nachdem rasch noch ein paar Bücher signiert waren, mit dem Wagen zum Zug nach Berlin.
Quellen
Adorno, Theodor W. & Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 2022.
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Grundlinien einer Philosophie des Rechts. Frankfurt a. M. 2002.
Heidegger, Martin: Grundbegriffe der Metaphysik. Frankfurt a. M. 2001.
Platon: Phaidros. Hamburg 2005.
Sloterdijk, Peter: Wer noch kein Grau gedacht. Eine Farbenlehre. Frankfurt a. M. 2022.
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Fußnoten
1: Platon, Phaidros, 229 3a.
2: Menschliches, Allzumenschliches I, Nachspiel 1.
3: Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 28.
4: Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, S. 119.
5: Sloterdijk, Wer noch kein Grau gedacht, S. 18.
Seht, ich lehre euch den Transhumanisten
Friedrich Nietzsche als Personal Trainer des Extropianismus
Seht, ich lehre euch den Transhumanisten
Friedrich Nietzsche als Personal Trainer des Extropianismus
Nachdem Natalie Schulte in der vergangenen Woche über den Widerhall von Nietzsches „Übermenschen“-Idee in der Gründerszene berichtete (Link), widmet sich der Schweizer Kunstwissenschaftler Jörg Scheller in dieser Woche ihrem Fortleben im Extropianismus, einer Unterform des Transhumanismus, der es darum geht, die menschliche Evolution auf individueller wie auch auf Gattungsebene künstlich zu beschleunigen mit den Mitteln der modernen Technik. Dem physikalischen Gesetz der „Entropie“, wonach in geschlossenen Systemen die Tendenz besteht, alle Energiegefälle auszugleichen, bis sich ein Gleichgewichtszustand hergestellt hat – auf das Universum bezogen ein Zustand des völligen Erkaltens –, setzen die Verfechter dieser Strömung das Prinzip der „Extropie“, der zunehmenden Vitalität eines Systems, entgegen.
In den Schriften des Transhumanismus zählt Friedrich Nietzsche zu den meisterwähnten Philosophen.1 Diese Feststellung mag zunächst banal erscheinen. In welchem Bereich, so ließe sich etwas polemisch fragen, zählt Nietzsche denn nicht zu den meisterwähnten Philosophen? Ob in Texten zu Black Metal2 oder Bodybuilding, ob in den Songlyrics der Dandy Warhols, im Oi-Punk der Skinflicks oder in den die internationalen Bücherregale überwuchernden Bartratgebern – auf Nietzsche wird überall Bezug genommen, bietet sich sein vielstimmiges, eklektisches Werk doch als Kalendersprucharchiv für alle und keinen an.
Gerade für jene Menschen, die es mit Kontextsensibilität und Genealogien des Denkens nicht so genau nehmen, ist der aphoristische Stil Nietzsches, der den fiebrigen Salvensprech auf Twitter/X & Co. vorweg nahm und lange vor Pop schon Pop war, verführerisch. Dampfplauderer lechzen nach Hammerphilosophen. Mal kurz ein PDF der gesammelten Werke nach Schlagwörtern abgesucht, schon hat man einen knalligen Spruch, mit dem sich alles Mögliche philosophisch pimpen lässt. Da hat man’s mit Immanuel Kant oder Friedrich Wilhelm Joseph Schelling schwerer. Ob Manager oder Hausbesetzer – wenn es schnell gehen muss und ein bisschen nach Dynamit riechen soll, greift das Zitariat lieber zu Nietzsche.
Wenig verwunderlich also, dass es sich mit Transhumanisten nicht anders verhält. Und doch ist die ewige Wiederkehr Nietzsches im Transhumanismus alles andere als beliebig. Dass gerade jene, die den Menschen überwinden und seine profane Auffahrt in den Himmel des „Posthumanen“ beschleunigen wollen, eine besondere Affinität zum Begriff und Konzept des „Übermenschen“ haben, ist naheliegend. Ob ihr Verständnis des Übermenschen aber auch dem Verständnis Nietzsches entspricht, soll im vorliegenden Text mit Blick auf eine Unterform des Transhumanismus, den Extropianismus, untersucht werden.
I. Wider den entropischen „Religionismus“
In Max Mores Transhumanism. A Futurist Philosophy (1990), einem der prägenden Texte des Transhumanismus, spielt Nietzsche eine wichtige Rolle als Stichwortgeber. Der Autor, seines Zeichens Philosoph und CEO der Alcor Life Extension Foundation von 2010 bis 2020, versteht sich als „Extropianist“ und vertritt damit eine Strömung des Transhumanismus, die unmittelbar auf die (Lebens-)Praxis und die beschleunigte – grenzenlose, immerwährende – psychophysische Transformation des Menschen vermittels neuester Technologien abzielt (Kryonik, Biotechnologie, Künstliche Intelligenz, Nanotechnologie, etc.).
Extropianisten ist es darum zu tun, den Menschen, als Gattung wie auch als Individuum, schnell und effektiv über seinen aus ihrer Sicht deplorablen Ist-Zustand hinauszuführen. More kontrastiert den Typus des Extropianisten mit demjenigen des „Religionisten“, dessen Glauben hemmend wirke. Hier kommt Nietzsche ins Spiel: „Der Religionist hat keine Antwort auf die extropische Herausforderung, die uns Nietzsches Zarathustra stellt: ‚Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?‘“3. Und weiter heißt es bei More: „Ich stimme mit Nietzsche (in Der Wille zur Macht) überein, dass der Nihilismus nur ein Übergangsstadium ist, das aus dem Zusammenbruch einer falschen Interpretation der Welt resultiert. Wir verfügen heute über genügend Mittel, um den Nihilismus hinter uns zu lassen und eine positive (aber sich ständig weiterentwickelnde) Wertperspektive zu bejahen“.
Für Extropianisten gilt es, alle ethisch valablen (hier: die Menschenwürde des Individuums respektierenden) Ressourcen zur Optimierung zu nutzen, da ihnen die Akzeptanz des menschlichen Status Quo als Ausdruck von Defätismus erscheint. In der einen oder anderen Form zieht sich diese Prämisse durch die vielfältigen anderen, zwischen Liberalismus, Libertarismus, Sozialdemokratie, Sozialdarwinismus und weiteren Ismen oszillierenden Strömungen transhumanistischer Philosophie und Lebenspraxis, auch durch differenziertere und skeptischere Ansätze als den radikaloptimistischen von Max More, etwa den von Stefan Sorgner. Der deutsche Philosoph hält „die beständige Selbstüberwindung für zentral zur Förderung meiner eigenen Lebensqualität. Auch den Bereich der wissenschaftlichen und biotechnologischen Forschung erachte ich für enorm wichtig und plädiere dafür, ihn verstärkt zu fördern“4. Auch aus Sorgners Sicht ist Nietzsche elementar für den Transhumanismus: „Bei einer Auseinandersetzung mit dem Transhumanismus fällt sofort die Ähnlichkeit transhumanistischer Grundsätze mit denen von Nietzsches Philosophie auf“ (ebd., S. 111). In Sorgners Buch Transhumanismus. „Die gefährlichste Idee der Welt!?“ ist Nietzsche als einzigem Philosophen ein eigenes Kapitel gewidmet. An anderer Stelle plädiert er direkt „für einen Nietzscheanischen Transhumanismus“5.
Während Sorgner in Anlehnung an seinen Doktorvater Gianni Vattimo jedoch einen dezidiert „schwachen Transhumanismus“ verficht, positioniert sich More – auf nachgerade klischeehaft kalifornische Weise – als starker Transhumanist, der sich der radikalen Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten unter den Vorzeichen eines undialektischen, dogmatisch gesetzten „Positiven“ verschrieben hat. Extropianismus wird geboren als Tod der Tragödie, in deren Schatten Nietzsches Wille zur Bejahung doch unabweislich steht.
II. Transzendenz und neuer Glaube
Mores Beispiel macht auf überspitzte Weise deutlich, wie sehr der Transhumanismus in der anglo-amerikanischen Philosophie und Theorie verwurzelt ist; wie stark er mit Utilitarismus, Humanismus, Liberalismus, Individualismus und Aufklärung verbunden ist; wie sehr er auf dem typisch westlich-modernen, prometheischen Nexus von Wissenschaft, (Zweck-)Rationalität, Selbstvervollkommnung basiert – „vom Schicksal zum Machsal“, um ein Bonmot von Odo Marquard zu gebrauchen. Unsterblichkeit gilt als realistisches Ziel, Altern als heilbare Krankheit. Bezeichnend ist, dass die erste Konzeption des Transhumanismus auf den zukunftsfrohen atheistischen Eugeniker und ersten UNESCO-Generaldirektor Julian Huxley zurückgeht, der in seinem Artikel Transhumanism (1957) postulierte:
Die menschliche Spezies kann, wenn sie will, sich selbst transzendieren – nicht nur sporadisch, ein Individuum hier auf die eine, ein Individuum dort auf die andere Weise, sondern in ihrer Gesamtheit, als Menschheit. Wir brauchen einen Namen für diesen neuen Glauben. Vielleicht ist Transhumanismus der richtige Begriff: Der Mensch bleibt Mensch, aber er transzendiert sich selbst, indem er neue Möglichkeiten seiner menschlichen Natur und für seine menschliche Natur verwirklicht[.]6
Eine eigenständige Bewegung in Theorie und Praxis wurde Transhumanismus jedoch erst in den 1980er Jahren mit Vertretern wie FM 2030, Max More oder seiner Ehefrau Natasha Vita-More (die selbst gewählten Nachnamen sind buchstäblich zu verstehendes transhumanistisches Programm). Genau dann beginnen sich auch die Nietzsche-Bezugnahmen zu häufen, insbesondere auf den Übermenschen, der in den Rang des „Posthumanen“ befördert wird. Julian Huxleys schöne neue Welt (ja, es handelt sich um den Bruder des ungleich zukunftsskeptischeren und technologiekritischeren Autors Aldous Huxley…) kam noch ohne Nietzsches Beistand aus.
In ihrer Euphorie wandeln die Extropianisten nicht nur in die Offenheit der Zukunft, wo sie die frontier menschlicher Existenz immer weiter pushen, sondern auch in den alten Fußspuren des von sich selbst berauschten Bürgertums der Moderne, wie es Peter Sloterdijk in Erinnerung an die schöne Politik (2000) porträtiert: „Man ahnt, verwundert, vielleicht sogar neidisch, wie sehr die bürgerlichen Menschen jener Zeit noch geborgen waren in ihrem Vermögen, vor dem Realen ins Hymnische auszuweichen. Wie kurz waren damals die Wege vom Klavierduo zur Menschheit, wie schnell stieg man vom Punsch zur Gattung auf“7. Im Unterschied zum moderneskeptischen europäischen, insbesondere deutschen Bildungsbürgertum bejahen und nutzen Transhumanisten jedoch moderne Technologie und (Natur-)Wissenschaft auf enthusiastische Weise.
III. Der selektive Übermensch
Nietzsches Übermensch aus dem Zarathustra ist eine naheliegende Referenz, wenn es um Selbstüberschreitung und Ablösung von überkommener, mutmaßlich einengender Moral geht. Doch Extropianisten wie More und weitere Transhumanisten pflegen einen selektiven und tendenziösen Umgang mit Nietzsches wohl bekanntester Figur. Zwar ist unbestreitbar, dass man auf der inhaltlichen Ebene viele Parallelen zwischen Nietzsches Werk und Transhumanismus finden kann – die Kritik am Christentum (Stichwort „Sklavenmoral“), die Orientierung an (natur)wissenschaftlicher Forschung und Technik statt an religiöser Moral, die grundsätzliche Bejahung der Weiterentwicklung und der Selbstüberschreitung. Doch bei Nietzsche ist der Inhalt nicht ohne die Form und den Stil zu denken, ja Form und Stil sind, stärker als bei den meisten anderen Philosophen, selbst der Inhalt.
Während Transhumanisten ihre Texte meist in einem rationalen, durchaus voraussetzungsreichen, aber doch verständlichen, auch akademische Konventionen berücksichtigenden Duktus verfassen und technische Machbarkeit anstreben (Nick Bostrom hat ein nutzerfreundliches „Transhumanistisches FAQ“ verfasst8), grätschen beim Künstlerdenker Nietzsche der fiebrige Tonfall, die expressiven Formulierungen, die das eigene sprunghaft-essayistische Denken mimetisch nachvollziehende Dramaturgie der Sätze unablässig in die sich formierende ideologische Ordnung. So entsteht auf der Ebene von Nietzsches Stil selbst dort nicht der Eindruck, es handle sich um nüchterne Wissenschaft, wo nüchterne Wissenschaft gelobt wird. Und wenn sich banales Machbarkeitsdenken als Konsequenz des Ganges auf den letzten Gipfel zeichnet, leuchtet der Stil wie eine Warnlampe auf. Wer Nietzsche abzüglich des Stiles liest, liest nicht Nietzsche.
Ein weiteres Problem betrifft die Semantik. Was bei Nietzsche immer sowohl Problem als auch Potenzial ist, die schier unendlichen Entwicklungsmöglichkeiten nach dem Tod Gottes, gibt für Extropianisten wie Max More auf ziemlich undialektische Weise Anlass zur Hoffnung. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen optimistischer Affirmation und tragischer Bejahung. Für More gilt es, jenseits die Entwicklungsspielräume einengender Metaphysiken den Menschen vermittels Wissenschaft und diverser Techniken, von in Maschinen sich manifestierenden artes mechanicae bis hin zu handlungsorientierten Kultur- und Anthropotechniken, so lange zu optimieren, bis der alte Mensch überwunden ist und eine neue Ära der Evolution anbricht. Was der neue „posthumane“ Mensch (?) sein wird, wissen die Extropianisten zwar nicht so genau zu sagen, aber seltsamerweise nehmen sie an, dass er – oder es, oder sie – irgendwie besser sein wird. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der normativen Dimension des „Positiven“ dieser Optimierung unterlässt More wohlweislich – und weicht darin von seinem philosophischen personal trainer Nietzsche ab, dessen Werk doch auch als unablässiges Hadern, Hinterfragen, ja, als ein mitunter in paradoxe Bejahung umschlagendes Verzweifeln an den Möglichkeiten der Moderne verstanden werden kann.
IV. Extropianisten als letzte Menschen
Während sich Nietzsche dem Abgrund aussetzt und seine Kälte einatmet, schüttet More ihn mit neuen, wärmenden Gewissheiten zu. Dass „Wissen, Freiheit, Intelligenz, langes Leben und Weisheit“ inhärent gut sind, liegt seinem Konzept des Transhumanismus als dogmatische Setzung zugrunde. Warum aber etwa das von Extropianisten ersehnte lange Leben per se gut sein sollte, bleibt unklar. Zwar wird die verlängerte Lebensdauer stets an die Auflage gekoppelt, länger gesund zu bleiben. Doch artikuliert sich darin nicht eher die spießige Sehnsucht des „letzten Menschen“: möglichst alt werden, möglichst gesund bleiben, möglichst zufrieden sein? Dass menschliche Kulturleistungen auch aus Schwäche und Schmerz, aus Krankheit und Verlust, aus Scheitern und Verhängnis erwachsen, spielt für More eine untergeordnete Rolle. Diese Einsicht ist bei Nietzsche indes noch präsent, etwa im Ecce Homo: „Ich bin ein froher Botschafter, wie es keinen gab, ich kenne Aufgaben von einer Höhe, daß der Begriff dafür bisher gefehlt hat; erst von mir an gibt es wieder Hoffnungen. Mit alledem bin ich notwendig auch der Mensch des Verhängnisses“9.
Während More die Werte von Humanismus, Aufklärung und Moderne als konstruktive affirmiert, präsentiert sich die Stimme aus Ecce Homo auch als „Vernichter“, nämlich von Werten, und als „Immoralisten“, nicht zuletzt auch als „Hanswurst“: „Ich habe eine erschreckliche Angst davor, daß man mich eines Tags heilig spricht: man wird erraten, weshalb ich dies Buch vorher herausgebe, es soll verhüten, daß man Unfug mit mir treibt... Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst…“ (ebd.). Der Übermensch ist bei Nietzsche keine Lichtgestalt: „Des Übermenschen Schönheit kam zu mir als Schatten“10. Jene Extropianisten hingegen, die für ihr Übermenschenprojekt immer auch (überwiegend utilitaristische) Ethik, Werte, Moral in Anschlag bringen und letztlich das Gute versprechen (anders lässt sich auch kaum erfolgreich Fundraising für transhumanistische Experimente betreiben…), stehen damit eher in der Tradition jener, die im Ecce Homo als „die Guten, die Wohlwollenden, Wohltäthigen“11 denunziert werden: als kryptoreligiöse Idealisten. Die vorgeblichen Religionskritiker des Extropianismus sind vielleicht auf ähnliche Weise religiös, wie die den Cäsar kritisierenden Christen cäsarisch waren – und bald ja auf dessen Thron saßen. Hatten Religionen, genauer gesagt: politische Theologien wie das Christentum das Leid instrumentalisiert, um Menschen klein zu halten (Stichwort Hiob) und ihnen den Übermenschen zu verwehren, so instrumentalisieren Extropianisten das Leid ex negativo. Sie heiligen die Optimierung des Machsals auf eine ähnliche Weise, wie die „Religionisten“ das Sich-ins-Schicksal-Fügen heiligen.
V. Transhumanismus vs. Posthumanimus
Im Unterschied zum moderneskeptischen Posthumanismus, der den Menschen nicht mehr als „Krone der Schöpfung“ (Wolfang Welsch) anerkennt, sondern ihn als Abgeordneten politischer Ökologie in das „Parlament der Dinge“ (Bruno Latour) schickt oder ihn im „heißen Komposthaufen“ (Donna Haraway) die Demut multispeziesistischer Kollaboration lehrt, knüpft der extropianistische Transhumanismus an den futurozentrischen und anthropozentrischen Exzeptionalismus der Moderne an, ironischerweise indem er den (bisherigen) Menschen überwinden möchte – das Menschlichste am Menschen ist eben der Versuch, den Menschen zu überwinden. Kein Eichhörnchen versucht, das Eichhörnchen zu überwinden. Kein Kaktus versucht, den Kaktus zu überwinden. Kein Kieselstein versucht, den Kieselstein zu überwinden. Nur der Mensch versucht, den Menschen zu überwinden – darin drückt sich seine Menschlichkeit am reinsten aus. Und nur dort, wo der Anthropozentrismus in voller Blüte steht, erscheint das diffuse „Posthumane“ als erstrebenswerter Zustand. Die eigene Stärke ist so sehr gewachsen, dass Schwächung attraktiv erscheint, vergleichbar mit materiell gesättigten Menschen, die „Minimalismus“ als erstrebenswertes Ziel ansehen.
In diesem Zusammenhang muss streng zwischen Trans- und Posthumanismus unterschieden werden. Bei den Posthumanisten ist das Posthumane paradoxerweise das, was bereits, ja immer schon der Fall ist, aber nicht anerkannt, ja verdrängt und ideologisch bekämpft wird, nämlich die existenzielle „Verwobenheit“ (Haraway), das irreduzible Angewiesensein von uns Menschen auf ein „Netzwerk“ (Latour) aus Anderen und Anderem, menschlichen wie auch nicht-menschlichen Wesen. Posthumanismus lässt sich dahingehend als Akt der Explikation verstehen. Man findet wieder, was implizit schon der Fall ist. Bei den Transhumanisten hingegen ist das Posthumane ein erst noch zu erreichender Zustand: Der Übermensch muss hergestellt werden. Die Dualismus-Kritik der Posthumanisten, die aus binären Schemata wie Natur/Kultur herausfinden möchte, ist für den Transhumanismus nicht entscheidend. Allein die viel zitierte Vision des „Mind-Uploading“, also des technologischen Outsorcings des eigenen Bewusstseins auf ein Trägermedium, zeugt davon, dass für Transhumanisten, trotz der naturalistisch-materialistischen Grundierung ihrer Philosophie, eine kategorielle Differenz zwischen Körper und Geist besteht. Das konkrete „Mind“ ist angeblich nicht an einen konkreten „Body“ gekoppelt. Doch ist es nicht ein konkreter Körper, der einen konkreten Geist überhaupt erst ermöglicht, und ist nicht der „Leib“ (Helmuth Plessner) die Einheit ihrer Differenz, die sich nicht aufspalten lässt? Ein Geist, der unabhängig von einem konkreten Körper existierte, wäre nicht der Geist eines Menschen, sondern spukte durch ein platonisches Wolkenkuckucksheim. In Nietzsches Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben hingegen ist die Kritik am humanistischen Körper-Geist-Dualismus entscheidend, geht es doch um die Anerkennung der eigenen, irreduziblen Körper- und Tierhaftigkeit – eine Tierhaftigkeit, die durch kein „Übertier“ überwunden werden muss. Die Geschichts- und Moralferne des Tieres soll dem Menschen vielmehr ein Korrektiv sein: „So lebt das Thier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne daß ein wunderlicher Bruch übrigbleibt, es weiß sich nicht zu verstellen, verbirgt nichts und erscheint in jedem Momente ganz und gar als das, was es ist, kann also gar nicht anders sein als ehrlich“12.
VI. Extropianismus ist Marx als Musk
Transhumanisten, und insbesondere die Extropianisten unter ihnen, leben weiterhin in Menschenmoral und Menschengeschichte, ja sie wollen das grandioseste Kapitel dieser Geschichte selbst schreiben, indem sie den Gipfel des Menschlichen besteigen, eben das – nur vordergründig paradoxe – Posthumane. Kompatibel ist der extropianistische Transhumanismus somit weniger mit Nietzsche in all seiner Tragik und Zerrissenheit als vielmehr mit der linkshegelianischen Tradition einerseits, deren revolutionäres Geschichtsverständnis von der Veränderbarkeit aller Verhältnisse durch menschliches Tun ausgeht, mit der liberalkapitalistischen Tradition andererseits, die sich ewigem Fortschritt, ewiger Optimierung, ewigem Wachstum verpflichtet sieht. Extropianismus ist Marx als Musk.
Bei More und anderen Extropianisten könnte man das Posthumane als Äquivalent des Hegel’schen Endes der Geschichte interpretieren. Doch weil die potenziell unendliche Perfektionierung des Menschen – oder des Postmenschen – kein Ende haben kann, kann sie auch keinen Anfang haben. In seinem Versuch, den Lauf der Geschichte zu bestimmen, prozessiert der Extropianismus selbstbezüglich, durchpulst von optimistischer Leere, außerhalb der Geschichte vor sich hin – und kippt so zurück in genau jene u–topische religiöse Metaphysik, die er doch eigentlich, schenkt man More Glauben, überwinden will:
Unsere Spezies verharrt in alten konzeptionellen Strukturen und Prozessen, die den Fortschritt behindern. Eine der schlimmsten ist das religiöse Denken. In diesem Aufsatz werde ich zeigen, wie die Religion als entropische Kraft wirkt, die unserem Fortschritt zur Transhumanität und unserer Zukunft als Posthumane entgegensteht[.]13
Mit der Zukunft ist das so eine Sache. Wie der durchschnittliche Messias neigt sie zu Verspätungen. Und kommt sie dann endlich an, wird sie nicht als solche erkannt, ja sie ist im Moment des Erscheinens schon veraltet. Der Messias der Zukunft verendet stets am Kreuz gestiegener Erwartungen an ihn. FM-2030, ein 1930 geborener iranisch-amerikanischer Autor, Dozent, Berater, olympischer Athlet und Wegbereiter des Transhumanismus, sagte für das Jahr 2030 eine „magische Zeit“14 voraus – alle Menschen würden dann alterslos sein und hätten eine exzellente Chance, für immer zu leben. Der transhumanistische Technologie-Enthusiast Ray Kurzweil sekundierte ihm im Jahre 2016 (Link). Evident ist der religiöse Subtext. Im Jahr 2000 starb FM-2030 an Krebs. Ob er 2024 noch immer so optimistisch gewesen wäre? Die sich verdüsternde Weltlage und ein merklich gealterter Kurzweil zeigen uns Heutigen, dass die neuen extropianistischen Propheten nicht zwingend zuverlässiger sind als ihre alten religionistischen Vorgänger mit ihren notorisch unzutreffenden Apokalypse-Vorhersagen. Und selbst wenn ihre Propheizungen eintreffen würden, wären die Nutznießer sofort unzufrieden mit ihnen: Wie bitte, man speist uns mit ein bisschen Unsterblichkeit und Alterslosigkeit ab!? Wir hätten mehr verdient! Das Posthumane wird wohl menschlich, allzu menschlich werden. Oder, in den Worten des Philosophen Leszek Kołakowski: „Im Punkte der Explosion, die das Erbe zu sprengen scheint, stammt der Sprengstoff immer schon aus ererbten Beständen“15.
Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und Gastprofessor an der Kunsthochschule Poznań, Polen. Er schreibt regelmäßig Beiträge unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung, DIE ZEIT, Artforum und ist Kolumnist der Stuttgarter Zeitung sowie von Psychologie Heute. Bereits als 14-Jähriger stand er mit einer Metalband auf der Bühne. Heute betreibt er einen Heavy Metal-Lieferservice mit dem Metal-Duo Malmzeit. Nebenbei ist Scheller zertifizierter Fitnesstrainer. 2015 organisierte er mit Martin Jaeggi die Konferenz Pop! Goes the Tragedy. The Eternal Return of Friedrich Nietzsche in Popular Culture an der ZHdK. Er twitterXt unter https://x.com/joergscheller1.
Bibliographie
Campa, Riccardo: Nietzsche and Transhumanism. A Meta-Analytical Perspective. In: Studia Humana, Bd. 8/4 (2019), S. 10–26.
Huxley, Julian: Transhumanism. In: Ders.: New Bottles for New Wine. London 1957, S. 13–17.
Kołakowski, Leszek: Die Gegenwärtigkeit des Mythos. München 1973.
Krüger, Oliver: Virtual Immortality. God, Evolution, and the Singularity in Post- and Transhumanism. Bielefeld 2021.
More, Max: Transhumanism. Towards a Futurist Philosophy, online abgerufen auf: https://www.ildodopensiero.it/wp-content/uploads/2019/03/max-more-transhumanism-towards-a-futurist-philosophy.pdf
Sloterdijk, Peter: Erinnerung an die schöne Politik. In: Ders.: Der ästhetische Imperativ. Hamburg 2007, S. 29–49.
Sorgner, Stefan: Transhumanismus. „Die gefährlichste Idee der Welt“!?. Freiburg, Basel & Wien 2016.
Ders.: (2019): Übermensch. Plädoyer für einen Nietzscheanischen Transhumanismus. Basel 2019.
Quellenangabe zum Artikelbild
Nietzsche von Luke Mack, 2010 (Link)
Fußnoten
1: Für eine quantitative Analyse vgl. Riccardo Campa, Nietzsche and Transhumanism.
2: Anm. der Redaktion: Vgl. den Artikel zu Nietzsche Rezeption im Heavy Metal von Christian Saehrendt auf diesem Blog (Link).
3: Vgl. Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3. Alle englischsprachigen Zitate in diesem Artikel wurden vom Autor ins Deutsche übersetzt.
4: Sorgner, Transhumanismus, S. 33.
5: So der Untertitel seines Buches Übermensch.
6: S. 17.
7: S. 39.
8: Vgl. https://nickbostrom.com/views/transhumanist.pdf.
9: Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 1.
10: Ecce homo, Also sprach Zarathustra, 8.
11: Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 4.
12: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Abs. 1.
13: Transhumanism.
14: Zit. n. Oliver Krüger, Virtual Immortality, S. 71.
15: Leszek Kołakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, S. 38.
„Ein Göttertisch für göttliche Würfel und Würfelspieler!“
Nietzsches Übermensch zu Besuch in der Gründerszene
„Ein Göttertisch für göttliche Würfel und Würfelspieler!“
Nietzsches Übermensch zu Besuch in der Gründerszene
Nietzsches Übermensch ist tot. Kaum einer kann noch etwas mit dieser obskuren Idee anfangen. Möchte man meinen. Und doch begegnen einem im aktuellen Startup-Milieu zahlreiche Versatzstücke aus Zarathustras Verheißung. Was hat es damit auf sich? – Natalie Schulte widmet sich anlässlich von Nietzsches 180. Geburtstag diesem eigenartigen Fortleben einer der bekanntesten Konzepte des Philosophen. Ein Plädoyer dafür, sich Nietzsches Idee trotz ihrer vergangenen und gegenwärtigen Missdeutungen doch noch einmal genauer anzusehen.
Hinweis der Redaktion: Längere englische Zitate haben wir in den Fußnoten selbst ins Deutsche übersetzt.
Nietzsches Übermensch kann einem wie ein Atavismus vorkommen. Wer würde heute noch ein derart verschrobenes, abgehobenes, inhumanes Überhöhungsprojekt ernst nehmen? Wen erschaudert es nicht bei der Proklamation, die Menschheit auf ein neues, sich selbst transzendierendes Niveau heben zu wollen? Wir haben, gerade in Deutschland, mehr als genug schlechte Erfahrungen gemacht mit übertriebenen und unrealistischen Ideen, die sehr realistische, furchtbare Folgen zeitigten. Der Übermensch gehörte den Nationalsozialisten, dem Rassenwahn und biologistischen Schicksalsglauben. Schlimm genug, dass Nietzsche auch für diese Apostel kommender Herrlichkeit als Stichwortgeber dienen konnte. Das haben wir hinter uns.
I. Über-uns-Hinaus
Aber haben wir das? Blättert man durch die Ratgeberliteratur dieser Tage, zeitgenössischer noch: klickt man sich durch die neueren Moneymaking-Videos auf YouTube, kommt dem Nietzsche-Leser unerwartet vieles seltsam vertraut vor. „The fastest route to success is to accept that you with your current sense of self and your current identity and how you perceive yourself and how the world presents itself to you through your lens and your Paradigm, you’re not capable of bringing about the future, that you want to bring about. [...] We don’t achieve goals, we achieve characters. We achieve identities“1, heißt es etwa bei Charlie Morgan, einem der bekanntesten Influencer und jungen Multimillionäre, die in den sozialen Medien ihrem Publikum die Geheimnisse des Reichtums enthüllen. „Es war ungemütlich, es war außerhalb der Komfortzone, aber es hat mich wachsen lassen; und ich glaube, es liegt in der Natur des Menschen, wachsen zu wollen“2, predigt Alexander Müller, Mitgründer und -inhaber von Greator, der mit allein über 800.000 Youtube-Abonnenten einflussreichsten Bühne für Speaker und Coaches in Deutschland, und kann mit diesen Worten an zarathustrische Weisheit rühren: „Steigen will das Leben und steigend sich überwinden“3. „Geh in deine Vision, auch wenn es manchmal wehtun wird. Am Ende aber wirst du gewachsen sein, für deinen nächsten Schritt. Hin zu einem glücklicheren, erfolgreicheren und erfüllteren Leben“4, fügt Müller an großartigen Versprechungen hinzu.
Das Über-sich-Hinauswachsen nicht als Teil eines umfassenderen Bildungsprozesses, als Begleiterfahrung einer sinnerfüllten, gesellschaftsrelevanten Tätigkeit mit zahlreichen Herausforderungen, und nicht als Selbstaufgabe und Ichüberschreitung hin zum Nächsten im Sinne christlicher Caritas. Nein, das Über-sich-Hinauswachsen als reiner Selbstzweck, als Sinnquelle schlechthin, als Prinzip und Meta-Programm, als Unterziele setzende höchste Instanz, schlicht als zarathustrisches Lebensprinzip. Diese radikale Kernannahme finden wir nicht mehr in der Politik. Aber sie hat es in das Entrepreneur-Milieu der 2020er geschafft und prägt in einem neuen, modernen Gewand mit spirituellem Flair eine ganze Generation von Unternehmern.
II. Die Häutung des Übermenschen
Dass der äußere Erfolg ein Spiegel des inneren Entwicklungsstandes sei, diese Überzeugung beobachtet man als eines der Basisaxiome in der Szene. Nur konsequent scheint es daher, dass mangelnder ökonomischer Erfolg ein sicherer Beweis für innere Zurückgebliebenheit darstellt. „Das Unternehmen ist der Spiegel der Unternehmerpersönlichkeit. Beide können sich nur gemeinsam entwickeln. Wenn Ihr Unternehmen wächst, haben Sie zwei Möglichkeiten. Entweder Sie wachsen mit und Sie haben Erfolg. Oder Ihr Unternehmen wächst Ihnen über den Kopf und Sie gehen unter.“5 Das wäre natürlich schlimm. Aber keine Sorge! Mit den Angeboten aus der Speaker- und Coachings-Szene wirst du dich selbst verwandeln, Seelentiefe, intensivstes Glück und selbstgewählten Sinn und – ganz nebenbei als dann schon unausweichliches Nebenprodukt – Reichtum erzeugen. Mit letzterem ist im Übrigen nichts Innerliches gemeint, sondern ganz profan: Dinge, Statussymbole, Komfort und Geld. Ein Geist ohne Wohlwollen könnte unterstellen, letzteres sei für viele noch immer der eigentliche Antrieb für ihre „innere Suche“. Aber selbst von solchen wird für das Erreichen ihrer Ziele mehr als bloßes Erlernen von Skillsets und fleißiges Üben gefordert. Ja, mehr sogar noch als eine organische Transformation.
Notwendig ist die Hingabe an die Verwandlung selbst. Denn jeder ist so weit gekommen, wie es ihm seine aktuelle Persönlichkeit erlaubt. Jeder bekommt, was er verdient, ließe sich auch formulieren. Aber kann denn der wahre Entrepreneur jemals irgendwo sein Ende, seinen Hafen, seine finale Gestalt finden? Nein, denn sein Wesen liegt in der Wesensveränderung, im ständigen Abstoßen eines alten Ichs zugunsten einer neuen, fähigeren Version. „You must commit psychological suicide. You, the person you are right now, is not capable of this, because if you were, you would have it.“6 Das alte Ich muss untergehen, denn es war zu schwach, um mehr von der Welt zu bekommen, als es bekam. Kein Glück, kein Heil, kein Geld.
Nicht die Träume vom Eigenheim oder vom Vermächtnis treiben die Protagonisten dieser Ideologie an, wie das bei vorangegangen Generationen der Bourgeoisie zumindest proklamiert worden war, sondern das Innerste selbst wird Gegenstand der Bearbeitung, des Kampfes, wird zum Glutzentrum für das eigene Schicksal. Das sich selbst transzendierende, immer wieder in den Untergang führende, schickende, stoßende Ich, das die Selbsttötung in diesem Sinne bejaht, den Untergang bejaht, das Leben als Wachsen des Einen aus dem Anderen, Sterbenden hervor bejaht – was ist dies anderes als der Übermensch, der von sich fordert: „Verbrennen musst du dich wollen in deiner eignen Flamme: wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist.“7
Dürften wir die wagemutige These vorbringen: Über den Übermenschen muss nicht mehr gesprochen werden, weil er sich längst verwirklicht hat? Verwirklicht zwar nur in einer kleinen Klasse, aber doch gerade in derjenigen, die das größte gestalterische, wirklichkeitsformende Potential verkörpert. Denn was nicht systemisch ausgelagert ist an technische, juristische, institutionelle Strukturen und Entitäten, was überhaupt noch einzelnen Menschen an innovativer Macht gegeben ist, bei wem anderes ließe sich diese stärker konzentriert finden als bei Unternehmern?
III. Zeitgenössische Abenteurer
Keiner schreibt sich das Scheitern-Wollen so prominent auf die Fahnen, das Abenteurertum, das Ausprobieren und Spielen wie die Kaste der Entrepreneure. Und niemand ist so wenig gefangen in organisatorischen Strukturen und Mechanismen, ins Maschinelle großer Konzerne und politischer Betriebe wie sie. Nirgendwo sonst wird so viel ausprobiert, gewagt, verloren und gewonnen wie dort: „As entrepreneurs, we make bets everyday. We are gamblers – gambling our hard-earned money on labor, inventory, rent, marketing, etc., all with the hopes of a higher pay out. Oftentimes, we lose. But sometimes, we win and win BIG.“8 Auch Nietzsches Übermensch wagt alles und riskiert, zu Grunde zu gehen, wenn das Abbruchunternehmen alles in den Staub wälzt, was überkommen und überholt erscheint, und doch richtet sich sein Blick stets auf dasjenige, was neu errichtet werden kann: „[M]ag doch Alles zerbrechen, was an unseren Wahrheiten zerbrechen – kann! Manches Haus gibt es noch zu bauen!“9 Ja, je höher der Einsatz, desto größer und edler das Unternehmen, die Tat: „Das ist die Hingebung des Grössten, dass es Wagnis ist und Gefahr und um den Tod ein Würfelspielen“ (ebd.)
Nichts wird in der Startup-Szene so hoch geschätzt wie das Spagat aus Mut, Commitment und Gelassenheit. Der wahre Spieler geht hohe Risiken ein, „gibt alles“ für den Gewinn – und geht lachend vom Feld, wenn er bemerkt, dass er verloren hat. So skizziert man den idealen Unternehmer, mit solcher „Enthobenheit” wünscht sich Zarathustra den neuen Menschen: „[W]er von euch kann zugleich lachen und erhoben sein? Wer auf den höchsten Bergen steigt, der lacht über alle Trauer-Spiele und Trauer-Ernste. Muthig, unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig – so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann.“10
Das Ziel wird bloßes Mittel für den Entrepreneur, eine nahezu willkürliche Setzung, die im Grunde lediglich dazu dient, einen bestimmten Lebensstil zu verwirklichen, nämlich den des ständigen Über-Sich-Hinaus. Die persönliche „Mission“, von der in Manager-Seminaren oft genug die Rede ist, muss weder Weltfrieden noch der „Wohlstand der Nationen“ sein, von dem noch die Vordenker des Kapitalismus wie Immanuel Kant und Adam Smith träumten, sondern darf durchaus bewusst als nur temporäres Vehikel für eigene Transformationsschübe und Höchstleistungen postuliert und geglaubt werden. Man lässt sich darauf ein, wie man sich auf eine Partie Schach einlässt. Man muss das Gewinnen-Wollen ernst nehmen. Aber egal ob man am Ende als Sieger oder Verlierer aufsteht, darf man das Spiel doch nicht ernst genommen haben. Das Brett wird geräumt, die Figuren wieder aufgebaut, eine neue Runde, genauso ernst, genauso unernst.
Eine nahezu übermenschliche Autonomie-Erfahrung, darf man anmerken, geht damit einher. Prinzipien werden aufgestellt, das eigene Handeln mit einer Rigorosität an ihnen ausgerichtet, als seien sie auf Gesetzestafeln gemeißelt und vom Himmel diktiert, Hauptsache es ist das eigene Selbst, das sie zum Gesetz erhoben hat: „Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu? Kannst du dir selber dein Böses und Gutes geben und deinen Willen über dich aufhängen wie ein Gesetz! Kannst du dir selber Richter sein und Rächer deines Gesetzes?“11 Diese Gesetze gelten für den nietzscheschen Übermenschen wie für den Unternehmer nur so lange, als sie das Ego an seine Grenzen und über sie hinaus führen. Ist ein Plateau erreicht – und ja, das meint bei letzteren durchaus ein finanzielles Plateau –, wird es Zeit, die alten Steinklumpen zu zerbrechen. Sie engen nur ein und müssen durch aktualisierte Gravuren ersetzt werden, die ein neues Ich erfordern. Ein Ich, das ein höheres Dollar-pro-Monat-Level freischalten wird.
IV. Kampfgefährten statt Moral
Dabei bleibt, ganz gleich, wie viele Weiterbildungen über „ethisches Wirtschaften” die Protagonisten der Gründerszene auch besuchen mögen, Moral, wie sich leicht vermuten lässt, ein klar externes, fremdes Element. Zwar soll das eigene Produkt immer „ein Problem lösen” und könnte damit im aristotelischen Sinne „gut” genannt werden. Aber das Spektrum der „Probleme“, die der gewiefte Geschäftsmann zu lösen sich anschickt, reicht vom Bedarf an neuen Technologien für Herzklappen über eine schnellere, bargeldlose Zahlungsabwicklung bis hin zu „Bedürfnissen“ nach pornographischem Material. Die Grenzen des Machbaren legt das Gesetz fest, nicht die Moral. Zwar würden viele Jungunternehmer zweifellos auch keine Waffen, Sklaven oder Drogen handeln, wenn die juristischen Rahmenbedingungen legerer wären, aber diese persönliche moralische Einschränkung ist kaum eine, die von dem Überzeugungssystem ihrer Ideologie irgendeine nennenswerte Stütze erhält.
Als moralinfrei könnte man auch die Lehre des Übermenschen begreifen. Zwar soll die alte Moral mit ihren lebensverneinenden Idealen überwunden werden, wohin es aber gehen soll, bleibt zum größten Teil unbestimmt. Woran derjenige leidet, der zum neuen Ideal hinstrebt, ist nicht das Leiden an der Ungerechtigkeit oder am Bösen in der Welt, nein es ist der Ekel ob der Kleinheit des Menschen, „dass ihr Bestes so gar klein ist! Dass ihr Bösestes so gar klein ist!“12 Der Übermensch soll „der Erde treu“13 bleiben, nicht den Genuss abwerten, er kann sogar Selbstsucht, Herrschsucht und was sonst bisher unter negativen Zeichen stand aufwerten. Und um die Neuwertung dreht sich auch das Gesamtprojekt: „Schätzen ist Schaffen, hört es, ihr Schaffenden! Schätzen selber ist aller geschätzten Dinge Schatz und Kleinod. Durch das Schätzen erst gibt es Werth: und ohne das Schätzen wäre die Nuss des Daseins hohl. Hört es, ihr Schaffenden!“14. Wer aber ist besser dazu geeignet, den Dingen ihren Wert, ihren Preis zu verleihen, als der Kapitalist, der Börsenspieler, der Jungunternehmer? Die Preise werden nicht durch Ding, Welt oder Natur bestimmt, man erinnere sich, „die Natur ist immer werthlos“15, sondern der Wert wird von den Menschen in die Natur hineingelegt, man könnte auch sagen, er wird erfunden.
Analog zieht sich die Mitmenschlichkeit im Unternehmermilieu angesichts der abstrakten Forderungen der Moral auf einen reduzierten Modus Operandi zurück. Es gehört zu den zentralen, unendlich oft iterierten Mantras, dass der Einzelne den Menschen ähnelt, mit denen er am meisten Zeit verbringt: „Erfolg zu haben ist ganz einfach. Was wäre, wenn ich dir sage, dass du den Schlüssel dazu direkt vor Augen hast? Ja, ganz wortwörtlich! Schau dir einfach deine Umgebung näher an: Mit wem lebst du zusammen? Mit wem arbeitest du? Ist dein Umfeld voller positiver Energie? Mit wem verbringst du deine Freizeit?“16
Wie der Übermensch, so hat der Unternehmer nach solchen zu suchen, die gleichen Geistes Kinder sind. Wer auf demselben Weg von Verwandlung zu Verwandlung dahin galoppiert, der kann Freund und Bruder sein, denn dann kann man einander erkennen, kann sich befruchten und inspirieren, kann sich aufhellen in den dunklen Stunden des Zweifels, mehr aber noch: kann den anderen zu höheren, größeren Taten ermutigen. Freundschaft, das heißt, das Potential im anderen schlummern sehen, und es mit ihm zusammen erwecken. Dann wächst man gemeinsam, jeder für sich in seinem Abenteuer begriffen, und doch mit einer starken, wohlgesinnten Hand und Stimme in der Nähe. Was man möchte, sind „Gefährten [...], die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen – und dorthin, wo ich will. [...] Gefährten sucht der Schaffende und nicht Leichname, und auch nicht Heerden und Gläubige. Die Mitschaffenden sucht der Schaffende, Die, welche neue Werthe auf neue Tafeln schreiben“17.
Und was ist mit denen, die das nicht so sehen? Den Compagnons von früher, denjenigen, die nicht von derselben Ideologie des Geldverdienens durch spirituelle Erweckung überzeugt sind? Die vielleicht andere Lebenshaltungen verkörpern und anderes wertschätzen? Und die von Freundschaft etwas mehr erwarten als ein gegenseitiges Anfeuern beim Sprint auf dem Hamsterrad? Nun, auch hier soll man vorübergehen, nicht mit Missgunst, sondern einen Segen murmelnd und in Freiheit. Keinesfalls aber sollte man sich an diese Menschen ketten. Man hat sie hinter sich gelassen. Was gelten jetzt ihre Sorgen und Ratschläge, vielleicht gar ihre leeren Bemerkungen, man habe sich in eine oberflächliche Selbstoptimierungsmaschine verwandelt? Was wissen sie schon? Im Grunde sind sie schwach. Und den Schwachen soll man kein Arzt, keine Krücke sein. Sie werden es einem nicht danken. Kette dich nicht an die Lahmen, lass sie zurück, umgebe dich mit Personen auf deinem „Niveau“, das heißt im Unternehmermilieu: mit möglichst identischer Weltanschauung.
Wer, der schon mal durch Zarathustras Zeilen geschwommen ist, würde darin nicht des Meisters letzte Lektion erblicken, nämlich dem Mitleiden zu entsagen?18 Es gilt, nicht denjenigen ein Lehrer sein, die zu schwach sind, um die Lehren des Übermenschen zu verinnerlichen und zu verkörpern, sondern allein weiterzugehen und ernst zu machen mit dem Vorsatz: „Und wen ihr nicht fliegen lehrt, den lehrt mir – schneller fallen! –“19
V. „Price is what you pay, value is what you get“20 (Warren Buffett)
Aber, so dürfen wir annehmen, die meisten der Jungunternehmern, ja selbst der Coaches, Berater und Speaker haben Nietzsche doch nie gelesen, haben vom „Übermenschen“ kaum mehr als das Wort gehört. Wie kann es sein, dass so viele ihrer Überzeugungen und Phrasen exakt dem zarathustrischen Ideal zu entsprechen scheinen? Hat sein Konzept einen geheimen Weg ins kollektive Unterbewusste gefunden und sich seine eigene Nische, „seine“ Menschen gesucht, zu denen es reden kann? Ist, um die Frage vom Beginn zu wiederholen, vom Übermenschen kaum mehr die Rede, weil er sich verwirklicht hat?
Zugleich aber muss man doch zögern, beim Anblick der Prediger der Geld-durch-Glück-Botschaft nietzschesche Träume verwirklicht zu sehen. Ist das die Elite, die er erhoffte? Eine Gemeinschaft geldgieriger Glückssucher? Von der Bühne bellen im besten Scheinwerferlicht hochbezahlte Redner ihre Heilsversprechen. Auf Fuckup-Nights erzählen Unternehmer lachend von ihren schlimmsten Fehlversuchen, ihren übelsten Bankrotten. In Fitness-Centern brüllen Freunde einander motivierende Wahrheiten zu. Wenn du es hier schaffst, schaffst du’s überall.
Ist Zarathustra, der Künder des Übermenschen, nicht selbst – entgegen eigener Selbstbekundung – viel zu sehr Philosoph, um sich mit einem derart dürftigen Materialismus zufrieden zu geben? Und hat nicht der Übermensch als Idee einen ganz anderen, geistigen Kern als das bloße Sich-Überbieten? Wir wollen nicht nur lapidar einwenden, dass übermäßiger Besitz vom Proklamierer des Übermenschen als Fußfessel angesehen wird und das Ideal des Geldes von vornherein verpönt erscheint: „– wahrlich nicht zu einem Adel, den ihr kaufen könntet gleich den Krämern und mit Krämer-Golde: denn wenig Werth hat Alles, was seinen Preis hat“21, sondern vor allem betonen, dass dem Wertschätzen ein ganz anderer Gehalt zukommt, sowie der Sinn der Erde mitnichten materialistisch zu verstehen ist. Neue Werte sollen ins Leben gerufen werden, weil die bisherigen sich als nihilistisch erwiesen haben. Die sinnen- und leibfeindlichen Ideale des Christenthums sind überholt, weil die Gottesthese unglaubwürdig geworden ist, die Menschen, die Gott als Erfindung und Projektion enttarnten, haben aber noch die alten Werte in einer minderwertigen, mittelmäßigeren Version beibehalten. Nun, wo es keinen Gott mehr gibt, der noch glaubwürdig sein kann, wo das irdische Leben alles ist, versucht man es sich behaglich, sicher und gesund im Leben einzurichten. Gegen diese Behaglichkeit, Ideallosigkeit und Verkleinerung der Idee der Menschheit wendet sich das zarathustrische Ideal. Auch die Werte der Entrepreneure sind sicherlich keine der Genügsamkeit, daher könnte man sie gar mit dem zarathustrischen Ideal verwechseln, sofern man in diesem nur das „Über-sich-hinaus“ nur das schlichte Selbstgesetz erkennen will. Nichtsdestotrotz hat das „Immer weiter“ und „Immer mehr vom selben“ einen nihilistischen Kern. Dort, wo allem ein Zahlwert gegeben wird, wird Ungleiches gleich gemacht. Geld wird akkumuliert, ohne dass die Akteure noch sagen könnten, wozu dieses Geld gut wäre. Sie können es noch „setzen“ und „verspielen“, es in einem Leben einfach auszugeben, wäre schon eine Herausforderung. Die gestalterische Kraft kann ohne eine Antwort auf die Frage, wie die Welt gestaltet werden soll, nur nach einem „Mehr“ gieren, das alle anderen Bereiche des Lebens verkrüppeln lässt.22 Der Mensch braucht neue Werte und Sehnsüchte, an die er glauben kann, er braucht also eine Antwort auf die Frage „wozu?“. Diese Frage kann in einem säkularen Zeitalter nur der Mensch beantworten. Kann er dies aber als Einzelner, ist der Übermensch überhaupt ein Einzelner? Dies ist eine komplexe Frage. Häufig wird der Übermensch als Egomane begriffen, der in vollkommener Selbstherrlichkeit den Platz einnimmt, den vorher Gott innehatte. Keine Moral, kein übergeordnetes Gesetz kann ihm noch diktieren. Gibt es denn ein inneres Gesetz?
VI. Die Kannibalen des Kapitalismus
Kommen wir auf die Motivation zurück, die Zarathustra, den Verkünder des Übermenschen, zu den Menschen führt, so sehen wir ein Motiv, das wir keinesfalls unbeachtet lassen sollten. Als Zarathustra davon abgeraten wird, zu den Menschen zu gehen, sie würden ihm nicht zuhören und nicht verstehen, ihm vielleicht gar gefährlich werden, erwidert Zarathustra: „Ich liebe die Menschen.“23
Mag auch vieles vom Menschen wie reine Selbstermächtigung zu Gunsten eines reicheren, wohlgemerkt seelisch reicheren Ichs wirken, sollte man dennoch nicht außer Acht lassen, dass Zarathustra den Menschen ein Geschenk bringen will. Nur wenn man dies ignoriert, können die Worte, Mantras und Aphorismen in der vibrierenden Szene der jungen Entrepreneure frappierend ähnlich klingen wie die Tugenden des Übermenschen. Das Vernichten überkommener Ichs, das Erwachsen von Neuem als Prinzip, der frische Wagemut, das spielerische Gemüt, das sich einlässt, aber auch wieder entlässt, das in höchster Autonomie ohne Moral eigene Gesetze entwirft, die ihm dienen, nicht denen es selbst dient. Der Übermensch, der nie in festen Formen stecken bleibt, genauso wenig, wie er an geliebten Menschen festhält, wo er ihnen entwachsen ist. Der, wo ihm Übel geschieht, ohne Missgunst dem Leben oder den Menschen gegenüber jede Schwierigkeit als eine Herausforderung bejaht, als Chance zu wachsen, als ein Sprungbrett für die nächste Ebene. Der Dankbarkeit empfindet. Der, zuletzt, ohne Scham und Schuld genießt, weil er weiß, dass kein Gott und kein Gericht auf ihn wartet.
Und doch muss man bei genauerem Hinsehen erkennen, dass Nietzsche selbst dort missverstanden wird, wo er nicht zitiert wird. Der Übermensch wird in der Avantgarde der jungen Kapitalisten nicht ausdrücklich erwähnt. Aber viele Versatzstücke ihrer Ideologie sind aus dem geistigen Inventar von Nietzsches Philosophie entnommen. Doch nur in einer reduzierten, angepassten, verformten Version. Das wahre und einzige Ziel der Ökonomie unserer Tage – daran hat sich seit Marx wenig geändert – bleibt die Kapitalakkumulation. Sie mag sich immer wieder neue, zeitgemäße Gewänder anlegen, mag neue Moden erfinden und kulturelle Strömungen aufnehmen und allerlei unterschiedliches Vokabular integrieren, ihr Wesen bleibt sich doch stets gleich. Und ihre Subjekte, die Exekutanten ihrer Mechanismen, passen ihr eigenes Innenleben zur bestmöglichen Verwendbarkeit – aus ihrer Sicht für den „Erfolg“ – um jeden Preis an die Erfordernisse des Systems an.
Nietzsches Übermensch aber trägt ein anderes Versprechen in sich. Eine Vorstellung von Menschheit und menschlicher Entwicklung, die mit den Missständen und Missverständnissen einer mehrfach verknoteten geistigen Tradition aufgeräumt hat und mit Freiheit eine eigene, gottlose Zukunft zu beginnen imstande ist. Um diese zu beschreiten, wäre es aber vielleicht eine gute Idee, doch noch einmal über den Übermenschen zu sprechen.
Literatur
Beck, Tobias: Unbox your life! Bewohnerfrei: Das Geheimnis für deinen Erfolg. Offenbach 2018. 7. Auflage 2022.
Hormozi, Alex: $100M Offers. How To Make Offers So Good, People Feel Stupid Saying No. Ebook, Aquisition.com 2021.
Merath, Stefan: Der Weg zum erfolgreichen Unternehmer. Wie Sie und Ihr Unternehmen neue Dynamik gewinnen. Offenbach 2008. 21. Auflage 2021.
Morgan, Charlie: I told myself I was rich until it came true. Online: https://youtu.be/IUxn7vT104Y (veröffentlicht am 19.03.2023, abgerufen am 26.5.2024).
Müller, Alexander: It’s In You. Visionen, Erfolg, erfülltes Leben. Ebook, München 2024.
Fußnoten
1: Morgan, I told myself I was rich until It came true, Minute 21:16 & 22:14. Übersetzung: „Der schnellste Weg zum Erfolg ist es zu akzeptieren, dass du mit deinem gegenwärtigen Selbstverständnis und deiner gegenwärtigen Identität und wie du dich wahrnimmst und wie sich die Welt dir durch deine Linsen präsentiert und deinem Paradigma, dass du nicht in der Lage dazu bist, die Zukunft herbeizuführen, die du herbeiführen willst. [...] Wir verwirklichen keine Ziele, wir verwirklichen Persönlichkeiten. Wir verwirklichen Identitäten.“
2: Müller, It’s In You, Position 198.
3: Also sprach Zarathustra, Von den Taranteln.
4: Müller, It’s In You, Position 215.
5: Merath, Der Weg zum erfolgreichen Unternehmer, S. 59.
6: Morgan, I told myself I was rich until It came true, Minute 20:58. Übersetzung: „Du musst psychologischen Selbstmord begehen. Du, die Person, die du jetzt bist, ist dazu nicht in der Lage, denn wenn du es wärst, dann hättest du es schon.“
7: Also sprach Zarathustra, Vom Wege des Schaffenden.
8: Hormozi, $100M Offers, S. 11. Übersetzung: „Als Unternehmer schließen wir jeden Tag Wettten ab. Wir sind Spieler – wir setzen unser hartverdientes Geld auf Arbeitskraft, Inventar, Miete, Marketing etc., alles in der Hoffnung, dass es sich auszahlen wird. Oft verlieren wird. Aber manchmal gewinnen wir und gewinnen VIEL.“
9: Also sprach Zarathustra, Von der Selbst-Ueberwindung.
10: Also sprach Zarathustra, Vom Lesen und Schreiben.
11: Also sprach Zarathustra, Vom Wege des Schaffenden.
12: Also sprach Zarathustra, Von den alten und neuen Tafeln, 2.
13: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3.
14: Also sprach Zarathustra, Von tausend und Einem Ziele.
15: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 301.
16: Beck, Unbox your life!, Position 102.
17: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 9.
18: Vgl. Also sprach Zarathustra, Das Zeichen.
19: Also sprach Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 20.
20: Übersetzung: „Preis ist, was man bezahlt; Wert ist, was man erhält.“
21: Also sprach Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 12.
Nietzsche und die Ukraine
Ein Gespräch mit Vitalii Mudrakov
Nietzsche und die Ukraine
Ein Gespräch mit Vitalii Mudrakov
Vitalii Mudrakov ist einer der führenden Nietzsche-Experten der Ukraine. Aufgrund des Krieges lebt er mit seiner Familie derzeit in Deutschland. Paul Stephan unterhielt sich mit ihm ausführlich über einige Aspekte der reichhaltigen ukrainischen Nietzsche-Rezeption im Kontext der vielfach ignorierten eigenständigen Kulturgeschichte des Landes. Sie zeigt, dass Nietzsches freiheitliches Denken immer wieder zentrale Protagonisten der ukrainischen Kultur in ihrem Ringen um eine unabhängige Nation frei von habsburgischer, zaristischer oder sowjetischer Fremdherrschaft inspirierte – und heute wieder den Kampf um die eigene Selbstbehauptung angesichts der russischen Invasion.
I. Nietzsche in der Ukraine – Eine grobe Übersicht
Paul Stephan: Lieber Herr Dr. Mudrakov, haben Sie vielen herzlichen Dank, dass Sie sich zu diesem Gespräch zu Nietzsche in der ukrainischen Kultur bereiterklärt haben. Vielleicht ist es am besten, es mit einer ganz allgemeinen Frage zu beginnen: Welche Rolle spielt Nietzsche denn in Ihrem Land? Gibt und gab es dort eine starke Beschäftigung mit dem deutschen Philosophen, die sich wesentlich auf die ukrainische Kultur auswirkte? Oder handelt es sich eher um eine exotische Randfigur? Bei der vergangenen Nietzsche-Tagung kamen Sie ja in dieser Hinsicht bereits auf die Schriftstellerin Olha Kobylianska zu sprechen, wir berichteten, die in zumindest einem Text Nietzsche stark rezipiert. War sie damit eher eine Ausnahme – oder gibt es weitere solcher Beispiele?
Vitalii Mudrakov: In der Tat ist es eine große Ehre und Freude für mich, über eine solche Verbindung wie „Nietzsche und die Ukraine“ zu sprechen, denn die Ukraine ist sozusagen mein ontologischer Wachstumskontext, sie ist mein Heimatland, und Nietzsche ist eines der wichtigsten intellektuellen ‚Düngemittel‘ für dieses Wachstum. Da wir also über so wichtige Dinge sprechen, fühle ich eine große Verantwortung. Deshalb danke ich Ihnen für die Gelegenheit eines solchen Gesprächs. Ich hoffe auch, dass diese Diskussion nicht nur erkenntnisreich sein wird, sondern auch in gewisser Weise meine inneren Gefühle widerspiegelt.
Um Ihre Frage ganz allgemein zu beantworten, können wir mit den vorgeschlagenen Formulierungen sagen, dass es sich um eine „exotische Randfigur“ handelt – aber dieser Exotismus hat deutliche Spuren hinterlassen. In dieser Hinsicht würde ich Ihre Frage noch etwas vertiefen, indem ich darlege, wann genau Nietzsche in meinem Land eine Bedeutung hatte.
Seine Rolle für das ukrainische Geistesleben sollte also nicht unterschätzt werden, aber sie war in den verschiedenen Zeiträumen sehr unterschiedlich! Daher würde ich unseren Austausch gerne mit einer Periodisierung der ukrainischen Rezeptionen beginnen. Und da Teile der ukrainischen Gebiete in den unterschiedlichen Perioden zu verschiedenen Staatsgebilden gehörten (das Österreichisch-Ungarische und das Russische Reich, die Sowjetunion und die unabhängige Ukraine), ist es zugleich unerlässlich, über die Geographie der ukrainischen Rezeptionen zu sprechen. Um uns also besser orientieren zu können, schlage ich die folgende vorläufige, vielleicht etwas politische, Periodisierung vor:
(1) Die erste Periode würde ich als „imperial“ bezeichnen, zeitlich umfasst sie das Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Untergang der Reiche. Zu diesem Zeitpunkt betritt Nietzsche sozusagen das Gebiet der ukrainischen Länder, die zu verschiedenen Reichen gehörten und denen sehr unterschiedliche kulturelle und politische Rechte gewährt wurden. Und hier tritt die Schriftstellerin Olha Kobyljanska (1863-1942) in den Vordergrund. Schließlich ist sie unter anderem diejenige, die sehr aktiv Nietzsche’sche Ideen in die ukrainische Literatur einführte und damit modernistische Tendenzen in ihr etablierte. Aus diesem Grund gilt sie eigentlich als eine der Schlüsselautorinnen der frühen Moderne in der Ukraine.
Zahlreiche führende Intellektuelle der Zeit wiesen auf den übermäßigen Einfluss Nietzsches auf die Schriftstellerin hin.1 Sie bezogen sich dabei vor allem auf die von der Autorin, insbesondere in ihren frühen Werken, eingeführten Ideen der „starken Person“ bzw. „starken Frau“. Mit diesen wirkte sie erheblich auf die dominante feministische Bewegung der Zeit in der Region ein und insofern können wir sagen, dass der – vermittelte – Einfluss Nietzsches hier sehr bedeutend war. Kobylianska kann also als die erste ukrainische Nietzscheanerin angesehen werden, die in Österreich-Ungarn lebte. Und auch die erste ukrainische Nietzscheanerin überhaupt, weil ihr Interesse an Nietzsche ähnlichen Tendenzen in der übrigen Ukraine, die damals Teil des Russischen Reiches war, vorausging.
Der nietzscheanische Einfluss in diesem von Russland beherrschten Teil der Ukraine ist insgesamt betrachtet eher oberflächlich, er zeigt sich z. B. in der antichristlichen Kritik und dem Experimentieren mit verschiedenen Mythologien, etwa Motiven der vorchristlichen slawischen Tradition, in einigen Werken. Zurückzuführen lässt er sich wiederum auf Frau, die Schriftstellerin Lessja Ukrajinka (1871-1913). Sie stammte aus Wolhynien, das damals Teil des russischen Reiches war. Wolodymyr Wynnytschenko (1880-1951), Wjatscheslaw Lypynskyj (1882-1931) und Dmytro Donzow (1883-1973) können ebenfalls in die Galaxie des ‚russischen Teils‘ der ukrainischen Autoren aufgenommen werden, in der der Einfluss des deutschen Philosophen offensichtlich ist. Diese Autoren eint nicht nur ihre Nietzsche-Rezeption, sondern auch ihr politisches Wirken. Obwohl ihre Lesarten von Nietzsche sehr unterschiedlich waren, können wir angesichts dieser Synthese von Philosophie und Politik doch von einer geteilten ideologischen Verschärfung sprechen, die von Nietzsches Philosophie inspiriert wurde. Diese Verschärfung beruhte auf dem Wunsch, die Lebens- bzw. Existenzkultur der ukrainischen Nation zu verändern. Die oben genannten Autoren sprachen etwa von der „Notwendigkeit einer revolutionären Umgestaltung des Lebens eines neuen Menschen“, den „Problemen des Volkswillens“ oder dem „Ideal eines starken Menschen“.
(2) Über die zweite sowjetische Periode kann ich nicht viel sagen, da Nietzsche in dieser Zeit – die etwa 70 Jahre des Bestehens der Sowjetunion – verboten war und es kaum Möglichkeiten gab, mit seinen Texten zu arbeiten. Nietzsche wurde in dieser Zeit nur durch den Filter der Floskeln der sowjetischen Enzyklopädien gesehen, wie folgt: „Ein reaktionärer idealistischer Philosoph, ein unverblümter Apologet der bürgerlichen Ausbeutung, der Aggression und der faschistischen Ideologie”. Nietzsche konnte also nicht mit den bolschewistischen Interpretationen von Marx um die Aufmerksamkeit der sowjetischen Proletarier konkurrieren.2 Und die anfänglichen Versuche der 20er und 30er Jahre, Nietzsche weiter zu rezipieren, insbesondere durch literarische Visionen, endeten in der Tragödie der „erschossene Renaissance“: Der ukrainische Futurismus von Mychajlo Semenko (1892-1937), der einen Typus des willensstarken „eisernen Menschen“ auf einer künstlerischen nihilistischen Plattform zu verkörpern suchte, oder das Echo der „Übermenschen“-Bilder als Führer der Massen, der für sein eigenes Heimatland verantwortlich war, von Mykola Сhwylowyj (1893-1933), trafen auf die Auswirkungen und Folgen des Stalinismus.
Es ist wichtig zu betonen, dass die Autoren beider Perioden in Imperien lebten und auf unterschiedliche Weise unter dem Regime der Sowjetunion litten (einige wurden zur Emigration gezwungen, andere wurden inhaftiert und einige bezahlten sofort mit ihrem Leben). Sie waren also Teil beider Perioden, so dass die Besonderheit dieser Periodisierung vor allem darin besteht, auf die je spezifische Möglichkeit hinzuweisen, Nietzsches Philosophie neu zu rezipieren oder mit den Prinzipien seiner Weltanschauung im Allgemeinen zu arbeiten.
(3) Die dritte Periode, die man offensichtlich als „unabhängig” bezeichnen kann – von den frühen 1990er Jahren bis heute – eröffnete wieder die Möglichkeit, Nietzsche kennenzulernen und einige Forschungsprojekte zu seiner Philosophie zu entwickeln. Ich würde hier allerdings nicht von einer allgemeinen kulturellen Beeinflussung sprechen, sondern eher von einer wachsenden Nietzsche-Forschung und -Übersetzung. In den 1990er Jahren erschienen Anatolij Onyschkos Übersetzungen von Also sprach Zarathustra und Petro Taraschchuks von Der Antichrist; Anfang der 2000er Jahre wurden Onyschkos Übersetzungen von Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral veröffentlicht. Ein sehr wichtiges weiteres Nietzsche-Übersetzungsprojekt wurde von Oleh Feschovets und Kateryna Kotiuk in Kooperation mit dem Verlag Astrolabe im Jahr 2004 gestartet. Dessen Bedeutung lag darin, dass die Übersetzung auf der kritischen Ausgabe von Colli und Montinari basierte, die Nietzsche dem ukrainischen Publikum auf eine völlig andere Art und Weise erschloss, einen ‚entnazifizierten‘ Nietzsche. Auf der Website des Verlags Astrolabe ist zu lesen, dass derzeit sieben Bände der Übersetzung fertiggestellt wurden. Leider kommt sie etwas schleppend voran. Es gibt auch andere zeitgenössische Übersetzungen, wie die von Wakhtang Kebuladze übersetzte Morgenröthe, die vor ein paar Jahren veröffentlicht wurde, und einige der Ideen des deutschen Philosophen werden in einem philosophischen Übersetzungslabor unter der Leitung des genannten Autors und Übersetzers diskutiert.
Es ist interessant festzustellen, dass die ersten Studien, die der ukrainischen Rezeption Nietzsches gewidmet sind, gleich mit den Jubiläumsjahren des Philosophen verfasst wurden. Zum Beispiel die eher programmatischen Artikel von Ihor Bytschko (Nietzsche in der Ukraine, zum 150. Jahrestag) und Volodymyr Zhmyr (Auf den Spuren von Nietzsche in der Ukraine, zum 160. Jahrestag). Der kürzlich erschienene Artikel Ukrainischer Nietzscheanismus von Taras Ljutyj unterstreicht die beiden vorangegangenen.
Der diesjährige 180. Geburtstag Nietzsches gibt Gründe zur Hoffnung, dass dieses Ereignis trotz aller Belastungen durch die russische Aggression und den Krieg auch im ukrainischen Raum ansatzweise behandelt wird. Zumindest habe ich dazu ein paar Ideen, die nicht nur eine einmalige, sondern hoffentlich eine dauerhafte Wirkung entfalten werden. – Daher würde ich sagen, dass Nietzsche seine Reise in der Ukraine gerade erst beginnt.
II. Nietzsche und die Entstehung des ukrainischen Nationalbewusstseins
PS: Haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihre ausführliche und sehr gehaltvolle Antwort. Lassen Sie mich zu den einzelnen Perioden jeweils eine Rückfrage stellen. Zur ersten Periode würde ich gerne bemerken, dass ich hier große Parallelen zur Nietzsche-Rezeption im Allgemeinen erblicke. Es gab zahlreiche Feministinnen und emanzipierte Frauen, die Nietzsche ein solches Leitbild einer „starken Frau“, mitunter sogar eines „Überweibs“, entnahmen. Nietzsche wurde nicht zuletzt von Frauen gelesen – und dies in einem ganz anderen Sinne, als es manchen seiner Texte zu entnehmen ist. Er wurde gegen seinen Willen zu einem wichtigen Katalysator des Feminismus und der allgemeinen Frauenemanzipation – es ist hier, denke ich, zwischen der politischen Bewegung und der kulturellen Bewegung zu unterscheiden –, aber auch, wie Sie ja ebenfalls vermerken, generell zum Katalysator politischer und kultureller Radikalisierungsprozesse. Was mich interessiert, ist, ob es schon in dieser Periode das Bewusstsein einer ukrainischen Literatur gab oder ob sich die Autorinnen und Autoren eher als Untertanen des Kaiser- bzw. Zarenreichs verstanden.
VM: Wenn wir über den Zeitrahmen dieser Periode sprechen, nämlich das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert, dann hat sich in dieser Zeit definitiv und eindeutig ein vollwertiges Bewusstsein für die ukrainische Literatur gebildet. Außerdem findet in dieser Zeit bereits das statt, was man bedingt als „die nächste Generation dieses Bewusstseins“ bezeichnen kann, denn schon davor hatte sich das Verständnis einer eigenständigen ukrainischen Nationalliteratur entwickelt. Damit meine ich in erster Linie das Phänomen Taras Schewtschenko (1814-1861). Er lebte und arbeitete Mitte des 19. Jahrhunderts im Russischen Reich und gilt als Begründer und Förderer des ukrainischen Nationalbewusstseins in der Literatur im politischen Sinne. Noch heute gilt Schewtschenkos Werk als geistige Grundlage für die Bildung der modernen ukrainischen Nation und als Quelle des nationalen und politischen Bewusstseins, und der Schriftsteller selbst ist ein Symbol der Ukraine – ähnlich vielleicht wie Shakespeare für England oder Goethe für Deutschland. Aber natürlich können wir auch von Schriftstellern sprechen, die vor ihm oder zur gleichen Zeit gelebt haben und die ebenfalls ihren Beitrag zu diesem Bewusstsein geleistet haben. Iwan Kotljarewskyj (1769-1838) etwa und dann Petro Hulak-Artemovskyj (1790-1865). Ersterer gilt als Klassiker der neuen ukrainischen Literatur, doch sein Beitrag zur Herausbildung der ukrainischen Nationalkultur solcher ist eher ästhetischer und sprachlicher Natur; letzterer wird von der Forschung trotz seiner schriftstellerischen, übersetzerischen und pädagogischen Verdienste einer übermäßigen Loyalität gegenüber der zaristischen Kanzlei bezichtigt. Daher bedeutet die Jahrhundertwende für die ukrainische Literatur bereits eine gewisse Keimung dieses Fundaments. Allerdings standen diese zarten Keimlinge stets unter der heißen Sonne des politischen Drucks des Zarenreichs: offizielle Nichtanerkennung, Opposition oder völliges Verbot der ukrainischen Sprache und jeglicher literarischen Produktion.
Wenn es um Figuren von Taras Schewtschenkos Format in Österreich-Ungarn geht, ist Iwan Franko (1856-1916) der unbestrittene Favorit. Er schöpfte seine Geschichten aus dem Leben und den Kämpfen seines Heimatvolkes, das er in einem unabhängigen Staat vereint sehen wollte. Obwohl die allgemeine Situation der Ukrainer im Kaiserreich viel besser war als im Zarenreich und die ukrainische Sprache zum Beispiel den Status einer „Randsprache“ hatte, stehen die Themen Kampf und Freiheit für sein Volk im Mittelpunkt von Frankos Werk. Sie repräsentieren sehr gut das von Schewtschenko konzipierte und begründete Nationalbewusstsein. Hervorzuheben ist, dass sich das Bewusstsein für die ukrainische Literatur in beiden Teilen der Ukraine vor allem auf den die östliche Mitte des Landes, d. h. auf die Dnipro-Ukraine (Naddniprjanska Ukrajina), konzentriert, die einen etwas tieferen nationalen Einigungsimpuls herausbildete. Dies ist wahrscheinlich auf die dortigen härteren Existenzbedingungen zurückzuführen.
So geht Nietzsches Saat auf dem „Boden“ dieser nationalen Impulse auf. Mit anderen Worten: Die genannten, von seiner Philosophie genährten „Radikalisierungen“ tauchen erstmals in der ästhetischen und kulturellen Kodierung der oben genannten Autoren zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf (und bei Kobyljanska sogar noch früher, ab 1890), und in der politischen Kodierung – etwas später allerdings, an der Wende zu den ersten Jahrzehnten des 20.
III. Zwischen Zensur und Subversion – Nietzsche während der Sowjetzeit
PS: Zur zweiten Periode möchte ich gerne rückfragen, ob Nietzsche nicht vielleicht doch in oppositionellen Zirkeln gelesen wurde und dort als Ideengeber fungierte. In der DDR war es durchaus so, dass Nietzsche trotz der offiziellen Zensur in solchen Kreisen durchaus gelesen und diskutiert wurde und insofern eine unterschwellige, in den 80er Jahren auch (halb)offizielle, Wirkung entfalten konnte. Aber es wäre dort auch nahezu unmöglich gewesen, Nietzsche vollständig zu unterdrücken, schon allein wegen der Nähe zu Westdeutschland und der Prominenz Nietzsches vor 1945.
VM: Auch die Zeit der sowjetischen Besatzung war nicht allzu homogen und immer gleich. Ein Rückblick auf die Geschichte der Zensur in der Sowjetunion wäre ein Beleg dafür. Das Schrecklichste ist jedoch, dass nicht nur Nietzsche oder eine Reihe anderer Autoren verboten wurden, sondern dass die unausweichliche Notwendigkeit, ausschließlich mit dem leninistisch-stalinistischen Marxismus zu arbeiten, festgeschrieben wurde. Die Philosophie wurde zu einer „Dienerin der Ideologie“. Die Herausforderung für die Intellektuellen bestand also darin, den philosophischen Diskurs auf versteckte Weise und in klandestiner Form am Leben zu erhalten. Neben der Entwicklung rein philosophischer und theoretischer Fragen scheint es mir jedoch wichtig zu sein, über einen Faktor bei der Lektüre von Nietzsche zu sprechen, nämlich den Wunsch, die eigene nationale Kultur und Identität weiterzuentwickeln. Dieser Faktor hatte in den verschiedenen Sowjetrepubliken eine unterschiedliche Dynamik. In der Ukraine war er immer sehr wichtig. Daher konnte die Suche nach Quellen der Bestätigung der eigenen kulturellen Identität und damit der Unabhängigkeit keineswegs auf einen so fruchtbaren Boden des Umdenkens wie die Philosophie Nietzsches verzichten. Und es ist offensichtlich, dass es sich dabei um eine Angelegenheit des Untergrunds handelte. Hier möchte ich einen interessanten Punkt aus dem oben erwähnten Artikel von Volodymyr Zhmyr, Auf den Spuren von Nietzsche in der Ukraine, erwähnen. Darin erzählt er, wie er einmal, im Jahr 1964, die Wohnung seines Nachbarn besuchte und auf dem Tisch ein aufgeschlagenes Buch im Format 1:32 sah. Es handelte sich um eine Ausgabe von Also sprach Zarathustra aus dem Jahr 1903, übersetzt von einer Autorin namens A. V. Perelhina (ihren Vornamen konnte ich leider nicht herausfinden). Er hatte diese Übersetzung gegen ein anderes Buch eingetauscht, und erst dann konnte er sich mit diesem Text vertraut machen. Ich erzähle diese Geschichte, um zu zeigen, wie es durch reinen Zufall dazu kommen konnte, dass Nietzsche zum Lesen zur Verfügung stand. Mit anderen Worten, dieses Werk lag seit den Tagen des vorigen Reiches, der Periode, die wir „imperial“ nennen, in den Regalen der Privatbibliotheken herum, ohne den Säuberungen der bolschewistischen Behörden zum Opfer zu fallen. Nur auf diese Weise konnte ein „akademischer Philosoph“ zufällig sein Werk lesen. Es gab kein so nahes „Westdeutschland“, aus dem einige Werke hätten kommen können und schließlich war die Gesamtzahl der Veröffentlichungen und der tatsächliche Einfluss Nietzsches im Vorkriegsdeutschland viel höher, was nicht so leicht und schnell zu beseitigen war. In der UdSSR war es die Ideologie, die die Regale vieler Privatbibliotheken von solchen Büchern säuberte, während in Universitäts- oder Staatsbibliotheken spezielle Dienste dies taten.
Die Inspirationen des Untergrunds, von denen ich sprach, wären ein gutes Thema für künftige Forschungen, die aber im Moment nicht sehr gut entwickelt sind. An dieser Stelle sei jedoch das Beispiel einer Gruppe ukrainischer Intellektueller erwähnt, die sich für den Schutz der nationalen Sprache, der Kultur und der Freiheit des künstlerischen Schaffens einsetzten und durchaus nach Impulsen für ihren eigenen Fortschritt suchte – die Sechziger (Schistdesjatnyky). Nehmen wir zur Veranschaulichung einen der Dissidenten und Vertreter dieser Bewegung, der von den sowjetischen Behörden zu Tode gefoltert wurde, Wassyl Stus (1938-1985). Einer seiner Kommilitonen am Institut bezeugte, dass er sich schon immer sehr für Philosophie interessiert und neben anderen Denkern auch Nietzsche sehr intensiv gelesen habe. Da er sehr gut Deutsch sprach, ist es möglich, dass er Nietzsches deutschsprachige Werke gelesen hat, die ihm noch aus früheren Zeiten bekannt gewesen sein könnten. Wir wissen auch von seinem Tagebuch, in dem er Zitate von Philosophen, insbesondere auch Nietzsche, niederschrieb und kommentierte. Die tatsächlichen ideellen Einflüsse sind hier noch zu untersuchen, aber die Tatsache, dass der deutsche Philosoph in diesen Kreisen gut bekannt und intensiv besprochen worden war, lässt sich nicht leugnen.
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Geschichte meines Mentors, einem bekannten Übersetzer und Spezialisten für kantische Philosophie, Vitalii Terlezkyj. Er erzählte uns Studenten, wie er an der Wende von den 80er zu den 90er Jahren an der Philosophischen Fakultät in Kyjiw studierte. Eine außergewöhnliche Ironie des Schicksals bestand darin, dass man damals, um Nietzsche zu lesen, den wichtigsten religiösen und kulturellen Ort der Ukraine aufsuchen musste, die Lawra (das Kyjiwer Höhlenkloster oder Heiliges Mariä-Himmelfahrt-Kloster). Auch dieser Frage muss nachgegangen werden: Wie und wann kamen diese Bücher in die Kirchenbibliothek? Aber jedenfalls ist es überhaupt bemerkenswert, dass ausgerechnet diese kirchliche Bibliothek Nietzsche „beschützte“ und seine Werke zum Lesen bereitstellte.
IV. Nietzsche und die ukrainische Zukunft und Gegenwart
PS: Was die dritte Periode angeht, muss vielleicht für unsere deutschsprachigen Leser betont werden, dass es sich hier um Übersetzungen in die ukrainische Sprache handelt. Russische Übersetzungen gibt es ja, nehme ich an, doch diese Übersetzungen sind Teil der Bemühungen, die während der Sowjetzeit, und wohl auch zuvor, unterdrückte ukrainische Sprache – die durchaus kein Dialekt des Russischen ist, sondern vielleicht eher mit dem Niederländischen vergleichbar, das man kaum als Dialektik des Deutschen betrachten würde – als Bildungssprache zu etablieren. Generell ist es ja ein Problem, dass man im Westen die Ukraine lange Zeit quasi als eine Art ‚Kleinrussland‘, so wie Putin, betrachtete. Erst kürzlich sprach der deutsche Philosoph Christoph Menke in abfälliger Manier von einer eigenständigen ukrainischen Nation als propagandistischer „Erfindung“.3 Dabei ist doch klar, dass der Kampf um eine eigenständige kulturelle Identität als Bedingung der Schaffung eines demokratischen, selbstbestimmten Gemeinwesens stets Momente der Rekonstruktion und Konstruktion beinhaltet, erst recht bei Nationen, denen eine unabhängige kulturelle Entwicklung über Jahrhunderte verwehrt wurde. Man denke nur an Irlands Wiederbelebung der keltischen Sprache oder die entsprechenden Bemühungen Israels – für die Nietzsche im Übrigen ebenfalls ein wichtiger Stichwortgeber gewesen ist, ging es den Zionisten doch um das heroische Projekt der Konstruktion eines „neuen Juden“, der den Antisemitismus nicht länger erduldet, sondern offensiv bekämpft, und aufhört, so devot wie die ‚alten Juden‘ zu sein oder das eigene Judentum zu verneinen wie die Assimilierten. Soweit ich weiß, gibt es auch bei Nietzsche keine einzige Bemerkung über die ukrainischen Länder, auch wenn er sich sehr für Osteuropa interessierte, speziell für Russland und Polen, mit dem er sich sogar identifizierte (vgl. meinen Artikel zu dieser Thematik auf diesem Blog). Wir müssen diesbezüglich unsere vielleicht ihrerseits imperiale, neoimperiale, Arroganz und Ignoranz endlich aufgeben und die Unabhängigkeit der ukrainischen Kultur akzeptieren.
VM: Lieber Paul Stephan, Sie haben mit dieser Frage oder Bemerkung viele Themen angesprochen. Ich werde daher nur ganz kurz auf jedes einzelne eingehen. Zunächst zum Thema der Übersetzungen. Ja, natürlich haben wir über Nietzsches Übersetzungen ins Ukrainische gesprochen, denn warum sollte ich über andere Übersetzungen, z. B. ins Russische sprechen? Es gab auch Übersetzungen in andere Sprachen, etwa ins Polnische. Allerdings sind viele russische Übersetzungen philosophischer Literatur, wie Sie richtig bemerkten, das Ergebnis der sowjetischen Politik gegenüber Sprachen im Allgemeinen und ihren Möglichkeiten in der Wissenschaft (Philosophie, Literatur) im Besonderen. Aber in den 1990er Jahren wurden auch modernere Übersetzungen, insbesondere von Nietzsche, in Russland angefertigt.
Ich möchte an dieser Stelle deutlich festhalten, dass alle (vor allem auch deutschsprachige Leser und Forscher), die es gewohnt sind, über die ukrainische Kultur oder Sprache ausschließlich im Rahmen der russischen Kultur oder Sprache zu sprechen, ihre Ansätze überdenken sollten, denn sie sind veraltet und haben für mich persönlich den Beigeschmack des Imperialismus. Sie haben das sehr treffend gesagt. Und auch die ersten Übersetzungen von Nietzsche, die in der vorsowjetischen Zeit, an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, entstanden sind, zeugen von dem Versuch, eine eigene Kultur, vor allem eine sprachliche, zu etablieren und zu entwickeln: Sowohl russische als auch ukrainische Übersetzungen erschienen etwa zur gleichen Zeit. Allerdings unter sehr unterschiedlichen Bedingungen. Es liegt auf der Hand, dass nur die russischen Übersetzungen von offizieller Seite unterstützt werden konnten, während die ukrainischen in den Gefängnissen inoffiziell in Form von Notizen auf Papierschnipseln angefertigt wurden. Ich beziehe mich hier auf den bereits erwähnten ukrainischen Schriftsteller Wolodymyr Wynnytschenko. Er fertigte eine der ersten ukrainischen Übersetzungen von Also sprach Zarathustra irgendwann in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts an, als er in einem zaristischen Gefängnis saß, als Ukrainisch noch nicht einmal als Sprache anerkannt und in jeder Hinsicht verboten war. Dieses Notizbuch befindet sich heute im Staatsarchiv von Kyjiw. Wie wir sehen, wurde die Übersetzung von Nietzsche für die Ukrainer von den offiziellen Stellen der verschiedenen Epochen, die sich in Moskau befanden, kaum begrüßt. Und die Aufarbeitung solcher Momente des Kampfes und der Widerstandsversuche sollte vielen westlichen Intellektuellen die Augen dafür öffnen, dass die ukrainische Kultur und Sprache durchaus eigenständig sind.
Was heißt „Kleinrussland“ überhaupt? Serhiy Plokhiy zeigte in seiner populären Studie The Gates of Europe, dass die „Kleine Rus“ den ursprünglichen Kern der Rus bezeichnete. „Klein“ meinte nur, dass es dort eine geringere Anzahl von Diözesen gab. Die „Große Rus“ entstand erst später. Die ukrainischen Länder waren also niemals ein „Ableger“ von Russland, wie es der Begriff suggeriert – es ist geradezu andersherum. Zumindest bezeichnet der Begriff ursprünglich keine Minderheit und erst recht Unterlegenheit, wie ihn Putin heute verstehen möchte. Diese Intellektuellen sollten sich mit dieser Geschichte ernsthaft auseinandersetzen, ehe sie von der ukrainischen Nation als „Erfindung“ sprechen. Eine propagandistische „Erfindung“ ist im Gegenteil das Narrativ von Russland als legitimem „Urrussland“ mit der Ukraine als „minderwertigem Ableger“. Und es ist diese Erfindung, die eingesetzt wird, um den Ukrainern jede Möglichkeit einer demokratischen Selbstbestimmung zu nehmen – so, wie es die Russen seit Jahrhunderten versuchen, obwohl große Teile der ukrainischen Länder, wie beschrieben, lange Zeit noch nicht einmal Teil des russischen Reiches waren und sich kulturell unabhängig von ihm entwickelten.
Und schließlich bin ich mir nicht sicher, ob wir historische oder kulturelle Analogien als Vorlage für eine Erklärung nehmen können. Jede Nation hat ihre eigene Geschichte, die erst einmal geschrieben werden muss, und dann können Parallelen zu anderen Geschichten von Kulturen und Sprachen gezogen werden. Für einen Europäer, wenn auch für nicht alle Intellektuellen, ist die ukrainische Geschichte immer noch unbekannt, und das untermauert dann oft leider ihre russische Interpretation. Wenn dies jedoch ein gutes Werkzeug für solche und ähnliche Intellektuelle ist, um dieses Problem zu verstehen, dann danke ich Ihnen, lieber Paul Stephan, für das Aufzeigen solcher Parallelen.
PS: Sie selbst sind ja nicht nur Beobachter, sondern auch Teilnehmer dieser, wenn man so will, ‚dritten Welle‘ der ukrainischen Nietzsche-Rezeption und wollen, wie Sie mir im Vorfeld verrieten, das erwähnte Jubiläum nutzen, um, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes, eine ukrainische Nietzsche-Gesellschaft zu begründen. Was mich in dieser Hinsicht interessieren würde, wäre, was Sie selbst als ukrainischer Nietzsche-Rezipient seinen Werken entnehmen können bzw. worin Ihres Erachtens allgemein die Bedeutung Nietzsches für die Ukraine in Ihrer gegenwärtigen Situation liegen könnte?
VM: Ja, es gibt einen solchen Gedanken und sogar einen Plan, eine solche nach Nietzsche benannte Gemeinschaft zu gründen. Ich befinde mich derzeit in der Vorbereitungsphase. Ich versuche, die mögliche Reaktion der intellektuellen Schicht der Ukraine auf eine solche Initiative zu verstehen und das mögliche Potenzial dieser Initiative zu erfassen. Wir werden sehen, was passiert, denn unter den derzeitigen Bedingungen ist das keine leichte Aufgabe.
Wissen Sie, zu verschiedenen Zeiten mochte ich verschiedene Themen oder Konzepte und Nietzsches Beschreibung derselben. Das hat sich allmählich verändert. Das einzige, was unverändert bleibt, ist mein Interesse an Nietzsches Methodik. Zumindest nenne ich sie so. Es ist eine Art und Weise, verschiedene Phänomene als eine Notwendigkeit zu analysieren, um dort etwas anderes zu sehen, das Prozesse der Degeneration oder einige Negationen zum Vorschein bringen kann, die oft vergessen oder verdrängt werden. Es geht also um ein ständig unvollendetes Denkprojekt, das von der Unzufriedenheit mit der herrschenden Verstocktheit angetrieben wird. Dieser Ansatz wird auch Nietzsche’scher „Perspektivismus“ genannt. Diese Meinung vertrete ich schon seit langem, und wir haben sie in unseren Gesprächen während unseres gemeinsamen Aufenthalt in Weimar im Jahr 2017 und danach diskutiert, wofür ich Ihnen sehr dankbar bin, und sie wird auch in unserem Artikel über Nietzsche und die ukrainische Revolution der Selbstüberwindung (Link) ansatzweise behandelt.
Auf dieser Grundlage lässt sich sagen, dass die ersten Kämpfe zur Überwindung der eigenen Sklaverei (im geistigen Sinne, die fast immer von Moskau als Unterlegenheit aufgezwungen wurde) in Form von Revolutionen stattfanden, und nun ist ein entscheidender Kampf im Gange, bei dem alles auf dem Spiel steht. Aber die Überwindung dieser Etappe wird nicht die letzte sein, denn dann müssen wir uns wieder selbst überwinden, eine neue Perspektive (im nietzscheanischen Sinne) schaffen. Und das wird eine weitere große Herausforderung sein, denn jetzt ist der ukrainische Geist in dem „Kriegsmodus“ gehüllt, ein Zustand, in dem man leicht die objektiven Parameter des Denkens verliert. Sie können durch einen ausgeprägten Patriotismus und den starken Wunsch, Gerechtigkeit herzustellen, außer Kraft gesetzt werden. Und das ist nicht schlecht, sondern normal. Denn in dem Krieg mit dem Bösen, im Kampf um die eigene Identität, muss man alle notwendigen Mittel mobilisieren, um die Quellen der eigenen Identität zu stärken. Doch sobald dieser Kampf gewonnen ist, gilt es, wieder in einen anderen, offeneren Modus überzugehen, um nicht in die Fänge des „Ressentiments“ und des „Geistes der Rache“ zu geraten, von denen Nietzsche so beredet spricht. Dies ist eine sehr ernste Herausforderung in der Nachkriegszeit! Und hier kann die Nietzsche’sche Perspektive sehr nützlich sein.
Für die heutige Ukraine ist es jedoch zunächst wichtig, eine Welle von Nietzsche-Studien im Allgemeinen in Gang zu setzen, und zwar nicht nur mit populären Thesen, die auf scharfe Aussagen über die Neubewertung des Alten abzielen, sondern um diese Methodik des tiefen und außergewöhnlichen Denkens zu begreifen. Das heißt: Nietzsche als kein doktrinärer Philosoph, sondern als ein Methodiker. Es sind ganz andere Versionen seiner Philosophie wichtig als die, die wir bereits kennen. In diesem Sinne arbeite ich derzeit an einem kleinen Projekt, um seine Philosophie in der Ukraine, insbesondere für die philosophische Gemeinschaft, anders bekannt zu machen. Es wird eine Reihe von Artikeln über Nietzsche sein, die von europäischen Forschern zu seinem 180. Geburtstag veröffentlicht werden. Diese Perspektive ist sehr wichtig, denn ich bin fast sicher, dass nur wenige Universitäten – vielleicht keine – Zugang zu zumindest einigen Nietzsche-Studien anderer Art haben.
Was ich damit meine, ist, dass Nietzsche zu einer kritischen, tiefgreifenden Analyse anregen und gleichzeitig die Kreativität fördern sollte. Mir scheint, dass seine Philosophie ein großes Potenzial auch heutzutage hat, sehr ungewöhnliche Kombinationen anzuregen. Ich würde sogar sagen: das Potenzial zur Provokation, natürlich vor allem intellektuell. Übrigens gibt es dafür sogar einen künstlerischen Beweis, das Gemälde Nietzsche im Eis oder die Geburt der Musik aus dem Geist der Tragödie von Oleksandr Rojtburd, einem ukrainischen Künstler, aus dem Jahr 2017.4 Dies ist eine ästhetische Vision seiner Philosophie, die offensichtlich nicht ohne ein provokatives Element ist. Dieses künstlerische Rätsel ist jedoch noch zu lösen und zu interpretieren.
PS: Lieber Vitalii Mudrakov, ich danke Ihnen für diesen äußerst bereichernden Einblick in die ukrainische Nietzsche-Rezeption und wünsche Ihrem Land und Ihrer Familie von Herzen alles Gute für die Zukunft!
VM: Ich bedanke mich für Ihre interessanten Frage und Ihre freundliche Einstellung.
Vitalii Mudrakov ist Philosoph, der in der Ukraine geboren wurde. Er hat Musik, Ethik und Ästhetik an der Geisteswissenschaftlichen Hochschule (Chmelnytzkyj, Ukraine) studiert und dann Philosophie und Religionswissenschaft an der Jurij-Fedkowytsch-Universität in Czernowitz (Ukraine). Seit 2022 lebt er fest in Deutschland und war Stipendiat am Kolleg Friedrich Nietzsche (Klassik Stiftung Weimar) und am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ (Universität Münster). Seit Kurzem ist er Stipendiat am „Center for Religious Studies“ (CERES) der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitet gerade an einem Konzept der „identity security“ (Identitätssicherheit). Im Fokus seiner jetzigen Forschungen stehen darüber hinaus Nietzsches Metapher als methodologisches Konzept der Erkenntnistheorie und axiologischen Transformation sowie die ukrainische Rezeption Nietzsches.
Quellenangabe zum Arikelbild
Oleksandr Rojtburd: Nietzsche in Ice, or the Birth of Music From the Spirit of Tragedy (2017). Online: https://www.wikiart.org/en/alexander-roitburd/nietzsche-in-ice-or-the-birth-of-music-from-the-spirit-of-tragedy-2017
Fußnoten
1: Zu nennen sind hier etwa der Historiker Mychajlo Hruschewskyj, der Literaturkritiker Serhij Yefremow, der Sprach- und Kulturkritiker Ahatanhel Krymskyj und die Schriftstellerin Lessja Ukrajinka.
2: Obwohl ich weiß und versuchen werde, es in einem kommenden Aufsatz zu beweisen, dass dieses Verbot nur offiziell war. Hinter den Kulissen waren nietzscheanische Ideen bei den bolschewistischen Ideologen und Inspiratoren durchaus vorhanden.
3: „Eine andere undemokratische Entität in diesem Krieg ist die ‚Nation‘, deren tiefe und lange Geschichte von einigen ukrainischen Intellektuellen entdeckt (bis vor kurzem hätte man gesagt: erfunden) und besungen wird.“ (Lieber Etienne, lieber Christoph … Online: https://www.philomag.de/artikel/lieber-etienne-austausch.)
4: Anm. d. Red.: Es handelt sich um das Artikelbild.