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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches

Von Stalin zu Nietzsche oder Wie ich Nietzscheaner wurde (1970-1990)

Von Stalin zu Nietzsche oder Wie ich Nietzscheaner wurde (1970-1990)

4.4.24
Hans-Martin Schönherr-Mann

Als Marxist war Nietzsche schon ein frühes Ärgernis. Doch mit der Nietzsche-Renaissance in den Achtzigern kam ich nicht mehr an ihm vorbei. Dann entdeckte ich Nietzsche als innovativen Denker. - Teil II der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“, in der sich unsere Stammautoren vorstellen.

Als Marxist war Nietzsche schon ein frühes Ärgernis. Doch mit der Nietzsche-Renaissance in den Achtzigern kam ich nicht mehr an ihm vorbei. Dann entdeckte ich Nietzsche als innovativen Denker. - Teil II der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“, in der sich unsere Stammautoren vorstellen.

I. Der wildgewordener Kleinbürger

Durch die Osterunruhen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke 1968 politisiert, dann durch Sartre philosophiert, war ich 1970 in einer Sympathisantengruppe der KPD/ML und somit Maoist. Die chinesischen Kommunisten waren Stalinisten, womit ich meinerseits doch haderte und was mich dort wieder aussteigen ließ. Dass 20 Millionen Menschen für die Revolution sterben dürfen, war ein nicht verdauliches Argument. Nur darf man en passant einwenden, dass Staaten ihre Menschen regelmäßig millionenfach in Kriegen opfern, ist Stalin nur einer unter ganz vielen, zu denen selbstredend auch Demokratien zählen. Und schuld sind immer die anderen. Trotzdem blieb ich noch ein paar Jahre revolutionärer Marxist.

1970, also noch als Maoist, sah ich mich zum ersten Mal mit Nietzsche konfrontiert. In der 12. Gymnasiumklasse wurde ein Philosophiekurs angeboten, an dem meine linksradikalen Klassenkameraden und ich begeistert teilnahmen. Wermutstropfen war der an sich sehr sympathische Lehrer, der sich als von Hermann Hesse inspirierter Nietzscheaner outete – ein damals verbreiteter Werdegang von Unpolitischen – und mit uns den Zarathustra las, den zu verstehen ich mich als Leninist freilich weigerte.

Den ersten Zusammenstoß über Nietzsche hatte ich um diese Zeit mit einer Teilnehmerin dieses Kurses, die im Raucherzimmer des Gymnasiums im Militärparka auf der Fensterbank sitzend und rauchend – versteht sich – den Zarathustra las. Ein Ärgernis für mich und ich fauchte: „Nietzsche – ein wildgewordener Kleinbürger!“ Sie fauchte zurück: „Marx ist ein vielschlimmerer wildgewordener Kleinbürger.“ Es dauerte noch ca. zehn Jahre, bis Dagmar Allendorf mich in die freie Liebe einführte, genauer mich zur offenen Beziehung zwang. Danach wurde sie zu einer jahrzehntelangen guten Freundin und ich hatte von ihr die Vorzüge offener Beziehungen gelernt, wozu Nietzsche sicher nur von ferne beigetragen hatte und wenn, dann vom Individualismus zum Feminismus.

II. Der leidende Nietzscheaner

Während ich zwischen 1979 und 1982 über praktische Philosophie bei Kant und Hegel promovierte, schrieb ein anderer Weggefährte – ebenfalls bei jenen Maoisten und in besagtem Philosophiekurs gewesen – auch bei Manfred Riedel über Nietzsche seine Dissertation. Damit konnte ich einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Nietzsche nicht mehr entgehen.

Reinhard Knodt war denn auch mit seiner Nietzsche-Dissertation dem Zeitgeist der frühen achtziger Jahre näher als ich mit Kant und Hegel als Background für Marx. Denn seit der Colli-Montinari-Ausgabe erlebte Nietzsche eine Renaissance, nicht nur in Frankreich und Italien, wo der Poststrukturalismus sich schon seit den sechziger Jahren verbreitet und die Postmoderne-Diskussion gerade begonnen hatte.

Als zwischenzeitlich gemäßigter Marxist schrieb ich meinen allerersten Aufsatz nach der Promotion gegen diese Nietzsche-Renaissance, der freilich nie veröffentlicht wurde. Viele Linke interessierten sich plötzlich für Nietzsche, was ich als frustrierte Fluchtlinie verstand, nachdem der Stern von Marx während der späten siebziger Jahre verblasste. Wie konnten Linke nur in den siebziger Jahren gegen die Atomkraft sein, geht es Marx doch um den Fortschritt der Produktivkräfte! Bis Harrisburg 1979 war ich Befürworter der Atomenergie.

Wie konnten sich linke Intellektuelle mit einer solchen schillernden Figur wie Nietzsche beschäftigen, der das wissenschaftliche Wissen in Frage stellt, auf dem schließlich die Produktivkraftentwicklung beruht! Reinhard Knodt hatte über Die ewige Wiederkehr des Leidens promoviert. Anstatt gegen das Leiden etwas zu tun, stellt man es als unvermeidbar dar, gibt sich ihm hin und leidet aufmerksamkeitsheischend wie Nietzsche. Damit verbunden ist das verbreitete Lamento von Intellektuellen über mangelnde Resonanz in Politik und Gesellschaft wie bei Nietzsche, obwohl man doch so klug ist, wie man es im Ecce Homo lesen kann.

III. Zu Nietzsche durch schwaches Denken

Anfang der achtziger Jahre erschien es mir langsam unabdingbar, das Problem der Naturzerstörung philosophisch auf den Begriff zu bringen. Im Anschluss an meine Dissertation entwickelte ich dazu ein Fortschrittskonzept der Rationalisierung: Im 18. Jahrhundert beginnt die Rationalisierung des Staates, im 19. die der Ökonomie und im 20. die des Naturverhältnisses – Rechtstaat, Sozialstaat, Naturstaat.

Der Düsseldorfer Philosoph Rudolf Heinz, bei dem ich Mitte der siebziger Jahre drei Semester studiert hatte, brachte mich vom Rationalisierungskonzept ab, indem er mich auf die französische Philosophie rings um die Poststrukturalismus hinwies. Wiewohles dabei zunächst noch nicht um Nietzsche ging, begann ich für das Problem der Naturzerstörung einen vernunftkritischen Ansatz zu entwickeln. Durch Vermittlung von Rudolf Heinz veröffentlichte ich 1985 mein erstes Buch nach der Doktorarbeit, Philosophie und Ökologie. Philosophische und politische Essays, in dem Nietzsche noch kaum vorkommt und im Literaturverzeichnis nur auf die Schlechta-Ausgabe verwiesen wird.

Der Blick auf Nietzsche intensivierte sich in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts, als ich Gianni Vattimo kennenlernte, den italienischen Hauptvertreter der postmodernen Philosophie, dessen hermeneutischer Ansatz mir damals näher lag als die poststrukturalistischen Konzeptionen von Foucault, Derrida und Lyotard. Er hatte bereits 1974 das Problem der Befreiung mit Nietzsche verbunden: Il Soggetto e la Maschera. Nietzsche e il Problema della Liberazione („Das Subjekt und die Maske. Nietzsche und dasProblem der Befreiung“). Just diese Verbindung hatte ich noch wenige Jahre zuvor kritisiert.

Zwischenzeitlich aber verließ ich langsam die kommunitarischen Pfade des Marxismus und kehrte zuden Anfängen vor dem Maoismus zurück, wurde schließlich die Außerparlamentarische Opposition der Achtundsechziger-Zeit auch antiautoritäre Bewegung genannt und hatte ich mit Sartres Individualismus damals das Philosophieren begonnen. Doch zu einer Rückkehr zu Sartres Existentialismus war die Zeit noch nicht reif. Das wird erst gegen Ende des Jahrtausends der Fall sein.

Zunächst lernte ich bei Vattimo Nietzsches Hermeneutik als Kritik an den Wissenschaften und der modernen Technik zu verstehen, er hatte 1984 das Buch Jenseits vom Subjekt. Nietzsche, Heidegger und die Hermeneutik publiziert. Und just Naturwissenschaften und Technik erschienen mir damals und heute immer noch als der eigentliche Hintergrund der Naturzerstörung, weniger der Kapitalismus. Heute glauben dagegen die Klimaradikalen mit den Naturwissenschaften und den Technologien das Naturverhältnis ins Lot bringen zukönnen. Für mich waren und sind diese indes nicht die Lösung, sondern das Problem, heute umso mehr, wenn sie unverfroren propagieren, die Welt richtig zuerfassen – ein religiöser Habitus.

Hierzu war die Wissenschafts- und Technikkritik Nietzsches an der Mathematik, die Edmund Husserl 1936 in seiner Krisis der europäischen Wissenschaften wiederholen wird, an der Kausalität, die beim späten Wittgenstein wiederkehren wird, und am Handlungsbegriff, die Hannah Arendt ausbuchstabieren wird, hilfreich. Naturwissenschaften und Technik erfassen die Natur nicht, wie sie wirklich ist, sondern interpretieren sie undentfalten dadurch ihren Willen zur Macht, den heute die Experten repräsentieren.

In diesem Sinne hatte Vattimo die Geschichte des Denken nicht als einen Prozess der immer besseren und adäquateren Erfassung der Welt interpretiert, der die Welt immer präziser beherrscht, sondern als eine Geschichte der zunehmenden Einsicht darein, diesen Prozess als einen der Schwächungen der Erkenntnis wie der Ethik zubegreifen – en passant darf man neben Husserl auf Einsteins Relativitätstheorie, die Grundlagenkrise der Mathematik, Heisenbergs Unschärferelation und das Scheitern der Begründung einer gegenstandsadäquaten Wissenschaftssprache im logischen Konstruktivismus der Erlanger Schule verweisen.Von all dem will man in den Wissenschaften gar nichts mehr wissen.

So entwickelte Vattimo daraus 1983 die Theorie des „schwachen Denkens“ – Il pensiero debole –, an das ich in meinem zweiten Buch zur Naturzerstörung 1989 anschloss: Die Technik und die Schwäche. Ökologie nach Nietzsche, Heidegger und dem ‚schwachen Denken‘. Damit war ich definitiv Nietzscheaner geworden. Vattimos programmatischen Aufsatz Dialektik, Differenz, schwaches Denken übersetzte ich und publizierte ihn in dem von mir 2000 herausgegebenen Sammelband Ethik des Denkens.

IV. Von der negativen Ökologie zur Lebenskunst

Im gleichen Jahrbrachte ich das noch auf einen Begriff, der sich mehr an Adornos negativer Dialektik als an Nietzsches Nihilismus anlehnte, aber von letzterem umso stärker beseelt wurde. Ich veröffentlichte zunächst ein kleines programmatisches Buch unter dem Titel Von der Schwierigkeit Natur zu verstehen. Entwurf einer negativen Ökologie. Die Quintessenz lautet: Zwischen Wissenschaften und Natur besteht eine Differenz, die sich nicht überbrücken lässt. Just deswegen ist im Umgang mit Natur Vorsicht geboten.

1990 habe ich das Konzept ausgearbeitet und es durch Lyotards Widerstreit erweitert: D. h., dass sich das Problem auch nicht politisch lösen lässt,weil Politik der Ort des Widerstreits der Diskursarten ist. Der Titel lautet Negative Ökologie. Politische Philosophie im technischen Zeitalter. Das sollte meine Habilitationsschrift werden. Sie blieb liegen und als ich es in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zur Grundlage einer Vorlesung machen wollte, musste ich entdecken, dass mich das besorgte Pathos um die zerstörte Natur verlassen hatte, so dass ich das Manuskript seither auch nicht mehr veröffentlichen wollte.

So war Nietzsche anfänglich ein Ärgernis, gegen das ich mich zur Wehr setzte, bis ich begriff, dass seine Philosophie viel innovativer und inspirierender war als das, was die Philosophie meiner akademischen Lehrer zu bieten hatte. Und erkenntnistheoretisch kann man von Nietzsche etwa so viel lernen wie von Wittgenstein: Der heute vorherrschende Szientismus ist eine Ideologie, der man so wenig glauben muss wie Religionen.

Heute will das niemand hören. So bleibt man mit Nietzsche Außenseiterin, Bohémienne, Intellektuelle, Lebenskünstlerin gemäß meinem Buch Der Übermensch als Lebenskünstlerin. Nietzsche, Foucault und die Ethik (2009). Wenn man mit Nietzsche dagegen in den Mainstream gerät, hat man ihm diebösen Zähne gezogen, was Arthur C. Danto empfiehlt, um Nietzsche demokratiekonform zu machen.

Obendrein lernte ich von Nietzsche vieles über den Individualismus, wiewohl er den auf das Genie beschränkt. Man kann und muss sein Leben selber gestalten und sich gegen alle Versuche wehren, sich dergleichen von den „letzten Menschen“ vorschreiben zu lassen. Derart hat Nietzsche eine Ethik des Individuums entworfen, die mich zumeinen antiautoritären Anfängen bei Sartre zurückbrachte. Also sprach Zarathustra:

Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise. Dort wo der Staat aufhört, – so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen?1

Fußnoten

1: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.

Vom Verlangen nach Verschwendung

Vom Verlangen nach Verschwendung

13.3.24
Jenny Kellner

Welchen Stellenwert kann in der heutigen Zeit fortgeschrittener Rationalisierung eine Praxis der Verschwendung haben? Müssten wir nicht vielmehr alles tun, um unsere Effizienz und Produktivität zu steigern, wenn wir den Herausforderungen dieser krisengeschüttelten Zeit begegnen wollen? Aber wenn wir uns dem Denken Friedrich Nietzsches und seines glühenden Verehrers Georges Bataille zuwenden, werden wir mitunter einer Verschwendungsemphase ausgesetzt, die unsere moralischen Grundsätze erschüttert und uns vielleicht auf eine neue und andersartige Politik hin öffnet, als diejenige, die sich uns heute als alternativlos aufzudrängen scheint.

Welchen Stellenwert kann in der heutigen Zeit fortgeschrittener Rationalisierung eine Praxis der Verschwendung haben? Müssten wir nicht vielmehr alles tun, um unsere Effizienz und Produktivität zu steigern, wenn wir den Herausforderungen dieser krisengeschüttelten Zeit begegnen wollen? Aber wenn wir uns dem Denken Friedrich Nietzsches und seines glühenden Verehrers Georges Bataille zuwenden, werden wir mitunter einer Verschwendungsemphase ausgesetzt, die unsere moralischen Grundsätze erschüttert und uns vielleicht auf eine neue und andersartige Politik hin öffnet, als diejenige, die sich uns heute als alternativlos aufzudrängen scheint.

I. Kritik an einer mangelhaften Ökonomietheorie

Bürgerliche wie marxistische Ökonomietheorien gehen stets vom Mangel aus, moniert der französische Schriftsteller, Soziologe, Philosoph und Nietzscheaner Georges Bataille (1897–1962). Den Ausgangspunkt bildet immer das Manko, ein Zuwenig, das kompensiert werden muss, um das Überleben des Individuums, der Gattung, der Gesellschaft zu sichern. Der homo oeconomicus ist ein durch und durch reaktives Wesen, das nichts als Anpassungsleistungen gegenüber einer feindlichen Umwelt, nichts als die Not kennt; er ist stets bedürftig, stets zu kurz gekommen. Daher neigt er zum Ressentiment – zu konkurrierendem Neid, ichbezogener Klugheit und chauvinistischem Geiz. Es ist genau dieses armselige, nur am Nutzen und an der eigenen Bequemlichkeit interessierte menschliche Wesen, dessen Abschaffung Zarathustra mit dem Bild des Übermenschen heraufzubeschwören sucht. Für Bataille ist Nietzsche selbst in der Tat kein aneignender, akkumulierender, sondern ein gebender Denker.

Nietzsches Zarathustra tritt zu Beginn seiner Geschichte vor die Sonne hin und spricht:

Du grosses Gestirn! […] [W]ir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir deinen Überfluss ab und segneten dich dafür. Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, […] ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken. Ich möchte verschenken und austheilen […]. Dazu muss ich in die Tiefe steigen: wie du es des Abends thust, […] du überreiches Gestirn!“1

Den Ausgang der Zarathustra-Geschichte Nietzsches bilden damit nicht Not und Mangel, sondern Reichtum und Überfluss. Das Verlangen nach einer verschwenderischen Verausgabung, wie sie der strahlend selbstlos sich verzehrenden Sonne wesentlich ist, treibt Zarathustra von seinem Berg hinab, hinein in seine Reise voller Irr- und Umwege, voller Überschwang, voller Tragik. Indessen geht der Entwurf einer „allgemeinen Ökonomie“, den Bataille in seinem 1949 erschienen Werk Der verfemte Teil vorstellt, ebenso wie Also sprach Zarathustra, von der Sonne aus, sofern er ihren übertrieben verschwenderischen Charakter zum systematischen Ausgangspunkt seiner Ökonomietheorie macht. Denn es ist die Sonnenenergie, die überall auf der Erde einen „Druck des Lebens“2 bewirkt, der sich in der „Erzeugung immer kostspieligerer Lebensformen“3 äußert. Es gibt dabei immer ein Zuviel an Energie, einen Überschuss, der vom Wachstum nicht absorbiert werden kann. Was sich nicht restlos reinvestieren lässt, muss am Ende sinnlos verausgabt werden. Dies zeigt sich im Luxus der Natur, dessen auffälligste Form der Tod ist. Die gewaltsamen Exzesse der Natur kehren auf soziologischer Ebene wieder: Auch eine Gesellschaft verfügt Bataille zufolge immer über mehr Ressourcen, als zu ihrem schieren Erhalt nötig sind: Existenz ist stets mehr als Subsistenz. Bataille insistiert darauf, dass es gerade die spezifischen Formen der Verschwendung der Überschüsse sind, die eine konkrete Gesellschaft zu einer bestimmten Gesellschaft machen. Denn die Überschüsse müssen auf jeden Fall verausgabt werden – es fragt sich nur, ob dies in katastrophischer Form erlitten, oder in einer Weise, die sogar Freude bereitet, gewählt wird. Bei dem, was über die bloße Subsistenz einer Gesellschaft hinausgeht, handelt es sich mit Nietzsches Wort um deren Kultur.

„Müßiggang, Pyramidenbau und Alkoholgenuß haben gegenüber der produktiven Tätigkeit, der Werkstatt oder dem Brot den Vorzug, daß die Ressourcen, die sie verbrauchen, ohne Gegenwert, ohne Profit verzehrt werden“, schreibt Bataille im Verfemten Teil, „sie gefallen uns einfach, sie entsprechen der Wahl ohne Not, die wir hier treffen.“4 Die in Nietzsches Sinn radikale Wertumkehrung, die Bataille in ökonomietheoretischer Hinsicht vornimmt, liegt in der prinzipiellen Vorrangstellung, die er dem Problem der Verausgabung von Überschüssen gegenüber der Notwendigkeit der Steigerung der Produktivkräfte einräumt, was ihm zufolge auch eine völlige Umkehrung der Moral mit sich bringt. Denn in dieser Perspektive wandeln sich die Begriffe dessen, was als ‚gut‘ und ‚nützlich‘ gilt: Dem Nutzlosen kommt plötzlich ein positiver Wert zu. In dieser Ökonomietheorie liegt die Emphase nicht auf Effizienz, sondern auf Verschwendung. Erst da, wo wir uns sinnlos verausgaben, beginnt das Leben, das nicht bloß reaktiv, bloß Anpassung, bloß Knechtschaft ist, sondern das sich exzessiv und schöpferisch entfaltet, wo alle Singularitäten sich ausrollen dürfen und nicht länger dem Zwang unterliegen, einer möglichst sparsamen Form des Überlebens zu dienen. Batailles „allgemeine Ökonomie“ erweist ihre nietzscheanische Inspiration: in formaler Hinsicht als Wertumkehrung sowie auf inhaltlicher Ebene als affirmative Betonung exzessiver Verschwendungsprozesse.

II. Nietzsches Verachtung des Geizes, Emphase der Großzügigkeit

So ist Nietzsches Werk von seinen frühesten bis zu seinen spätesten Schriften vom verächtlichen Spott gegenüber der Bedürftigkeit und der Kleinlichkeit, zugleich von einer glorifizierenden Betonung der überfließenden Großzügigkeit und des verschwenderischen Schöpfertums durchzogen. Hier einige Beispiele:

Im Versuch einer Selbstkritik, den Nietzsche 1886 seinem Erstlingswerk, der Geburt der Tragödie, voranstellt, fragt der Autor bissig:

[D]as, woran die Tragödie starb, der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit des theoretischen Menschen – wie? könnte nicht gerade dieser Sokratismus ein Zeichen des Niedergangs […] sein?5

In der zu Lebzeiten unveröffentlichten Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne stellt Nietzsche einen rationalen, aus Not handelnden wissenschaftlichen Menschentypus einem künstlerischen und verschwenderischen intuitiven Typus gegenüber:

Wo einmal der intuitive Mensch, etwa wie im älteren Griechenland, seine Waffen gewaltiger und siegreicher führt, als sein Widerspiel, kann sich günstigen Falls eine Kulturgestalten, und die Herrschaft der Kunst über das Leben sich gründen […]. Weder das Haus, noch der Schritt, noch die Kleidung, noch der thönerne Krug verrathen, dass die Nothdurft sie erfand […]. Während der von Abstractionen geleitete Mensch durch diese das Unglück nur abwehrt, ohne selbst aus den Abstractionen sich Glück zu erzwingen, während er nach möglichster Freiheit von Schmerzen trachtet, erntet der intuitive Mensch, inmitten einer Kultur stehend, bereits von seinen Intuitionen, ausser der Abwehr des Uebels eine fortwährendeinströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung.6

Gegen die Aufwertung der Arbeit und die Abwertung überschwänglicher Freuden wettert Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft: „Oh über diese Genügsamkeit der ‚Freude‘ bei unsern Gebildeten und Ungebildeten! Oh über die zunehmende Verdächtigung aller Freude! Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits ‚Bedrüfniss der Erholung‘ und fängt an, sich vor sich selber zu schämen.“7

Zarathustra macht es sonnenklar: „Nicht eure Sünde – eure Genügsamkeit schreit gen Himmel, euer Geiz selbst in eurer Sünde schreit gen Himmel!“8 „Ich liebe Den, dessen Seele sich verschwendet, der nicht Dank haben will und nicht zurückgiebt: denn er schenkt immer und will sich nicht bewahren.“9 „Und auf Entartung rathen wir immer, wo die schenkende Seele fehlt. Aufwärts geht unser Weg, von der Art zur Über-Art. Aber ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: ‚Alles für mich.‘“10

Nietzsches unerbittliche Analyse des lebensfeindlichen „asketischen Ideals“ in Zur Genealogie der Moral, das den Nihilismus der Moderne begründet, ist weithin bekannt.11 Auch die im Spätwerk präsenten moralkritischen Begriffe des „Vornehmen“ oder „Aristokratischen“ die Nietzsche vordergründig in die Nähe einer reaktionären, chauvinistischen Position zu rücken scheinen, erweisen sich vor allem anderen als Affirmation einer großzügigen Selbstverschwendung: Die Vornehmen behaupten sich gerade dadurch, dass sie nicht auf den eigenen Vorteil bedacht sind. Paradoxerweise begründet dies zugleich ihr historisches Unterliegen gegenüber dem, was Nietzsche als „Sklavenmoral“ bezeichnet.

III. Ethik und Politik der Verschwendung?

Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um Nietzsches Hass auf Not, Zurückhaltung und Kleinlichkeit und seine Emphase verschwenderischer Generosität zu dokumentieren. Doch spricht Nietzsche, ähnlich wie Bataille, dieser eigenwilligen ethischen Wertsetzung auch eine politische Bedeutung zu? Nietzsche hat nie eine ausgearbeitete politische Theorie vorgelegt und an dem Versuch, eine seinen Schriften implizite politische Positionierung zu entnehmen, beißen sich die Interpret*innen seit Beginn der Nietzsche-Rezeptionsgeschichte die linken wie die rechten Backenzähne aus. Und doch finden sich kleine unscheinbare Stellen in Nietzsches Werk, die eine gesellschaftspolitische Interpretation seiner Ethik der Fülle und des sorglosen Überschwangs nahelegen. So wendet er seinen Aristokratiebegriff in Zur Genealogie der Moral in der Tat auch soziologisch und suggeriert die Möglichkeit einer Gesellschaft, die gerade als ‚aristokratische‘ kommunistische Züge trüge: „Es wäre ein Machtbewusstsein der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie giebt, – ihren Schädiger straflos zu lassen. ‚Was gehen mich eigentlich meine Schmarotzer an? dürfte sie dann sprechen. Mögen sie leben und gedeihen: dazu bin ich noch stark genug!‘“12

Diese Vorstellung eines starken und glücklichen Gemeinwesens widerspricht nicht nur dem politischen Geist von Nietzsches Zeitgenossen, sondern auch allem, was in heutigen politischen und gesellschaftlichen Debatten um innen- wie außenpolitische Fragen opportun ist: Allem voran steht ein allgemeines Sicherheitsbedürfnis. Der Staat hat sich mit aufwendigen Mitteln der Kontrolle vor äußeren wie inneren Gefahren zu schützen. Die Kassen scheinen notorisch leer zu sein, der Haushalt weist beängstigend große Löcher auf. Ehe jemand sich schmarotzerisch auch nur am winzigsten Teil des gesellschaftlichen Reichtums gütlich tun kann, hat er einen langwierigen, komplizierten, nicht selten mit Demütigungen einhergehenden bürokratischen Hürdenlauf zu meistern. Ob wir auf (vermeintliche) Bedrohungen von außen oder von innen schauen, ob es um Terror und Extremismus, um feindlich gesinnte Staaten, um die Konkurrenz auf dem Weltmarkt, um die Verwüstungen der Umwelt oder um unsere Gesundheit geht: Alle Zeichen stehen auf Prävention, Kontrolle, Vorsicht (sie ist angeblich besser als Nachsicht) – und unbedingt: auf Sparsamkeit. Jedenfalls gilt dies auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Die luxuriösen Exzesse der Reichen und Superreichen zeugen indessen weiterhin, ebenso wie die Vernichtung von zahllosen Menschenleben in kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem gesamten Erdball, von der Notwendigkeit der sinnlosen Verausgabung von Überschüssen, auf die Batailles ökonomietheoretische Perspektive uns stößt. Sie werfen außerdem die Frage auf, ob wir nicht andere Formen der zwecklosen Verausgabung finden und bewusst wählen sollten, die uns allen gefallen könnten, anstatt in einer Spirale aus immer mehr Angst vor der eigenen Vernichtung und immer größeren Sicherheitsmaßnahmen als Reaktion darauf, unbewusst immer katastrophalere Verausgabungsformen hervorzubringen.

IV. Wie wir leben wollen

Doch folgt man Bataille, besteht unser größtes Problem darin, dass wir nicht einmal mehr wissen, „was die Wörter nutzlos, souverän, heilig bedeuten“13, dermaßen sind wir in einen rationalen Diskurs verstrickt, der nur unsere reaktive Seite bedient, nur unserer Bedürftigkeit geschuldet ist. Ich spreche von einem Wir – und jetzt auch noch von einem Ich – ganz so, als ob klar wäre, wer hier spricht und wer angesprochen werden soll. Aber das ist keinesfalls klar. Uns ist „niemals etwas anders als auf missverständliche Weise gegeben“14. So konstituiert sich ein Wir vielleicht überhaupt erst in dieser Unklarheit und in der Frage nach der nutzlosen Verschwendung, nach der es uns immer verlangt, wie laut und nachdrücklich auch immer wir nach dem Nützlichen schreien, wenn wir dastehen wie der letzte Mensch Zarathustras und blinzeln. Vielleicht kennen wir die Bedeutung des Nutzlosen und Heiligen tatsächlich nicht mehr, wie Bataille behauptet. Dennoch mag es Anlässe geben, es zu bedenken.

Ein Theaterregisseur, der zu wenig Zeit zum Proben bis zur Premiere hatte, sagte einmal zu seinem Schauspielensemble: „Wenn man viel zu wenig Zeit hat, muss man sich besonders viel Zeit nehmen. Darum beginnen wir mit den Proben erst in ein paar Tagen, obwohl wir heute schon loslegen könnten und eigentlich müssten.“ Aus dieser paradoxen Anweisung spricht die souveräne Weigerung, sich den objektiven Verhältnissen von Enge und Knappheit zu unterwerfen. Gerade unter den Bedingungen von Druck und Zwang bedarf es eines besonders verschwenderischen Umgangs mit den spärlich vorhandenen Ressourcen. Je größer die Armut, desto großzügiger die Gastfreundschaft; je größer hingegen der Reichtum, desto peinlicher die Maßnahmen, um ihn zu sichern und weiter zu mehren. Sich verschwenden können heißt nicht, über genügend Ressourcen zu verfügen, es heißt vielmehr, der eigenen Sicherheit und Selbsterhaltung nicht den allergrößten, nicht den einzigen Wert beizumessen. Vielleicht ist die Gastfreundschaft wichtiger, als das Bedürfnis, den eigenen Hunger zu stillen. Vielleicht ist die souveräne Verfügung über die eigene Zeit wichtiger, als die erfolgreiche Verwirklichung eines Projekts. Vielleicht gehen wir doch noch eines Tages, Zarathustra folgend, „gerne über die Brücke“15, indem wir unseren eigenen Untergang endlich bejahen. Und vielleicht beginnt genau da erst ein Wir, das es wert ist, gelebt zu werden.

Quellen

Bataille, Georges: Der verfemte Teil. In: Ders.: Die Aufhebung der Ökonomie, hrsg. v. Gerd Bergfleth. München 1985.

Ders.: Hegel, der Tod und das Opfer. In: Ders.: Hegel, der Mensch und die Geschichte, hrsg. v. Rita Bischof. Berlin, 2018.

Ders.: Nietzsche im Lichte des Marxismus. In: Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich. Berlin & Wien, 2003, S. 19–26.

Jenny Kellner (geb. 1984) hat Schauspiel, Philosophie und Soziologie in Hamburg studiert und wurde mit der Arbeit Anti-ökonomischer Kommunismus. Batailles philosophische Herausforderung an der Universität der Künste Berlin promoviert. In ihrer Dissertation geht es zentral um die Nietzschelektüren Batailles. Zur Frage nach den politischen Implikationen des Denkens Nietzsches und Batailles hat sie zahlreiche Artikel publiziert, zuletzt den Beitrag Was heißt Anti-Politik bei Nietzsche? im Tagungsband Nietzsches Perspektiven des Politischen (2023).

Fußnoten

1 Also sprach Zarathustra, Vorrede, 1.

2 Bataille, Der verfemte Teil, S. 55.

3 Ebd., S. 59.

4 Ebd., S. 153.

5 Die Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik, 1.

6 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralische Sinne, 2.

7 Die fröhliche Wissenschaft, 329.

8 Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3.

9 Also sprach Zarathustra, Vorrede, 4.

10 Also sprach Zarathustra, Von der schenkenden Tugend, 1.

11 Vgl. die dritte Abhandlung der Genealogie der Moral.

12 Zur Genealogie der Moral, II, 10.

13 Bataille, Nietzsche/Marxismus, S. 26.

14 Bataille, Hegel, Tod, Opfer, S. 67.

15 Also sprach Zarathustra, Vorrede, 4.

Was bedeutet Nietzsche für mich?

Was bedeutet Nietzsche für mich?

12.3.24
Paul Stephan

In der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ werden unsere Stammautoren in den nächsten Wochen ihren je persönlichen Zugang zu Nietzsche und seinem Denken vorstellen. Unser leitender Redakteur Paul Stephan macht den Anfang und berichtet darüber, wie er als Jugendlicher Nietzsche entdeckte – und sich heute nicht mehr unbedingt als „Nietzscheaner“ versteht.

In der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ werden unsere Stammautoren in den nächsten Wochen ihren je persönlichen Zugang zu Nietzsche und seinem Denken vorstellen. Unser leitender Redakteur Paul Stephan macht den Anfang und berichtet darüber, wie er als Jugendlicher Nietzsche entdeckte – und sich heute nicht mehr unbedingt als „Nietzscheaner“ versteht.

Wie wahrscheinlich für viele war Nietzsche auch für mich einer der ersten Philosophen, den ich gelesen habe. Mit etwa 14 Jahren begann ich mich für die Bücher zu interessieren, die bei meinen Eltern im Regal standen und die einen Hauch des Subversiven versprühten. Das waren so gut wie keine philosophischen Werke, die interessierten meine Eltern eher weniger. Das einzige eigentlich philosophische Werk, das bei uns im Bücherregal stand – wenn auch ungelesen – war Kants Kritik der reinen Vernunft, die mich allerdings in jenem Alter nur bedingt interessierte. (Nur seine Widerlegungen der Gottesbeweise las ich mir als Schüler einmal durch und sie bestärkten mich in meinem Atheismus.) Und es gab dort sogar eine Freud-Ausgabe, in der ich als Pubertierender hin und wieder neugierig blätterte.

Mit etwa 12 Jahren allerdings hatte ich bereits, ich weiß nicht mehr wie, Sofies Welt von Jostein Gaarder in die Hände bekommen. Über diese Lektüre hatte sich bei mir ein gewisses Interesse für Philosophie entwickelt und ich war zum ersten Mal mit Nietzsches Ideen in Berührung gekommen und fasziniert von ihnen gewesen. Es war eine fundamentale Alternative zu der mir vertrauten Sichtweise, vor allem zum Christentum meiner Eltern. Das war in jener Zeit eigentlich mein Hauptthema: Die kritische Auseinandersetzung mit der damaligen christlich-konservativen Ideologie meiner Eltern und die Suche nach Alternativen zu ihr. Ich interessierte mich eigentlich für alles, was davon abwich. Ich las etwa begeistert Feuerbachs Das Wesen des Christentums, Schriften von und über Marx, zum Buddhismus. Meine literarischen Helden wurden schnell – nachdem ich Tolkiens und Rowlings Welten durchquert hatte – Kafka und Hesse. Hesse sogar noch eher als Kafka. Die Anspielungen auf Nietzsche in seinen Werken und die Lektüre einer Hesse-Biographie, in der Nietzsches Einfluss auf ihn hervorgehoben wurde, nahmen mich endgültig für Nietzsche ein.

Mein erstes Buch war, soweit ich mich entsinne, Also sprach Zarathustra. Auch die Geburt der Tragödie las ich früh, weil ich mich auch sehr für die griechische Antike interessierte. Heute kaum zu wiederholende Lektüreerfahrungen, alles war aufregend und neu. Ich verstand mich als Freigeist im Sinne Nietzsches, als nietzscheanischer Marxist oder marxistischer Nietzscheaner. Viele meiner damaligen Freunde hatten eine ähnliche Sicht auf die Welt. Ich erinnere mich, dass einer von ihnen, dem ein Freund seinen Liebeskummer klagte, diesem lakonisch empfahl, doch einfach den Zarathustra zu lesen, dann würde er schon darüber hinwegkommen.

Ich denke im Nachhinein, doch schon einige Jahre älter, dass meine Freunde und ich ein Stück weit zum Opfer von Nietzsches manipulativer Rhetorik wurden. Nietzsche – vor allem in der Rolle seines Propheten – suggeriert dem Leser, schon qua Lektüre seiner Schriften „etwas Besonderes“ zu sein, aus der „Herde“, der „tumben Masse“ herauszustechen. Er appelliert an seinen Narzissmus. Ich denke, dieser Aspekt seiner Schriften ist einer der Hauptgründe für ihren Erfolg und das, was Nietzsche in gewisser Hinsicht wirklich „gefährlich“ macht. Nicht unbedingt politisch, sondern psychologisch: Er liefert eine Ideologie, die es einem ermöglicht, sich im eigenen Narzissmus zu vergraben und verstärkt ihn dadurch. Man wird Teil einer Art, paradoxen, Gemeinde von „freien Geistern“ – um nicht zu sagen: „Genies“ –, die einzig der Name „Nietzsche“ eint, wie es vielleicht in unschuldigeren Zeiten derjenige Klopstocks tat. Man bewundert Nietzsche, doch in Wahrheit nur sich selbst und die eigene „Individualität“, „Kreativität“, „Originalität“. Man versteht Nietzsches Texte eigentlich nicht – man geht in ihnen auf, lebt mit ihnen.

Diese Phase bzw. diese Stimmung kommt mir im Nachhinein sehr unangenehm, sogar ein wenig peinlich vor, doch ich denke, es war eine wichtige Durchgangsphase und Nietzsche kann gerade durch diesen Aspekt seiner Schriften enorme kreative und intellektuelle Potentiale in seinen Lesern entfesseln. Sie ermutigen dazu, „anders“ zu sein, Dinge zu denken und zu tun, die man sich vorher nicht getraut hätte, sie führen zu einer bisweilen rauschartigen Enthemmung des eigenen Gefühls von Größe. Und sollte dieses Gefühl von der Mitwelt nicht bestätigt werden, sollte man im Gegenteil gekränkt werden, bietet Nietzsche sofort das passende Heilmittel: „Was scheren dich diese Marktplatzmenschen – du weiß doch, dass du besser als sie bist?“ Es war nicht zufällig Nietzsches Freundin und, womöglich, Geliebte Lou Andreas-Salomé, die 1921 die wegweisende psychoanalytische Studie Narzißmus als Doppelrichtung veröffentlichte und darin die produktive Funktion des Narzissmus für Künstler und Denker – „Schaffende“ – aufdeckte. Ja: Man muss wohl, frei nach Nietzsche, einen Hauch Narzissmus in sich tragen, um etwas Bedeutendes in Kunst oder Philosophie hervorbringen zu können; vielleicht sogar in allen anderen Lebensbereichen.

Doch mittlerweile bin ich, wie man so sagt, „reifer“ geworden und diese ganze Denkweise stößt mich ab. Nietzsche heilt den Narzissmus seiner Leser nicht, sondern bekräftigt ihn und bietet allenfalls eine „Schiefheilung“ an, indem er ihn immer tiefer in eine narzisstische Denkstruktur verwickelt. Ich bin jedoch mittlerweile fest davon überzeugt, dass wahre künstlerische, philosophische und vor allem menschliche Größe aus einer ganz anderen Richtung kommt. Rousseau schätze ich mittlerweile höher als Nietzsche, sogar Christus höher als Dionysos. Ein Christ könnte an Nietzsche leicht vorbeigehen und sich mitleidig denken: „Dieser arme verwirrte Mensch; hat er noch nichts davon gehört, dass Christus vor 2.000 Jahren auferstanden ist? Er ist wahrhaftig auferstanden!“ – Die großen Künstler, Heiligen, Denker – wenn „Größe“ überhaupt ein Wert an sich ist, auch das bezweifle ich mittlerweile – waren vielleicht auch selbstbezogene Egoisten, doch in ihrem Egoismus öffneten sie sich zugleich für etwas Höheres, das aus ihren Werken zu uns spricht; egal, ob man das nun „Gott“ oder anders nennen möchte. Sie sprechen nicht als Einzelne, sondern als Gattungsmenschen. Sie meinen nicht, sie denken.

Doch mit all dem treffe ich Nietzsche selbst nicht. Denn sobald man einmal den eigenen Narzissmus in Frage gestellt hat und in Nietzsches Texten nicht mehr nur eine Quelle der Selbstbestätigung findet, kann man seine Philosophie wirklich entdecken und wird feststellen, dass sie noch viel mehr und Anderes zu bieten hat. Dass man Nietzsche zuvor eben nicht verstanden hatte. Das narzisstische Potential ist in seinen Texten ebenso verborgen wie das Gegenteil, wenn man sie nur genau liest. Nietzsche wäre seinerseits allenfalls ein mediokrer Sonderling wie Max Stirner oder Arthur Schopenhauer – deren Fans mir diese Bemerkung verzeihen mögen (ich schätze beide Autoren sehr, doch messe sie eben an dem höchsten Maß) – geblieben, wenn er diesen Schritt nicht selbst gegangen wäre, wenn er nicht den Schritt ins Offene, hinein in die Selbstüberwindung gewagt hätte.

Es blieb für Nietzsche jedoch beim Traum vom Übermenschen. Er konnte den Schritt nicht endgültig gehen. Doch genau das macht ihn uns so nah und sein Denken so vertraut, wenn wir es recht verstehen: Diese Zerrissenheit zwischen Selbstbezug und Öffnung, zwischen Niedrigkeit und Höhe, zwischen „letztem Menschen“ und „Übermensch“, die in seinen Texten selbst so wortreich und schroff immer wieder ausgetragen wird. Wir werden bei ihrer Lektüre die Zeugen eines inneren Kampfes, der in der Weltliteratur seinesgleichen sucht – und der eben, so möchte ich behaupten, auch unser Kampf ist oder zumindest eine bestimmte Stufe der intellektuellen Reife markiert, durch die wir alle hindurchgehen müssen.

Es gibt für mich daher auch keinen Anlass, Nietzsche zu verwerfen oder mich von ihm loszusagen. Nachdem Nietzsche kein „Götze“ mehr für mich ist, ist er nun einfach ein Mensch und wird dadurch erst als Denker und Schriftsteller interessant.  Unter diesen steht er für mich noch immer in der vordersten Reihe, auch wenn ich mich manchmal frage, ob Hegel nicht eigentlich subversiver als Nietzsche ist, in einer Zeit, in der „Gott ist todt“1 und „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“2 schon längst als Kalendersprüche – oder eben Instagram-Memes – taugen. Doch selbst, wenn man in Hegels Systemidee unser Ideal sehen wollte, muss man doch anerkennen, dass Nietzsche unsere Realität ist. Ihn zu verdammen, wäre Selbstverleugnung; ihn zu heiligen wäre Selbstverdummung.

Wenn ich etwa Rousseau lese, bin ich bisweilen gerührt, geradezu mitgerissen von dem reinen Pathos seiner Schriften, seinem tiefen Glauben an das Gute, an die Menschheit, an die „Natur“. Doch ich weiß, dass man heute nicht mehr so denken, nicht mehr so schreiben könnte. Manche Texte Nietzsches hingegen wirken so, als wären sie erst gestern verfasst worden. Sein „Wahn“ ist der Wahn einer Epoche, die noch nicht beendet ist. Er vermag es nicht, eine Heilung anzubieten, doch er ist der erste aufrichtige Chronist, Zeuge und Seher dieses Wahns. Wir, die wir auf der Suche nach Heilung sind, individuell wie kollektiv, müssen uns immer wieder in diesen Strudel stürzen getreu seiner eigenen Maxime „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“3. Wir dürfen nur nicht darin ertrinken.

Ideen wie der „Übermensch“, die „schenkende Tugend“, die „ewige Wiederkunft“, der „letzte Mensch“, der „Nihilismus“ … Die Vision einer Welt ohne Gott und ohne Wahrheit. Die Geschichte als ewiger Kampf zwischen Dionysos und Apoll, Herren und Sklaven, Ressentiment und Herrlichkeit, Mann und „Weib“ – all das sind vielleicht unwahre Ideen, doch darum noch lange keine toten, keine widerlegten. Man muss sie immer wieder durchdenken, immer wieder neu nach Auswegen und Schlupfwinkeln suchen, sich immer wieder neu von ihnen faszinieren lassen.

Insofern kann ich durchaus die Polemik von Denkern wie Georg Lukács und Wolfgang Harich gegen Nietzsche teilen. Ja, in Nietzsche steckt viel „Böses“, viel geradezu Lächerliches, er ist ein philosophischer Feind der Vernunft. Doch ich bin ebenso von Carl Schmitt belehrt – und dieser Satz könnte auch von Nietzsche selbst stammen: „Der Feind ist unsere eigne Frage als Gestalt.“ – Und ich füge dem mit Nietzsche selbst seine vielleicht weisesten Worte hinzu:

„Freunde, es giebt keine Freunde!“ so rief der sterbende Weise;
„Feinde, es giebt keinen Feind!“ – ruf’ ich, der lebende Thor.4

Fußnoten

1 Die fröhliche Wissenschaft, 125.

2 Zur Genealogie der Moral, III, 24.

3 Götzen-Dämmerung,Sprüche und Pfeile, 8.

4 Menschliches, Allzumenschliches I, 376.

Der umkämpfte Nietzsche

Bericht zur Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft 2023

Der umkämpfte Nietzsche

Bericht zur Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft 2023

11.3.24
Paul Stephan

Vom 12. bis 15. Oktober fand in Naumburg die jährliche Jahrestagung der Friedrich-Nietzsche-Gesellschaft statt. Zahlreiche Experten aus aller Welt kamen zusammen, um den vielfältigen Wegen von Nietzsches Wirkung in den ersten Jahrzehnten nach seinem geistigen Zusammenbruch nachzugehen. Die geistigen Kämpfe um Nietzsche verwiesen dabei immer wieder auf die realen Kämpfe der Vergangenheit – und diejenigen unserer Gegenwart.

Vom 12. bis 15. Oktober fand in Naumburg die jährliche Jahrestagung der Friedrich-Nietzsche-Gesellschaft statt. Zahlreiche Experten aus aller Welt kamen zusammen, um den vielfältigen Wegen von Nietzsches Wirkung in den ersten Jahrzehnten nach seinem geistigen Zusammenbruch nachzugehen. Die geistigen Kämpfe um Nietzsche verwiesen dabei immer wieder auf die realen Kämpfe der Vergangenheit – und diejenigen unserer Gegenwart.

I. Alle Jahre wieder: Nietzsche in Naumburg

Jedes Jahr wird das beschauliche Kleinstädtchen Naumburg einmal von sonderbaren Gästen heimgesucht, die sich nicht so recht in die Idylle von Dom und Fachwerk fügen wollen: Nietzsche-Forscher aus der ganzen Welt kommen hier zusammen, um ihre Forschungsergebnisse zur Diskussion zu stellen und sich, wie man sagt, zu ‚vernetzen‘. Der Termin ist traditionell um Nietzsches Geburtstag am 15. Oktober herum gelegen, in diesem Jahr vom 12. bis 15. Oktober. Um „Kämpfe um Nietzsche“ sollte es gehen, um ihn, so erklärte der Untertitel der von Carlotta Santini und Hans Ruin organisierten Veranstaltung, „als Protagonist der europäischen und globalen Kultur bis zur ersten Nachkriegszeit“.

Das vom Künstler Michael Girod gestaltete Tagungsplakat zeigt eine der berühmtesten Nietzsche-Büsten von Max Klinger, wie sie von kleinen schwarzen Schattenwesen malträtiert, geküsst, erklommen wird. Was es mit der Wahl dieser graphischen Gestaltung auf sich hat, explizierte bereits der Call zur Tagung, der zu Einreichungen aufrief (vgl.). Dort ist davon die Rede, dass „Werk und Person […] Nietzsches“ „[b]is zumAusbruch des Zweiten Weltkriegs“ „Gegenstand leidenschaftlicher Debatten“ waren, „die alle Bereiche der Kultur beeinflussten“. Diese wilde Periode der„Nietzscheanismen“, in der Nietzsches Philosophie als „Laboratorium von Denkmodellen“ gedient habe, sei allerdings „nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Etablierung wissenschaftlicher und philologischer Standards“ glücklicherweise beendet worden. Leider sei bis dahin jedoch ein „Mythos“ Nietzsche entstanden, sich auf ihn beziehende „idiosynkratische Entstellungen seines Denkens […], gegen die die Forschung bis heute ankämpft“. Die Schattengestalten sollen also wohl jene ersten Rezipienten sein, die das wahre Bild Nietzsches nach wie vor verdunkeln und die „die akademische Forschung“ auch weiterhin zu verscheuchen habe. Die erklärte Zielsetzung der Tagung war dementsprechend zwar durchaus auch die Anerkennung dessen, was an den „Kämpfen um Nietzsche“ „originell, gültig und produktiv war“, aber vor allem ging es darum „[d]ie Quellen der bis heute andauernden Vorurteile […] zu identifizieren und womöglich zu falsifizieren“. Die ‚seriöse Forschung‘ und der ‚echte Nietzsche‘ da – der von Feinden wie Bewunderern entstellte ‚verfälschte Nietzsche‘ der frühen Rezeption dort. – Ist das wirklich so einfach zu scheiden, wie es Nietzsche zufolge „Wahrheit“ und „Schein“ nicht sind?

Abbildung 1: Blick vom ersten Stock des Nietzsches-Dokumentationszentrums auf das Nietzsche-Haus. (Photo von Paul Stephan.)

Die Tagung begann am Donnerstagnachmittag wie gewohnt im großen Saal des Nietzsche-Dokumentationszentrums, eines schicken Gebäudes im postmodernen Stil, das vor mehreren Jahren neben dem eigentlichen Nietzsche-Haus (vgl. Abb. 1) errichtet wurde, im düsteren Zwielicht eines durchwachsenen Herbsttags. In diesem Haus wuchs Nietzsche ab 1858 auf und lebte dort noch einmal nach seiner geistigen Umnachtung mehrere Jahre lang in der Obhut seiner Mutter und seiner Schwester. Im Laufe des Abends wuchs die Teilnehmerzahl nach und nach auf etwa 100 Personen an; mehr hätte der Saal auch nicht aufgenommen. Dies gilt wohl auch für die Stadt. „Naumburg ist nie so voll wie an diesem Wochenende“, meinte der Oberbürgermeister Armin Müller in seinem Grußwort. Laut Programm umfasste die Tagung etwas mehr als 50 Vorträge.

In ihren Eingangsstatements nahmen die Organisatoren die Dichotomie zwischen Rezeption und ‚Stand der Forschung‘, die man dem Call entnehmen konnte, wieder etwas zurück. Insbesondere Santini betonte die ungebrochene Faszinationskraft jener ‚wilden Jahre‘ der Nietzsche-Aneignung. „Die Geschichte der Nietzsche-Rezeption ist unsere Geschichte“, meinte sie und sprach von einer Rückkehr zur „Urquelle, als die Wiese noch intakt war“. Die „Naivität“ der frühen Rezeption sei nur „angeblich“ und es gebe keinen gradlinigen Fortschritt hin zu einem ‚wahren Nietzsche‘. Ruin fügte dem hinzu, dass das Studium der frühen Rezeption kein Selbstzweck sein dürfe, sondern dazu dienen solle, die Gegenwart besser zu verstehen. Als entscheidendes Merkmal dieser „Gegenwart“ wiesen dabei alle Eingangsredner, zu denen neben den genannten noch der Leiter des Dokumentationszentrums, Ralf Eichberg, sowie Marco Brusotti, der Vorsitzende der Nietzsche-Gesellschaft, zählten, auf die Kriege – sei es in der Ukraine, in Armenien oder jüngst in Israel – hin; also „Kämpfe“ in einem sehr wörtlichen Sinne.

II. Vom Übermenschen zum „neuen Juden“

Die beiden inhaltlichen Vorträge jenes Auftakts von Katharina Grätz und Hans Gerald Hödl klammerten entsprechend die Frage nach dem ‚echten Nietzsche‘ weitgehend aus. Grätz sprach über die Deutungskämpfe um den Übermenschen im deutschsprachigen Raum zwischen 1890 und 1905, Hödl stellte vor allem die Nietzsche-Rezeption des weitgehend unbekannten österreichischen Schriftstellers Anton Kuh (1890–1941) vor. In beiden Vorträgen wurde sehr schnell die große Spannbreite und Kreativität der verschiedenen Deutungen deutlich. Die einen erblickten in Nietzsches Philosophie des „Übermenschen“ den Aufruf zu einem darwinistischen Züchtungsprogramm, die anderen zu einem radikalen Individualismus, wieder andere verbanden damit kollektive Vorstellungen von Emanzipation oder einer neuen Religion. Grätz betonte dabei, dass diese Vielfalt nicht an einem ‚zu wenig‘ sondern eher an einem ‚zu viel‘ an Bedeutung in Nietzsches Texten liege. Die unterschiedlichen Interpreten pickten sich insofern zu Recht einzelne Versatzstücke aus ihnen heraus. Bildlich gesprochen gleicht Nietzsches Philosophie also einem gut gefüllten Bonbonglas, das weder leer ist noch jede beliebige Süßigkeit enthält, das aber sehr viele unterschiedliche Schleckereien umfasst, die nicht unbedingt zueinander passen. Während Nietzsche erste Wiener Leser, so Hödl, deutschnationale Juden gewesen seien, verstand Kuh ihn als Kritiker jedes Nationalismus im Sinne des Ideals des „guten Europäers“.

Der zweite Tag war ein lichterer Herbsttag, den man fast als ‚golden‘, vielleicht ‚mattgold‘ bezeichnen könnte. Auch heute war der Saal wieder voll, etwa 100 Personen dort versammelt, einige Zuschauer mussten sogar stehen. Die renommierte italienische Germanistin Vivetta Vivarelli eröffnete den Tag mit einem Vortrag, in dem sie auf die jeweiligen Briefwechsel zwischen Nietzsche und seinen engen Freunden Erwin Rohde sowie Franz Overbeck einging, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts publiziert wurden und nach dem Urteil zahlreicher zeitgenössischer Rezipienten – Vivarelli nannte etwa Stefan Zweig, Walter Benjamin und Thomas Mann – einen ganz anderen Nietzsche zeigten als die veröffentlichen Schriften und die von Nietzsches Schwester herausgegebenen Nachlassfragmente; man glaubte dort, den ‚echten Nietzsche‘, den „Menschen“ hinter seinen Texten zu sehen. Neben die – unheilvolle, mystifizierende – Weimarer sei nicht zuletzt durch das Erscheinen dieser Briefwechsel eine davon abweichende Basler Tradition getreten, die eher die aufklärerischen und brüchigen Elemente von Nietzsches Denken betone. In der Diskussion erhielt Vivarelli für diese Gedanken viel Zuspruch – nicht zuletzt durch Eichberg, der davon sprach, dass sich das Naumburger Forschungszentrum auch in dieser letzteren Tradition sehe –,es wurde allerdings auch die Frage aufgeworfen, ob die Briefe wirklich einen ‚unmittelbaren‘, ‚reinen‘ Nietzsche zeigten oder nicht nur eine neue Schicht von Maskierungen.

In seinem folgenden Vortrag ging Christian Benne vor allem auf die Nietzsche-Rezeption Georg Brandes’ (1842–1927) ein, der vielfach als Entdecker Nietzsches gilt, da er schon 1888 Vorlesungen zu Nietzsches Philosophie an der Universität von Kopenhagen hielt, die dann auch wenig später als Buch erschienen. Detailreich wies Benne nach, aus welchem historischen Kontext heraus Brandes Nietzsche entdeckte und wie er ihn ins Spiel brachte, um in die damaligen skandinavischen kulturellen Konflikte zu intervenieren, die insbesondere um die Frage kreisten, ob die Frauenemanzipation nicht eine strikte Enthaltsamkeit vor der Ehe auch seitens der Männer erfordere – eine damals populäre Forderung, die Brandes ausgehend von Nietzsches Kritik der asketischen Moral damit konterte, dass im Gegenteil nun auch die Frauen vorehelichen Sex haben sollten. Brandes habe durch seine Begegnung mit Nietzsches mithin keineswegs seine früheren emanzipatorischen Ideale aufgegeben, wie oft behauptet werde, sondern Nietzsches „aristokratischen Radikalismus“ (Brandes) im Sinne einer radikalliberalen Kritik an einer populistischen Diktatur der Mehrheit verstanden und dabei stets eine gewisse Distanz zu Nietzsche gewahrt. Benne betonte, dass sich in jener Zeit nicht zuletzt junge jüdische Frauen in Skandinavien von Nietzsche angezogen gefühlt und ihn als einen Denker ihrer individuellen Emanzipation gelesen hätten.

Einen ganz anderen Aspekt von Nietzsches Rezeptionsgeschichte sprach im Anschluss Antje Wessels an, die, ihrerseits Altphilologin, anhand des Beispiels von Walter Friedrich Otto (1874–1958) über Nietzsches Wirkung auf die klassische Philologie sprach. Nietzsche, vor allem sein Frühwerk Die Geburt der Tragödie, sei für Otto eine der wichtigsten Inspirationsquellen und auch Autoritäten für die Entwicklung eines ganz neuen Zugangs zum Altertum gewesen, in dem es nicht mehr darum gegangen sei, die Texte durch ein möglichst genaues Quellenstudium wissenschaftlich zu erschließen, sondern sich in sie hineinzufühlen,um wirklich das Wesen der antiken Denkweise zu verstehen. Otto, ein enger Weggefährte Martin Heideggers, habe dabei dabei den antiken Mythos nicht als Meinung oder Vorstellung verstanden, sondern als unmittelbare Offenbarung des Seins der Dinge, das vom christlichen bzw. wissenschaftlichen Blick auf die Welt verstellt worden sei. In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob dieser glorifizierende, ahistorische Blick auf die Antike nicht zumindestmit dem späten Nietzsche – demjenigen der Genealogie der Moral – unvereinbar sei. Weder im Vortrag noch in der Diskussion wurde leider der – angesichts der Lebensdaten von Otto nur allzu naheliegenden – Frage nachgegangen, inwiefern Ottos Verklärung des antiken Mythos nicht Affinitäten zum Nationalsozialismus aufweise. In einem privaten Gespräch erklärte mir Wessels diesbezüglich,dass Otto ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zum NS wie Heidegger und andere Figuren der ‚Konservativen Revolution‘ aufgewiesen habe: Er habe den NS einerseits begrüßt und in dieser Zeit wichtige kulturelle Funktionen ausgeübt – insbesondere war er von 1935 bis 1945 Leiter des „Wissenschaftlichen Ausschusses“ des Weimarer Nietzsche-Archivs –, doch habe ihn andererseits aus seiner radikal antimodernen Haltung heraus als zu modernistisch kritisiert und sei darum mit dem Regime in Konflikte geraten.

Auch die folgenden kurzen Sektionsvorträge – von denen je vier parallel stattfanden, so dass ich sie naturgemäß nur sehr ausschnitthaft verfolgen konnte – wiesen auf interessante Aspekte von Nietzsches früher Rezeption hin. So zeigte etwa der Musikwissenschaftler Tilman Williams, wie sehr Alma Mahler-Werfel (1879–1964), Gattin und Geliebte zahlreicher bedeutsamer Kulturschaffender ihrer Zeit (neben Franz Werfel und Gustav Mahler etwa Walter Gropius, Gustav Klimt und Alexander von Zemlinsky – vergleichbar ist in dieser Hinsicht wohl nur Lou Andreas-Salomé), in ihrem Denken von Nietzsche geprägt und in ihrer emanzipierten, allerdings, wie Williams betonte, teilweise auch sehr egoistischen, Lebensweise bestärkt wurde. Der ukrainische Forscher Vitalii Mudrakov stellte den satirischen Text Er und sie seiner ‚Landsfrau‘ Olha Kobylianska (1863–1942) vor, der um 1900 entstand und zahlreiche Nietzsche-Zitate beinhaltet und unterstrich damit die internationale Ausstrahlungskraft, die der Philosoph schon früh ausübte.

Der Höhepunkt des Tages war dann zweifellos der Auftritt von Steven Aschheim, Autor des Standardwerks Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, in dem die deutschsprachige Nietzsche-Rezeption bis 1945 umfassend dargelegt wird. Aufgrund der aktuellen Geschehnisse in seiner Heimat Israel konnte Aschheim leider nicht persönlich anreisen, doch er wurde per Zoom zugeschaltet. Er hielt keinen eigentlichen Vortrag, sondern antwortete ausführlich auf Fragen aus dem Publikum (vgl. Abb. 2). Er betonte insbesondere, dass er als Kulturhistoriker notwendig anders auf Nietzsches Rezeptionsgeschichte blicke als ein Philosoph: Er müsse sein eigenes Bild von Nietzsche einklammern und einfach wertungsfrei darlegen, wie sich bestimmte Akteure bestimmte Aspekte von Nietzsches Schaffen angeeignet hätten. Allerdings gab erzu, dass es einen solchen ‚Aschheim’schen Nietzsche‘ durchausgebe und dass er in seinem Buch auch hin und wieder durchscheine. Er sprach viel über die jüdische Rezeption Nietzsches – sowohl dieeher religiöse als auch die zionistische –, aber auch seine nationalsozialistische und ließ durchblicken, dass er diese Interpretation für durchaus plausibel im Sinne einer, wenn auch selektiven, textbasierten Aneignung halte. Nietzsche habe sich etwa immer wieder für eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft im Sinne biologistischer Vorstellungen – die Ausrottung „dekadenter“ und „schwacher“ Elemente – ausgesprochen und sich trotz seinerKritik an allzu niveaulosen Formen des Antisemitismus auch wiederholtin einer Weise geäußert, die man als ‚tieferen‘, geistigen Antisemitismus verstehen könne, wie ihn dann später etwa auch Heidegger vertreten habe. Diese Sichtweise wirkte auf manche Zuhörer sichtlich provokant, wobei man es bei vereinzelten Blicken, Gestenund leisen Unmutsäußerungen beließ und in dieser Hinsicht keine kontroverse Diskussion begann. Aschheim überzeugte vor allem durch seine authentische, humorvolle Art und wirkte wie ein Gelehrter, der sich seinen Forschungsgegenstand wahrlich im Sinne Nietzsches „einverleibt“1 hat.

Abbildung 2: Blick auf das Publikum während des Gesprächs mit Steven Aschheim. (Photo von Paul Stephan.)

III. Vieldeutige Schatten

Leider konnte ich aus persönlichen Gründen nur diesen ersten beiden Tagen der Konferenz beiwohnen. Sie beinhaltete wie gewohnt zahlreiche äußerst spannende und niveauvolle Vorträge, die so gut wie das gesamte Spektrum des riesigen Themas von Nietzsches früher Rezeption abdeckten; sowohl die Haupt- als auch eher abseitige Nebenlinien. Eine etwas überproportionale Berücksichtigung fand dabei vielleicht die skandinavische Rezeption – was, wie er selbst in seinem Eingangsstatement zugab, der schwedischen Herkunft Hans Ruins geschuldet sein dürfte – sowie die Nietzsche-Rezeption Andreas-Salomés, der ganze fünf Vorträge gewidmet waren. Es wurde jedenfalls gezeigt, dass die Erforschung von Nietzsches Wirkungsgeschichte keine bloße akademische Fingerübung, sondern ein durchaus lebendiger Forschungsgegenstand ist, den es weiter zuverfolgen gilt. Wie Eichberg in seiner Begrüßung betonte, steckt das Dokumentationszentrum in Naumburg in dieser Hinsicht noch voller „ungehobener Schätze“.

Es wurde vor allem deutlich, welch unterschiedliche Anschlüsse Nietzsches so heterogenes Œuvre zulässt: Er kann gleichermaßen als kollektivistischer Biologist wie radikaler Individualist, als Aufklärer wie als Irrationalist, als Antisemit wie als Antiantisemit gelesen werden und man wird immer einzelne Texte finden, die diese Interpretationen stützen. – Wie mit dieser Vielfalt interpretatorisch umgehen? Das beschriebene Eingangsproblem der Entgegensetzung von ‚echtem Nietzsche‘ und ‚Mythen‘ suchtedie Tagung immer wieder heim. Mal dominierte die sich des Urteils enthaltende Darlegung einzelner Interpretationen, mal die Kritik an ihnen im Sinne eines ‚echten Nietzsche‘ – und zugleich wurde deutlich, dass es auch den um völlige Einklammerung bemühten Interpreten sehr schwer fällt, ihre je eigenen Nietzsche-Deutungen vollkommen aus dem Spiel zu lassen; dies wohl nicht zuletzt, weil es bei diesen Deutungen ja um bis heute umkämpfte Themen geht. Nietzsche ist vielleicht der erste Interpret seiner eigenen Schriften, der zwischen beiden Polen schwankt: Als Perspektivist leugnet er die Möglichkeit einer objektiven Interpretation und betont die notwendige Vielheit der Standpunkte, als Selbstinterpret bemüht er sich in seinen letzten Schriften sichtlich darum, mögliche ‚Missverständnisse‘ auszuräumen – produziert dabei freilich nur neue Vieldeutigkeiten.

Alles steht und fällt wohl mit der Frage, ob man die faschistische Nietzsche-Deutung als „Mythos“ abtun oder sie als plausible Interpretation anerkennen möchte – was dann natürlich Nietzsches Schriften selbst ins Fahrwasser des ‚Braunen‘ zieht. Dass diese Deutung wiederum nicht die einzige legitime sein kann, wurde bei der Tagung ebenfalls deutlich. Immer wieder wurde gezeigt, dass Nietzsche insbesondere für Außenseiterfiguren attraktiv war, die seinen Schriften eine radikale Infragestellung der herrschenden gesellschaftlichen Normen entnahmen und den Aufruf zu einem Umsturz, sei es im Sinne einer individuellen oder einer kollektiven Veränderung. Hierin liegt bis heute ihr Potential. Was die faschistische Deutung angeht, müssen sich angesichts ihrer unbestreitbaren Virulenz während der ersten Dekaden der Nietzsche-Rezeption auch philosophische Deuter fragen lassen, wie sie mit ihr umgehen können, ohne sie einfach zu verdrängen oder als simplen Irrweg abzutun. Dies versperrt den Weg einer einfachen Identifikation mit Nietzsche, doch dürfte gerade darum genau in seinem Sinne sein.

Die „Kämpfe um Nietzsche“ waren jedenfalls nicht bloß metaphorische„Geisterkriege“, sondern an den großen Fronten der Kriege des frühen 20. Jahrhunderts standen sich nicht zuletzt Nietzscheaner gegenüber – sei es in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs,in den revolutionären Kämpfen der Zwischenkriegszeit oder dann während des Zweiten. Wie Aschheim betonte, wurde Nietzsches Lob des „Kriegers“ oft sehr wörtlich verstanden. Dies verleiht dem Thema der Konferenz seinen Zündstoff. Zieht man den im Laufe der Tagung ja oft erwähnten gewaltigen Einfluss Nietzsches auf jüdische, nicht zuletzt zionistische, Intellektuelle in Betracht sowie auf die Ideologie des heutigen Russlands – verkörpert etwa in Alexandr Dugin, einem der führenden Propagandisten dieses ‚Neuen Russland‘ –, dann kommt man kaum umhin, diese Brisanz auch in unserer Gegenwart zu erblicken. Aschheim zitierte in seinem Vortrag einen frühen Zionisten mit der Aussage, die Juden könnten von Nietzsche lernen, nicht, wenn sie geschlagen werden, fromm die andere Wange hinzuhalten, sondern zurückzuschlagen. Der ungehemmte Kampf um Selbstermächtigung, den Nietzsche – scheinbar – verkündet, lässt aber, wie ein anderes Sprichwort lehrt, die Welt oft genug blind zurück. Was ließe sich, mit und gegen Nietzsche, dem Krieg in seiner unmetaphorischen Brutalität intellektuell entgegensetzen? Das wäre wohl die große Frage der Zeit, auf die der Konferenz sicherlich keine Antworten, aber doch Anregungen zu entnehmen waren.

Fußnoten

1 Vgl. etwa Die fröhliche Wissenschaft, 110.

Darts & Donuts
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Ich empfinde alle Menschen als schädlich, welche dem, was sie lieben, nicht mehr Gegner sein können: sie verderben damit die besten Dinge und Personen.

(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

Nietzsche sagt: „ChatGPT ist dumm.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

Nietzsche sagt: „Man soll den Computern misstrauen, sie haben ein Hirn, eine Hand, einen Fuß und ein Auge, aber kein Herz.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.

(ChatGPT auf die Bitte hin, einen Aphorismus im Stile Nietzsches zu verfassen)

Werk. – Es gibt keine irreführendere und falschere Ansicht als die, dass das Schreiben oder das Werk lustvolle Angelegenheiten seien. Es ist ganz das Gegenteil! Das Werk ist einer der größten Gegner und schlimmsten Feinde. Und wer aus Freiheit und nicht aus Gewohnheit schreibt, vermisst an ihm Umgangsformen und Gewissen – der ist ein Schwein!

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Gefährliche Wahrheit. – Viele psychische Pathologien machen ihren Wirt ultrasensibel. Sie bekomme Antennen für die kleinsten seelischen Regungen ihres Gegenübers, sehen den kleinsten Verrat, die kleinste Inkongruenz, den kleinsten Reißzahn, den hässlichsten Hund im Menschen. Als Feind des Menschengeschlechts zückt der Arzt seinen Notizblock und ruft also „die Pfleger“ herein.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Glück: Keinen mehr nötig zu haben und so rückhaltlose Zuwendung sein können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 44)

Dein Rechthaben nicht offen zur Schau stellen. Nie der Weg sein. Dem, der Recht hat, will man leicht Unrechttun und man fühlt sich gemeinsam im Recht dabei, weil das Gefühl für Gleichheit ständig trainiert wird und die Übung der Freiheit eine Seltenheit geworden ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 43)

Wahre Liebe: Durch den Anderen hindurch lieben.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 42)

Zusammensein wollen: Weil es leichter ist? Weil es bereichert? Weil man keinen Willen kennt, der lange Wege allein gehen kann?

(Neue Sprüche und Pfeile, 41)

Helfen wollen: Weil es sichgehört? Weil einem Gleiches widerfahren kann? Weil man hat und gerne gibt? Weil einem nicht die aktuelle Armut betroffen macht, sondern die Schande, dass Chancen ungenutzt bleiben müssen?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 40)

Keine Größe ohne ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten. Aus dem Schein zu einem Mehr an Sein. Aus den Erfolgen der Sprünge in eine Rolle, in der man sich nicht kannte, entsteht der Glaube anein Können, das mehr aus einem machen kann.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 39)

Wem die Stunde schlägt. – Wer sich einen Termin macht, etwa ein Date in zwei Wochen, freut sich, trifft allerlei Vorbereitungen, fiebert darauf hin, hält durch und überlegt, was er sagen soll und so weiter. – Dann ist der Tag da. In der Zukunft glänzte alles noch, fühlte sich anders an. Man denkt sich: Es ist alles ganz wie vorher. Alles, was ich getan habe, war nur Selbstzweck, man erwartete das Warten und Vorstellen und nicht die Sache selbst, nicht den Kairos, den man nicht erwarten kann.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Niederes und höheres Bewusstsein. – Bin ich vor die Wahl gestellt, entweder erdrückt zu werden, tot zu sein und zu schweigen oder zu lästern und ungläubig zu sein – Gift in meinen Drüsen mir zu sammeln, wie mir angeboren, Reptil, das ich bin –, ich würde immer das Zweite wählen und mich niedrig, schlecht, negativ und ungebildet nennen lassen. Lieber will ich mich von meinem Gift befreien als es mir zu Kopf steigen zu lassen. Tritt einer dann in meine Pfützen, sei’s so – gebeten hat man ihn nicht!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Schwere und die Sinnlosigkeitder Dinge. – Wer einmal den unbegründeten Wunsch verspüren sollte, sich über die wesentlichen Dinge Gedanken zu machen, das Sein der Dinge und die Zeit, der ist besser beraten, es zu unterlassen. Der Verstand tendiert dazu, solche Dinge zäh und schwer zu machen. Am Ende findet man sich beim Denken und Überlegen dabei wieder, das Ding selbst nachzuahmen und denkt den Stein, das Stein-Seins, verfällt in gedachte Inaktivität.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Nichts. – In der Indifferenz ist noch alles und jedes zu ersaufen. Der größte Mut, der Hass, die Heldentaten, die Langeweile selbst verschlingt sich und die große Dummheit, Eitelkeit.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Für Franz Werfel. – Ein Autor, der dir sagt: „Ach, meine Bücher…, lass dir Zeit, lies erst dies ein oder andere. Das kann ich dir empfehlen: Ich liebe Dostojewski.“ – Das ist Größe und nicht die eitle Schwatzerei derjenigen, die ihre eigene Person und die Dringlichkeit der eigenen Ansichten vor sich hertragen.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Illusions perdues. – Wieso ist es so,dass das schönste, romantischste, bewegendste, rührendste, herzaufwühlenste Buch gegen die blasseste Schönheit von zweifellos hässlichem Charakter keine Chance hat und so attraktiv wie eine uralte Frau wirkt?

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Wider einfache Weltbilder. – Wir sind ein krankendes Geschlecht; schwitzend, von Bakterien übersät. Wir haben Bedürfnisse, geheimen Groll, Neid; die Haare fallen uns aus, die Haut geht auf mit Furunkeln; wir vertrauen, langweilen uns, sind vorlaut; pöbeln, sind übertrieben schüchtern, schwätzen Unsinn, konspirieren, sind erleuchtet, sind verblendet, eitel, machthungrig, einschmeichelnd, kriecherisch – jenseits von Gut und Böse.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vom Unglauben getragen. – Wie könnte man es nicht anbeten, das großartige formlose Unding, welches das Sein ist? Monströs wie allerfüllend. Das große Nichts, das die Alten die Hölle nannten, qualmt und beschenkt uns mit den schönsten Schatten.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Das herzliche Lachen der Literatur. – Hat jemals ein Mensch, der vor einem Buch saß, sich den Bauch und die Tränen vor Lachen halten müssen? Ich schon; aber nur in der Vorstellung – und aus Schadenfreude über solche Idiotie.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Ananke. – Weil die Literatur, obzwar sie die dümmste, platteste, schlechteste Grimasse der Zeit darstellt, doch von ihr den kleinsten Kristallsplitter Reinheit enthält, ist sie unerbittlich erbarmungslos und erschreckend in ihrer Folge. Wir wissen nur eins: Sie wird kommen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Kind in der Bibliothek. – Die Mutter muss dem Kind verbieten: „Nein, wir gehen nicht da rein!“ Das Kind sagt: „Da!“, und will ein Regal hochklettern. Bücherregale sind Klettergerüste. Weil es das nochnicht gelernt hat, läuft es wie ein Betrunkener nach seiner Mutter.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Authentisch sein wollen: Weil es sich schickt? Weil man die Halbwahrheiten satt hat? Weil man einsah, dass nur ein Eingestehen zu tieferen und offeneren Bindungen führt?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 38)

Herausragend sein wollen: Weil man Bewunderer will? Weil man es den Mittelmäßigen zeigen möchte? Weil man das Banale nicht mehr aushält?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 37)

Weil die Kritik zunehmend nicht widerlegen, sondern vernichten will, ist die gute Moral der Moderne die kategorische Revisionierbarkeit. Sein ist Versuch zum Sein. Daher bemisst sich kompetente Urteilskraft an der Distanz zum guillotinenhaften Verurteilen. Korrekte Korrektheit ist selbstironisch.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 36)

Wer nicht von sich auf Andere schließt, verpasst die Chance zu einer Welt genauso wie jemand, der von Anderen nicht auf sich schließt. Im revidierbaren Mutmaßen lichtet sich das Zwielicht des Miteinanders ein wenig und es erhöht sich die Möglichkeit zu einem halbwegs zuverlässigen Versprechen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 35)

Im Gehen wird das Denken weich und weit. Wer die Welt um sich hat, für den wird das Rechthaben zu einer unschönen Angewohnheit. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, laufen einem die Sätze wie angenehme Begegnungen über den Weg, die einen überraschen mit der Botschaft, wie wunderbar egal man doch ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 34)

Ohne Erfolge wäre das Leben ein Irrtum. Die Karriere ist die Musik des Lebens, auch für die, die sich für thymotisch unmusikalisch halten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 33)

Schonungslose Ehrlichkeit belügt sich selbst, weil es ihr nicht um Wahrheit geht, sondern um den Effekt des Entblößens als bloße Intensität des Auftrumpfens. Sie will nicht aufzeigen, sie will es den Anderen zeigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 32)

Abhängigkeit macht angriffslustig. Man will sich selber beweisen, dass man etwas ist und attackiert die lebenswichtigen Helfer, als wären sie Meuterer. Dabei ist man selbst derjenige, der meutert. Für das klassikerlose Tier gilt: Es gibt ein falsches Leben im richtigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 31)

Sich Zeit lassen, wenn die Zeit drängt. Panik macht ungenau. Fünf vor zwölf ist es immer schon für diejenigen, die überzeugt sind, genau zu wissen, was zu tun ist, ohne dass sie die Komplexität der Lage je verstanden hätten. Es ist die Tragödie des Weltgeistes, dass seine selbsternannten Apostel erst einen überwältigenden Eindruck mit ihrer Entschiedenheit machen und dann einen schockierenden Eindruck mit den Wirkungen ihrer Entscheidungen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 30)

Ein Schreibfehler. – Was heißt erwachsen werden? – ...die kindlichen Züge anlegen ...!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Geschlechterkampf. – Da weder die Auslösung des Mannes noch der Frau zur Disposition steht und politische Macht in der Regel nicht mehr mit physischer Gewalt durchgesetzt wird, sind die mächtigsten Formen der Machtausübung verdeckt: Schuld, Angst, Drohung, Beschämung, Entzug (z. B. von Liebe und Solidarität), Zurschaustellung. Sie alle operieren mit Latenzen und unsichtbaren Scheingebilden, entfesseln dieFantasie.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Gewissensqual über das Gewissen: Das Gewissen, das sich nicht selber beißen lernt, wird zum Mithelfer der Gewissenlosigkeit. Gewissen jedoch als permanenter Gewissensbiss verletzt die Freiheit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 29)

Die erzwungene Höflichkeit provoziert die Lust zur Unhöflichkeit. Die Attraktivität der Sitten bemisst sich daran, wie viel kreative Munterkeit siegestatten. Sitten, die Recht haben wollen, werden unweigerlich zu Unsitten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 28)

Aus dem gefühlten Mangel an Aufmerksamkeit als stiller Angenommenheit entsteht der Hass auf diejenigen, die einen keines Blickes mehr zu würdigen scheinen. Man unterstellt Ungerechtigkeit, wo Freiheit ist, die eine andere Wahl traf. Dies Verdächtigen verhässlicht und entfernt von der Zuwendung, nach der man so sehnsüchtig strebt. Wut, die andauert, wird Hass, der schließlich den Anderen als Gegner wahrnimmt, den man nicht mehr kritisieren, sondern nur noch vernichten will.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 27)

Schatten über der rechten Hand. – Ist der Todesengel derselbe wie der der Liebe? – Erkennen wir nicht den Schatten aneinander, überall?

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Die Freiheit in der Literatur. – Kein Mensch wird geboren und liest „die Klassiker“.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Immerhin. – Man hat als Mensch genug Zeit bekommen, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Respekt. – Da duzt man die Leute undschon verlieren die allen Respekt – Demokratie!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vorsicht. – Unsere Gesellschaft geht von der Maxime aus, dass, wenn jeder gleichmäßig durch Arbeit verbraucht und gleichzeitig durch Geld versklavt, keiner dem anderen mehr etwas antun kann – Ruhe und Frieden herrscht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

 2023. – Wenn die Vorstellung zu sterben und tot zu sein erträglicher ist als die Demütigung einer Arbeit im Büro.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Dada. – Das Heute schafft noch aus dem unsinnigsten Blödsinn eine Ideologie zu machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Das Beständige. – Wenig auf dieser Erde ist ewig und bleibt über die Zeit hinweg erhalten. Bildung nicht, Geschichte nicht, Bräuche nicht, Sitten nicht. Ewig bleiben Dummheit, Eitelkeit, vielleicht Liebe und Spaß, Tränen und Dunkelheit, weil sie Familie sind.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Theater. – Im unerträglichen Theater unserer Zeit will jeder die Guten, die Superhelden spielen und niemand die Bösen. Ihre Zahl ist deswegen zu klein und die der Guten zu hoch. Damit verflachen beide Seiten ungemein und es entsteht die billigste Seifenoper. Wären wir nicht musikalisch begleitet, wir wollten nach Hause gehen, an den Schreibtisch und unsere Charaktere nochmal gründlich überdenken und -arbeiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Mädchen mit einem Korb Erdbeeren. – Das Wetter ist schön. Ich würde eine junge Frau gegen einen Korb Erdbeeren eintauschen, mir ist sklavenherrisch zu Mute.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Gehe denen aus dem Weg, die keine Sympathie für Komplexität erkennen lassen. Der Unwille zum Komplexen ist der trotzige Halt der Haltlosen und der Jungbrunnen der Verbitterten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 26)

Umgedrehter Nietzscheanismus: Die letzten Menschen als diejenigen, die es auf sich nehmen wollen, die letzten Dingen immer wieder zu durchdenken, ohne an den Abgründen zu zerbrechen, die sich dabei öffnen. Ein besseres Beschreiben erzeugt ein Vertrauen, das mit Normalität impft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 25)

Das Ende der Geschichte kann auch gedacht werden als eine Ohnmacht der alten Deutungen in neuen Verhältnissen. Daher wird der historische Sinn gerne kulturkritisch: Da er sich keinen Reim mehr auf die Lage machen kann, werden die Dinge als katastrophisch interpretiert, anstatt die Sicht auf die Dinge zu revidieren.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 24)

Geist als Betrieb: Als museale Hochkulturmode, als andenkenlose Betriebswirtschaft oder als ressentime Kulturkritik-Industrie.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 23)

Wenn man wieder kreativ sein muss. – Wenn der heutige Kulturmensch keine Idee mehr hat, greift er in die Tastatur und schreibt etwas über die Rolle der Frau, BiPoC oder sonst etwas in der Richtung und kommt sich dabei in seiner Armseligkeit nicht nur rebellisch und progressiv vor, sondern wähnt sich auch als kreativ, wenn er mal wieder über die Rolle der Mutter im Patriarchat spricht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fitness. – Ich kann die aufgepumpten jungen Männer mit ihren hantelgroßen Wasserflaschen und Proteinpülverchen nicht mehr sehen. Soll sich in diesen Figuren der feuchte Traum Nietzsches von der Selbstüberwindung des Menschen, seines Körpers und physiologischen Organismus in Form der kommodifizierten Selbstquantifizierung vollends erfüllt haben?

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Sichtbar durch Agitation. – Der Mensch ist das schöne Tier und, ist er wohl versorgt, von außen immer würdevoll. Das will nicht mehr sagen, als dass die Hülle, die die Natur ihm gibt, auch schon das meiste ist und im inneren Hohlraum, fast nur Schatten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Wissenschaftliche Erlösung: Nach einer neuen Erkenntnis der Gehirnforschung ist es unmöglich, zugleich Angst zu haben und zu singen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 22)

Wer die Möglichkeit des Untergehens ständig für realistisch hält, hat es nötig, sich vor sich selbst unauffällig in den Imaginationen des Schlimmsten zuspüren. Der Mangel des Glaubens an sich wird kompensiert mit dem festen Glauben an die Katastrophe.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 21)

Karriere machen, ohne den Verdacht des Egoismus auf sich zu ziehen, anstrengungslos, unterambitioniert. Aber doch das Verlangen, gesehen zu werden in der bemühten Mühelosigkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 20)

Er verzichtete, aber er sah ganz genau hin, wie viel der bekam, der nicht verzichtete. Der schielende Verzicht hat die schärfsten Augen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 19)

Sinn ist der Ersatz für fehlende Initiative. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, wird offen für die Erfindung von Gründen, wer an seinem Zustand schuld sein soll. Die Langeweile der Haltlosen wird zum Verbrechen der Vitalen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 18)

Philologe sein. – Permanentes Standgericht.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Weil es Mut braucht, sich Künstler zu nennen. –  Kunst ist das Gegenteil von Angst.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Leipzig. – Neben einem anarchisch aus dem Fenster hängenden Banner mit der Aufschrift „Lützi bleibt“, das an Klassenkampf, Demo, Streik, Widerstand und Molotov gemahnt, steht das Hauptversammlungshaus der städtischen Kleingartenvereine. Noch zwei Häuserblöcke weiter, ein Yoga-Studio.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Kreative ist nicht apolitisch. Er interessiert sich nicht einmal für Politik. Erst wenn die Räume enger werden, die ihn animieren, beginnt er sich politisch zu engagieren aus apolitischen Motiven.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 17)

Der Verlierer denkt: „Die Wahrheit, die meinen Sieg verhindert, muss Lüge sein!“ Der Sieger denkt: „Solange ich den Sieg nötig habe, habe ich noch nicht gewonnen.“

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 16)

Wer lange genug allein ist, will sich selber nicht mehr verstehen. Darin liegt die Möglichkeit einer reifen Gedankenlosigkeit. Man treibt dann noch Philosophie wie man Jahreszeiten erlebt. Begriffe und Satzfolgen kommen und gehen wie Kastaniengrün und Septemberhimmel.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 15)

Im gelingenden Bewundern überwindet man sich zu sich. Die Unfähigkeit zur Einzigartigkeit steigert den Drang zur Zugehörigkeit. Wenn Konsens zum Kommando wird, wird Freiheit zur Ungerechtigkeit. Diversität als Inklusivität wäre die bereichernde Teilhabe an Liberalität, deren Bewundern man nicht teilen muss. Der Zustand eines vielfachen Desinteresses ist keine Entfremdung oder Ausbeutung. Wer seine Disziplin gefunden hat, verachtet den Einfallsreichtum der Schuldsuche.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 14)

Früher entsprach der Wahrnehmung der Schönheit das Kompliment. Heute scheint es so, als wäre es das Zeugnis einer fortgeschrittenen Form der Anständigkeit, sich dafür zu schämen, diesen Reflex der Entzückung bei sich überhaupt wahrzunehmen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 13)

Die Freudlosen werden leicht die strengen Apostel eines Sinns des Lebens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 12)

Das Gewissen wächst im Horchen auf das Bewirkte. Es formt sich als Ohr der Reue.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 11)

Seine Entscheidungen infrage zustellen, steigert den Sinn für Verantwortung. Man weiß nie, was man alles getan hat. Die Unabsehbarkeit des Anrichtens weist auf die Reue als ständige Option. Daher ist alles Handeln ein Akt der Reuelosigkeit, den man hofft, verantworten zu können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 10)

Hilflosigkeit: Der letzte Stolz.

(Michael Meyer-Albert, Neue Pfeile und Sprüche, 9)

Die Krise lehrt weite Gedanken oder sie verleiht die zweifelhafte Stärke zu einer unschönen Exzentrik.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 8)

Im fehlerhaften Menschen genießt Gott seine Unfehlbarkeit. Im unfehlbaren Gott erträgt der Mensch seine Fehlbarkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 7)

Wer das wilde Leben nötig hat, denkt nicht wild genug. Golden, treuer Freund, ist alle Theorie. Und fahl des Lebens grauer Baum.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 6)

Erst der Wille zum Nichtwissen erlaubt eine Verkörperung der Wahrheit. Das Wort darf nicht ganz Fleisch werden.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 5)

Poesie. –  Eine Definition: Die Summe all’ dessen, was keine öffentliche Redaktion, die auf ihren Ruf, ihr Image und Inserate achten will, veröffentlichen würde.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Fortschritt. – Wenn die Städter auf das Land und seine der Vergangenheit Zeit entstammenden primitiven Sitten süffisant herabblicken, blickt die Zukunft gehässig auf sie, die Idioten, herab.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Glaube daran, dass es keine Wahrheit gäbe, ist selbst wieder eine Wahrheit, die es auf Dauer nicht mit sich aushält. Zweifel wird dogmatisch, depressiv oder paranoid.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 4)

Die Einsamkeit des Philosophen ist seine gute Gesellschaft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 3)

Wissen ist Ohnmacht. Die Mutigsten beherrschen die Kunst des Vergessens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 2)

Von nichts kommt nichts? Wäre dann der, der nichts tut, schuldloser?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 1)

Nietzsche. – Es geht darum Zündkerzen in den Zeitgeist zu setzen. Entzünden sollen sie andere! Wie im menschlichen Körper ein winziger, brennender, strahlender, leuchtender Kristallsplitter Wahrheit in ein System eingesenkt reicht, um ein Gerinnsel und einen Schlaganfall auszulösen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Rotten, Tribalismus. – Der*Die Deutsche ist Neurotiker*In und chronifiziert, staatlich anerkannt feige. Talent ist in Deutschland rar gesät.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Ablehnung. – Man darf nicht vergessen, dass selbst in dem „je te déteste“ oder „tu me détestes“ eine Form von Beziehung steckt. Sie ist nicht Indifferenz, sondern eine Form von Wille, Wunsch oder Velleität des Dialogs.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Schlagfertigkeit. – Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welche geringen Anlässe die Menschen benutzen, um einer den anderen zu demütigen oder auch nur sein kleines Mütchen am anderen abzukühlen. Dennoch: Auch aus der Ablehnung kann noch eine Lust über das eigene Wachstum, eine Lust an der Ablehnung entspringen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Smalltalk. – Aus oberflächlich und anfänglichen Gesprächen lernt man manchmal Leute kennen (oder erzeugen diese Gespräche ihre Menschen?), die, wenn man ihnen zuhört, genau demjenigen Menschenbild der Konkurrenz entsprechen, von dem die Lehrbücher der Ökonomie scheiben, und es gruselt einen. – Ein Scherz, bitte ein Scherz, nur einen, fleht man innerlich! Und zeig mir, dass es ein Mensch ist! – Man einigt sich auf einige Statusmodalitäten der Berufswahl und stellt einige politische Ansichten zur Schau.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Im Dreck spielen. – Im menschlichen Verkehr liegt doch etwas Dreckiges. Die ganze Summe aus Verlogenheit, Untreue, Illoyalität und Machtspielen, die ihn so unappetitlich, aber gleichzeitig schmerzlich wie unerlässlich machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Kleinlichkeit. – Am Ende des Tages – und man glaubt es kaum – kommt es genau auf die Frage an: Willst du Kaffee oder Tee trinken? – Daran entscheidet sich alles! Ich habe mal eine Frau kennengelernt,die nicht mit der Gewohnheit vertraut war, morgens einen Tee oder Kaffee zu trinken. Sie machte sich schlicht keine Gedanken darum, trank vielleicht mal ein lauwarmes Glas Wasser. Sie ist mir dadurch unheimlich und suspekt geworden. – Einen Tag nachdem ich das geschrieben hatte ging mir mein Wasserkocher kaputt. (Höchste göttliche Ahnung!)

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fähigkeit der Vision. — Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man der Vision — das heisst einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen“ — gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

(Nietzsche, Morgenröthe, 66)

„Alle Wahrheit ist einfach.“ — Ist das nicht zwiefach eine Lüge? —

(Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 4)

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