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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches

„Noch ist Polen nicht verloren“

Deutschlands Nachbarland als politische Utopie in Nietzsches Nachlass

„Noch ist Polen nicht verloren“

Deutschlands Nachbarland als politische Utopie in Nietzsches Nachlass

6.5.24
Paul Stephan

Der späte Nietzsche imaginiert sich immer wieder als Nachfahren polnischer Adliger. Es handelt sich dabei nicht nur um eine persönliche Marotte, sondern sagt etwas über Nietzsches philosophische Positionierung aus: Polen ist für ihn eine Art ‚Anti-Nation‘, ein Volk der „großen Einzelnen“ – und nicht zuletzt die polnische Adelsrepublik die politische Utopie eines radikaldemokratischen Gemeinwesens, das gerade in seinem Scheitern seiner Vorstellung eines „aristokratischen Radikalismus“ entspricht. Paul Stephan geht in diesem long read der tieferen Bedeutung dieses Themas bei Nietzsche nach und hinterfragt seine Verklärung der alten Rzeczpospolita: Aus politischer Sicht handelt es sich um kein so erstrebenswertes Modell, wie es Nietzsche suggeriert. Weiter führen in dieser Hinsicht Jean-Jacques Rousseaus Betrachtungen über die Regierung Polens von 1772.

Der späte Nietzsche imaginiert sich immer wieder als Nachfahren polnischer Adliger. Es handelt sich dabei nicht nur um eine persönliche Marotte, sondern sagt etwas über Nietzsches philosophische Positionierung aus: Polen ist für ihn eine Art ‚Anti-Nation‘, ein Volk der „großen Einzelnen“ – und nicht zuletzt die polnische Adelsrepublik die politische Utopie eines radikaldemokratischen Gemeinwesens, das gerade in seinem Scheitern seiner Vorstellung eines „aristokratischen Radikalismus“ entspricht. Paul Stephan geht in diesem long read der tieferen Bedeutung dieses Themas bei Nietzsche nach und hinterfragt seine Verklärung der alten Rzeczpospolita: Aus politischer Sicht handelt es sich um kein so erstrebenswertes Modell, wie es Nietzsche suggeriert. Weiter führen in dieser Hinsicht Jean-Jacques Rousseaus Betrachtungen über die Regierung Polens von 1772.

I. Der ‚Polen-Komplex‘

„Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang [reinen Bluts; PS], dem auch nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches.“1 Abgesehen von dem – aus heutiger Sicht geradezu als ‚Trumpesk‘ zu bezeichnenden – Superlativ dieser Aussage, hatte Nietzsche durchaus Gründe, an seine ab 1880 in Briefen und im Nachlass immer wieder betonten polnische Abkunft zu glauben. Wie er jedenfalls mehrfach berichtet,2 wird er wiederholt von Exilpolen für einen der ihren gehalten und ließ sich seine polnische Abkunft durch ein Dokument von einem vermeintlichen Ahnenforscher bestätigen.3 Sogar seine Schwester teilt diese Familienlegende. Kernargument der beiden ist, dass ihr auf den ersten Hörer tatsächlich ein wenig slawisch klingende Familienname sich vom polnischen „Nietzky“ herleite. Im 18. Jahrhundert sei einer ihrer Vorfahren von August dem Starken in den Grafenstand erhoben worden, habe das Land jedoch aufgrund seines protestantischen Glaubens nach dessen Tod verlassen müssen. Max Oehler wies erst in den 30er Jahren – freilich nicht ohne das problematische Interesse, Nietzsche als ‚Reinblütler‘ im Sinne der NS-Ideologie auszuweisen – nach, dass es sich bei dieser gesamten Erzählung um eine reine Wunschphantasie handeln dürfte, die der Familie einen gewissen exotischen Glanz und nicht zuletzt einen Tropfen blauen Bluts verleihen sollte.4 Die Pastorenfamilie musste es zumal in ihrer Identität bestätigen, von einem Märtyrer des Protestantismus abzustammen. Vielleicht ist die Legende somit auch Hintergrund von Nietzsches berühmtem Satz aus dem 377. Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft:

Wir sind, mit Einem Worte – und es soll unser Ehrenwort sein! – gute Europäer, die Erben Europa‘s, die reichen, überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes: als solche auch dem Christenthum entwachsen und abhold, und gerade, weil wir aus ihm gewachsen sind, weil unsre Vorfahren Christen von rücksichtsloser Rechtschaffenheit des Christenthums waren, die ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand und Vaterland zum Opfer gebracht haben.

Diesem Satz ist zumal zu entnehmen, was für Nietzsche ein weiterer Grund für die Obsession für seine polnische Abkunft gewesen sein dürfte: Im Laufe der 1870er Jahre entfremdete er sich subjektiv und durch die Aufgabe seiner preußischen Staatsbürgerschaft auch objektiv immer mehr vom von ihm verachteten Bismarckreich und verstand sich als umherschweifender Kosmopolit, als „guter Europäer“ eben, als ewiger Heimatloser. Sein Wunsch danach, ein Pole zu sein, entspricht diesem Bedürfnis nach einer immer stärkeren Distanzierung von Deutschland – verrät aber zugleich auch den Drang zu einer neuen Heimat, einer neuen identitären Bindung. Zwischen beiden Impulsen scheint auf den ersten Blick eine gewisse Widersprüchlichkeit zu bestehen – doch nur auf den ersten Blick. Bei näherer Betrachtung entpuppen sie sich als durchaus miteinander kompatibel.

II. Das Nachlassfragment

Welcher Art ist diese neue Identität, die Nietzsche erst in Ecce homo öffentlich macht, die aber in privaten Äußerungen schon ab 1880 eine nicht unerhebliche Rolle spielt? Was bedeutet es für ihn, ein Pole zu sein? Aufschluss darüber gewährt ein 1882 verfasstes, in der Forschung nur selten beachtetes, Nachlassfragment, das sich in Gänze zu betrachten lohnt:

Man hat mich gelehrt, die Herkunft meines Blutes und Namens auf polnische Edelleute zurückzuführen, welche Niëtzky hießen und etwa vor hundert Jahren ihre Heimat und ihren Adel aufgaben, unerträglichen religiösen Bedrückungen endlich weichend: es waren nämlich Protestanten. Ich will nicht leugnen, daß ich als Knabe keinen geringen Stolz auf diese meine polnische Abkunft hatte: was von deutschem Blute in mir ist, rührt einzig von meiner Mutter, aus der Familie Oehler, und von der Mutter meines Vaters, aus der Familie Krause, her, und es wollte mir scheinen, als sei ich in allem Wesentlichen trotzdem Pole geblieben. Daß mein Äußeres bis jetzt den polnischen Typus trägt, ist mir oft genug bestätigt worden; im Auslande, wie in der Schweiz und in Italien, hat man mich oft als Polen angeredet; in Sorrent, wo ich einen Winter verweilte, hieß ich bei der Bevölkerung il Polacco; und namentlich bei einem Sommeraufenthalt in Marienbad wurde ich mehrmals in auffallender Weise an meine polnische Natur erinnert: Polen kamen auf mich zu, mich polnisch begrüßend und mit einem ihrer Bekannten verwechselnd, und Einer, vor dem ich alles Polenthum ableugnete und welchem ich mich als Schweizer vorstellte, sah mich traurig längere Zeit an und sagte endlich „es ist noch die alte Rasse, aber das Herz hat sich Gott weiß wohin gewendet.“ Ein kleines Heft Mazurken, welches ich als Knabe componirte, trug die Aufschrift „Unsrer Altvordern eingedenk!“ – und ich war ihrer eingedenk, in mancherlei Urtheilen und Vorurtheilen. Die Polen galten mir als die begabtesten und ritterlichsten unter den slavischen Völkern; und die Begabung der Slaven schien mir höher als die der Deutschen, ja ich meinte wohl, die Deutschen seien erst durch eine starke Mischung mit slavischem Blute in die Reihe der begabten Nationen eingerückt. Es that mir wohl, an das Recht des polnischen Edelmanns zu denken, mit seinem einfachen Veto den Beschluß einer Versammlung umzuwerfen; und der Pole Copernikus schien mir von diesem Rechte gegen den Beschluß und den Augenschein aller andern Menschen eben nur den größten und würdigsten Gebrauch gemacht zu haben. Die politische Unbändigkeit und Schwäche der Polen, ebenso wie ihre Ausschweifung waren mir eher Zeugnisse für ihre Begabung als gegen dieselbe. An Chopin verehrte ich namentlich, daß er die Musik von den deutschen Einflüssen, von dem Hange zum Häßlichen, Dumpfen, Kleinbürgerlichen, Täppischen, Wichtigthuerischen freigemacht habe: Schönheit und Adel des Geistes und namentlich vornehme Heiterkeit, Ausgelassenheit und Pracht der Seele, insgleichen die südländische Gluth und Schwere der Empfindung hatten vor ihm in der Musik noch keinen Ausdruck. Mit ihm verglichen, war mir selbst Beethoven ein halbbarbarisches Wesen, dessen große Seele schlecht erzogen wurde, so daß sie das Erhabene vom Abenteuerlichen, das Schlichte vom Geringen und Abgeschmackten nie recht zu unterscheiden gelernt hat. (Unglücklicherweise, wie ich jetzt hinzufügen will, hat Chopin einer gefährlichen Strömung des französischen Geistes zu nahe gewohnt, und es giebt nicht wenige Musik von ihm, welche bleich, sonnenarm, gedrückt und dabei reich gekleidet und elegant daherkommt – der kräftigere Slave hat die Narkotica einer überfeinerten Cultur nicht von sich abweisen können.)5

Man sollte sich nicht davon täuschen lassen, dass dieses Fragment im Präteritum geschrieben ist. Dieser gesamte Themenkomplex spielt in Nietzsches Nachlass, seine Kindheits- und Jugendschriften mit eingeschlossen, vor 1880 überhaupt keine Rolle. Es scheint sich sogar so zu verhalten, dass Nietzsche erst dadurch, dass er für einen Polen gehalten worden ist, überhaupt auf den Gedanken kam, sich an diese Familienlegende zu erinnern.

1877 berichtet er jedenfalls in einem Brief an seine Freundin Malwida von Meysenbug noch davon, dass er sich mit zwei polnischen Damen bei einem Kuraufenthalt sehr gut verstanden habe, ohne auf sein eigenes Polentum auch nur mit einer Silbe einzugehen.6 Und 1878 notiert er in einem Nachlassfragment interessanterweise geradezu das Gegenteil von dem, was er fünf Jahre später niederschrieb:

Polen das einzige Land abendländisch-römischer Cultur, das nie eine Renaissance erlebt hat. Reformation der Kirche ohne Reform des gesammten Geisteslebens, deshalb ohne dauernde Wurzeln zu schlagen. Jesuitismus – adelige Freiheit richten es zu Grunde. Genau so wäre es den Deutschen ohne Erasmus und der Humanisten Wirkung gegangen.7

Kurz gesagt: Es geht Nietzsche in diesem Fragment um die Fiktion einer vermeintlich seit seiner Kindheit existierenden kontinuierlichen Anschauungsweise, die über die krassen Brüche, die sein Denken immer wieder erfuhr, hinwegtäuschen soll. Während seiner Studentenzeit war er schließlich noch glühender preußischer Patriot, Verehrer Bismarcks und sympathisierte bis in die frühen 70er Jahre mit dem deutschen Nationalismus.

Warum wurde Nietzsche überhaupt für einen Polen gehalten? Angesichts der Häufigkeit, mit der Nietzsche von solchen Begegnungen berichtet, ist diese Erzählung nicht unglaubwürdig, so misstrauisch man gegenüber der von Nietzsche in seinen Briefen bisweilen betriebenen Selbststilisierung auch sein sollte. 1884 traf er sich in Nizza mit seiner Freundin Resa von Schirnhofer, die über diese Begegnung 1937 einen bemerkenswerten Bericht verfasste, der einen äußerst lebendigen Eindruck davon vermittelt, wie Nietzsche auf seine Zeitgenossen gewirkt hat. Darin heißt es:

Damals war mir das [eben jene vermutete polnische Abkunft Nietzsches; PS] neu und interessierte mich, da ich auf einem historischen Gemälde Jan Matjeko’s [sic] in Wien charakteristisch formverwandte Köpfe gesehen hatte von einer nicht bloss oberflächlichen im Schnurrbartwuchs bestehenden Ähnlichkeit, was ich auch zu ihm geäussert hatte, worüber er sehr erfreut schien. Denn er war sehr stolz auf seine polnische Charakterphysiognomie.8

Von Schirnhofer dürfte bei dieser Äußerung vor allem an Matejkos Gemälde Sobieski bei Wien gedacht haben (vgl. das Artikelbild), das angesichts des 200-jährigen Jahrestags des Siegs des vereinigten christlichen Heeres am 12. September 1683 gegen die osmanische Armee, die Wien belagert hatte, ebendort ausgestellt worden war. Die Türken erlitten damals eine krachende Niederlage, die den Niedergang des osmanischen Reiches besiegelte. Entscheidend für den christlichen Sieg war ein vom polnisch-litauischen König Johann III. Sobieski kommandierter Vorstoß seiner Elitekavallerie gewesen. Ein polnisches Verdienst, das anzuerkennen sich viele selbsternannte ‚Retter des Abendlandes‘ bis heute schwertun. 1883 war es jedenfalls eine veritable Provokation, dieses Gemälde angesichts der Nichtexistenz des polnischen Nationalstaats in Wien zu zeigen, die vom Nationalisten Matejko genau als eine solche intendiert war. Entgegen den damals üblichen Gepflogenheiten war das Gemälde kostenlos zu sehen und er ließ eine erläuternde Broschüre patriotischen Inhalts drucken.9

Die Barttracht des Königs und seiner Ritter ähnelt in der Tat zum Verwechseln dem Walrossbart Nietzsches. Und es handelt sich dabei um keinen Einzelfall: Dieser Barttyp hat auf polnischen Königsportraits eine lange Tradition.10 Von Schirnhofer spielt die Rolle des Barts in ihrem Bericht ein wenig herunter, doch es spricht einiges dafür, dass vor allem er es war, der die Polen dazu verleitete, Nietzsche für einen der ihren zu halten. Dies darf allerdings nicht zu dem Trugschluss verleiten, Nietzsche habe sich seinen Schnauzer aus diesem Grund wachsen lassen. Es spricht vielmehr einiges dafür, dass sich der Student Nietzsche seinen heute ikonischen Bart von dem wohl bekanntesten Träger dieses auch schon damals äußerst auffälligen Typs abgeschaut haben dürfte – dem späteren Reichskanzler Otto von Bismarck.11 Aus dem Preußen- war also ein Polenbart geworden.

Diese Wandlung ist ebenso wenig ein Widerspruch wie die erwähnte Gleichzeitigkeit von Nietzsches Selbstdefinition als Pole und als „guter Europäer“. Denn die Polen gelten Nietzsche ja gerade als Volk von Freigeistern, von „große[n] Einzelnen“12. Ein paradoxes ‚antikollektivistisches Kollektiv‘, das sich insbesondere durch seine bemerkenswerte Verfassung auszeichnet. Wenn man sich vor Augen führt, dass auch schon der junge Patriot Nietzsche Bismarck vor allem bewunderte, weil er ihn für einen „großen Einzelnen“, ein politisches Genie nach seinem Geschmack, hält (eine Wertung, die sich bemerkenswerterweise auch nach seinem Bruch mit dem Reich in seinen Schriften noch immer wieder vorfindet), dann wird klar, dass sein Bart vor allem eins zum Ausdruck bringen soll: seine eigene Zugehörigkeit zu jenem erlauchten Kreis „großer Einzelner“, die seiner Auffassung nach die Weltgeschichte lenken und lenken sollen. Wenn Nietzsches Schwester also anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs behaupten sollte: „Bismarck ist Nietzsche in Kürassierstiefeln, und Nietzsche mit seiner Lehre vom Willen zur Macht als Grundprinzip des Lebens ist Bismarck im Professorenrock“13, ist das durchaus nicht vollkommen unberechtigt. Doch anders als etwa im Fall von Heideggers peinlichem Schnurrbärtchen von 1933,14 wäre es verkehrt, aus der optischen Ähnlichkeit zwischen Bismarcks und Nietzsches Bart eine politische Affinität zwischen beiden zu folgern: Nietzsche verehrt Bismarck und seine Politik des „Blut und Eisens“, die er sogar noch in Jenseits von Gut und Böse ausdrücklich als südliches Antidot zum ‚Geist des Nordens‘ begrüßt,15 nicht, weil es eine nationalistische Politik ist, sondern aus ähnlichen Gründen, aus denen heraus er etwa Goethe, Napoleon oder eben Kopernikus und die Polen schlechthin bewundert: Weil sie alle seiner Vorstellung „großer Einzelner“ entsprechen, die sich über die Meinung des „Pöbels“16 hinwegsetzen und eine wahrhaft „große Politik“17 im Sinne des „Lebens“ (ebd.) betreiben.

III. Individualistische (Anti-)Politik

Das Nachlassfragment ist wie wohl kaum ein anderes dazu geeignet, um die Problematik von Nietzsches Auffassung von „großen Einzelnen“ zu verdeutlichen. Sie wirkt erst einmal wie das Bekenntnis zu einem geradezu anarchistischen Individualismus, der nur den Haken hat, auf den Adel beschränkt zu sein. Nietzsche geht sogar so weit, den Eigensinn des Individuums gegenüber der Stabilität des Gemeinwesens in Schutz zu nehmen: Dass mit einer Konsensdemokratie kein Staat zu machen ist, ist für ihn kein Argument gegen diese politische Form, im Gegenteil. Zugleich plädiert er jedoch für keinen völlig enthemmten Individualismus, wie er ihn etwa mit der deutschen Kleinbürgerlichkeit und der französischen Dekadenz assoziiert: Seine Vorliebe gilt eben nicht einfach nur Einzelnen schlechthin, sondern großen Einzelnen, deren Größe er etwa mit Ritterlichkeit, Schönheit der Seele und ästhetischem Geschmack assoziiert – die jedoch zugleich keine eigentliche Tugendhaftigkeit ist, da er ja auch den ausschweifenden und unbändigen Charakter der ‚polnischen Seele‘ feiert. Man sieht, dass seine Bestimmung von „Größe“ hier wie auch anderswo reichlich vage ist: Beethoven, den er sonst als eines der größten Genies verklärt,18 wird nun plötzlich abgewertet, worin genau die Ähnlichkeit zwischen Chopin, Kopernikus und polnischen Edelleuten bestehen soll, ist prima facie vollkommen unklar. Jedenfalls bedient er sich, und hier liegt der Hase im Pfeffer, primär ästhetischer Kriterien, um ein politisches Urteil zu fällen – moralische und im üblichen Sinne politische Kriterien werden ausgeblendet und sogar dezidiert abgewertet.

Offensichtlich changiert Nietzsche in diesem Fragment zwischen zwei Momenten, die auch sonst sein Denken wie auch seine politische Wirkungsgeschichte bestimmen: Einmal demjenigen eines radikalen Individualismus, der ihn für Anarchisten interessant macht – einmal demjenigen der ästhetischen Verklärung einer aristokratischen „Herren-Moral“, die auf seine faschistische Rezeption verweist. In dieser Passage neigt Nietzsche eher dem anarchistischen zu als dem faschistischen Pol zu – und doch folgt aus ihr kein Lob einer universalisierten Willkürfreiheit.

IV. Utopie und Wirklichkeit

Man kann das ‚Polen-Fragment‘ kaum hinreichend würdigen, wenn man nicht berücksichtigt, ob sie sich denn überhaupt auf irgendeine historische Realität bezieht oder ob es sich um eine typische Nietzsche’sche Halbwahrheit oder gar Fiktion handelt. In diesem Fall fällt der ‚Faktencheck‘ allerdings überraschenderweise zu Gunsten des Dichterphilosophen aus: In der Zeit der polnisch-litauischen Adelsrepublik, die vom 16. Jahrhundert bis zur Zerschlagung Polens im späten 18. Jahrhundert währte, war die polnische Gesellschaft in der Tat von einem in der Geschichte wahrscheinlich einzigartigen Individualismus geprägt. Jedenfalls alle Angehörigen des Adels – etwa 15 % der Bevölkerung19 – begegneten sich auf Augenhöhe und konnten gleichberechtigt an einem politischen System partizipieren, das neben konsens- sogar rätedemokratische Elemente beinhaltete. Auf den Adelsversammlungen konnte tatsächlich jedes Mitglied ein Veto gegen alle Beschlüsse der Versammlungen einlegen – was nicht nur zur Folge hatte, dass dieser eine Beschluss zurückgenommen, sondern dass die komplette Versammlung aufgelöst werden musste und nicht mehr beschlussfähig war. Eine Regelung, die – wie man erwarten mag – von den meisten Historikern als einer der konstitutionellen Hauptgründe für den Untergang Polens angesehen wird.20 Schon gegen Mitte des 18. Jahrhunderts waren selbst republikanische Stimmen wie Jean-Jacques Rousseau, der 1772 auf eine entsprechende Bitte hin einen umfassenden Vorschlag zur Neuordnung des polnischen Staats verfasste, der Ansicht, dass jenes „liberum veto“ ein Unding sei, das schnellstmöglich beseitigt werden müsse.21 Es hatte nämlich nicht nur die Lahmlegung aller politischen Entscheidungen zur Folge: Sowohl der Hochadel als auch sogar ausländische Mächte bedienten sich seiner gezielt, um den polnischen Staat zu korrumpieren und ihren Einfluss zu vergrößern. Eine scheinbar demokratische Regelung war in Wahrheit ein Instrument in den Händen der Mächtigsten.

Die Zeit der „goldenen Freiheit“ war, um es zugespitzt zu sagen, eine Zeit der dunkelsten Unfreiheit für all diejenigen, die nicht dem Adel angehörten und an denen die Adligen ihre Willkürfreiheit ausüben durften. Während die Adelsversammlungen – Nietzsche spielt darauf wohl an – oft in wilde Saufgelage mit zünftigen Prügeleien ausarteten, lebte die große Mehrheit der Bevölkerung in bitterster Armut. Eine außerordentliche soziale Ungleichheit, eine Oligarchenherrschaft hinter radikaldemokratischer Fassade, die Rousseau in deutlichen Worten beklagt. Betrachtet man also die politische Realität des alten Polens, dann verblasst das romantische Bild, das Nietzsche von ihm zeichnet, schnell. Es ist eher ein Beispiel für eine besonders schlechte als eine besonders gelungene politische Ordnung nach allen dafür üblichen Kriterien. Einzig Nietzsches ästhetisierter Blick lässt sie als irgendwie akzeptabel erscheinen.

Rousseau ist der Ansicht, dass das Problem nicht das Vetorecht per se ist. Doch es funktioniert ihm zufolge nicht in einer Gesellschaft, die von sozialer Ungleichheit und antagonistischen Partikularinteressen geprägt ist und in der es folglich keinen starken Sinn des Zusammenhalts gibt. Er hält insbesondere die Entwicklung eines patriotischen Heroismus für erforderlich, um Polen vor dem Untergang zu bewahren: Jeder Einzelne soll bereit sein, sich für das Vaterland aufzuopfern. Dieser Gedanke weist eine oberflächliche Ähnlichkeit zu Nietzsches Betonung der Ritterlichkeit und Größe der alten Polen auf, doch bei Rousseau ist damit keinerlei Individualismus verbunden, im Gegenteil: Jeder Einzelne soll sich Rousseau zu Folge nicht primär als Individuum, sondern als Pole verstehen. Es ist ein moralischer Heroismus, während es bei Nietzsche ein amoralischer ist.

Rousseaus Kritik der polnischen Gesellschaft geht einerseits von pragmatischen politischen Kriterien aus – sein Ziel ist die Bewahrung des polnischen Staates –, andererseits von dem moralischen Endzweck aller Politik, den er schon 1762 im Gesellschaftsvertrag artikulierte: Eine Gesellschaft ohne Herren und Knechte, in der Allgemein- und Partikularinteresse zusammenfallen. Seine Überlegungen flossen in die polnische Verfassung von 1791 ein – die den umliegenden absolutistischen Monarchien zu radikal war, so dass sie umgehend Polen besetzten und unter sich aufteilten. (Mit der alten Verfassung der „goldenen Freiheit“ hatten sie schon eher leben können.) – Und sie waren auch eine wichtige Inspirationsquelle der Revolutionäre von 1789, die größtenteils glühende Verehrer des „Bürgers von Genf“ waren.

V. Fazit

Man mag anerkennen, dass Nietzsches Lob ritterlichen Eigensinns und aristokratischer Exzessivität ein legitimes Antidot darstellt zur Kleinbürgerlichkeit moderner Gesellschaften. Der späte Rousseau hingegen propagierte einen Nationalismus, der aus einer liberalen Perspektive hochproblematisch erscheint und der im 19. und 20. Jahrhundert eine unrühmliche Wirkungsgeschichte haben sollte.

Doch unterm Strich ist Rousseau recht zu geben: Die Konsensdemokratie ist ein Modell, dass in einer antagonistischen Gesellschaft keinen Sinn ergibt, das bis heute von manchen Liberalen gefeierte „goldene Zeitalter“ Polens war in der Tat eines der Korruption, der gesellschaftlichen Anarchie im schlechtesten Sinne und außerhalb von Nietzsches ausschweifender Phantasie auch nicht gerade der kulturellen Blüte. Kopernikus lebte nicht nur zeitlich vor der Entstehung der polnisch-litauischen Adelsrepublik, es ist auch vollkommen anachronistisch, ihn einer der später etablierten Nationen zuzurechnen. Er dürfte sich selbst wohl primär als Untertan seines Dienstherrn, des Fürstbischofs von Ermland, begriffen haben. Chopins wiederum lebte nach der Zerschlagung Polens, sein Vater war Franzose und Frankreich seine Hauptwirkungsstätte.

Das ‚alte Polen‘ ist ein romantischer Sehnsuchtsort, doch es ist keine erstrebenswerte politische Utopie. Auch in diesem auf den ersten Blick recht sympathisch wirkenden Nachlassfragment zeigt sich Nietzsche freundlich ausgedrückt nicht gerade von seiner hellsten Seite. Bemerkenswert ist allerdings, wie es ihm gelingt, zugleich die Seichtigkeit des modernen Individualismus zu kritisieren wie auch den modernen Kollektivismus zu hinterfragen. In dieser Fähigkeit zur Verschmelzung ganz unterschiedlicher, ja: widersprüchlicher, Perspektiven, liegt das ungeheure Potential und die Radikalität seines Denkens. Doch wenn es um ein im eigentlichen Sinne politisches Denken geht, ist man wohl doch besser beraten, sich an Rousseau zu halten.22

Quellen

Benne, Christian: Liberum veto. Wie demokratisch ist Nietzsches aristokratischer Radikalismus? In: Martin A. Ruehl & Corinna Schubert (Hg.): Nietzsches Perspektiven des Politischen. Berlin & Boston 2023, S. 161–180.

Ders: Sich sich selber erzählen. In: Ders. & Dieter Burdorf (Hg.): Rudolf Borchardt und Friedrich Nietzsche. Schreiben und Denken im Zeichen der Philologie. Berlin 2017, S. 95–111.

Dabrowski, Patrice M.: Commemorations and the Shaping of Modern Poland. Bloomington & Indianapolis 2004.

Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche. Eine Biographie. Bd. I. München & Wien 1978.

Oehler, Max: Zur Ahnentafel Nietzsches. Weimar 1939.

Rousseau, Jean-Jacques: Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlagene Reform. In: Sozialphilosophische und Politische Schriften. München 1981, S. 507–561.

Ders: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. In: Sozialphilosophische und Politische Schriften. München 1981, S. 269–392.

Schirnhofer, Resa von: Vom Menschen Nietzsche. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 22 (1968), S. 250–260.

Sommer, Andreas Urs: „Bismarck ist Nietzsche in Kürassierstiefeln, und Nietzsche … ist Bismarck im Professorenrock“. In: Zeitschrift für Ideengeschichte VIII/2 (2014), S. 51 f.

Stephan, Paul: Bedeutende Bärte. Eine Philosophie der Gesichtsbehaarung. Berlin 2020.

Artikelbild

Jan Matejko: Sobieski bei Wien (1883). Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_am_Kahlenberg#/media/Datei:Sobieski_Sending_Message_of_Victory_to_the_Pope.jpg.

Fußnoten

1: Ecce homo, Warum ich so weise bin, 3.

2: Vgl. etwa den Bericht seiner Freundin Resa von Schirnhofer (Vom Menschen Nietzsche, S. 252). Nietzsche berichtet von dieser Anekdote in mindestens fünf Briefen in den 80er Jahren. An seinen wichtigen Briefpartner Georg Brandes schreibt er etwa am 10. 4. 1888 gleich zu Beginn eines kurzen Lebenslaufs: „Im Auslande gelte ich gewöhnlich als Pole; noch diesen Winter verzeichnete mich die Fremdenliste Nizza’s comme Polonais.“ Für eine vollständige Auflistung jener Briefe vgl. mein eigenes Buch Bedeutende Bärte,S. 101 f., wo ich dem hier beschriebenen Zusammenhang zwischen Nietzsches Bart und seinem ‚Polentum‘ bereits ausführlich nachgegangen bin (vgl. ebd., S. 102–105).

3: Vgl. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 27 f.

4: Vgl. Oehler, Zur Ahnentafel Nietzsches.

5: Nachgelassene Fragmente 1882, 12[2].

6: Vgl. Brief vom 4. 8.

7: Nachgelassene Fragmente 1878, 30[54].

8: Vom Menschen Nietzsche, S. 252. Im erwähnte nBrief an Brandes schreibt Nietzsche auch selbst: „Man sagt mir, daß mein Kopf auf Bildern Matej<k>o’s vorkomme.“

9: Vgl. Dabrowski, Commemorations, S. 59 f.

10: Man betrachte etwa Matejkos Porträt des Königs Stanisław Leszczyński oder die Auflistung alle Könige und Herzöge Polens auf Wikipedia. Im 20. Jahrhundert knüpfte der nationalistische polnische Diktator Józef Piłsudskian diese Tradition an – und sieht damit auf manchen Porträts Nietzsche geradezu zum Verwechseln ähnlich (vgl. etwa dieses Photo).

11: Vgl. auch dazu, wie zum Verhältnis Bismarck/Nietzsche allgemein, ausführlicher Stephan, Bedeutende Bärte, S. 95–99.

12: Nachgelassene Fragmente 1884, 29[23].

13: Zit. n. Sommer, „Bismarck ist Nietzsche …“, S. 52.

14: Vgl. das dort abgebildete Photo und auch Stephan, Bedeutende Bärte, S. 69 f.

15: Vgl. Aph. 254.

16: Nachgelassene Fragmente 1888, 14[182].

17: Nachgelassene Fragmente 1888, 25[1].

18: So heißt es in einem sehr typischen Nachlassfragment: „Beethoven, Goethe, Bismarck, Wagner – unsere vier letzten großen Männer“. Nietzsche preist hier„die monologische heimliche Göttlichkeit der Musik Beethovens, das Selbsterklingen der Einsamkeit,die Scham noch im Lautwerden…“ (ebd.) Kein Wort von Chopin.

19: Vgl. den entsprechen Eintrag auf Wikipedia.

20: Vgl. für eine erste Übersicht den entsprechenden Artikel auf der englischsprachigen Wikipedia.

21: Vgl. Rousseau, Betrachtungen über die Regierung Polens.

22: Für eine etwas wohlwollendere, in manchen Details gegenläufige, Darstellung von Nietzsches Polen-Begeisterung vgl. die entsprechenden Forschungsbeiträge von Christian Benne (Sich sich selber erzählen und Liberum veto).

Ist Nietzsche ein Pubertätsphilosoph?

Ist Nietzsche ein Pubertätsphilosoph?

3.5.24
Natalie Schulte

In ihrem Beitrag zur Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ geht unsere Stammautorin Natalie Schulte der Frage nach, ob man den Denker als „Pubertätsphilosophen“ bezeichnen kann und berichtet über ihre eigene Beziehung zu ihm.

In ihrem Beitrag zur Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ geht unsere Stammautorin Natalie Schulte der Frage nach, ob man den Denker als „Pubertätsphilosophen“ bezeichnen kann und berichtet über ihre eigene Beziehung zu ihm.

Ja, genau, ich leugne es nicht länger, weigere mich nicht, nein, ich gebe es zu, ich gehöre zu denjenigen, die Nietzsches Zarathustra mit 15 Jahren mit Taschenlampe im Bett gelesen haben und sich dem Ideal des Übermenschen, nun, sagen wir mal, recht verbunden fühlten. Gehörte zu den kleinen frühreifen Atheistchen, die jedem noch so aufgeklärten Religionslehrer richtig auf den Senkel gehen, gehörte zu denjenigen, die sich gemeint gefühlt haben, wenn Nietzsche von dem ominösen „wir“ geschrieben hat. Und dann kommt noch hinzu, ich bin niemals davon losgekommen. Ich bin hängen geblieben, bei Nietzsche oder vielleicht auf Nietzsche, habe Abschlussarbeiten über ihn geschrieben und meine Dissertation. Anzumerken ist, zwischendurch gab es auch andere, Kant beispielsweise oder Husserl, aber davon soll dieser Artikel nicht handeln, sondern nur von dem einen, von dem ich nicht losgekommen bin, von dem ich wahrscheinlich nicht wieder loskommen werde, denn seiner einprägsamen Zitate sei Dank sitzt ein kleiner Nietzsche in meinem Kopf und gibt gelegentlich – zum Glück nur gelegentlich! – seinen Senf hinzu.  

Aber warum, so können wir zunächst unbedarft fragen, sollte Nietzsche überhaupt ein Pubertätsphilosoph sein und was impliziert dieser Vorwurf? Nietzsche hoffte lange Zeit auf eine angemessene Reaktion auf seine Philosophie, zumindest auf eine etwas größere Leserschaft, die ihm aber verwehrt blieb. In einem Paket an Mutter und Schwester sendete er unverkaufte Exemplare des Zarathustra als „Bücher-Ballen“ und schrieb lakonisch dazu: „[S]tellt ihn hübsch in eine Ecke und laßt ihn schimmeln“1. In seinen Büchern hadert er mit den Lesern, wünscht sich die richtigen, die Auserwählten und imaginiert sich Millionen von Lesern in Ecce Homo, um dann doch zu fragen: „Hat man mich verstanden?“2. Es gibt gegen Ende etwas intellektuelle Korrespondenz, die über das persönliche Umfeld hinausreicht, beispielsweise mit Georg Brandes, der Nietzsches Philosophie den Beinamen des „aristokratischen Radikalismus“ verpasst, der Nietzsche wohl gefällt,3  und der in der späteren Diskussion um Nietzsches fragwürdigen Ruhm für ihn eintritt. Dennoch, Nietzsche bekommt von seiner Würdigung nichts mehr mit, denn die Welle setzt ein, als er bereits der geistigen Umnachtung anheimgefallen ist. Dann allerdings ist die Woge gewaltig, unter Literaten und unter Künstlern. Gottfried Benn urteilt stellvertretend für eine – seine – ganze Generation: „Er [Nietzsche] ist [...] der weitreichende Gigant der nachgoetheschen Epoche“4. Schließlich muss auch die akademische Philosophie von ihm Notiz nehmen, aber selbstreflektierend fragt sie: Sollte sie das überhaupt? Ist Nietzsche nicht nur ein „Modephilosoph“ (Heinrich Rickert), ein dekadenter, zerstörerischer Aphorismenschreiber, der anstatt zu argumentieren die Leser und Leserinnen mit einprägsamen Bildern überwältigt? Ist Nietzsche nicht vielmehr unter die Künstler und Dichter, wie Alois Riehl zu zeigen versucht,5 zu rechnen, und nur ein wenig, etwas nachhinkend sozusagen, unter die Denker?

Einige wie Ludwig Stein und Ferdinand Tönnies wünschen Nietzsches Einfluss zurückzudrängen, ihnen bangt vor den moralischen und politischen Implikationen, die sie durch Nietzsches Philosophie heraufbeschworen sehen. Ein Amoralismus breche sich in ihr Bahn, eine intellektuelle Zerstörungslust ohne Gleichen. Blind sei, wer nicht erkenne, dass diese Philosophie aufs Schärfste zurückgewiesen werden müsse.

Unter all den harten Vorwürfen wie moralische Verkommenheit, Geisteskrankheit, mangelnde Argumentationsstärke und kaum vorhandene Originalität findet sich auch derjenige von Nietzsches Anziehungskraft auf junge, emotionale und geistig noch nicht stark entwickelte Charaktere, also kurz gesagt – Jugendliche. Diese seien aufgrund ihres heftigen Wunsches nach eigener Genialität, wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit und unreifer Emotionalität besonders geeignet, von einer solchen Philosophie verführt zu werden. Obwohl der Vorwurf geistiger Verführung der Jugend gegenüber einem Philosophen fast so alt ist wie die Philosophie selbst, können wir uns tatsächlich fragen, ob es nicht etwas gibt, das Nietzsche gerade für Jugendliche anziehend macht und es unter Umständen rechtfertigen würde, dass die Herren und Damen Kollegen auch heute noch mit leichter Belustigung auf ihre werten Nietzscheforschenden blicken?

Wer etwas Nietzsche gelesen hat, wird nicht leugnen können, dass dieser in der Sprache der Eindringlichkeit spricht, dass er fordert und warnt, ihm auf seinen Gedankenwegen zu folgen, dass er Persönlichkeitsentwicklungen wie die der freien Geister beschreibt, die wie ein Abenteuer anmuten. Und abenteuerlich ist auch sein Vokabular, es geht auf Ab- und Seitenwege, in Dickichte, das Denken schifft auf hohem Meer, sucht nach neuen Ufern und unentdeckten Ländern, fliegt von Gipfeln in allertiefste Abgründe, ist auf der Jagd und muss befürchten, gejagt zu werden. Dieses Denken ist feuriges Dasein und fordert vom Adepten nichts weniger als das eigene Leben zu ändern, zumindest aber auf den Prüfstand zu stellen, denn „Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?“6 muss sich der Mutige fragen. Dabei bleiben die Metaphern unbestimmt, jeder muss selbst interpretierend eingreifen und deuten, was beispielsweise mit dem Appell zum Häuserbau am Vesuv7 gemeint sein könnte. Es gibt in Nietzsches Philosophie etwas Rastloses, etwas, das bloß nicht stillstehen will, eine Sehnsucht nach der Fremde und den eigenen Entdeckungen, die so groß ist, dass die Liebe zur bisherigen geistigen Heimat in Verachtung umschlagen kann: „Lieber sterben als hier leben“8. Es ist ein Aufbruch ins Ungewisse, das nur schillernd hin und wieder Hinweise darauf gibt oder zu geben scheint, was es ist: Ist es die „grosse Politik“9 oder doch ein Leben als Künstler? Geht es darum, die hiesige Kulturlandschaft zu revolutionieren oder um bloße Selbstgestaltung? Darum, das Glück im Moment oder in momentaner Ewigkeit zu finden oder nicht doch um das eigene Werk?

Und ist all das etwa nicht die perfekte Philosophie für Jugendliche? All das Drängen und Sehnen? Der Wunsch, auserwählt zu sein, eine „eigentliche“ Aufgabe zu haben, und immer die beredte Verachtung für die Behaglichkeit des sich Einrichtens in heimeliger Gemeinschaft, sprich die alltägliche Erwachsenenwelt, wo man sich abgefunden hat, pragmatisch ist und möglicherweise eine realistische, wir können aber auch sagen: ideallose, Selbsteinschätzung gewonnen hat. Und all das wird einem nicht in langer, trockener Abhandlung präsentiert, sondern in kleinen, sprachlich brillanten Häppchen. Man kann das Buch an beliebiger Stelle aufschlagen und sich einen eleganten Spruch einverleiben, da baut doch nichts aufeinander auf, da zielt es nirgendwo in Richtung eines Fazits. Und es fehlt auch die strenge Begriffsarbeit, welche die philosophischen Bücher so öde gestalten, keine zig Definitionen, keine faden Syllogismen. Fachtermini Fehlanzeige und die wenigen unverständlichen, weil beispielsweise lateinischen, Passagen kann man getrost überspringen. Es sind – auch auf die Gefahr hin, einige Nietzsche-Experten zu brüskieren, die behaupten, dass man ihn nicht verstehen könnte, ohne weitreichende Kenntnisse griechischer oder schopenhauerischer oder weiß der Geier welcher Philosophie – Bücher, die wirklich jeder lesen kann und jeder deuten darf. Sie setzen auch kein philosophisches Vorwissen voraus, aber geben ab und zu ein kleines Aperçu zu einem vorgängigen prominenten Denker zum Besten, sodass dem jungen Leser auch gleich die richtigen Vorurteile für sein weiteres Studium mit auf den Weg gegeben werden.

Vielleicht, so können wir gnädigerweise eingestehen, ist es ja ganz schön, wenn jemand durch Nietzsche seinen Weg zur steinigen Philosophie findet, aber was, wenn er dabei bleibt? Sollte man nicht irgendwann den Weg zu einem ernsthaften Philosophieren finden und den pathosgeladenen Ballast hinter sich lassen, sich nüchterner und gelassener mit den Themen auseinandersetzen und gar einen produktiven Beitrag leisten in einer humanitären Gesellschaft, auf die Nietzsche – entschuldigen Sie bitte – gespuckt hätte?

So leicht ist es mit der Bewunderung für Nietzsche allerdings nicht und war es auch schon als Jugendliche nicht. Es gab zu viele Thesen, die nicht nur leicht und spöttisch waren, es gab auch Passagen von triefender Verachtung für die Schwachen, die Mitleidigen, es gab die bösartigen Kommentare über Frauen und die Beschwörung von Führern, wie die Erde sie noch nicht gesehen hat10. „Bist du ein Nietzsche-Fan?“, hat man mich gefragt, als ich Jenseits von Gut und Böse las. Nein, denn es ist unmöglich, ein Nietzsche-Fan zu sein. Es ist zum einen unmöglich, weil es so viele gegensätzliche Thesen gibt, dass kritiklose Zustimmung einen nur in unauflösbare Widersprüche verheddert, die schwerlich zu ignorieren sind. Es ist zum anderen unmöglich, weil Nietzsche sich größte Mühe gegeben hat, nicht sympathisch gefunden zu werden, auch wenn er selbst anderes behauptet. Und es ist ihm gelungen. Nur wer kein Unbehagen bei der maßlosen Selbsterhöhung von Ecce Homo empfindet, keinen Widerwillen beim Sprechen über die „Missrathnen“11, keine Abneigung gegen den Schwulst eines von Tauben und Löwen geliebkosten Zarathustra12 kann in den Rang eines Nietzsche-Fans erhoben werden. Und das muss auch unter Nietzscheanern eine seltene Gattung sein. Ja, man wird angezogen von etwas, das dem eigenen Geschmack zusagt, das ein „Mehr von Leben“  verlangt – und dasjenige, von dem man abgestoßen wird, das gibt Rätsel auf. Welche Aussage von Nietzsche ist die wahre? Diejenige, die ich befürworte oder die, die ich ablehne? Was hat er „eigentlich“ gemeint? Man glaubt, Nietzsche sei der Philosoph der Leidenschaft? Weit gefehlt ... Wie sehr warnt er in Menschliches Allzumenschliches vor der Romantik, im Zarathustra vor der lächerlich-selbstbetrügerischen Projektionskraft der Dichter und Philosophen, wie häufig versucht er zu enttarnen, wie unsere Wünsche und Leidenschaften unser Denken deformieren und – krank machen. Man vergesse nicht: Voltaire, nicht Rousseau ist Menschliches Allzumenschliches gewidmet.  

Hinter jede Aussage über das, was Nietzsche eigentlich meinte, ist zunächst ein Fragezeichen zu setzen. Und mit der Frage beginnt das eigene Philosophieren. Was spricht dafür, dass Nietzsche es so meint und was dagegen? Was wünschst du dir selbst, wenn du Nietzsche so interpretierst? Wie würdest du dafür und wie dagegen halten?

Nietzsche wird nicht klarer mit der Zeit, nicht durchsichtiger. Er wird im Gegenteil immer vielfältiger, immer changierender, ambig. Was ist von einem Pastorensohn zu halten, der im Antichrist mitten in einer Tirade gegen das Schwache, das „Missrathene“, Christliche schreibt, dass jeder, der „Theologen-Blut im Leibe hat [...] von vornherein zu allen Dingen schief und unehrlich“13 stehe? Ist das eine Selbstwiderlegung, ist das Blut geistig zu verstehen, ist das verrückt? Oder spielt da jemand mit dem Leser? Ironisiert sich da jemand, der sich zuweilen als „Hanswurst“14  beschreibt?

Wer ist Nietzsche? Was ist seine Philosophie?

Er lässt einen nicht in Ruhe, er führt in ein Labyrinth, in dem es weniger um das Ergebnis eines Denkens geht als um die vielfältigen Bewegungsrichtungen und schließlich auch um die Sackgassen, die Fehlschläge, die Winkel.  

Man kommt dabei nicht umhin festzustellen, dass das ein oder andere verloren geht, an das man gern geglaubt hätte. Es kann passieren, dass zum Lachen reizt, was andere rührend oder erhebend finden, es kann auch sein, dass die Skepsis gelegentlich gegen sich selbst gerichtet wird bei den wärmenden Gefühlen der Anteilnahme und des Mitleids. Man kommt aus der Beschäftigung mit Nietzsches Philosophie nicht unbeschadet hinaus, aber möglicherweise mit mehr Perspektiven, einem weiteren Horizont und einer Fragwürdigkeit, die das Dasein spannender schillern lässt als jede Antwort, die zufriedengestellt hätte.  

Quellen

Benn, Gottfried: Doppelleben. In: Autobiographische und Vermischte Schriften Bd. 4. Wiesbaden 1977.

Riehl, Alois: Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker. Schutterwald 2000.

Fußnoten

1: Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche vom 16. 4. 1885.

2: Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 7.

3: Vgl. Brief an Georg Brandes vom 2. 12. 1887.

4: Benn, Doppelleben, S. 154.

5: Vgl. seine Monographie Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker von 1897.

6: Ecce homo, Vorwort, 3.

7: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, 283.

8: Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede, 3.

9: Vgl. etwa Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 1.

10: Vgl. Jenseits von Gut und Böse, 10.

11: Der Antichrist, 2.

12: Vgl. Also sprach Zarathustra, Das Zeichen.

13: Der Antichrist, 9.

14: Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 1.

Mit Nietzsche und Marx in die Erbstreitrunde

Über Jonas Čeikas "How to Philosophize with a Hammer and Sickle"

Mit Nietzsche und Marx in die Erbstreitrunde

Über Jonas Čeikas How to Philosophize with a Hammer and Sickle

26.4.24
Henry Holland

Nietzsche ist immer wieder Gegenstand politischer Deutungsprojekte geworden, von links wie von rechts. Nietzsche und Marx wurden immer wieder aufs Neue als Doppelgespann einer Konzeption umfassender Emanzipation jenseits der ausgetretenen Pfade der dominanten linkspolitischen Strömungen betrachtet. In seinem Buch How to Philosophize with a Hammer and Sickle. Nietzsche and Marx for The Twenty-First Century und in zahllosen Youtube-Videos aktualisiert Jonas Čeika diese Sichtweise für unsere Zeit. Henry Holland hat sich für Nietzsche POParts mit der Frage beschäftigt, was von diesem Ansatz zu halten ist.

Nietzsche ist immer wieder Gegenstand politischer Deutungsprojekte geworden, von links wie von rechts. Nietzsche und Marx wurden immer wieder aufs Neue als Doppelgespann einer Konzeption umfassender Emanzipation jenseits der ausgetretenen Pfade der dominanten linkspolitischen Strömungen betrachtet. In seinem Buch How to Philosophize with a Hammer and Sickle. Nietzsche and Marx for The Twenty-First Century und in zahllosen Youtube-Videos aktualisiert Jonas Čeika diese Sichtweise für unsere Zeit. Henry Holland hat sich für Nietzsche POParts mit der Frage beschäftigt, was von diesem Ansatz zu halten ist.

Jonas Čeika will „die Verhältnisse“ mit einem Mix aus zwei der einflussreichsten Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts „aufheben“, also die Gesellschaft grundlegend transformieren. Einige vergangene Autoren hatten solche Ambitionen. Dennoch hat seit langem kein linkspolitisches Philosophieren so hohe Wellen schlagen lassen. Das erkennt man an der sprachlichen Härte der Gegenschriften. Anfang 2024 konterte etwa Daniel Tutt mit seiner Darlegung How to Read Like a Parasite. Why the Left Got High on Nietzsche, die im selben Verlag, Repeater Books, erschien. Tutts gewöhnungsbedürftige Metapher ruft zu einem Eindringen in Nietzsches „Community“ auf, um dort eine Umdeutungsarbeit auszuführen (vgl. S. 331). Indem er die „Hermeneutik der Unschuld“ (ebd.) aus dem Werkzeugsatz verbannt und den Verdächtigen erneut vernimmt, will Tutt Nietzsches „wahre“ politische Anliegen als Hauptantrieb seines Denkens bloßlegen.

Diese hitzige Entwicklung ist Čeikas verdammt gutem Schreibstil und seinen populären Videos geschuldet, die beide Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Bevor ich auf Čeikas Entwurf eingehe, soll zuerst ein Abriss der vorherigen Geschehnisse in der gleichen Debatte folgen.

Als Seth Taylor 1990 Left-Wing Nietzscheans. The Politics of German Expressionism 1910-1920 herausbrachte, war der Streitgegenstand die vorgeworfene Nähe zwischen Nietzsche, den Denkern der „Konservativen Revolution“ und faschistischer Ideologie überhaupt. Taylor kritisierte darin extreme Formen dieser Genealogie, Georg Lukács’ Die Zerstörung der Vernunft (1954) zum Beispiel, welche Nietzsche als geistigen Mitverursacher des Faschismus charakterisierte. Substantieller war Steven Aschheims The Nietzsche Legacy in Germany, 1890-1990 (veröffentlicht 1992), der Lukács’ Angriff auch nicht auswich. Aschheim hielt Lukács’ Verdammung von Nietzsche für eine „antimodernistische“ (S. 42) – was auf die Ignoranz gegenüber dem Zeitgeist in Lukács’ Volten gegen den Expressionismus abhebt. Dennoch lehnen sich jüngere Kritiker wie Daniel Tutt noch stark an Lukács’ Zerstörung an und erheben erneut Anklage. Nietzsche, so diese Kontrahenten, könnte allzu leicht von Rechten zum Vordenker des Faschismus umgeschmiedet werden, und hat auch bewusst den geschichtlichen Vorgänger des Faschismus verteidigt: Eine „bonapartistisch-liberale Herrschaftsordnung“ – so Tutt (S. 34) –, welche „konzipiert“ wurde, um „Aufruhr von unten“, also vor allem von den sozialistischen Bewegungen, „zu maßregeln“ (ebd., S. 42).

In den 2020er Jahren angekommen, treten bei Čeika neue Beweggründe für das aufgeladene Gespräch ans Licht. Das Freiheitsraubende der Lohnarbeit und der Arbeitsteilung wird wieder sichtbarer, die Verpuffung vieler unserer politischen Handlungen auf bürokratisierten Seitengleisen spürbarer. Gleichzeitig wollen wenige sich als „links“ identifizierende Menschen an den Grundkoordinaten ihres kollektiven Denkens und Handelns rütteln. Čeika möchte deshalb den Denker, „der die Kategorien der Moderne als Ganze überwinden will“ (Hammer and Sickle, S. 4) – Karl Marx – neu sprechen lassen. Nietzsche soll „benutzt werden, um den Marxismus auszugraben“ (ebd.), samt seinen ignorierten oder absichtlich verzerrten Elementen. Beim Plädoyer für einen nietzscheanischen Marxismus geht es darum, „das menschliche Element wiederherzustellen – aktive menschliche Wesen, ihre gelebte Erfahrung, und die persönlichsten ihrer Belange“ (ebd.).

Philosophie des Seins gegen Philosophie des Werdens

Überhaupt bietet Čeikas Buch eine informierte und feurige Einführung in die faszinierendsten und folgenschwersten Konzepte und kritischen Gedanken Friedrich Nietzsches: den „Sklavenaufstand“, die Unmöglichkeit einer einzigen, objektiven Wahrheit und die „ewige Wiederkunft“, um nur drei exemplarisch zu nennen. Philosophiegeschichtlich leitet Čeika seine zwei Protagonisten ein, indem er ihre gemeinsame Wurzel in „der langen philosophischen Tradition des Werdens“ (ebd., S. 27) identifiziert, die „mindestens“ (ebd.) auf Heraklit (geb. um 520 v. Chr.) zurückgeht. Diese Tradition zelebriert er als „lebensbejahende“ und stellt sie als antagonistisch zu „der lebensvereinenden Tradition in der Philosophie“ (ebd.) – in diesem Modell: die Philosophie des Seins –, dar. Letztere schließt Platon mit ein, reicht aber „mindestens“ bis zu Heraklits Zeitgenossen Parmenides zurück. Von diesen beiden parallelen Anfängen her fließen beide Strömungen durch die westliche Philosophie wirksam bis heute fort. Dieses schlichte Schema ist plausibel und sicherlich eine willkommene Orientierung für Neuankömmlinge in der Philosophiegeschichte. Solche haben Čeikas Buch bereits zuhauf gelesen, viele davon wurden darauf über seinen gut besuchten Philosophie-Kanal auf Youtube aufmerksam. Aber vor allem die moralische Wertung der zwei Strömungen – Philosophie des Werdens = progressiv, die Gesellschaft verändernd; Philosophie des Seins = boshaft, reaktionär – kann so nicht stehen bleiben. Wo sollte zum Beispiel Carl Schmitt (1888-1985) eingeordnet werden, der die nationalsozialistische Machtergreifung philosophisch untermauerte und den fortschreitenden Umsturz der westlichen Demokratien unterstützte?

Das ändert aber nichts an die Gültigkeit von Čeikas Kritik an der Philosophie des Seins, die er am Beispiel Platons ausführt, und an die Überzeugungskraft von Čeikas Porträt Nietzsches als den Philosophen „der einzigen Welt, die wir wahrhaft kennen – die sich stets verändernde, die wir durch unsere Sinne erfahren“ (ebd., 26). Weg mit Platons „ewiger Welt der [außersinnlichen; HH] Formen“ (ebd., S. 26) als „wahre“ (ebd.) Grundlage der Realität! Aber Čeika meint damit sicherlich nicht, dass große historische Umbrüche, von denen wir mehrheitlich Kenntnisse nur aus Überlieferungen und nicht von unseren Sinnen her haben – China während der sog. „Kulturrevolution“ zum Beispiel – kein Gegenstand einer Philosophie des Werdens sein sollen. Gelegentlich steht die rühmliche Lust des Autors auf affektvolle Formulierungen ihm selbst im Weg. Insgesamt geht er jedoch mit begrifflicher Schärfe vor.

Eng hiermit verbunden, rückt Čeika Nietzsche, mittels seiner Biographie, als Philosoph des (menschlichen) Körpers in den Vordergrund: „Lasst uns uns daran gewöhnen, Philosophen von ihrer Symptomatik her zu lesen: Das Leiden und Kranksein, das Nietzsches ganzen Körper einnahm, zwang ihn dazu, dem Körperlichen unentrinnbar bewusst zu sein.“ (Ebd., 24.) Was Nietzsches unvermeidliche Obsession mit dem eigenen Körper lehrt, ist aber ambivalenter. Einerseits bieten die durch den Körper empfundenen Vergnügungen und auch Schmerzen, aus denen heraus Nietzsche seine Philosophie schreibt, einen für viele nachvollziehbaren Zugang: Von dort aus können Leser seine kniffligeren Konzepten dann individueller, sprich auf für sich bedeutungsvollere Weise begreifen.

Es gibt andererseits Schlüsselereignisse und Prozesse im Körperleben, welche ein Philosoph des Körpers nicht ignorieren kann: Sex und Sexualität stehen hier oben auf der Liste. Wie hat dann aber Nietzsche Sexualität empfunden und reflektiert? Hierzu sagt Čeika wenig, obwohl es Einiges zu berichten gäbe. So sprach sich Nietzsche beispielsweise für  Sexualkunde für Frauen vor der Ehe aus, also gegen das übliche Tabuisieren des Themas, um ein Leiden am Sex nach der Eheschließung zu vermindern.2 Neben solchen zu bejahenden Stellen gibt es aber auch diejenigen, die zur Eugenik neigen, und von einem Ekel vor heterosexuellen Sex zeugen. In den Nachgelassenen Fragmenten vom Herbst 1881, Nr. 14[16], will der Autor etwa, dass „[d]ie Erlaubniß, Kinder zu zeugen“ als „eine Auszeichnung verliehen werden“ sollte, um dadurch dem „so üblichen geschlechtlichen Verkehre der Charakter eines Mittels der Fortpflanzung“ zu nehmen.

Trotz der vielen Fragezeichen, die Werk und Leben hervorrufen, stellt Čeika Nietzsches Heterosexualität nicht in Frage und erzählt zugleich, wie Nietzsches Suche nach einem „erfolgreichen Liebesleben“ (57) gescheitert ist – ein unnötiger Euphemismus. Joachim Köhlers Alternativgeschichte – Zarathustras Geheimnis –, die seit 1989 deutschsprachig vorliegt und 2002 in englischer Übersetzung erschien (allerdings stark verkürzt), argumentiert allerdings, dass Nietzsche homosexuell war und auch homosexuelle Erfahrungen mit Sexarbeitern in Italien gesammelt hatte. Selbst wenn Köhlers Verständnis wenig Anklang unter Nietzscheanern weltweit gefunden hat, sagt das wiederum, aus Charles Stones queerer Perspektive gesehen, mehr über diese Gelehrtengattung aus, als darüber, wen und wie Nietzsche sexuell geliebt hat. Stones begründetes Schimpfen auf „die Hysterie des prüden Nietzsche-Establisments“, das „seit Jahrzehnten versucht hat, jegliche Diskussion des Philosophens Männer-Liebe zu ersticken“ – veröffentlicht 2018 in The Gay & Lesbian Review – könnte noch einige Leser dazu bewegen, Köhlers Thesen erneut zu erwägen.

Walter Kaufmanns listige Übersetzungen

Es ist Čeikas Verdienst, wie sich sein Buch intuitiv von einem Thema zum nächsten fortentwickelt: Beinahe ist es ein Schmöker – wir wollen wissen, wie es ausgeht! Seiner Behandlung des umstrittenen „Willens zur Macht“ wird die Frage vorangestellt, wie, nach der großen „Popularität Nietzsches bei den Linken“ (Hammer and Sickle, S. 185) bis in die 1930er Jahre, Nietzsche in einen „Nazi-Held“ (ebd.) umwandelt werden konnte. Čeika skizziert die Rezeptionsgeschichte eher als diese allumfassend zu beschreiben, so dass wir nicht explizit erfahren, wie die rechte Rezeption bereits während des Ersten Weltkrieges begonnen hat. Diesen Rechtsruck stellt Čeika in Beziehung zum Buch Der Wille zur Macht, erschaffen von Nietzsches entsprechend orientierter Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche, und nicht von Nietzsche selbst (vgl. ebd., S. 186.) Er weist auch auf Mazzino Montinaris archivarische Forschung hin, welche Montinari zu folgendem Diktum veranlasst hat: „Den Willen zur Macht gibt es Nicht.“ (Ebd., S. 187.)

Diese quellenlose Stelle Čeikas nimmt vermutlich Bezug auf Montinaris „La Volonté de puissance“ n’existe pas (1996): Ein klares Signal, dass Čeika auch nichts von Nietzsches Urheberschaft eines solchen Werkes hält. Dennoch zitiert er im gesamten Buch nicht weniger als sieben Mal aus dem amerikanischen Buch The Will to Power und gibt Nietzsche als Autor und Walter Kaufmann und R. J. Hollingdale als Übersetzer, jedes Mal in den Endnoten, an. Čeika vernebelt die Sache weiter, indem, gegen die gängige wissenschaftliche Praxis, nicht 1968, das Jahr der ersten Ausgabe von Kaufmanns und Hollingdales erfolgreicher Übersetzung, sondern 1901 als Veröffentlichungsjahr angegeben wird: Das Erscheinungsjahr von Förster-Nietzsches ehrgeizigem Werkklau. Und obwohl Čeika gegen Kaufmans Deutung von Nietzsche als „einem im Wesentlichen nicht-politischen Denker“ (Hammer and Sickle, S. 171) spricht, setzt er diese Verzerrung nicht in Verbindung mit Kaufmans übersetzerischer Praxis. Daniel Tutt dagegen geht auf diese ein und findet, dass Kaufmann, „der am meisten gelesene englischsprachige Übersetzer Nietzsches“ (How to Read, S. 31), Nietzsche absichtlich verfälscht hat: „Wörter und Betonungen bezüglich seiner [Nietzsches; HH] Befürwortung des Sklaventums wurden entfernt; sein Hass gegen den Sozialismus und die Arbeiterklasse und seine geistige Umarmung einer Gesellschaft, die auf eine aristokratische Rangordnung fußt, wurden alle abgemildert und heruntergespielt.“ (Ebd., S. 30.) Tutt liefert auch Belege für seine Kritik, mit einem Blick etwa auf Kaufmans Übertragung folgender Stelle aus Ecce homo, Die Geburt der Tragödie, Abs. 4: „Jene neue Partei des Lebens, welche die grösste aller Aufgaben, die Höherzüchtung der Menschheit in die Hände nimmt“. Kaufmann verharmlost diese Passage bewusst, indem er die „Höherzüchtung der Menschheit“ – semantisch starker Tobak –, als das einschläfernde „to raise humanity higher“ (zit. n. Tutt, How to Read, S. 146) wiedergibt.

Die Fülle und er Übermensch

Es kommt einem so vor, als ob Čeika bei einigen verheerenden Stellen in Nietzsches Werk wegschauen will, um seine eigenen Erzählstränge nicht abzuschwächen. Gleichwohl bieten diese Stränge tatsächlich neue Einsichten. So etwa, wenn Čeika aufmerksam auf die Verbindung zwischen Nietzsches Konzepten des „Übermensch“ und der „Fülle“ macht und den Übermenschen als „großzügig aus Fülle“ porträtiert. Er will der hartnäckigen Karikatur von Nietzsches fast bekanntester Figur als einer, der „menschliches Leid egal ist“ (Hammer and Sickle, S. 233), ein Ende setzen. Dabei stützt er sich auf folgende Passage in Jenseits von Gut und Böse, Aph. 260:

Im Vordergrunde [des vornehmen Menschen; HH] steht das Gefühl der Fülle, der Macht, die überströmen will, das Glück der hohen Spannung, das Bewusstsein eines Reichthums, der schenken und abgeben möchte: – auch der vornehme Mensch hilft dem Unglücklichen, aber nicht oder fast nicht aus Mitleid, sondern mehr aus einem Drang, den der Überfluss von Macht erzeugt.

Čeikas Diskussion macht deutlich, dass es sich hier nicht um die Macht handelt, die von bestimmten Staaten der 2020er Jahre, und vorheriger Generationen, verwaltet wird, welche schutzlose Zivilbevölkerungen, ob durch kulturelle Repression, Bombenangriffe oder Hungerpolitik, in Elend sterben und aussterben lassen kann. Wenn Nietzsche vielmehr statt im Deutsch des 19. im Englischen des 21. Jahrhunderts über Macht geschrieben hätte, wäre ihm besser damit gedient gewesen, sich auf den Begriff der „agency“ statt auf denjenigen der „power“ bzw. „Macht“ zu fokussieren. Die Intervention dieses zentralen Gedankens der zeitgenössischen englischsprachigen Philosophie – der sich nur schwerfällig ins Deutsche übersetzen lässt; ‚Handlungsvermögen‘ ist die beste mehrerer unbefriedigender Optionen –, könnte die Debatte um Nietzsches Politik der Macht ganz anders aussehen lassen. Auch nach Čeikas Nietzsche-Verständnis wird Handlungsvermögen von „vornehmen Menschen“ (neuzeitlich: „zu bedeuteten Handlungen fähigen Menschen“) auf die „Unglücklichen“ (neuzeitlich: „in ihren Handlungen stark eingeschränkten Menschen“) übertragen, vor allem aus einem „Überfluss von Agency“ bei den erstgenannten heraus.  

Youtube-Community mit Handlungsvermögen

Tutt betrachtet Nietzsches Bemühungen darum, mittels seiner Veröffentlichungen eine globale Community aufzubauen, die mit seiner Philosophie in die Zukunft wirken würde, als unheilvoll – und seine Anhänger vor allem als geprellt von dem sie anführenden Propheten-Philosoph. Jonas Čeika hat über die letzten sechs Jahre hinweg mit großer Resonanz seine Community auf Youtube aufgebaut – ohne erkennbare böse Absichten. Einige seiner älteren Videos, die bereits seit vier Jahren oder länger zur Verfügung stehen, wurden fast eine halbe Million Mal angeklickt, seine Analyse des Spätkapitalismus anhand von „K-Pop“ (koreanischsprachige Popmusik) sogar über eine Million Mal. Die riesige Arbeitsleistung des Schreibens und der Herstellung dieser Bildungsfilme lässt Čeika zum Teil über Abonnenten finanzieren, welche monatlich seine Community unterstützen. Abonnent muss man aber nicht sein, um auf alle Videos zuzugreifen. Sehr hat Čeikas tiefe Begeisterung für Popkultur, vor allem für Filme, ihm dabei geholfen, sein pädagogisch-philosophisches Programm über Youtube zu vermitteln. Parallel zu Čeikas theoretischen Einführungen in den Postmodernismus, in denen Čeika ihn gekonnt gegen Halbwahrheiten der intellektuellen Influencer Jordan Peterson und Stephen Hicks verteidigt, ist zum Beispiel auch eine postmodernistische Kritik des Films bzw. Buches American Psycho zu sehen. Da sich das Ausmaß von Nietzsches anhaltendem Einfluss auf als postmodernistisch verstandene Denker nicht verleugnen lässt – es geht Čeika hier u. a. um Lyotard, Baudrillard, Derrida und Richard Rorty –, schließt sich erstmal der Kreis. Oder tauchen eher alte Kreise in neuen Gewändern wieder auf, um uns mit unserer Beteiligung an der ewigen Wiederkunft neu zu konfrontieren?

Quellen

Aschheim, Steven: The Nietzsche Legacy in Germany, 1890-1990. Berkely 1992.

Čeika, Jonas: How to Philosophize with a Hammer and Sickle. Nietzsche and Marx for The Twenty-First Century. London 2021.  

Köhler, Joachim: Zarathustras Geheimnis. Friedrich Nietzsche und seine verschlüsselte Botschaft. Nördlingen 1989.

Lukács, Georg: Die Zerstörung der Vernunft. Berlin 1954.

Montinari, Mazzino: „La Volonté de puissance“ n’existe pas. Übers. v. Patricia Farazzi & Michel Valensi. Paris 1996.

Stone, Charles: The Case of Nietzsche. In: The Gay and Lesbian Review. September/Oktober 2018. Abrufbar unter: https://glreview.org/article/the-case-of-nietzsche/.

Taylor, Seth: Left-Wing Nietzscheans. The Politics of German Expressionism 1910-1920. Berlin 1990.

Tutt, Daniel: How to Read Like a Parasite. Why the Left Got High on Nietzsche. London 2024.

Henry Holland (geb. 1975) ist Literaturübersetzer, aus dem Deutschen ins Englische, und lebt in Hamburg. Darüber hinaus schreibt und forscht er zur Ideen- und Kulturgeschichte und veröffentlichte 2023 zu Ernst Bloch und Rudolf Steiner in German Studies Review. Zusammen mit dem Religionswissenschaftler Aaron French (Universität Erfurt), arbeitet er an einer kritischen, englischsprachigen Steiner-Biographie. Mehr zu Hollands wissenschaftliche Arbeit und Kulturpolitik erfährt man auf seinem Blog, German books, reloaded, oder in Print-Zeitungen. Er ist Mitglied im Hamburger writers’ room: Der Arbeitsraum für literarisch Schreibende in Europa.

Fußnoten

1: Hier wie auch im Folgenden habe ich Zitate aus englischsprachigen Büchern selbst ins Deutsche übersetzt.

2: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 71.

Was bedeutet mir Nietzsche?

Was bedeutet mir Nietzsche?

15.4.24
Christian Saehrendt

Unser Stammautor Christian Saehrendt berichtet in seinem Beitrag zur Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ davon, wie er Nietzsche als Jugendlicher entdeckte und sich seitdem als Fan des Philosophen betrachtet – gerade wegen seiner Widerborstigkeit.

Unser Stammautor Christian Saehrendt berichtet in seinem Beitrag zur Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ davon, wie er Nietzsche als Jugendlicher entdeckte und sich seitdem als Fan des Philosophen betrachtet – gerade wegen seiner Widerborstigkeit.

Im Alter von sechzehn, siebzehn Jahren wurde ich Nietzsche-Fan – das ist das Alter, in dem man unbedingt Fan von irgendetwas oder irgendwem sein will, Fan im Sinne einer oberflächlichen Bewunderung und eines demonstrativen Bekenntniswillens. Von Nietzsche hatte ich damals nur eine vage Vorstellung als einer düsteren, schillernden und alles in allem etwas unheimlichen Figur. In dieser Hinsicht passte Nietzsche zu meinem Faible für Spuk- und Gruselgestalten, für Horror, musikalischen Hardcore und diverse „Monsters of Rock“. Mich näher und systematischer mit Nietzsches Werk zu befassen – dazu fehlte mir damals die intellektuelle Disziplin und letztlich auch der Wille: denn möglicherweise will man als jugendlicher Fan seinen Idolen auch gar nicht zu nahe kommen. Vielleicht will man sie lieber in unerreichbarer Ferne sehen oder als nebulöse Projektionen eigener juveniler Größenideen kultivieren? Und auch Nietzsche war ein gewisser Abstand zu den Fans wichtig: „Man muss sich zu verdunkeln verstehen, um die Mückenschwärme allzu lästiger Bewunderer loszuwerden“1, notierte er dazu.

Das Buch aus der Abstellkammer

Gut, Friedrich-Nietzsche-Starschnitt-Poster hatte ich nicht in meinem Dachschräge-Jugendzimmer, aber als Nietzsche-Fan würde ich mich dennoch bezeichnet haben. Seine nicht selten großmäulig und anmaßend wirkenden Aphorismen imponierten mir als „Halbstarkem“, seine Philosophie schien wie gemacht für alle, die an den Autoritäten zweifeln – an Eltern, Lehrern, Priestern. Junge Menschen müssen dies ja tun, um überhaupt zu einer eigenständigen Persönlichkeit reifen zu können, Widerspruch und Zweifel sind prinzipiell gut und notwendig. Allerdings hat die Auflehnung und Abnabelung eine Kehrseite: Selbstzweifel, Einsamkeit, Traurigkeit. Man sehnt sich nach Seelenverwandten, nicht immer sind diese zur Hand, also kommt die Fantasie ins Spiel. Im Vorwort zu Menschliches, Allzumenschliches schrieb Nietzsche:

So habe ich denn einstmals, als ich es nötig hatte, mir auch die freien Geister erfunden[.] […] [D]ergleichen freie Geister gibt es nicht, gab es nicht – aber ich hatte sie damals zur Gesellschaft nötig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, Acedia, Untätigkeit): als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen man schwätzt und lacht[.]2

Das ist ein genuin künstlerisches Konzept, welches mir aus meiner Jugend aus eigenem Erleben, wenn auch in milder Variante, bekannt vorkommt: Die Flucht in eine Kunstwelt, welche allerdings an der Grenze zur Wahnwelt angesiedelt ist, wenn man sich zu tief hinein begibt. Man erfindet sich Charaktere, ebenbürtige Freunde, erträumt sich eine Gemeinschaft Gleichgesinnter. So lässt sich Isolation und Ohnmacht ertragen, allerdings nicht auf Dauer, sondern nur als Phase der Latenz, bis der echte Ausbruch stattfindet, bis die Suche nach realen Geistesverwandten und Kampfgenossen beginnt. Es ist ein bekanntes Phänomen in der späten Phase der Pubertät: Nun entfaltet sich das Selbstwertgefühl, schießt allerdings manchmal über das Ziel hinaus. In der Folge macht sich Selbstüberschätzung bis an die Grenze zum Größenwahn bemerkbar. Ein Phänomen, das sich offenbar evolutionär bewährt hat, weil es Mut und unter Umständen mitreißenden Enthusiasmus hervorbringt. Man wähnt sich ungemein stark, schön, unwiderstehlich, geistreich und visionär in diesem Zustand – im Idealfall der Naturzustand aller Künstler und Künstlerinnen. Jugendliche und Künstler verbindet also einerseits die rauschhafte Selbstüberschätzung im Moment, wenn sie sich spüren, wenn sie ihre Selbstwirksamkeit feststellen, sei es im Körperlichen, sei es im Geistigen, Schöpferischen. Andererseits kennen beide auch das Gefühl des Unverstandenseins, des Verkanntwerdens. Nietzsche brachte diese Ambivalenz auf den Punkt:

Der künstlerische Genius will Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so fehlen ihm leicht die Genießenden; er bietet Speisen, aber man will sie nicht, seine Pfeife tönt, aber niemand will tanzen. Kann das tragisch sein? Vielleicht doch.3

Wäre Nietzsche noch am Leben und würde Lesereisen mit Stationen in diversen Thalia- oder Orell-Füssli-Filialen machen, würde ich hineilen und ihm ein bestimmtes Buch mit der Bitte um ein Autogramm vorlegen. Es handelt sich um eine Taschenbuchausgabe von Menschliches, Allzumenschliches aus der Reihe Goldmanns Gelbe Taschenbücher, erschienen in München 1960. Ich entdeckte es 1985 in einem entlegenen Regal in meinem Elternhause, auf einem Bücherfriedhof, wo sich Ausgelesenes oder nie Gelesenes ansammelte. Meine Eltern kauften es Anfang der 1960er Jahren in der besten Wirtschaftswunderzeit, als sich mit dem Abklingen der legendären Fresswelle ein intellektueller Hunger bemerkbar machte, bzw. als Bildung und Bücherborde zum Statussymbol wurde. Meine Eltern sprachen nie über Philosophie, Nietzsche war kein Konversationsthema bei uns. Das Buch muss also aus Bildungsbeflissenheit oder als Geschenk in unseren Haushalt gelangt sein. Ich nahm es aus dem Regal, es wirkte ungelesen, obgleich das billige Papier schon bräunlich verfärbt war. Ich las darin und behielt es bis heute. Es ist kein Prachtband, kein haptisches oder optisches Erlebnis. Ich würde Nietzsche heute ein sichtlich preiswertes Buch zur Signatur vorlegen, der Einband ist etwas berieben und bestaubt, ein seltsam bunt-psychedelisches Covermotiv würde ihm entgegenleuchten, einzelne Seiten sind rissig und lösen sich aus der Klebebindung, eingeknickte Seitenecken, sogenannte Eselsohren, drohen abzubrechen. Der Buchrücken fehlt und ist durch braunes Paketklebeband ersetzt. Im Buch finden sich zahlreiche, von meiner Hand markierte Textstellen, Bleistift und Kugelschreiber kamen hastig unterstreichend zum Einsatz, wilde Malereien neonfarbiger Textmarker, passagenweise schon wieder zu Rosé, Mintgrün und Neapelgelb verblasst, Spuren einer unsystematischen, diskontinuierlichen und sprunghaften, aber doch zugleich aufwühlenden Lektüre!

Nietzsche ist schuld, dass ich Künstler werden wollte.

Nietzsche galt und gilt als Anwalt der Kunst und eines dionysischen künstlerischen Lebensstils – auch wenn er selbst wohl eher davon träumte, als ihn zu praktizieren. Als Partylöwe war er ja nicht bekannt gewesen. Von extrovertierter Ruhmsucht und intrinsischer Schaffensfreude abgesehen, war es aber auch der künstlerische Lebensstil an sich, der Menschen zur Kunst lockte. Bohemiens und Freigeister, Künstlerkolonien und Lebensreformbewegung standen seit Beginn der Moderne für einen alternativen Way of Life. „Künstler werden“ verhiess eine Fluchtmöglichkeit aus spießiger Enge, provinziellem Mief, militärischem Drill und bürokratischer Routine. Nietzsche wurde damals populär als Säulenheiliger der Künstler und aller, die es gerne wären. Seit gut 150 Jahren haben seine Schriften Menschen für die Kunst begeistert – und gerade aus der Mittelschicht und aus dem Kleinbürgertum fühlten sich viele angesprochen. Ich gehörte auch dazu. Nietzsche zählte zu den Inspirationsquellen, die mich dazu brachten, das Hobby zum Beruf machen zu wollen, im Glauben an meine „Genialität“ in Hamburg an einer Kunstakademie zu studieren und später in Berlin einige Jahre als bildender Künstler zu leben. Einmal griff ich auch zum Pinsel, um den Philosophen selbst zu malen – in einem Bett liegend, das ihm seine Schwester zusammengeschraubt hätte.

Christian Saehrendt, Das Bett hat seine Schwester zusammengeschraubt, Öl auf Leinwand, 100cm x 100cm, 2000, Privatbesitz.

Heute erscheint es mir, als sei ich in meiner Nietzsche-Begeisterung ein Nachzügler gewesen. Wir wurde klar: Heutige Künstler beschäftigen sich eher selten mit Nietzsche. Mehrere Gründe sind meines Erachtens dafür ausschlaggebend. Zunächst das gewandelte Selbstverständnis dieses Berufsstandes: Die Verklärung Nietzsches als Apostel eines heroischen und größenwahnsinnigen Künstlertums ist passé. Damals boten seine Schriften die ideale Legitimation für das neue Selbstverständnis von Avantgardekünstlern, die keinerlei traditionellen Autoritäten mehr über sich dulden wollten. Nietzsche galt einerseits als Kronzeuge des befreiten, schöpferischen Individuums, andererseits als Stichwortgeber eines elitären (und potenziell) totalitären Weltverbesserertums: Der Künstler als voranschreitender Herold der Zukunft, der Künstler als Demiurg. Die ästhetischen Moderne befand sich in jenem „Zeitalter der Extreme“ permanent im Spannungsfeld von Totalitarismus und Demokratie, sie schwankte zwischen einer Aristokratie des Geistes und kollektivistischen Gesellschaftsvisionen. Heutige Künstler meiden hingegen Pathos und Allmachtsphantasien, um nicht zu narzisstisch zu wirken. Nietzsche beeindruckte damals viele Künstler durch seine Wissenschafts- und Rationalitätskritik. Einer verknöcherten und menschenfeindlichen Rationalität setzte er die Kunst als letztes im Nihilismus der Gegenwart noch wirkendes „Stimulans des Lebens“4 entgegen. Dies mag grundsätzlich für jeden Künstler schmeichelhaft und annehmbar wirken, trotzdem wirkt es heute unzeitgemäß, da viele Künstler gerade den Schulterschluss zur Wissenschaft suchen: Statt zum dionysischen Rausch drängt es sie zur drögen „künstlerischen Forschung“, zur bürokratischen Drittmitteleinwerbung und Projektförderbeantragung. Zeitgenössische Künstler gelten nunmehr als sogenannte Schnittstellenakteure, die zwischen Kunst und Wissenschaft, Ästhetik, Technik und Konsum vermitteln und dabei weitgehend behördlichen und wissenschaftlichen Autoritäten gehorchen, um „das Klima zu retten“ oder „queere“ und „postkolonialistische“ Statements zu produzieren. Heutige Künstler müssen immer an Sponsoren, Kunden und Konkurrenten, an neue Märkte und Moden denken. Sie sind oftmals Meister im Erkennen neuer Konsummuster und gesellschaftlicher Trends. Nietzsche wäre nicht mehrheitsfähig bei heutigen Jurys, Förderinstitutionen und Sponsoren – deshalb macht die Kunst einen Bogen um ihn.

Ein wichtiger Grund dafür liegt darin, dass Nietzsche nicht zum Kanon linker Denker gehört. Paul Stephan hat darauf verwiesen, dass Nietzsche für Linke kaum zu vereinnahmen ist, weil er von der Ungleichheit der Menschheit überzeugt war, und geradezu von einer gesellschaftlichen Notwendigkeit sozialer Ungleichheit ausging.5 Stattdessen steht Nietzsche in Mitteleuropa noch immer unter dem Generalverdacht, Pate rechtsextremen Gedankengutes zu sein. Ihn als „Hausphilosophen“ der Neuen Rechten oder der AfD zu definieren, darf aber eher als journalistisches Vorurteil gelten.6 Nietzsche lässt sich laut Andreas Urs Sommer aber durchaus „als politisch unkorrekter Denker“ beschreiben: „Er stellt ganz fundamentale politische Selbstverständlichkeiten, etwa die Gleichheitsvorstellung, die wir vom Menschen haben, er stellt die Werte der Französischen Revolution und auch der Aufklärung, die dieser Revolution vorangeht, infrage.“7

In einem seltsamen Fanclub. So what?

Um dieses ambivalente Verhältnis der heutigen Gesellschaft gegenüber Nietzsche zu verstehen, schauen wir einmal, welche VIPs sich öffentlich zu Nietzsche bekennen. Wer besucht beispielsweise sein Grab in der Gedenkstätte Röcken bei Leipzig, welche prominenten Kulturmenschen und Politiker lassen sich hier sehen? Es sind nur wenige. In den 1990er Jahren der damalige Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Reinhard Höppner (ein protestantisch geprägter und kirchlich engagierte SPD-Politiker), Joseph Fischer (DIE GRÜNEN, damals Außenminister auf Wahlkampftour) und Wolfgang Wagner (Enkel von Richard Wagner und damals Leiter der Bayreuther Festspiele). Auch sonst geben sich nur wenige Prominente als Nietzsche-Leser zu erkennen, der frühere Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen bildete hier eine Ausnahme. Während seiner Dienstzeit liess er im Arbeitszimmer eine Kopie von Edvard Munchs Nietzsche-Porträt aufhängen und zeigte sich rückblickend enttäuscht, dass viele Besucher, vor allem Politiker, den Philosophen nicht erkannt hatten.8 In Mitteleuropa und dort vor allem in den linksliberalen Milieus des Kulturbetriebs weithin gemieden, findet Nietzsche hingegen in Asien und Amerika mehr Beachtung, zum Beispiel in China, wo eine erste Nietzsche-Rezeptionswelle schon in der Reformphase des Jahres 1978 zu beobachten war,9 und in Südamerika konnte man in den letzten Jahren geradezu von einem Nietzsche-Boom sprechen. Im Jahr 2014 kontaktierte der Träger des „Leipziger Buchpreises für europäische Verständigung“, Pankaj Mishra, auf eigenen Wunsch die Gedenkstätte in Röcken. Mishra, der in seinen Büchern mit antidemokratischen Ressentiments kokettiert und über den baldigen „Niedergang des Westens“ frohlockt, bat sich aus, am Grab zehn Minuten lang alleine verharren zu dürfen. 2016 folgte ein merkwürdiger Auftritt des damaligen Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalts, Rainer Haseloff (CDU), der sich auf Wahlkampftour an Nietzsches Grab blicken liess – in Begleitung der Bild-Zeitung. 2018 pilgerte der russische Oligarch Vitaly Malkin nach Röcken, um sich dort zu Nietzsche zu bekennen und sein Buch Gefährliche Illusionen zu bewerben. Die deutsche Presse spekulierte über seine Motivation: „Ist Malkins Buch eine größenwahnsinnige Methode, sich selbst ein Denkmal zu setzen? Ergänzend zu Yacht, Luxuswohnung, Familienstiftung? Und: Warum genau liebt dieser reiche Russe ausgerechnet Nietzsche so sehr?“10 Nietzsche umgibt also noch immer eine Aura des Unheimlichen. Dazu trägt die Tatsache bei, dass es oftmals etwas merkwürdige Menschen sind, die sich offen zu Nietzsche bekennen. Man trifft im Nietzsche-Fanclub also mitunter auf seltsame Gesellschaft, auch wenn man dies dem Philosophen kaum anlasten kann. So wurde Nietzsche gelegentlich von nihilistischen Gewalttätern als Pate aufgerufen, etwa von den Highschool-Attentätern von Columbine: „Ich liebe einfach Hobbes und Nietzsche“11. Oder von dem norwegischen Massenmörder Anders Breivik. In seinem Manifest 2083 – Eine europäische Unabhängigkeitserklärung erwähnt er Nietzsche an zehn Stellen.12 Auch die Häufung von Nietzsche-Zitaten und Bezügen in der gewaltbesessenen Black-Metal-Szene Norwegens passt in dieses Muster.13 Wenig beruhigend wirkt in diesem Zusammenhang, dass auch die frühere amerikanische Box-Legende Mike Tyson sich seit einigen Jahren zu Nietzsche bekennt: „Most philosophers are so politically incorrect – challenging the status quo, even challenging God. Nietzsche’s my favorite. He’s just insane. You have to have an IQ of at least 300 to truly understand him.“14 Zugegebenermaßen befinde ich mich als Nietzsche-Fan in seltsamer Gesellschaft. Und doch kann ich aus vollem Herzen sagen: Ich hatte damals den richtigen Instinkt. In meinem Fan-Dasein fühle ich mich bis dato voll bestätigt. Je mehr ich über Nietzsches Werk, Leben und Rezeption lernte, desto klarer wurde mir: Er ist bis heute DER Pate allen intellektuellen Außenseitertums. Seine ebenso scharfe Wissenschafts- wie Religionskritik, sein unablässiger Kampf gegen ressentimentgeladene Spießer, Frömmler und Duckmäuser, seine Einsicht in die Unvermeidlichkeit von Einsamkeit und Traurigkeit, seine heroisch-tragisches Pathos – all das ist in unserer heutigen Gesellschaft schwer vermittelbar. Und dennoch ist es hochaktuell. Dass Nietzsche vereinzelt Beifall von der falschen Seite bekommt, stört mich nicht, weil ich den Verdacht habe: Nicht alle dieser merkwürdigen Nietzsche-Fans scheinen ihn richtig verstanden zu haben oder verstehen zu wollen. Nietzsche hatte dies vorausgesehen. 1878 notierte er unter der Überschrift „Im Strome“: „Starke Wasser reißen viel Gestein und Gestrüpp mit sich fort, starke Geister viel dumme und verworrene Köpfe.“15

Abbildungsnachweis zum Artikelbild

Christian Saehrendt, Selbstporträt als Künstler, Öl auf MDF, 100cm x 100cm, 2001, im Besitz des Autors.

Fußnoten

1: Menschliches, Allzumenschliches II, Vermischte Meinungen und Sprüche, 368.

2: Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede, 2.

3: Menschliches, Allzumenschliches I, 157.

4: Nachgelassene Fragmente 1888, Nr. 17[3].

5: Vgl. Paul Stephan: Was ist der Links-Nietzscheanismus? Vortrag Helle Panke Berlin 26. 4. 2018.

6: Vgl. Sebastian Kaufmann: Nietzsche und die Neue Rechte. Auch eine Fortführung der Konservativen Revolution. Vortrag bei der Tagung „Nietzsche und die Konservative Revolution“ (Oßmannstedter Nietzsche-Colloquium der Klassik Stiftung Weimar, 12.–15. Juni 2016 auf dem Wielandgut Oßmannstedt).

7: „Nietzsche war ein politisch unkorrekter Denker“. Gespräch zwischen Andreas Urs Sommer und Korbian Frenzel, Deutschlandfunk Kultur.

8: Vgl. Der Spiegel 30/2019, S. 38 f.

9: Vgl. Felix Wemheuer entsprechende Beiträge bei der Podiumsdiskussion Schottet sich China wieder ab? Ein Bestandsaufnahme 40 Jahre nach Beginn der Reform- und Öffnungspolitik (Berlin 22. 11. 2018).

10: Hannah Lühmann: Dieser russische Oligarch will jetzt Europa retten. Welt.

11: Jordan Mejias: Ich hasse euch, Leute. FAZ.

12: Vgl. Daniel Pipes: Die Linke verdreht Breiviks mentale Welt.

13: Vgl. Lukas Germann: Der Rest ist bloß die Menschheit! Black Metal und Friedrich Nietzsche. Vortrag bei der Konferenz „Pop! Goes the Tragedy. The Eternal Return of Friedrich Nietzsche in Popular Culture“ (Zürich, 23./24. 10. 2015).

14: Mike Tyson: On Reading Kierkegaard, Nietzsche. Genius.com.

15: Menschliches, Allzumenschliches I, 541.

Menke fascinirt.

Ist Befreiung Faszination?

Menke fascinirt.

Ist Befreiung Faszination?

12.4.24
Paul Stephan

In seiner jüngst erschienenen Studie Theorie der Befreiung fasst der Frankfurter Philosoph Christoph Menke Befreiung als „Faszination“, als lustvolle Desubjektivierung und Hingabe. Er bezieht sich dabei an entscheidender Stelle auf Nietzsche – doch für den bedeutet „Faszination“ gerade Verhexung, die Verstrickung in Unfreiheit und Ressentiment. Kann uns die mystische Kraft der Faszination wirklich befreien – oder ist nicht eher Nietzsche Recht zu geben und Befreiung bedeutet vor allem Selbstermächtigung und Autonomie, die faszinierte Aufopferung hingegen Unterwerfung, nicht zuletzt unter einen faschistischen Führer?

In seiner jüngst erschienenen Studie Theorie der Befreiung fasst der Frankfurter Philosoph Christoph Menke Befreiung als „Faszination“, als lustvolle Desubjektivierung und Hingabe. Er bezieht sich dabei an entscheidender Stelle auf Nietzsche – doch für den bedeutet „Faszination“ gerade Verhexung, die Verstrickung in Unfreiheit und Ressentiment. Kann uns die mystische Kraft der Faszination wirklich befreien – oder ist nicht eher Nietzsche Recht zu geben und Befreiung bedeutet vor allem Selbstermächtigung und Autonomie, die faszinierte Aufopferung hingegen Unterwerfung, nicht zuletzt unter einen faschistischen Führer?

I. Freiheit = Faszination

Über Christoph Menke, Professor für Praktische Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, kann man auf Wikipedia lesen: „Er gilt als wichtiger Vertreter der ‚dritten Generation‘ der Frankfurter Schule.“ In seiner 2022 bei Suhrkamp erschienenen Studie Theorie der Befreiung plädiert er für einen seinem Anspruch nach „radikalen“, neuen Begriff von Befreiung. Neben den Surrealisten, dem biblischen Moses, der Fernsehserie Breaking Bad und einer ganzen Reihe von philosophischen ‚Gewährsmännern‘ von Walter Benjamin über Theodor W. Adorno bis Martin Heidegger, ist einer seiner wichtigen Bezugspunkte Nietzsche, den er in dem Buch immer wieder zitiert und es sogar mit einem Zitat aus Schopenhauer als Erzieher beendet.

Die Kernthese dieser, so die Eigenwerbung auf dem Umschlagstext, „bahnbrechende[n] Theorie“, lautet, dass die gesamte abendländische philosophische Tradition Freiheit fälschlicherweise als Autonomie, als Befähigung, missverstand. Versteht man Freiheit so, koppele man sie an Herrschaft, Ausbeutung und die Macht der Gewohnheit. In den Bereichen der Kunst, der Religion und – überraschenderweise – ausgerechnet der Ökonomie erblickt Menke ein davon abweichendes Paradigma der Befreiung: Befreiung als Bruch mit der Gewohnheit in der Faszination, der begeisterten Hingabe, für das Erhabene, das Göttliche, aber auch das Geld.

Da Menke zugleich immer wieder das Scheitern auch dieser Formen der Befreiung aufzeigt, lässt er den Leser am Ende ein wenig ratlos zurück. Sein Grundgedanke fasziniert jedoch ohne Zweifel. Wurde im philosophischen Nachdenken über Freiheit nicht genau dieser Aspekt bislang übersehen? Liegt Freiheit eigentlich in etwas vollkommen anderem als dem vernünftigen Handeln, der politischen Emanzipation oder der durch Selbstdisziplinierung gewonnen Macht? Gerade in Momenten der Begeisterung, der Spontanität, des Bruchs und der Desubjektivierung? Für Menke ist Befreiung kein heroischer aktiver Akt der Selbstermächtigung, sondern das passive Angesprochenwerden von etwas Äußerem, Höherem, das uns fasziniert und aus dem Alltag, aus der Gewohnheit, aus unserer Identität herausreißt.

II. Eine faszinierende Etymologie

Menke, der sich in seinem Buch etwa sehr ausführlich mit der Etymologie des griechischen Wortes für „Freiheit“, eleuthería, befasst, spricht dort leider so gut wie nicht über die Geschichte seines positiven Gegenbegriffs, obwohl auch diese sehr alt ist. Das lateinische Verb fascinare bedeutet ‚verhexen‘. Die Römer bezeichneten damit eine alles andere als befreiende Macht, nämlich diejenige des fascinus oder fascinum, des Schadenszaubers, der meist mit dem „bösen Blick“ des Neidischen assoziiert wurde, von dem eine für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft schädliche Kraft ausgehe, die es unbedingt zu bändigen gelte, um die jeweilige Integrität zu gewährleisten. Der Zauber kann jedoch nur durch einen entsprechenden Gegenzauber bekämpft werden, so dass fascinum schließlich vor allem die Mittel gegen den Schadenszauber bezeichnet, allen voran die in der römischen Welt ubiquitären Phallus-Amulette, die getragen wurden, um ihn abzuwehren.1 Dies widerspricht Menkes Theorie jedoch nicht, sondern bestärkt sie eher. Die römisch-griechische Welt sieht er nämlich als Ursprung des bis heute gültigen falschen Verständnisses von Befreiung an – und es verwundert aus seiner Sicht nicht, dass es genau jene Welt ist, die geradezu besessen davon ist, die dunkle Macht der Faszination zu bändigen; allerdings, indem sie sich dieselbe Macht zu Nutze macht.

III. Böse Blicke

Nietzsche kannte diesen Aspekt der antiken Kultur zweifellos. Der „böse Blick“ ist eine von ihm an zahllosen Stellen verwandte Metapher, geradezu ein, schnell zu übersehenes, Leitmotiv seines Denkens. Freilich bezieht er dabei den Standpunkt der von ihm bewunderten Antike: Der „böse Blick“ ist für ihn genau der missgünstige Blick des ressentimentgeladenen, unfreien Sklaven auf die Freiheit der Herren, der später im christlichen Welthass seine Ideologie findet, und der darum so gefährlich ist, weil er die Seele der Herren vergiftet und sie selbst ein schlechtes Gewissen entwickeln lässt. Er spricht von einer „Pessimisten-Optik“2 , die sich gegen „die Leidenschaften“3 richte, dem „bösen Blick“4 des Staates auf die ursprünglichen Völker und des „Pöbels“5 auf die gesamte Erde, vom „müde[n] pessimistische[n] Blick, d[em] Misstrauen zum Räthsel des Lebens, d[em] eisige[n] Nein des Ekels am Leben“6, dem „hypnotische[n] Blick des Sünders“7. Besonders gefährlich ist dieser Blick, wenn man ihn auf das eigene Leben richtet, der „zurückgewendete[] Blick des Missgebornen von Anbeginn“8: „[E]in Gewissensbiss scheint mir eine Art ‚böser Blick‘“9, „Der Mensch hat allzulange seine natürlichen Hänge mit ‚bösem Blick‘ betrachtet, so dass sie sich in ihm schliesslich mit dem ‚schlechten Gewissen‘ verschwistert haben.“10

Kurz: Moral ist für Nietzsche eine „grundsätzliche Verschlechterung der Phantasie, als ‚böser Blick‘ für alle Dinge“11. Es ist der neidische Blick desjenigen, „der das Hohe an den Menschen nicht sehen kann“12, des Zynikers, des „Spielverderber[s]“13. Er ist eine permanente Bedrohung der „höhere[n] Menschen“14, die sich gegen ihn zu sichern haben, indem sie nicht aufhören, an sich selbst zu glauben. – Dies entspricht alles sichtlich der antiken Sicht auf die Dinge und es ist sicher kein Zufall, dass Nietzsche den Begriff so oft in Anführungszeichen setzt, um kenntlich zu machen, dass er an diesen Stellen genau jene uralte Tradition herbeizitiert. Dementsprechend weiß Nietzsche darum, dass es selbst eines bösen Blicks bedarf, um die Moral des Ressentiments bekämpfen zu können.15

Dem Gebrauch seiner Zeit entsprechend verwendet Nietzsche das Wort ‚Faszination‘ spärlich und wenn, dann nahezu ausschließlich in seinem pejorativen, antiken Sinn. Er ist überhaupt einer der ersten, die es im deutschen Sprachraum häufiger verwenden. Zur häufig gebrauchten und neutral bzw. sogar positiv besetzten Vokabel wurde es erst im Laufe des 20. Jahrhunderts.16 Ob Wagner und Schopenhauer,17 die Sozialisten,18 die ersten Christen,19 die rousseauistischen Romantiker,20 die mystischen Untergrundreligionen der Antike,21 die Märtyrer,22 die „Heiligen“ allgemein23: Die Faszination ist eine, wenn nicht die, entscheidende Waffe der „Schwachen“ im Kampf gegen die „Wohlgeratenen“ und „Starken“, mit der es ihnen gelingt, sie aus ihrer Selbstbejahung herauszureißen und für sich einzunehmen. Indem sie die Starken faszinieren, werden die Schwachen stark: „[D]ie Kranken und Schwachen haben die Fascination für sich gehabt, sie sind interessanter als die Gesunden“24. In dieser „Fascinations-Kraft der Tugend25 erblickt Nietzsche eine der größten Gefahren für die Freiheit. Neben Paulus26 und Platon27 ist für Nietzsche Sokrates ein Meister der Faszination: „Sokrates fascinirte“28, gerade durch „seine furchteinflössende Hässlichkeit“29 und Widersprüchlichkeit und rächte sich damit an den vornehmen Athenern, wurde zum philosophischen Vertreter der Revolte und des „Pöbel-Ressentiment“30.

Menke geht auf diesen Aspekt Nietzsches in seinem Buch nicht ein, doch es ist klar, wie er ihn in seine Theorie integrieren würde: Er liest Nietzsches Erzählung vom „Sklavenaufstand“ nämlich affirmativ, er interpretiert sie unter umgekehrten Wertungszeichen, und insofern bestätigen diese Passagen nur seine Gleichsetzung von Befreiung und Faszination. Faszination ließe sich als Kraft verstehen, die die Herrscher aus ihrer Identität als Herrscher und die Beherrschten gleichermaßen aus ihrer Identität als Beherrschte befreit.

Freilich liegt für Nietzsche ironischerweise dieses Verständnis von Befreiung ja gerade am Anfang der abendländischen Zivilisation und nicht das ihm entgegengesetzte griechisch-römische. Für Nietzsche ist die abendländische Kultur gerade von Beginn an eine Kultur, die auf einem falschen Freiheitsverständnis basiert, nämlich von Befreiung als Fasziniert-Werden, nicht von Befreiung als Autonomie und Selbstermächtigung.

So heißt es gleich zu Beginn der Fröhlichen Wissenschaft:

Ich fand bei gewissen Frommen einen Hass gegen die Vernunft vor und war ihnen gut dafür: so verrieth sich doch wenigstens noch das böse intellectuale Gewissen! Aber inmitten dieser rerum concordia discors [zwieträchtige Eintracht der Dinge; PS] und der ganzen wundervollen Ungewissheit und Vieldeutigkeit des Daseins stehen und nicht fragen, nicht zittern vor Begierde und Lust des Fragens, nicht einmal den Fragenden hassen, vielleicht gar noch an ihm sich matt ergötzen – das ist es, was ich als verächtlich empfinde, und diese Empfindung ist es, nach der ich zuerst bei Jedermann suche[.]31

Und noch am Ende des Buches knüpft er an diesen Gedanken an:

Eine Art von Redlichkeit ist allen Religionsstiftern und Ihresgleichen fremd gewesen: – sie haben nie sich aus ihren Erlebnissen eine Gewissenssache der Erkenntniss gemacht. „Was habe ich eigentlich erlebt? Was gieng damals in mir und um mich vor? War meine Vernunft hell genug? War mein Wille gegen alle Betrügereien der Sinne gewendet und tapfer in seiner Abwehr des Phantastischen?“ – so hat Keiner von ihnen gefragt, so fragen alle die lieben Religiösen auch jetzt noch nicht: sie haben vielmehr einen Durst nach Dingen, welche wider die Vernunft sind, und wollen es sich nicht zu schwer machen, ihn zu befriedigen, – so erleben sie denn „Wunder“ und „Wiedergeburten“ und hören die Stimmen der Englein! Aber wir, wir Anderen, Vernunft-Durstigen, wollen unseren Erlebnissen so streng in’s Auge sehen, wie einem wissenschaftlichen Versuche, Stunde für Stunde, Tag um Tag! Wir selber wollen unsere Experimente und Versuchs-Thiere sein.32

Nietzsche plädiert – jedenfalls in seiner mittleren und späten Periode – also für Kritik und Skepsis angesichts „faszinierender“ Erfahrungen, gegen die Hingabe an mystische Erfahrungen; für die Reflexion und gegen die Macht des Unmittelbaren und Präsentischen, die Menke in seiner Theorie der Befreiung beschwört. Befreiung im Sinne des Ideals des „freien Geistes“ bedeutet für ihn gerade, nicht auf charismatische Figuren wie Paulus, Sokrates oder Rousseau hereinzufallen, nicht auf die allgegenwärtigen „Zukunfts-Sirenen des Marktes“33 und die hohlen Ideale, die sie propagieren.

IV. Kritik der Faszination

Welcher Freiheitsbegriff und welche Lesart der westlichen Geschichte ist nun die plausiblere? Der erwähnte Bedeutungswandel des Wortes „Faszination“ legt nahe, dass wir es in der Moderne tatsächlich mit einem Anwachsen von Faszination zu tun haben, mit ihrer Banalisierung und Profanisierung. Sie ist nichts mehr, was wir fürchten und meiden, sondern eher etwas, das wir suchen, egal, ob wir im Internet nach neuen Memes suchen, ins Museum gehen oder uns von politischen Massenbewegungen mitreißen lassen. Menke reflektiert die manipulative Gewalt der modernen Bildwelten in seiner Studie genauso wie die mitreißende Kraft der modernen Ökonomie – das entsprechende Kapitel ist das wohl stärkste des Buches – und versucht, zwischen genuinen und künstlich-manipulativen Formen der Faszination zu unterscheiden. Doch wozu diese aufwändige, am Ende nicht wirklich überzeugende Differenzierungsarbeit? Ist die Faszination so, wie wir sie heute erleben, nicht eher, wie es schon Nietzsche beschreibt, eine versklavende Macht, die uns nur noch fester an die bestehende Gewohnheit bindet, als eine in irgendeiner Form befreiende, wenn man den Freiheitsbegriff nicht vollkommen von Ideen wie „Autonomie“ und „Selbstbestimmung“ ablösen möchte?

Die Sache gewinnt an Brisanz, wenn man einen anderen von Menke ebenfalls nicht thematisierten Bedeutungsaspekt von „Faszination“ in Betracht zieht. Auch wenn etymologisch faktisch nicht verwandt, fällt es heute schwer, beim Wort fascinum nicht an den fasces zu denken, das Rutenbündel der römischen Republik, das zum Namensgeber des Faschismus wurde. So, wie der alte fasces als eine Art sublimiertes fascinum diente, ein Phallussymbol, um das sich die Gemeinschaft scharte, um die Macht des „bösen Blicks“ abzuwenden, besteht der Faschismus in der mythischen Beschwörung irrationaler Kräfte, um die das Gemeinwesen bedrohenden dunklen Energien der Auflösung zu bannen. Faschistische Politik ist geradezu per definitionem eine Politik der Faszination, die auf Begeisterung, Überwältigung, Hingabe, Desubjektivierung und die charismatische Aura einer Führerfigur setzt, um „die Ordnung“ zu retten.34 Es ist nicht so, dass Menke dieses Problem in seiner Studie vollkommen ausblendet, doch es spielt für ihn – für einen vermeintlichen Nachfolger der Frankfurter Schule überraschend – nur eine Nebenrolle. Wie lässt sich Befreiung sinnvoll wesentlich und primär als Fasziniertwerden – also Desubjektivierung, Aufopferung, Unterwerfung etc. – verstehen und sich dieser Freiheitsbegriff zugleich scharf von einem faschistischen, irrationalistischen trennen? Eine Quadratur des Kreises, die auch Menke nicht gelingt.

Nietzsche geht den umgekehrten Weg. Er geht – auch schon und gerade in Schopenhauer als Erzieher, auf das sich Menke in seiner Studie vollkommen zu Unrecht beruft – von einem individualistischen, aufklärerischen Verständnis von Befreiung aus, doch gesteht zu, dass es Momente der Faszination (der Ekstase, der Entgrenzung, der Passivität …) braucht, um eine vollständige Freiheit zu realisieren. Nietzsche beschreibt diese Inspiration etwa in einem Gedicht:

Meine Wahrheit ists!
Aus zögernden Augen,
aus sammtenen Schaudern
trifft mich ihr Blick,
lieblich, bös, ein Mädchenblick…35

Der Blick der – je eigenen– Wahrheit fasziniert gerade, weil er zweideutig ist, weil er „lieblich“ und „bös“ zugleich ist in untrennbarer Identität. Erst die Konfrontation mit diesem Blick ermöglicht es Zarathustra in diesem Gedicht, die nächste Stufe der Selbstwerdung zu erklimmen.36

In der frühen Schrift Die dionysische Weltanschaung feiert Nietzsche in ganz ähnlichen Begriffen wie Menke die desubjektivierende, entgrenzende Macht des „dämonisch fascinirende[n] Volksgesang[s]“37 der Bacchanten, doch erblickt in ihr ebenso eine zu bändigende Gefahr für das Gemeinwesen, der es nur durch ihre apollinische Einhegung zu begegnen gelte; nur aufgrund dieser Vereinigung von Subjektivierung und Desubjektivierung, Freiheit und Faszination, habe sich eine hohe Kultur wie die griechische entwickeln können. In diesem Sinne preist er auch noch in seinem Spätwerk die Faszinationskraft der Wagner’schen Opern.38 Und Nietzsche schreibt sich selbst39 und seinen Schriften40 eine ähnliche Faszinationskraft zu. Es gibt für Nietzsche eben auch eine „Fascination der Stärke“41. Die – temporäre und gebändigte – Hingabe ist notwendig, um Freiheit und Stärke zu bewahren und zu vergrößern; doch ähnlich, wie sich Nietzsche von seinen zeitweiligen Idolen Schopenhauer und Wagner distanzierte und distanzieren musste, um er selbst zu werden, darf diese Hingabe eben nicht absolut sein, muss eine in einem gewissen Sinne ‚ironische‘, vorbehaltliche bleiben, um nicht zur Selbstauflösung und mithin zum Freiheitsverlust zu führen.

Menke kann mit diesem Individualismus sichtlich nichts anfangen. Im erwähnten Kapitel über ökonomische Faszination versteigt er sich gar zu der Behauptung, das moderne individualistische Verständnis von Selbstverwirklichung verwirkliche sich im neoliberalen Modell ökonomischer Selbstbehauptung; gerade so, als hätte es Werke wie Quellen des Selbst von Charles Taylor nicht gegeben, die detailliert zeigen, dass Selbstverwirklichung im modernen Sinne wesentlich eine ethische Idee ist, die den Einzelnen dazu aufruft, wie es Nietzsche in Schopenhauer als Erzieher schreibt, sein „höheres Selbst“ zu realisieren, gerade nicht, sich unter die „Fliegen des Marktes“42 zu mischen. Menkes positive Bezugnahme auf diese Schrift, in welcher er vielleicht am dezidiertesten eine Ethik individueller Selbstverwirklichung vertritt, will dazu nicht recht passen. Es ist ähnlich wie mit Menkes Rundumschlag gegen den vermeintlichen „abendländischen“ Freiheitsbegriff: Er liebt die Polemik, die sich bisweilen zu – stilistisch gehobener – Demagogie aufschwingt, doch dies auf Kosten der philosophischen Tiefenschärfe dieses Buches, das in seiner in ihm zum Ausdruck kommenden abgrundtiefen Verachtung für Individualismus, Aufklärung und Emanzipation dem Geiste nach weitaus eher im Lager Konservativen Revolution als demjenigen ihrer Gegner zu verorten ist.

V. Freiheit in Faszination, Faszination in Freiheit

Es käme auf die Entwicklung eines umfassenden Freiheitsverständnisses an, dass alle in Frage stehenden Momente – individuelle Selbstverwirklichung, politische Selbstbestimmung, pragmatische Selbstermächtigung, moralische Selbstbestimmung – zusammendenkt und zugleich die von Menke verabsolutierten Momente der ästhetischen Faszination, der religiösen Hingabe etc. – sicher auch das von Menke weitgehend ausgesparte, bei Nietzsche anklingende Moment der erotischen Faszination – zu integrieren weiß. Nietzsches Nachdenken über die Freiheit gefährdende und zugleich ermöglichende Macht der Faszination ist dafür zielführender als die neuste „bahnbrechende“ Relektüre von Heideggers Sein und Zeit, in der sich der „Meister aus Deutschland“ bereits eine ganz ähnliche Umdeutung des Freiheitsbegriffs im Sinne einer desubjektivierenden Aufopferung für das „Volk“ propagiert, seine spätere Faszination für die „Volksgemeinschaft“ denkerisch antizipierend.43

Es mag sein, dass Nietzsche sich in seiner mittleren und späten Schaffensphase zu sehr auf das Moment der individuellen Selbstermächtigung versteift. Der politisch reaktionäre Impetus seiner Überlegungen zum „bösen Blick“ ist unübersehbar. Doch ausgerechnet in einer Zeit wachsender Entmächtigung der Einzelnen und des Erstarkens freiheitsfeindlicher faszinierter politischer und religiöser Bewegungen das Hohelied der „Lust der Desubjektivierung“ (Menke, S. 128) anzustimmen, gleicht einer gegenwartsdiagnostischen Bankrotterklärung. Freigeistigkeit und Leidenschaftlichkeit in jeglicher Hinsicht – politisch, spirituell, ästhetisch, erotisch … – müssen Hand in Hand gehen, um den weiteren Fortschritt der allgegenwärtigen Desubjektivierung zu verhindern und die Freiheit im ganz schnöden Sinne der Ideen von 1789, die auszumerzen sich Menke ebenso wie seine Vordenker anschickt,44 wiederherzustellen, zu vertiefen und zu verbreitern.45

Der „böse Blick“ des Faszinierten verhindert bei Nietzsche gerade die Entwicklung einer genuinen, authentischen Leidenschaftlichkeit, insofern er die unmittelbaren Emotionen verteufelt und an ihre Stelle einen sie übertünchenden hohlen Pathos setzt. Vielleicht wäre es ein erster Schritt, um sich der Gewalt der schlechten Faszination für die „Götzen“ der Gegenwart (Gott, Geld, ‚große Kunst‘ etc.) zu entziehen, wieder eine weniger aufgeladene, dafür jedoch beglückendere und befreiendere Sensibilität wiederzuentdecken. Carmen statt Parsifal, Ostsee statt Süden, gelebte Solidarität statt Aufrufen zur Weltrevolution vom Katheder, sich in einem Boot auf einem Schweizer Bergsee Träumereien hingeben, die Stille einer Kathedrale … Begriffe statt Jargon, Authentizität statt Eigentlichkeit. Man mag über derlei Ethik im Messeturm die Nase rümpfen, doch vielleicht ist heute das Kleinste und Bescheidenste – die Sorge um die „kleinen Dinge“46 statt die Aufopferung für die „Götzen“ der „grosse[n] Politik“47 – radikaler als die große Geste der Weltzertrümmerung und des modischen „Abendland“-bashings, die auch durch ihre hundertste Wiederholung nicht an Kraft gewinnt.

Sekundärquellen

Confino, Alon: Foundational Pasts. The Holocaust as Historical Understanding. Cambridge 2012.

Hahnemann, Andy & Björn Weyand: Faszination. Zur Anziehungskraft eines Begriffs. In: Dies. (Hg.): Faszination. Historische Konjunkturen und heuristische Tragweite eines Begriffs. Berlin e. a. 2009, S. 7–32.

Stephan, Paul: Wahrheit als Geschichte und Augenblick. Die Kritik der Wahrheit im Werk Friedrich Nietzsches im Lichte des Abschnitts Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde. Nordhausen 2018.

Ders.: Zarathustras „Augen-Blick“. Nietzsches Lehre von der Konfrontation mit der Wirklichkeit. In: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft Bd. 24. Berlin & Boston 2017, S. 315–327.

Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Übers. v. Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 1996.

Fußnoten

1: Vgl.etwa für einen ersten Überblick den entsprechenden Eintrag in Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft.

2: Götzen-Dämmerung, Streifzüge, 24.

3: Die fröhliche Wissenschaft, 139.

4: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.

5: Also sprach Zarathustra, Vom höheren Menschen, 16.

6: Zur Genealogie der Moral, II, 7.

7: Zur Genealogie der Moral, III, 20.

8: Zur Genealogie der Moral, III, 14.

9: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 1.

10: Zur Genealogie der Moral, III, 24.

11: Der Antichrist, 25.

12: Also sprach Zarathustra, Von den Tugendhaften.

13: Also sprach Zarathustra, Das Tanzlied.

14: Menschliches, Allzumenschliches I, 480.

15: Vgl. Götzen-Dämmerung, Vorwort.

16: Vgl. Hahnemann& Weyand, Faszination.

17: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, 99.

18: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 10[82].

19: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 10[157].

20: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 9[184].

21: Vgl. Der Antichrist, 58.

22: Vgl. Der Antichrist, 53.

23: Vgl. Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 8.

24: Nachgelassene Fragmente 1888, Nr. 14[182].

25: Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 10[184].

26: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 10[189].

27: Vgl. Götzen-Dämmerung, Was ich den Alten verdanke, 2.

28: Götzen-Dämmerung, Das Problem des Sokrates, 11.

29: Ebd., 9.

30: Ebd., 7.

31: Die fröhliche Wissenschaft, 2.

32: Ebd., 319.

33: Ebd., 377.

34: Man denke nur an Thomas Manns berühmte Erzählung Mario und der Zauberer. Vgl. auch den erwähnten Aufsatz von Hahnemann und Weyand.

35: Dionysos-Dithyramben,Von der Armut der Reichsten.

36: Für eine vertiefte Interpretation dieser für Nietzsche zentralen Konstellation vgl.meine Studie Wahrheit als Geschichte und Augenblick sowie den sie resümierenden Aufsatz Zarathustras „Augen-Blick“.

37: Die dionysische Weltanschauung, 2.

38: Vgl. Ecce homo, Warum ich so klug bin, 6 und Brief an Carl Fuchs vom 27. 12. 1888.

39: Vgl. Brief an Franz Overbeck von Weihnachten 1888 und Brief an Meta von Salis vom 29. 12. 1888.

40: Vgl. Ecce homo, Die Geburt der Tragödie, 1.

41: Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 9[185].

42: Also sprach Zarathustra, Von den Fliegen des Marktes.

43: Aus der Herleitung seines Freiheitsbegriffs aus Heideggers Ontologie macht Menke keinen Hehl (vgl. insb. S. 226–229). Er gehört zu den meistgenannten Philosophen der Studie. Die Nähe der Sprache Menkes zum „Jargon der Eigentlichkeit“ (Adorno über die Diktion Heideggers und seiner Adepten) ist unverkennbar.

44: Man denke etwa an die entsprechenden einschlägigen Äußerungen von Goebbels, Rosenberg oder Ernst Bertram (vgl. Alon Confino, Foundational Pasts, S. 6f.), die sich alle die Abschaffung des liberalen Subjektivismus zugunsten einer faszinierten Hingabe an die Gemeinschaft auf die (braunen) Fahnen geschrieben hatten.

45: Nietzsche spricht in diesem Sinne von „zwei Hirnkammern“, zwei Sensibilitäten – eine wissenschaftliche (kritische) und eine leidenschaftliche (religiöse, metaphysische und ästhetische) –, die jeder ausbilden müsse, der an der„höheren Cultur“ teilhaben möchte und die sich wechselseitig in Schach halten sollen, um ihre jeweiligen Einseitigkeiten zu korrigieren: „Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen,Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt werden“ (Menschliches,Allzumenschliches I, 251).

46: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 10.

47: Menschliches, Allzumenschliches I, 481.

Darts & Donuts
_________

Ich empfinde alle Menschen als schädlich, welche dem, was sie lieben, nicht mehr Gegner sein können: sie verderben damit die besten Dinge und Personen.

(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

Nietzsche sagt: „ChatGPT ist dumm.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

Nietzsche sagt: „Man soll den Computern misstrauen, sie haben ein Hirn, eine Hand, einen Fuß und ein Auge, aber kein Herz.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.

(ChatGPT auf die Bitte hin, einen Aphorismus im Stile Nietzsches zu verfassen)

Werk. – Es gibt keine irreführendere und falschere Ansicht als die, dass das Schreiben oder das Werk lustvolle Angelegenheiten seien. Es ist ganz das Gegenteil! Das Werk ist einer der größten Gegner und schlimmsten Feinde. Und wer aus Freiheit und nicht aus Gewohnheit schreibt, vermisst an ihm Umgangsformen und Gewissen – der ist ein Schwein!

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Gefährliche Wahrheit. – Viele psychische Pathologien machen ihren Wirt ultrasensibel. Sie bekomme Antennen für die kleinsten seelischen Regungen ihres Gegenübers, sehen den kleinsten Verrat, die kleinste Inkongruenz, den kleinsten Reißzahn, den hässlichsten Hund im Menschen. Als Feind des Menschengeschlechts zückt der Arzt seinen Notizblock und ruft also „die Pfleger“ herein.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Glück: Keinen mehr nötig zu haben und so rückhaltlose Zuwendung sein können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 44)

Dein Rechthaben nicht offen zur Schau stellen. Nie der Weg sein. Dem, der Recht hat, will man leicht Unrechttun und man fühlt sich gemeinsam im Recht dabei, weil das Gefühl für Gleichheit ständig trainiert wird und die Übung der Freiheit eine Seltenheit geworden ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 43)

Wahre Liebe: Durch den Anderen hindurch lieben.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 42)

Zusammensein wollen: Weil es leichter ist? Weil es bereichert? Weil man keinen Willen kennt, der lange Wege allein gehen kann?

(Neue Sprüche und Pfeile, 41)

Helfen wollen: Weil es sichgehört? Weil einem Gleiches widerfahren kann? Weil man hat und gerne gibt? Weil einem nicht die aktuelle Armut betroffen macht, sondern die Schande, dass Chancen ungenutzt bleiben müssen?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 40)

Keine Größe ohne ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten. Aus dem Schein zu einem Mehr an Sein. Aus den Erfolgen der Sprünge in eine Rolle, in der man sich nicht kannte, entsteht der Glaube anein Können, das mehr aus einem machen kann.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 39)

Wem die Stunde schlägt. – Wer sich einen Termin macht, etwa ein Date in zwei Wochen, freut sich, trifft allerlei Vorbereitungen, fiebert darauf hin, hält durch und überlegt, was er sagen soll und so weiter. – Dann ist der Tag da. In der Zukunft glänzte alles noch, fühlte sich anders an. Man denkt sich: Es ist alles ganz wie vorher. Alles, was ich getan habe, war nur Selbstzweck, man erwartete das Warten und Vorstellen und nicht die Sache selbst, nicht den Kairos, den man nicht erwarten kann.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Niederes und höheres Bewusstsein. – Bin ich vor die Wahl gestellt, entweder erdrückt zu werden, tot zu sein und zu schweigen oder zu lästern und ungläubig zu sein – Gift in meinen Drüsen mir zu sammeln, wie mir angeboren, Reptil, das ich bin –, ich würde immer das Zweite wählen und mich niedrig, schlecht, negativ und ungebildet nennen lassen. Lieber will ich mich von meinem Gift befreien als es mir zu Kopf steigen zu lassen. Tritt einer dann in meine Pfützen, sei’s so – gebeten hat man ihn nicht!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Schwere und die Sinnlosigkeitder Dinge. – Wer einmal den unbegründeten Wunsch verspüren sollte, sich über die wesentlichen Dinge Gedanken zu machen, das Sein der Dinge und die Zeit, der ist besser beraten, es zu unterlassen. Der Verstand tendiert dazu, solche Dinge zäh und schwer zu machen. Am Ende findet man sich beim Denken und Überlegen dabei wieder, das Ding selbst nachzuahmen und denkt den Stein, das Stein-Seins, verfällt in gedachte Inaktivität.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Nichts. – In der Indifferenz ist noch alles und jedes zu ersaufen. Der größte Mut, der Hass, die Heldentaten, die Langeweile selbst verschlingt sich und die große Dummheit, Eitelkeit.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Für Franz Werfel. – Ein Autor, der dir sagt: „Ach, meine Bücher…, lass dir Zeit, lies erst dies ein oder andere. Das kann ich dir empfehlen: Ich liebe Dostojewski.“ – Das ist Größe und nicht die eitle Schwatzerei derjenigen, die ihre eigene Person und die Dringlichkeit der eigenen Ansichten vor sich hertragen.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Illusions perdues. – Wieso ist es so,dass das schönste, romantischste, bewegendste, rührendste, herzaufwühlenste Buch gegen die blasseste Schönheit von zweifellos hässlichem Charakter keine Chance hat und so attraktiv wie eine uralte Frau wirkt?

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Wider einfache Weltbilder. – Wir sind ein krankendes Geschlecht; schwitzend, von Bakterien übersät. Wir haben Bedürfnisse, geheimen Groll, Neid; die Haare fallen uns aus, die Haut geht auf mit Furunkeln; wir vertrauen, langweilen uns, sind vorlaut; pöbeln, sind übertrieben schüchtern, schwätzen Unsinn, konspirieren, sind erleuchtet, sind verblendet, eitel, machthungrig, einschmeichelnd, kriecherisch – jenseits von Gut und Böse.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vom Unglauben getragen. – Wie könnte man es nicht anbeten, das großartige formlose Unding, welches das Sein ist? Monströs wie allerfüllend. Das große Nichts, das die Alten die Hölle nannten, qualmt und beschenkt uns mit den schönsten Schatten.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Das herzliche Lachen der Literatur. – Hat jemals ein Mensch, der vor einem Buch saß, sich den Bauch und die Tränen vor Lachen halten müssen? Ich schon; aber nur in der Vorstellung – und aus Schadenfreude über solche Idiotie.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Ananke. – Weil die Literatur, obzwar sie die dümmste, platteste, schlechteste Grimasse der Zeit darstellt, doch von ihr den kleinsten Kristallsplitter Reinheit enthält, ist sie unerbittlich erbarmungslos und erschreckend in ihrer Folge. Wir wissen nur eins: Sie wird kommen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Kind in der Bibliothek. – Die Mutter muss dem Kind verbieten: „Nein, wir gehen nicht da rein!“ Das Kind sagt: „Da!“, und will ein Regal hochklettern. Bücherregale sind Klettergerüste. Weil es das nochnicht gelernt hat, läuft es wie ein Betrunkener nach seiner Mutter.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Authentisch sein wollen: Weil es sich schickt? Weil man die Halbwahrheiten satt hat? Weil man einsah, dass nur ein Eingestehen zu tieferen und offeneren Bindungen führt?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 38)

Herausragend sein wollen: Weil man Bewunderer will? Weil man es den Mittelmäßigen zeigen möchte? Weil man das Banale nicht mehr aushält?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 37)

Weil die Kritik zunehmend nicht widerlegen, sondern vernichten will, ist die gute Moral der Moderne die kategorische Revisionierbarkeit. Sein ist Versuch zum Sein. Daher bemisst sich kompetente Urteilskraft an der Distanz zum guillotinenhaften Verurteilen. Korrekte Korrektheit ist selbstironisch.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 36)

Wer nicht von sich auf Andere schließt, verpasst die Chance zu einer Welt genauso wie jemand, der von Anderen nicht auf sich schließt. Im revidierbaren Mutmaßen lichtet sich das Zwielicht des Miteinanders ein wenig und es erhöht sich die Möglichkeit zu einem halbwegs zuverlässigen Versprechen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 35)

Im Gehen wird das Denken weich und weit. Wer die Welt um sich hat, für den wird das Rechthaben zu einer unschönen Angewohnheit. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, laufen einem die Sätze wie angenehme Begegnungen über den Weg, die einen überraschen mit der Botschaft, wie wunderbar egal man doch ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 34)

Ohne Erfolge wäre das Leben ein Irrtum. Die Karriere ist die Musik des Lebens, auch für die, die sich für thymotisch unmusikalisch halten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 33)

Schonungslose Ehrlichkeit belügt sich selbst, weil es ihr nicht um Wahrheit geht, sondern um den Effekt des Entblößens als bloße Intensität des Auftrumpfens. Sie will nicht aufzeigen, sie will es den Anderen zeigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 32)

Abhängigkeit macht angriffslustig. Man will sich selber beweisen, dass man etwas ist und attackiert die lebenswichtigen Helfer, als wären sie Meuterer. Dabei ist man selbst derjenige, der meutert. Für das klassikerlose Tier gilt: Es gibt ein falsches Leben im richtigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 31)

Sich Zeit lassen, wenn die Zeit drängt. Panik macht ungenau. Fünf vor zwölf ist es immer schon für diejenigen, die überzeugt sind, genau zu wissen, was zu tun ist, ohne dass sie die Komplexität der Lage je verstanden hätten. Es ist die Tragödie des Weltgeistes, dass seine selbsternannten Apostel erst einen überwältigenden Eindruck mit ihrer Entschiedenheit machen und dann einen schockierenden Eindruck mit den Wirkungen ihrer Entscheidungen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 30)

Ein Schreibfehler. – Was heißt erwachsen werden? – ...die kindlichen Züge anlegen ...!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Geschlechterkampf. – Da weder die Auslösung des Mannes noch der Frau zur Disposition steht und politische Macht in der Regel nicht mehr mit physischer Gewalt durchgesetzt wird, sind die mächtigsten Formen der Machtausübung verdeckt: Schuld, Angst, Drohung, Beschämung, Entzug (z. B. von Liebe und Solidarität), Zurschaustellung. Sie alle operieren mit Latenzen und unsichtbaren Scheingebilden, entfesseln dieFantasie.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Gewissensqual über das Gewissen: Das Gewissen, das sich nicht selber beißen lernt, wird zum Mithelfer der Gewissenlosigkeit. Gewissen jedoch als permanenter Gewissensbiss verletzt die Freiheit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 29)

Die erzwungene Höflichkeit provoziert die Lust zur Unhöflichkeit. Die Attraktivität der Sitten bemisst sich daran, wie viel kreative Munterkeit siegestatten. Sitten, die Recht haben wollen, werden unweigerlich zu Unsitten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 28)

Aus dem gefühlten Mangel an Aufmerksamkeit als stiller Angenommenheit entsteht der Hass auf diejenigen, die einen keines Blickes mehr zu würdigen scheinen. Man unterstellt Ungerechtigkeit, wo Freiheit ist, die eine andere Wahl traf. Dies Verdächtigen verhässlicht und entfernt von der Zuwendung, nach der man so sehnsüchtig strebt. Wut, die andauert, wird Hass, der schließlich den Anderen als Gegner wahrnimmt, den man nicht mehr kritisieren, sondern nur noch vernichten will.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 27)

Schatten über der rechten Hand. – Ist der Todesengel derselbe wie der der Liebe? – Erkennen wir nicht den Schatten aneinander, überall?

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Die Freiheit in der Literatur. – Kein Mensch wird geboren und liest „die Klassiker“.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Immerhin. – Man hat als Mensch genug Zeit bekommen, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Respekt. – Da duzt man die Leute undschon verlieren die allen Respekt – Demokratie!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vorsicht. – Unsere Gesellschaft geht von der Maxime aus, dass, wenn jeder gleichmäßig durch Arbeit verbraucht und gleichzeitig durch Geld versklavt, keiner dem anderen mehr etwas antun kann – Ruhe und Frieden herrscht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

 2023. – Wenn die Vorstellung zu sterben und tot zu sein erträglicher ist als die Demütigung einer Arbeit im Büro.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Dada. – Das Heute schafft noch aus dem unsinnigsten Blödsinn eine Ideologie zu machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Das Beständige. – Wenig auf dieser Erde ist ewig und bleibt über die Zeit hinweg erhalten. Bildung nicht, Geschichte nicht, Bräuche nicht, Sitten nicht. Ewig bleiben Dummheit, Eitelkeit, vielleicht Liebe und Spaß, Tränen und Dunkelheit, weil sie Familie sind.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Theater. – Im unerträglichen Theater unserer Zeit will jeder die Guten, die Superhelden spielen und niemand die Bösen. Ihre Zahl ist deswegen zu klein und die der Guten zu hoch. Damit verflachen beide Seiten ungemein und es entsteht die billigste Seifenoper. Wären wir nicht musikalisch begleitet, wir wollten nach Hause gehen, an den Schreibtisch und unsere Charaktere nochmal gründlich überdenken und -arbeiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Mädchen mit einem Korb Erdbeeren. – Das Wetter ist schön. Ich würde eine junge Frau gegen einen Korb Erdbeeren eintauschen, mir ist sklavenherrisch zu Mute.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Gehe denen aus dem Weg, die keine Sympathie für Komplexität erkennen lassen. Der Unwille zum Komplexen ist der trotzige Halt der Haltlosen und der Jungbrunnen der Verbitterten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 26)

Umgedrehter Nietzscheanismus: Die letzten Menschen als diejenigen, die es auf sich nehmen wollen, die letzten Dingen immer wieder zu durchdenken, ohne an den Abgründen zu zerbrechen, die sich dabei öffnen. Ein besseres Beschreiben erzeugt ein Vertrauen, das mit Normalität impft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 25)

Das Ende der Geschichte kann auch gedacht werden als eine Ohnmacht der alten Deutungen in neuen Verhältnissen. Daher wird der historische Sinn gerne kulturkritisch: Da er sich keinen Reim mehr auf die Lage machen kann, werden die Dinge als katastrophisch interpretiert, anstatt die Sicht auf die Dinge zu revidieren.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 24)

Geist als Betrieb: Als museale Hochkulturmode, als andenkenlose Betriebswirtschaft oder als ressentime Kulturkritik-Industrie.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 23)

Wenn man wieder kreativ sein muss. – Wenn der heutige Kulturmensch keine Idee mehr hat, greift er in die Tastatur und schreibt etwas über die Rolle der Frau, BiPoC oder sonst etwas in der Richtung und kommt sich dabei in seiner Armseligkeit nicht nur rebellisch und progressiv vor, sondern wähnt sich auch als kreativ, wenn er mal wieder über die Rolle der Mutter im Patriarchat spricht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fitness. – Ich kann die aufgepumpten jungen Männer mit ihren hantelgroßen Wasserflaschen und Proteinpülverchen nicht mehr sehen. Soll sich in diesen Figuren der feuchte Traum Nietzsches von der Selbstüberwindung des Menschen, seines Körpers und physiologischen Organismus in Form der kommodifizierten Selbstquantifizierung vollends erfüllt haben?

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Sichtbar durch Agitation. – Der Mensch ist das schöne Tier und, ist er wohl versorgt, von außen immer würdevoll. Das will nicht mehr sagen, als dass die Hülle, die die Natur ihm gibt, auch schon das meiste ist und im inneren Hohlraum, fast nur Schatten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Wissenschaftliche Erlösung: Nach einer neuen Erkenntnis der Gehirnforschung ist es unmöglich, zugleich Angst zu haben und zu singen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 22)

Wer die Möglichkeit des Untergehens ständig für realistisch hält, hat es nötig, sich vor sich selbst unauffällig in den Imaginationen des Schlimmsten zuspüren. Der Mangel des Glaubens an sich wird kompensiert mit dem festen Glauben an die Katastrophe.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 21)

Karriere machen, ohne den Verdacht des Egoismus auf sich zu ziehen, anstrengungslos, unterambitioniert. Aber doch das Verlangen, gesehen zu werden in der bemühten Mühelosigkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 20)

Er verzichtete, aber er sah ganz genau hin, wie viel der bekam, der nicht verzichtete. Der schielende Verzicht hat die schärfsten Augen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 19)

Sinn ist der Ersatz für fehlende Initiative. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, wird offen für die Erfindung von Gründen, wer an seinem Zustand schuld sein soll. Die Langeweile der Haltlosen wird zum Verbrechen der Vitalen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 18)

Philologe sein. – Permanentes Standgericht.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Weil es Mut braucht, sich Künstler zu nennen. –  Kunst ist das Gegenteil von Angst.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Leipzig. – Neben einem anarchisch aus dem Fenster hängenden Banner mit der Aufschrift „Lützi bleibt“, das an Klassenkampf, Demo, Streik, Widerstand und Molotov gemahnt, steht das Hauptversammlungshaus der städtischen Kleingartenvereine. Noch zwei Häuserblöcke weiter, ein Yoga-Studio.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Kreative ist nicht apolitisch. Er interessiert sich nicht einmal für Politik. Erst wenn die Räume enger werden, die ihn animieren, beginnt er sich politisch zu engagieren aus apolitischen Motiven.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 17)

Der Verlierer denkt: „Die Wahrheit, die meinen Sieg verhindert, muss Lüge sein!“ Der Sieger denkt: „Solange ich den Sieg nötig habe, habe ich noch nicht gewonnen.“

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 16)

Wer lange genug allein ist, will sich selber nicht mehr verstehen. Darin liegt die Möglichkeit einer reifen Gedankenlosigkeit. Man treibt dann noch Philosophie wie man Jahreszeiten erlebt. Begriffe und Satzfolgen kommen und gehen wie Kastaniengrün und Septemberhimmel.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 15)

Im gelingenden Bewundern überwindet man sich zu sich. Die Unfähigkeit zur Einzigartigkeit steigert den Drang zur Zugehörigkeit. Wenn Konsens zum Kommando wird, wird Freiheit zur Ungerechtigkeit. Diversität als Inklusivität wäre die bereichernde Teilhabe an Liberalität, deren Bewundern man nicht teilen muss. Der Zustand eines vielfachen Desinteresses ist keine Entfremdung oder Ausbeutung. Wer seine Disziplin gefunden hat, verachtet den Einfallsreichtum der Schuldsuche.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 14)

Früher entsprach der Wahrnehmung der Schönheit das Kompliment. Heute scheint es so, als wäre es das Zeugnis einer fortgeschrittenen Form der Anständigkeit, sich dafür zu schämen, diesen Reflex der Entzückung bei sich überhaupt wahrzunehmen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 13)

Die Freudlosen werden leicht die strengen Apostel eines Sinns des Lebens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 12)

Das Gewissen wächst im Horchen auf das Bewirkte. Es formt sich als Ohr der Reue.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 11)

Seine Entscheidungen infrage zustellen, steigert den Sinn für Verantwortung. Man weiß nie, was man alles getan hat. Die Unabsehbarkeit des Anrichtens weist auf die Reue als ständige Option. Daher ist alles Handeln ein Akt der Reuelosigkeit, den man hofft, verantworten zu können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 10)

Hilflosigkeit: Der letzte Stolz.

(Michael Meyer-Albert, Neue Pfeile und Sprüche, 9)

Die Krise lehrt weite Gedanken oder sie verleiht die zweifelhafte Stärke zu einer unschönen Exzentrik.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 8)

Im fehlerhaften Menschen genießt Gott seine Unfehlbarkeit. Im unfehlbaren Gott erträgt der Mensch seine Fehlbarkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 7)

Wer das wilde Leben nötig hat, denkt nicht wild genug. Golden, treuer Freund, ist alle Theorie. Und fahl des Lebens grauer Baum.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 6)

Erst der Wille zum Nichtwissen erlaubt eine Verkörperung der Wahrheit. Das Wort darf nicht ganz Fleisch werden.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 5)

Poesie. –  Eine Definition: Die Summe all’ dessen, was keine öffentliche Redaktion, die auf ihren Ruf, ihr Image und Inserate achten will, veröffentlichen würde.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Fortschritt. – Wenn die Städter auf das Land und seine der Vergangenheit Zeit entstammenden primitiven Sitten süffisant herabblicken, blickt die Zukunft gehässig auf sie, die Idioten, herab.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Glaube daran, dass es keine Wahrheit gäbe, ist selbst wieder eine Wahrheit, die es auf Dauer nicht mit sich aushält. Zweifel wird dogmatisch, depressiv oder paranoid.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 4)

Die Einsamkeit des Philosophen ist seine gute Gesellschaft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 3)

Wissen ist Ohnmacht. Die Mutigsten beherrschen die Kunst des Vergessens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 2)

Von nichts kommt nichts? Wäre dann der, der nichts tut, schuldloser?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 1)

Nietzsche. – Es geht darum Zündkerzen in den Zeitgeist zu setzen. Entzünden sollen sie andere! Wie im menschlichen Körper ein winziger, brennender, strahlender, leuchtender Kristallsplitter Wahrheit in ein System eingesenkt reicht, um ein Gerinnsel und einen Schlaganfall auszulösen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Rotten, Tribalismus. – Der*Die Deutsche ist Neurotiker*In und chronifiziert, staatlich anerkannt feige. Talent ist in Deutschland rar gesät.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Ablehnung. – Man darf nicht vergessen, dass selbst in dem „je te déteste“ oder „tu me détestes“ eine Form von Beziehung steckt. Sie ist nicht Indifferenz, sondern eine Form von Wille, Wunsch oder Velleität des Dialogs.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Schlagfertigkeit. – Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welche geringen Anlässe die Menschen benutzen, um einer den anderen zu demütigen oder auch nur sein kleines Mütchen am anderen abzukühlen. Dennoch: Auch aus der Ablehnung kann noch eine Lust über das eigene Wachstum, eine Lust an der Ablehnung entspringen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Smalltalk. – Aus oberflächlich und anfänglichen Gesprächen lernt man manchmal Leute kennen (oder erzeugen diese Gespräche ihre Menschen?), die, wenn man ihnen zuhört, genau demjenigen Menschenbild der Konkurrenz entsprechen, von dem die Lehrbücher der Ökonomie scheiben, und es gruselt einen. – Ein Scherz, bitte ein Scherz, nur einen, fleht man innerlich! Und zeig mir, dass es ein Mensch ist! – Man einigt sich auf einige Statusmodalitäten der Berufswahl und stellt einige politische Ansichten zur Schau.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Im Dreck spielen. – Im menschlichen Verkehr liegt doch etwas Dreckiges. Die ganze Summe aus Verlogenheit, Untreue, Illoyalität und Machtspielen, die ihn so unappetitlich, aber gleichzeitig schmerzlich wie unerlässlich machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Kleinlichkeit. – Am Ende des Tages – und man glaubt es kaum – kommt es genau auf die Frage an: Willst du Kaffee oder Tee trinken? – Daran entscheidet sich alles! Ich habe mal eine Frau kennengelernt,die nicht mit der Gewohnheit vertraut war, morgens einen Tee oder Kaffee zu trinken. Sie machte sich schlicht keine Gedanken darum, trank vielleicht mal ein lauwarmes Glas Wasser. Sie ist mir dadurch unheimlich und suspekt geworden. – Einen Tag nachdem ich das geschrieben hatte ging mir mein Wasserkocher kaputt. (Höchste göttliche Ahnung!)

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fähigkeit der Vision. — Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man der Vision — das heisst einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen“ — gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

(Nietzsche, Morgenröthe, 66)

„Alle Wahrheit ist einfach.“ — Ist das nicht zwiefach eine Lüge? —

(Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 4)

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