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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches

„Ein Göttertisch für göttliche Würfel und Würfelspieler!“

Nietzsches Übermensch zu Besuch in der Gründerszene

„Ein Göttertisch für göttliche Würfel und Würfelspieler!“

Nietzsches Übermensch zu Besuch in der Gründerszene

15.10.24
Natalie Schulte

Nietzsches Übermensch ist tot. Kaum einer kann noch etwas mit dieser obskuren Idee anfangen. Möchte man meinen. Und doch begegnen einem im aktuellen Startup-Milieu zahlreiche Versatzstücke aus Zarathustras Verheißung. Was hat es damit auf sich? – Natalie Schulte widmet sich anlässlich von Nietzsches 180. Geburtstag diesem eigenartigen Fortleben einer der bekanntesten Konzepte des Philosophen. Ein Plädoyer dafür, sich Nietzsches Idee trotz ihrer vergangenen und gegenwärtigen Missdeutungen doch noch einmal genauer anzusehen.

Hinweis der Redaktion: Längere englische Zitate haben wir in den Fußnoten selbst ins Deutsche übersetzt.

Nietzsches Übermensch ist tot. Kaum einer kann noch etwas mit dieser obskuren Idee anfangen. Möchte man meinen. Und doch begegnen einem im aktuellen Startup-Milieu zahlreiche Versatzstücke aus Zarathustras Verheißung. Was hat es damit auf sich? – Natalie Schulte widmet sich anlässlich von Nietzsches 180. Geburtstag diesem eigenartigen Fortleben einer der bekanntesten Konzepte des Philosophen. Ein Plädoyer dafür, sich Nietzsches Idee trotz ihrer vergangenen und gegenwärtigen Missdeutungen doch noch einmal genauer anzusehen.

Nietzsches Übermensch kann einem wie ein Atavismus vorkommen. Wer würde heute noch ein derart verschrobenes, abgehobenes, inhumanes Überhöhungsprojekt ernst nehmen? Wen erschaudert es nicht bei der Proklamation, die Menschheit auf ein neues, sich selbst transzendierendes Niveau heben zu wollen? Wir haben, gerade in Deutschland, mehr als genug schlechte Erfahrungen gemacht mit übertriebenen und unrealistischen Ideen, die sehr realistische, furchtbare Folgen zeitigten. Der Übermensch gehörte den Nationalsozialisten, dem Rassenwahn und biologistischen Schicksalsglauben. Schlimm genug, dass Nietzsche auch für diese Apostel kommender Herrlichkeit als Stichwortgeber dienen konnte. Das haben wir hinter uns.

I. Über-uns-Hinaus

Aber haben wir das? Blättert man durch die Ratgeberliteratur dieser Tage, zeitgenössischer noch: klickt man sich durch die neueren Moneymaking-Videos auf YouTube, kommt dem Nietzsche-Leser unerwartet vieles seltsam vertraut vor. „The fastest route to success is to accept that you with your current sense of self and your current identity and how you perceive yourself and how the world presents itself to you through your lens and your Paradigm, you’re not capable of bringing about the future, that you want to bring about. [...] We don’t achieve goals, we achieve characters. We achieve identities“1, heißt es etwa bei Charlie Morgan, einem der bekanntesten Influencer und jungen Multimillionäre, die in den sozialen Medien ihrem Publikum die Geheimnisse des Reichtums enthüllen. „Es war ungemütlich, es war außerhalb der Komfortzone, aber es hat mich wachsen lassen; und ich glaube, es liegt in der Natur des Menschen, wachsen zu wollen“2, predigt Alexander Müller, Mitgründer und -inhaber von Greator, der mit allein über 800.000 Youtube-Abonnenten einflussreichsten Bühne für Speaker und Coaches in Deutschland, und kann mit diesen Worten an zarathustrische Weisheit rühren: „Steigen will das Leben und steigend sich überwinden“3. „Geh in deine Vision, auch wenn es manchmal wehtun wird. Am Ende aber wirst du gewachsen sein, für deinen nächsten Schritt. Hin zu einem glücklicheren, erfolgreicheren und erfüllteren Leben“4, fügt Müller an großartigen Versprechungen hinzu.

Das Über-sich-Hinauswachsen nicht als Teil eines umfassenderen Bildungsprozesses, als Begleiterfahrung einer sinnerfüllten, gesellschaftsrelevanten Tätigkeit mit zahlreichen Herausforderungen, und nicht als Selbstaufgabe und Ichüberschreitung hin zum Nächsten im Sinne christlicher Caritas. Nein, das Über-sich-Hinauswachsen als reiner Selbstzweck, als Sinnquelle schlechthin, als Prinzip und Meta-Programm, als Unterziele setzende höchste Instanz, schlicht als zarathustrisches Lebensprinzip. Diese radikale Kernannahme finden wir nicht mehr in der Politik. Aber sie hat es in das Entrepreneur-Milieu der 2020er geschafft und prägt in einem neuen, modernen Gewand mit spirituellem Flair eine ganze Generation von Unternehmern.

II. Die Häutung des Übermenschen

Dass der äußere Erfolg ein Spiegel des inneren Entwicklungsstandes sei, diese Überzeugung beobachtet man als eines der Basisaxiome in der Szene. Nur konsequent scheint es daher, dass mangelnder ökonomischer Erfolg ein sicherer Beweis für innere Zurückgebliebenheit darstellt. „Das Unternehmen ist der Spiegel der Unternehmerpersönlichkeit. Beide können sich nur gemeinsam entwickeln. Wenn Ihr Unternehmen wächst, haben Sie zwei Möglichkeiten. Entweder Sie wachsen mit und Sie haben Erfolg. Oder Ihr Unternehmen wächst Ihnen über den Kopf und Sie gehen unter.“5 Das wäre natürlich schlimm. Aber keine Sorge! Mit den Angeboten aus der Speaker- und Coachings-Szene wirst du dich selbst verwandeln, Seelentiefe, intensivstes Glück und selbstgewählten Sinn und – ganz nebenbei als dann schon unausweichliches Nebenprodukt – Reichtum erzeugen. Mit letzterem ist im Übrigen nichts Innerliches gemeint, sondern ganz profan: Dinge, Statussymbole, Komfort und Geld. Ein Geist ohne Wohlwollen könnte unterstellen, letzteres sei für viele noch immer der eigentliche Antrieb für ihre „innere Suche“. Aber selbst von solchen wird für das Erreichen ihrer Ziele mehr als bloßes Erlernen von Skillsets und fleißiges Üben gefordert. Ja, mehr sogar noch als eine organische Transformation.  

Notwendig ist die Hingabe an die Verwandlung selbst. Denn jeder ist so weit gekommen, wie es ihm seine aktuelle Persönlichkeit erlaubt. Jeder bekommt, was er verdient, ließe sich auch formulieren. Aber kann denn der wahre Entrepreneur jemals irgendwo sein Ende, seinen Hafen, seine finale Gestalt finden? Nein, denn sein Wesen liegt in der Wesensveränderung, im ständigen Abstoßen eines alten Ichs zugunsten einer neuen, fähigeren Version. „You must commit psychological suicide. You, the person you are right now, is not capable of this, because if you were, you would have it.“6 Das alte Ich muss untergehen, denn es war zu schwach, um mehr von der Welt zu bekommen, als es bekam. Kein Glück, kein Heil, kein Geld.

Nicht die Träume vom Eigenheim oder vom Vermächtnis treiben die Protagonisten dieser Ideologie an, wie das bei vorangegangen Generationen der Bourgeoisie zumindest proklamiert worden war, sondern das Innerste selbst wird Gegenstand der Bearbeitung, des Kampfes, wird zum Glutzentrum für das eigene Schicksal. Das sich selbst transzendierende, immer wieder in den Untergang führende, schickende, stoßende Ich, das die Selbsttötung in diesem Sinne bejaht, den Untergang bejaht, das Leben als Wachsen des Einen aus dem Anderen, Sterbenden hervor bejaht – was ist dies anderes als der Übermensch, der von sich fordert: „Verbrennen musst du dich wollen in deiner eignen Flamme: wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist.“7

Dürften wir die wagemutige These vorbringen: Über den Übermenschen muss nicht mehr gesprochen werden, weil er sich längst verwirklicht hat? Verwirklicht zwar nur in einer kleinen Klasse, aber doch gerade in derjenigen, die das größte gestalterische, wirklichkeitsformende Potential verkörpert. Denn was nicht systemisch ausgelagert ist an technische, juristische, institutionelle Strukturen und Entitäten, was überhaupt noch einzelnen Menschen an innovativer Macht gegeben ist, bei wem anderes ließe sich diese stärker konzentriert finden als bei Unternehmern?

III. Zeitgenössische Abenteurer

Keiner schreibt sich das Scheitern-Wollen so prominent auf die Fahnen, das Abenteurertum, das Ausprobieren und Spielen wie die Kaste der Entrepreneure. Und niemand ist so wenig gefangen in organisatorischen Strukturen und Mechanismen, ins Maschinelle großer Konzerne und politischer Betriebe wie sie. Nirgendwo sonst wird so viel ausprobiert, gewagt, verloren und gewonnen wie dort: „As entrepreneurs, we make bets everyday. We are gamblers – gambling our hard-earned money on labor, inventory, rent, marketing, etc., all with the hopes of a higher pay out. Oftentimes, we lose. But sometimes, we win and win BIG.“8 Auch Nietzsches Übermensch wagt alles und riskiert, zu Grunde zu gehen, wenn das Abbruchunternehmen alles in den Staub wälzt, was überkommen und überholt erscheint, und doch richtet sich sein Blick stets auf dasjenige, was neu errichtet werden kann: „[M]ag doch Alles zerbrechen, was an unseren Wahrheiten zerbrechen – kann! Manches Haus gibt es noch zu bauen!“9 Ja, je höher der Einsatz, desto größer und edler das Unternehmen, die Tat: „Das ist die Hingebung des Grössten, dass es Wagnis ist und Gefahr und um den Tod ein Würfelspielen“ (ebd.)

Nichts wird in der Startup-Szene so hoch geschätzt wie das Spagat aus Mut, Commitment und Gelassenheit. Der wahre Spieler geht hohe Risiken ein, „gibt alles“ für den Gewinn – und geht lachend vom Feld, wenn er bemerkt, dass er verloren hat. So skizziert man den idealen Unternehmer, mit solcher „Enthobenheit” wünscht sich Zarathustra den neuen Menschen: „[W]er von euch kann zugleich lachen und erhoben sein? Wer auf den höchsten Bergen steigt, der lacht über alle Trauer-Spiele und Trauer-Ernste. Muthig, unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig – so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann.“10

Das Ziel wird bloßes Mittel für den Entrepreneur, eine nahezu willkürliche Setzung, die im Grunde lediglich dazu dient, einen bestimmten Lebensstil zu verwirklichen, nämlich den des ständigen Über-Sich-Hinaus. Die persönliche „Mission“, von der in Manager-Seminaren oft genug die Rede ist, muss weder Weltfrieden noch der „Wohlstand der Nationen“ sein, von dem noch die Vordenker des Kapitalismus wie Immanuel Kant und Adam Smith träumten, sondern darf durchaus bewusst als nur temporäres Vehikel für eigene Transformationsschübe und Höchstleistungen postuliert und geglaubt werden. Man lässt sich darauf ein, wie man sich auf eine Partie Schach einlässt. Man muss das Gewinnen-Wollen ernst nehmen. Aber egal ob man am Ende als Sieger oder Verlierer aufsteht, darf man das Spiel doch nicht ernst genommen haben. Das Brett wird geräumt, die Figuren wieder aufgebaut, eine neue Runde, genauso ernst, genauso unernst.

Eine nahezu übermenschliche Autonomie-Erfahrung, darf man anmerken, geht damit einher. Prinzipien werden aufgestellt, das eigene Handeln mit einer Rigorosität an ihnen ausgerichtet, als seien sie auf Gesetzestafeln gemeißelt und vom Himmel diktiert, Hauptsache es ist das eigene Selbst, das sie zum Gesetz erhoben hat: „Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu? Kannst du dir selber dein Böses und Gutes geben und deinen Willen über dich aufhängen wie ein Gesetz! Kannst du dir selber Richter sein und Rächer deines Gesetzes?“11 Diese Gesetze gelten für den nietzscheschen Übermenschen wie für den Unternehmer nur so lange, als sie das Ego an seine Grenzen und über sie hinaus führen. Ist ein Plateau erreicht – und ja, das meint bei letzteren durchaus ein finanzielles Plateau –, wird es Zeit, die alten Steinklumpen zu zerbrechen. Sie engen nur ein und müssen durch aktualisierte Gravuren ersetzt werden, die ein neues Ich erfordern. Ein Ich, das ein höheres Dollar-pro-Monat-Level freischalten wird.

IV. Kampfgefährten statt Moral

Dabei bleibt, ganz gleich, wie viele Weiterbildungen über „ethisches Wirtschaften” die Protagonisten der Gründerszene auch besuchen mögen, Moral, wie sich leicht vermuten lässt, ein klar externes, fremdes Element. Zwar soll das eigene Produkt immer „ein Problem lösen” und könnte damit im aristotelischen Sinne „gut” genannt werden. Aber das Spektrum der „Probleme“, die der gewiefte Geschäftsmann zu lösen sich anschickt, reicht vom Bedarf an neuen Technologien für Herzklappen über eine schnellere, bargeldlose Zahlungsabwicklung bis hin zu „Bedürfnissen“ nach pornographischem Material. Die Grenzen des Machbaren legt das Gesetz fest, nicht die Moral. Zwar würden viele Jungunternehmer zweifellos auch keine Waffen, Sklaven oder Drogen handeln, wenn die juristischen Rahmenbedingungen legerer wären, aber diese persönliche moralische Einschränkung ist kaum eine, die von dem Überzeugungssystem ihrer Ideologie irgendeine nennenswerte Stütze erhält.

Als moralinfrei könnte man auch die Lehre des Übermenschen begreifen. Zwar soll die alte Moral mit ihren lebensverneinenden Idealen überwunden werden, wohin es aber gehen soll, bleibt zum größten Teil unbestimmt. Woran derjenige leidet, der zum neuen Ideal hinstrebt, ist nicht das Leiden an der Ungerechtigkeit oder am Bösen in der Welt, nein es ist der Ekel ob der Kleinheit des Menschen, „dass ihr Bestes so gar klein ist! Dass ihr Bösestes so gar klein ist!“12 Der Übermensch soll „der Erde treu“13 bleiben, nicht den Genuss abwerten, er kann sogar Selbstsucht, Herrschsucht und was sonst bisher unter negativen Zeichen stand aufwerten. Und um die Neuwertung dreht sich auch das Gesamtprojekt: „Schätzen ist Schaffen, hört es, ihr Schaffenden! Schätzen selber ist aller geschätzten Dinge Schatz und Kleinod. Durch das Schätzen erst gibt es Werth: und ohne das Schätzen wäre die Nuss des Daseins hohl. Hört es, ihr Schaffenden!“14. Wer aber ist besser dazu geeignet, den Dingen ihren Wert, ihren Preis zu verleihen, als der Kapitalist, der Börsenspieler, der Jungunternehmer? Die Preise werden nicht durch Ding, Welt oder Natur bestimmt, man erinnere sich, „die Natur ist immer werthlos“15, sondern der Wert wird von den Menschen in die Natur hineingelegt, man könnte auch sagen, er wird erfunden.

Analog zieht sich die Mitmenschlichkeit im Unternehmermilieu angesichts der abstrakten Forderungen der Moral auf einen reduzierten Modus Operandi zurück. Es gehört zu den zentralen, unendlich oft iterierten Mantras, dass der Einzelne den Menschen ähnelt, mit denen er am meisten Zeit verbringt: „Erfolg zu haben ist ganz einfach. Was wäre, wenn ich dir sage, dass du den Schlüssel dazu direkt vor Augen hast? Ja, ganz wortwörtlich! Schau dir einfach deine Umgebung näher an: Mit wem lebst du zusammen? Mit wem arbeitest du? Ist dein Umfeld voller positiver Energie? Mit wem verbringst du deine Freizeit?“16

Wie der Übermensch, so hat der Unternehmer nach solchen zu suchen, die gleichen Geistes Kinder sind. Wer auf demselben Weg von Verwandlung zu Verwandlung dahin galoppiert, der kann Freund und Bruder sein, denn dann kann man einander erkennen, kann sich befruchten und inspirieren, kann sich aufhellen in den dunklen Stunden des Zweifels, mehr aber noch: kann den anderen zu höheren, größeren Taten ermutigen. Freundschaft, das heißt, das Potential im anderen schlummern sehen, und es mit ihm zusammen erwecken. Dann wächst man gemeinsam, jeder für sich in seinem Abenteuer begriffen, und doch mit einer starken, wohlgesinnten Hand und Stimme in der Nähe. Was man möchte, sind  „Gefährten [...], die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen – und dorthin, wo ich will. [...] Gefährten sucht der Schaffende und nicht Leichname, und auch nicht Heerden und Gläubige. Die Mitschaffenden sucht der Schaffende, Die, welche neue Werthe auf neue Tafeln schreiben“17.  

Und was ist mit denen, die das nicht so sehen? Den Compagnons von früher, denjenigen, die nicht von derselben Ideologie des Geldverdienens durch spirituelle Erweckung überzeugt sind? Die vielleicht andere Lebenshaltungen verkörpern und anderes wertschätzen? Und die von Freundschaft etwas mehr erwarten als ein gegenseitiges Anfeuern beim Sprint auf dem Hamsterrad? Nun, auch hier soll man vorübergehen, nicht mit Missgunst, sondern einen Segen murmelnd und in Freiheit. Keinesfalls aber sollte man sich an diese Menschen ketten. Man hat sie hinter sich gelassen. Was gelten jetzt ihre Sorgen und Ratschläge, vielleicht gar ihre leeren Bemerkungen, man habe sich in eine oberflächliche Selbstoptimierungsmaschine verwandelt? Was wissen sie schon? Im Grunde sind sie schwach. Und den Schwachen soll man kein Arzt, keine Krücke sein. Sie werden es einem nicht danken. Kette dich nicht an die Lahmen, lass sie zurück, umgebe dich mit Personen auf deinem „Niveau“, das heißt im Unternehmermilieu: mit möglichst identischer Weltanschauung.

Wer, der schon mal durch Zarathustras Zeilen geschwommen ist, würde darin nicht des Meisters letzte Lektion erblicken, nämlich dem Mitleiden zu entsagen?18 Es gilt, nicht denjenigen ein Lehrer sein, die zu schwach sind, um die Lehren des Übermenschen zu verinnerlichen und zu verkörpern, sondern allein weiterzugehen und ernst zu machen mit dem Vorsatz: „Und wen ihr nicht fliegen lehrt, den lehrt mir – schneller fallen! –“19

V. „Price is what you pay, value is what you get“20 (Warren Buffett)

Aber, so dürfen wir annehmen, die meisten der Jungunternehmern, ja selbst der Coaches, Berater und Speaker haben Nietzsche doch nie gelesen, haben vom „Übermenschen“ kaum mehr als das Wort gehört. Wie kann es sein, dass so viele ihrer Überzeugungen und Phrasen exakt dem zarathustrischen Ideal zu entsprechen scheinen? Hat sein Konzept einen geheimen Weg ins kollektive Unterbewusste gefunden und sich seine eigene Nische, „seine“ Menschen gesucht, zu denen es reden kann? Ist, um die Frage vom Beginn zu wiederholen, vom Übermenschen kaum mehr die Rede, weil er sich verwirklicht hat?

Zugleich aber muss man doch zögern, beim Anblick der Prediger der Geld-durch-Glück-Botschaft nietzschesche Träume verwirklicht zu sehen. Ist das die Elite, die er erhoffte? Eine Gemeinschaft geldgieriger Glückssucher? Von der Bühne bellen im besten Scheinwerferlicht hochbezahlte Redner ihre Heilsversprechen. Auf Fuckup-Nights erzählen Unternehmer lachend von ihren schlimmsten Fehlversuchen, ihren übelsten Bankrotten. In Fitness-Centern brüllen Freunde einander motivierende Wahrheiten zu. Wenn du es hier schaffst, schaffst du’s überall.

Ist Zarathustra, der Künder des Übermenschen, nicht selbst – entgegen eigener Selbstbekundung – viel zu sehr Philosoph, um sich mit einem derart dürftigen Materialismus zufrieden zu geben? Und hat nicht der Übermensch als Idee einen ganz anderen, geistigen Kern als das bloße Sich-Überbieten? Wir wollen nicht nur lapidar einwenden, dass übermäßiger Besitz vom Proklamierer des Übermenschen als Fußfessel angesehen wird und das Ideal des Geldes von vornherein verpönt erscheint: „– wahrlich nicht zu einem Adel, den ihr kaufen könntet gleich den Krämern und mit Krämer-Golde: denn wenig Werth hat Alles, was seinen Preis hat“21, sondern vor allem betonen, dass dem Wertschätzen ein ganz anderer Gehalt zukommt, sowie der Sinn der Erde mitnichten materialistisch zu verstehen ist. Neue Werte sollen ins Leben gerufen werden, weil die bisherigen sich als nihilistisch erwiesen haben. Die sinnen- und leibfeindlichen Ideale des Christenthums sind überholt, weil die Gottesthese unglaubwürdig geworden ist, die Menschen, die Gott als Erfindung und Projektion enttarnten, haben aber noch die alten Werte in einer minderwertigen, mittelmäßigeren Version beibehalten. Nun, wo es keinen Gott mehr gibt, der noch glaubwürdig sein kann, wo das irdische Leben alles ist, versucht man es sich behaglich, sicher und gesund im Leben einzurichten. Gegen diese Behaglichkeit, Ideallosigkeit und Verkleinerung der Idee der Menschheit wendet sich das zarathustrische Ideal. Auch die Werte der Entrepreneure sind sicherlich keine der Genügsamkeit, daher könnte man sie gar mit dem zarathustrischen Ideal verwechseln, sofern man in diesem nur das „Über-sich-hinaus“ nur das schlichte Selbstgesetz erkennen will. Nichtsdestotrotz hat das „Immer weiter“ und „Immer mehr vom selben“ einen nihilistischen Kern. Dort, wo allem ein Zahlwert gegeben wird, wird Ungleiches gleich gemacht. Geld wird akkumuliert, ohne dass die Akteure noch sagen könnten, wozu dieses Geld gut wäre. Sie können es noch „setzen“ und „verspielen“, es in einem Leben einfach auszugeben, wäre schon eine Herausforderung. Die gestalterische Kraft kann ohne eine Antwort auf die Frage, wie die Welt gestaltet werden soll, nur nach einem „Mehr“ gieren, das alle anderen Bereiche des Lebens verkrüppeln lässt.22 Der Mensch braucht neue Werte und Sehnsüchte, an die er glauben kann, er braucht also eine Antwort auf die Frage „wozu?“. Diese Frage kann in einem säkularen Zeitalter nur der Mensch beantworten. Kann er dies aber als Einzelner, ist der Übermensch überhaupt ein Einzelner? Dies ist eine komplexe Frage. Häufig wird der Übermensch als Egomane begriffen, der in vollkommener Selbstherrlichkeit den Platz einnimmt, den vorher Gott innehatte. Keine Moral, kein übergeordnetes Gesetz kann ihm noch diktieren. Gibt es denn ein inneres Gesetz?

VI. Die Kannibalen des Kapitalismus

Kommen wir auf die Motivation zurück, die Zarathustra, den Verkünder des Übermenschen, zu den Menschen führt, so sehen wir ein Motiv, das wir keinesfalls unbeachtet lassen sollten. Als Zarathustra davon abgeraten wird, zu den Menschen zu gehen, sie würden ihm nicht zuhören und nicht verstehen, ihm vielleicht gar gefährlich werden, erwidert Zarathustra: „Ich liebe die Menschen.“23

Mag auch vieles vom Menschen wie reine Selbstermächtigung zu Gunsten eines reicheren, wohlgemerkt seelisch reicheren Ichs wirken, sollte man dennoch nicht außer Acht lassen, dass Zarathustra den Menschen ein Geschenk bringen will. Nur wenn man dies ignoriert, können die Worte, Mantras und Aphorismen in der vibrierenden Szene der jungen Entrepreneure frappierend ähnlich klingen wie die Tugenden des Übermenschen. Das Vernichten überkommener Ichs, das Erwachsen von Neuem als Prinzip, der frische Wagemut, das spielerische Gemüt, das sich einlässt, aber auch wieder entlässt, das in höchster Autonomie ohne Moral eigene Gesetze entwirft, die ihm dienen, nicht denen es selbst dient. Der Übermensch, der nie in festen Formen stecken bleibt, genauso wenig, wie er an geliebten Menschen festhält, wo er ihnen entwachsen ist. Der, wo ihm Übel geschieht, ohne Missgunst dem Leben oder den Menschen gegenüber jede Schwierigkeit als eine Herausforderung bejaht, als Chance zu wachsen, als ein Sprungbrett für die nächste Ebene. Der Dankbarkeit empfindet. Der, zuletzt, ohne Scham und Schuld genießt, weil er weiß, dass kein Gott und kein Gericht auf ihn wartet.

Und doch muss man bei genauerem Hinsehen erkennen, dass Nietzsche selbst dort missverstanden wird, wo er nicht zitiert wird. Der Übermensch wird in der Avantgarde der jungen Kapitalisten nicht ausdrücklich erwähnt. Aber viele Versatzstücke ihrer Ideologie sind aus dem geistigen Inventar von Nietzsches Philosophie entnommen. Doch nur in einer reduzierten, angepassten, verformten Version. Das wahre und einzige Ziel der Ökonomie unserer Tage – daran hat sich seit Marx wenig geändert – bleibt die Kapitalakkumulation. Sie mag sich immer wieder neue, zeitgemäße Gewänder anlegen, mag neue Moden erfinden und kulturelle Strömungen aufnehmen und allerlei unterschiedliches Vokabular integrieren, ihr Wesen bleibt sich doch stets gleich. Und ihre Subjekte, die Exekutanten ihrer Mechanismen, passen ihr eigenes Innenleben zur bestmöglichen Verwendbarkeit – aus ihrer Sicht für den „Erfolg“ – um jeden Preis an die Erfordernisse des Systems an.

Nietzsches Übermensch aber trägt ein anderes Versprechen in sich. Eine Vorstellung von Menschheit und menschlicher Entwicklung, die mit den Missständen und Missverständnissen einer mehrfach verknoteten geistigen Tradition aufgeräumt hat und mit Freiheit eine eigene, gottlose Zukunft zu beginnen imstande ist. Um diese zu beschreiten, wäre es aber vielleicht eine gute Idee, doch noch einmal über den Übermenschen zu sprechen.

Literatur

Beck, Tobias: Unbox your life! Bewohnerfrei: Das Geheimnis für deinen Erfolg. Offenbach 2018. 7. Auflage 2022.

Hormozi, Alex: $100M Offers. How To Make Offers So Good, People Feel Stupid Saying No. Ebook, Aquisition.com 2021.

Merath, Stefan: Der Weg zum erfolgreichen Unternehmer. Wie Sie und Ihr Unternehmen neue Dynamik gewinnen. Offenbach 2008. 21. Auflage 2021.

Morgan, Charlie: I told myself I was rich until it came true. Online: https://youtu.be/IUxn7vT104Y (veröffentlicht am 19.03.2023, abgerufen am 26.5.2024).

Müller, Alexander: It’s In You. Visionen, Erfolg, erfülltes Leben. Ebook, München 2024.

Fußnoten

1: Morgan, I told myself I was rich until It came true, Minute 21:16 & 22:14. Übersetzung: „Der schnellste Weg zum Erfolg ist es zu akzeptieren, dass du mit deinem gegenwärtigen Selbstverständnis und deiner gegenwärtigen Identität und wie du dich wahrnimmst und wie sich die Welt dir durch deine Linsen präsentiert und deinem Paradigma, dass du nicht in der Lage dazu bist, die Zukunft herbeizuführen, die du herbeiführen willst. [...] Wir verwirklichen keine Ziele, wir verwirklichen Persönlichkeiten. Wir verwirklichen Identitäten.“

2: Müller, It’s In You, Position 198.

3: Also sprach Zarathustra, Von den Taranteln.

4: Müller, It’s In You, Position 215.

5: Merath, Der Weg zum erfolgreichen Unternehmer, S. 59.

6: Morgan, I told myself I was rich until It came true, Minute 20:58. Übersetzung: „Du musst psychologischen Selbstmord begehen. Du, die Person, die du jetzt bist, ist dazu nicht in der Lage, denn wenn du es wärst, dann hättest du es schon.“

7: Also sprach Zarathustra, Vom Wege des Schaffenden.

8: Hormozi, $100M Offers, S. 11. Übersetzung: „Als Unternehmer schließen wir jeden Tag Wettten ab. Wir sind Spieler – wir setzen unser hartverdientes Geld auf Arbeitskraft, Inventar, Miete, Marketing etc., alles in der Hoffnung, dass es sich auszahlen wird. Oft verlieren wird. Aber manchmal gewinnen wir und gewinnen VIEL.“

9: Also sprach Zarathustra, Von der Selbst-Ueberwindung.

10: Also sprach Zarathustra, Vom Lesen und Schreiben.

11: Also sprach Zarathustra, Vom Wege des Schaffenden.

12: Also sprach Zarathustra, Von den alten und neuen Tafeln, 2.

13: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3.

14: Also sprach Zarathustra, Von tausend und Einem Ziele.

15: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 301.

16: Beck, Unbox your life!, Position 102.

17: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 9.

18: Vgl. Also sprach Zarathustra, Das Zeichen.

19: Also sprach Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 20.

20: Übersetzung: „Preis ist, was man bezahlt; Wert ist, was man erhält.“

21: Also sprach Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 12.

22: Vgl. Also sprach Zarathustra, Von der Erlösung.

23: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 2.

Nietzsche und die Ukraine

Ein Gespräch mit Vitalii Mudrakov

Nietzsche und die Ukraine

Ein Gespräch mit Vitalii Mudrakov

7.10.24
Vitalii Mudrakov & Paul Stephan

Vitalii Mudrakov ist einer der führenden Nietzsche-Experten der Ukraine. Aufgrund des Krieges lebt er mit seiner Familie derzeit in Deutschland. Paul Stephan unterhielt sich mit ihm ausführlich über einige Aspekte der reichhaltigen ukrainischen Nietzsche-Rezeption im Kontext der vielfach ignorierten eigenständigen Kulturgeschichte des Landes. Sie zeigt, dass Nietzsches freiheitliches Denken immer wieder zentrale Protagonisten der ukrainischen Kultur in ihrem Ringen um eine unabhängige Nation frei von habsburgischer, zaristischer oder sowjetischer Fremdherrschaft inspirierte – und heute wieder den Kampf um die eigene Selbstbehauptung angesichts der russischen Invasion.

Vitalii Mudrakov ist einer der führenden Nietzsche-Experten der Ukraine. Aufgrund des Krieges lebt er mit seiner Familie derzeit in Deutschland. Paul Stephan unterhielt sich mit ihm ausführlich über einige Aspekte der reichhaltigen ukrainischen Nietzsche-Rezeption im Kontext der vielfach ignorierten eigenständigen Kulturgeschichte des Landes. Sie zeigt, dass Nietzsches freiheitliches Denken immer wieder zentrale Protagonisten der ukrainischen Kultur in ihrem Ringen um eine unabhängige Nation frei von habsburgischer, zaristischer oder sowjetischer Fremdherrschaft inspirierte – und heute wieder den Kampf um die eigene Selbstbehauptung angesichts der russischen Invasion.

I. Nietzsche in der Ukraine – Eine grobe Übersicht

Paul Stephan: Lieber Herr Dr. Mudrakov, haben Sie vielen herzlichen Dank, dass Sie sich zu diesem Gespräch zu Nietzsche in der ukrainischen Kultur bereiterklärt haben. Vielleicht ist es am besten, es mit einer ganz allgemeinen Frage zu beginnen: Welche Rolle spielt Nietzsche denn in Ihrem Land? Gibt und gab es dort eine starke Beschäftigung mit dem deutschen Philosophen, die sich wesentlich auf die ukrainische Kultur auswirkte? Oder handelt es sich eher um eine exotische Randfigur? Bei der vergangenen Nietzsche-Tagung kamen Sie ja in dieser Hinsicht bereits auf die Schriftstellerin Olha Kobylianska zu sprechen, wir berichteten, die in zumindest einem Text Nietzsche stark rezipiert. War sie damit eher eine Ausnahme – oder gibt es weitere solcher Beispiele?

Vitalii Mudrakov: In der Tat ist es eine große Ehre und Freude für mich, über eine solche Verbindung wie „Nietzsche und die Ukraine“ zu sprechen, denn die Ukraine ist sozusagen mein ontologischer Wachstumskontext, sie ist mein Heimatland, und Nietzsche ist eines der wichtigsten intellektuellen ‚Düngemittel‘ für dieses Wachstum. Da wir also über so wichtige Dinge sprechen, fühle ich eine große Verantwortung. Deshalb danke ich Ihnen für die Gelegenheit eines solchen Gesprächs. Ich hoffe auch, dass diese Diskussion nicht nur erkenntnisreich sein wird, sondern auch in gewisser Weise meine inneren Gefühle widerspiegelt.

Um Ihre Frage ganz allgemein zu beantworten, können wir mit den vorgeschlagenen Formulierungen sagen, dass es sich um eine „exotische Randfigur“ handelt – aber dieser Exotismus hat deutliche Spuren hinterlassen. In dieser Hinsicht würde ich Ihre Frage noch etwas vertiefen, indem ich darlege, wann genau Nietzsche in meinem Land eine Bedeutung hatte.

Seine Rolle für das ukrainische Geistesleben sollte also nicht unterschätzt werden, aber sie war in den verschiedenen Zeiträumen sehr unterschiedlich! Daher würde ich unseren Austausch gerne mit einer Periodisierung der ukrainischen Rezeptionen beginnen. Und da Teile der ukrainischen Gebiete in den unterschiedlichen Perioden zu verschiedenen Staatsgebilden gehörten (das Österreichisch-Ungarische und das Russische Reich, die Sowjetunion und die unabhängige Ukraine), ist es zugleich unerlässlich, über die Geographie der ukrainischen Rezeptionen zu sprechen. Um uns also besser orientieren zu können, schlage ich die folgende vorläufige, vielleicht etwas politische, Periodisierung vor:

(1) Die erste Periode würde ich als „imperial“ bezeichnen, zeitlich umfasst sie das Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Untergang der Reiche. Zu diesem Zeitpunkt betritt Nietzsche sozusagen das Gebiet der ukrainischen Länder, die zu verschiedenen Reichen gehörten und denen sehr unterschiedliche kulturelle und politische Rechte gewährt wurden. Und hier tritt die Schriftstellerin Olha Kobyljanska (1863-1942) in den Vordergrund. Schließlich ist sie unter anderem diejenige, die sehr aktiv Nietzsche’sche Ideen in die ukrainische Literatur einführte und damit modernistische Tendenzen in ihr etablierte. Aus diesem Grund gilt sie eigentlich als eine der Schlüsselautorinnen der frühen Moderne in der Ukraine.

Zahlreiche führende Intellektuelle der Zeit wiesen auf den übermäßigen Einfluss Nietzsches auf die Schriftstellerin hin.1 Sie bezogen sich dabei vor allem auf die von der Autorin, insbesondere in ihren frühen Werken, eingeführten Ideen der „starken Person“ bzw. „starken Frau“. Mit diesen wirkte sie erheblich auf die dominante feministische Bewegung der Zeit in der Region ein und insofern können wir sagen, dass der – vermittelte – Einfluss Nietzsches hier sehr bedeutend war. Kobylianska kann also als die erste ukrainische Nietzscheanerin angesehen werden, die in Österreich-Ungarn lebte. Und auch die erste ukrainische Nietzscheanerin überhaupt, weil ihr Interesse an Nietzsche ähnlichen Tendenzen in der übrigen Ukraine, die damals Teil des Russischen Reiches war, vorausging.

Der nietzscheanische Einfluss in diesem von Russland beherrschten Teil der Ukraine ist insgesamt betrachtet eher oberflächlich, er zeigt sich z. B. in der antichristlichen Kritik und dem Experimentieren mit verschiedenen Mythologien, etwa Motiven der vorchristlichen slawischen Tradition, in einigen Werken. Zurückzuführen lässt er sich wiederum auf Frau, die Schriftstellerin Lessja Ukrajinka (1871-1913). Sie stammte aus Wolhynien, das damals Teil des russischen Reiches war. Wolodymyr Wynnytschenko (1880-1951), Wjatscheslaw Lypynskyj (1882-1931) und Dmytro Donzow (1883-1973) können ebenfalls in die Galaxie des ‚russischen Teils‘ der ukrainischen Autoren aufgenommen werden, in der der Einfluss des deutschen Philosophen offensichtlich ist. Diese Autoren eint nicht nur ihre Nietzsche-Rezeption, sondern auch ihr politisches Wirken. Obwohl ihre Lesarten von Nietzsche sehr unterschiedlich waren, können wir angesichts dieser Synthese von Philosophie und Politik doch von einer geteilten ideologischen Verschärfung sprechen, die von Nietzsches Philosophie inspiriert wurde. Diese Verschärfung beruhte auf dem Wunsch, die Lebens- bzw. Existenzkultur der ukrainischen Nation zu verändern. Die oben genannten Autoren sprachen etwa von der „Notwendigkeit einer revolutionären Umgestaltung des Lebens eines neuen Menschen“, den „Problemen des Volkswillens“ oder dem „Ideal eines starken Menschen“.

(2) Über die zweite sowjetische Periode kann ich nicht viel sagen, da Nietzsche in dieser Zeit – die etwa 70 Jahre des Bestehens der Sowjetunion – verboten war und es kaum Möglichkeiten gab, mit seinen Texten zu arbeiten. Nietzsche wurde in dieser Zeit nur durch den Filter der Floskeln der sowjetischen Enzyklopädien gesehen, wie folgt: „Ein reaktionärer idealistischer Philosoph, ein unverblümter Apologet der bürgerlichen Ausbeutung, der Aggression und der faschistischen Ideologie”. Nietzsche konnte also nicht mit den bolschewistischen Interpretationen von Marx um die Aufmerksamkeit der sowjetischen Proletarier konkurrieren.2 Und die anfänglichen Versuche der 20er und 30er Jahre, Nietzsche weiter zu rezipieren, insbesondere durch literarische Visionen, endeten in der Tragödie der „erschossene Renaissance“: Der ukrainische Futurismus von Mychajlo Semenko (1892-1937), der einen Typus des willensstarken „eisernen Menschen“ auf einer künstlerischen nihilistischen Plattform zu verkörpern suchte, oder das Echo der „Übermenschen“-Bilder als Führer der Massen, der für sein eigenes Heimatland verantwortlich war, von Mykola Сhwylowyj (1893-1933), trafen auf die Auswirkungen und Folgen des Stalinismus.

Es ist wichtig zu betonen, dass die Autoren beider Perioden in Imperien lebten und auf unterschiedliche Weise unter dem Regime der Sowjetunion litten (einige wurden zur Emigration gezwungen, andere wurden inhaftiert und einige bezahlten sofort mit ihrem Leben). Sie waren also Teil beider Perioden, so dass die Besonderheit dieser Periodisierung vor allem darin besteht, auf die je spezifische Möglichkeit hinzuweisen, Nietzsches Philosophie neu zu rezipieren oder mit den Prinzipien seiner Weltanschauung im Allgemeinen zu arbeiten.

(3) Die dritte Periode, die man offensichtlich als „unabhängig” bezeichnen kann – von den frühen 1990er Jahren bis heute – eröffnete wieder die Möglichkeit, Nietzsche kennenzulernen und einige Forschungsprojekte zu seiner Philosophie zu entwickeln. Ich würde hier allerdings nicht von einer allgemeinen kulturellen Beeinflussung sprechen, sondern eher von einer wachsenden Nietzsche-Forschung und -Übersetzung. In den 1990er Jahren erschienen Anatolij Onyschkos Übersetzungen von Also sprach Zarathustra und Petro Taraschchuks von Der Antichrist; Anfang der 2000er Jahre wurden Onyschkos Übersetzungen von Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral veröffentlicht. Ein sehr wichtiges weiteres Nietzsche-Übersetzungsprojekt wurde von Oleh Feschovets und Kateryna Kotiuk in Kooperation mit dem Verlag Astrolabe im Jahr 2004 gestartet. Dessen Bedeutung lag darin, dass die Übersetzung auf der kritischen Ausgabe von Colli und Montinari basierte, die Nietzsche dem ukrainischen Publikum auf eine völlig andere Art und Weise erschloss, einen ‚entnazifizierten‘ Nietzsche. Auf der Website des Verlags Astrolabe ist zu lesen, dass derzeit sieben Bände der Übersetzung fertiggestellt wurden.  Leider kommt sie etwas schleppend voran. Es gibt auch andere zeitgenössische Übersetzungen, wie die von Wakhtang Kebuladze übersetzte Morgenröthe, die vor ein paar Jahren veröffentlicht wurde, und einige der Ideen des deutschen Philosophen werden in einem philosophischen Übersetzungslabor unter der Leitung des genannten Autors und Übersetzers diskutiert.  

Es ist interessant festzustellen, dass die ersten Studien, die der ukrainischen Rezeption Nietzsches gewidmet sind, gleich mit den Jubiläumsjahren des Philosophen verfasst wurden. Zum Beispiel die eher programmatischen Artikel von Ihor Bytschko (Nietzsche in der Ukraine, zum 150. Jahrestag) und Volodymyr Zhmyr (Auf den Spuren von Nietzsche in der Ukraine, zum 160. Jahrestag). Der kürzlich erschienene Artikel Ukrainischer Nietzscheanismus von Taras Ljutyj unterstreicht die beiden vorangegangenen.

Der diesjährige 180. Geburtstag Nietzsches gibt Gründe zur Hoffnung, dass dieses Ereignis trotz aller Belastungen durch die russische Aggression und den Krieg auch im ukrainischen Raum ansatzweise behandelt wird. Zumindest habe ich dazu ein paar Ideen, die nicht nur eine einmalige, sondern hoffentlich eine dauerhafte Wirkung entfalten werden. – Daher würde ich sagen, dass Nietzsche seine Reise in der Ukraine gerade erst beginnt.

II. Nietzsche und die Entstehung des ukrainischen Nationalbewusstseins

PS: Haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihre ausführliche und sehr gehaltvolle Antwort. Lassen Sie mich zu den einzelnen Perioden jeweils eine Rückfrage stellen. Zur ersten Periode würde ich gerne bemerken, dass ich hier große Parallelen zur Nietzsche-Rezeption im Allgemeinen erblicke. Es gab zahlreiche Feministinnen und emanzipierte Frauen, die Nietzsche ein solches Leitbild einer „starken Frau“, mitunter sogar eines „Überweibs“, entnahmen. Nietzsche wurde nicht zuletzt von Frauen gelesen – und dies in einem ganz anderen Sinne, als es manchen seiner Texte zu entnehmen ist. Er wurde gegen seinen Willen zu einem wichtigen Katalysator des Feminismus und der allgemeinen Frauenemanzipation – es ist hier, denke ich, zwischen der politischen Bewegung und der kulturellen Bewegung zu unterscheiden –, aber auch, wie Sie ja ebenfalls vermerken, generell zum Katalysator politischer und kultureller Radikalisierungsprozesse. Was mich interessiert, ist, ob es schon in dieser Periode das Bewusstsein einer ukrainischen Literatur gab oder ob sich die Autorinnen und Autoren eher als Untertanen des Kaiser- bzw. Zarenreichs verstanden.

VM: Wenn wir über den Zeitrahmen dieser Periode sprechen, nämlich das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert, dann hat sich in dieser Zeit definitiv und eindeutig ein vollwertiges Bewusstsein für die ukrainische Literatur gebildet. Außerdem findet in dieser Zeit bereits das statt, was man bedingt als „die nächste Generation dieses Bewusstseins“ bezeichnen kann, denn schon davor hatte sich das Verständnis einer eigenständigen ukrainischen Nationalliteratur entwickelt. Damit meine ich in erster Linie das Phänomen Taras Schewtschenko (1814-1861). Er lebte und arbeitete Mitte des 19. Jahrhunderts im Russischen Reich und gilt als Begründer und Förderer des ukrainischen Nationalbewusstseins in der Literatur im politischen Sinne. Noch heute gilt Schewtschenkos Werk als geistige Grundlage für die Bildung der modernen ukrainischen Nation und als Quelle des nationalen und politischen Bewusstseins, und der Schriftsteller selbst ist ein Symbol der Ukraine – ähnlich vielleicht wie Shakespeare für England oder Goethe für Deutschland. Aber natürlich können wir auch von Schriftstellern sprechen, die vor ihm oder zur gleichen Zeit gelebt haben und die ebenfalls ihren Beitrag zu diesem Bewusstsein geleistet haben. Iwan Kotljarewskyj (1769-1838) etwa und dann Petro Hulak-Artemovskyj (1790-1865). Ersterer gilt als Klassiker der neuen ukrainischen Literatur, doch sein Beitrag zur Herausbildung der ukrainischen Nationalkultur solcher ist eher ästhetischer und sprachlicher Natur; letzterer wird von der Forschung trotz seiner schriftstellerischen, übersetzerischen und pädagogischen Verdienste einer übermäßigen Loyalität gegenüber der zaristischen Kanzlei bezichtigt. Daher bedeutet die Jahrhundertwende für die ukrainische Literatur bereits eine gewisse Keimung dieses Fundaments. Allerdings standen diese zarten Keimlinge stets unter der heißen Sonne des politischen Drucks des Zarenreichs: offizielle Nichtanerkennung, Opposition oder völliges Verbot der ukrainischen Sprache und jeglicher literarischen Produktion.

Wenn es um Figuren von Taras Schewtschenkos Format in Österreich-Ungarn geht, ist Iwan Franko (1856-1916) der unbestrittene Favorit. Er schöpfte seine Geschichten aus dem Leben und den Kämpfen seines Heimatvolkes, das er in einem unabhängigen Staat vereint sehen wollte. Obwohl die allgemeine Situation der Ukrainer im Kaiserreich viel besser war als im Zarenreich und die ukrainische Sprache zum Beispiel den Status einer „Randsprache“ hatte, stehen die Themen Kampf und Freiheit für sein Volk im Mittelpunkt von Frankos Werk. Sie repräsentieren sehr gut das von Schewtschenko konzipierte und begründete Nationalbewusstsein. Hervorzuheben ist, dass sich das Bewusstsein für die ukrainische Literatur in beiden Teilen der Ukraine vor allem auf den die östliche Mitte des Landes, d. h. auf die Dnipro-Ukraine (Naddniprjanska Ukrajina), konzentriert, die einen etwas tieferen nationalen Einigungsimpuls herausbildete. Dies ist wahrscheinlich auf die dortigen härteren Existenzbedingungen zurückzuführen.

So geht Nietzsches Saat auf dem „Boden“ dieser nationalen Impulse auf. Mit anderen Worten: Die genannten, von seiner Philosophie genährten „Radikalisierungen“ tauchen erstmals in der ästhetischen und kulturellen Kodierung der oben genannten Autoren zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf (und bei Kobyljanska sogar noch früher, ab 1890), und in der politischen Kodierung – etwas später allerdings, an der Wende zu den ersten Jahrzehnten des 20.

III. Zwischen Zensur und SubversionNietzsche während der Sowjetzeit

PS: Zur zweiten Periode möchte ich gerne rückfragen, ob Nietzsche nicht vielleicht doch in oppositionellen Zirkeln gelesen wurde und dort als Ideengeber fungierte. In der DDR war es durchaus so, dass Nietzsche trotz der offiziellen Zensur in solchen Kreisen durchaus gelesen und diskutiert wurde und insofern eine unterschwellige, in den 80er Jahren auch (halb)offizielle, Wirkung entfalten konnte. Aber es wäre dort auch nahezu unmöglich gewesen, Nietzsche vollständig zu unterdrücken, schon allein wegen der Nähe zu Westdeutschland und der Prominenz Nietzsches vor 1945.

VM: Auch die Zeit der sowjetischen Besatzung war nicht allzu homogen und immer gleich. Ein Rückblick auf die Geschichte der Zensur in der Sowjetunion wäre ein Beleg dafür. Das Schrecklichste ist jedoch, dass nicht nur Nietzsche oder eine Reihe anderer Autoren verboten wurden, sondern dass die unausweichliche Notwendigkeit, ausschließlich mit dem leninistisch-stalinistischen Marxismus zu arbeiten, festgeschrieben wurde. Die Philosophie wurde zu einer „Dienerin der Ideologie“. Die Herausforderung für die Intellektuellen bestand also darin, den philosophischen Diskurs auf versteckte Weise und in klandestiner Form am Leben zu erhalten. Neben der Entwicklung rein philosophischer und theoretischer Fragen scheint es mir jedoch wichtig zu sein, über einen Faktor bei der Lektüre von Nietzsche zu sprechen, nämlich den Wunsch, die eigene nationale Kultur und Identität weiterzuentwickeln. Dieser Faktor hatte in den verschiedenen Sowjetrepubliken eine unterschiedliche Dynamik. In der Ukraine war er immer sehr wichtig. Daher konnte die Suche nach Quellen der Bestätigung der eigenen kulturellen Identität und damit der Unabhängigkeit keineswegs auf einen so fruchtbaren Boden des Umdenkens wie die Philosophie Nietzsches verzichten. Und es ist offensichtlich, dass es sich dabei um eine Angelegenheit des Untergrunds handelte. Hier möchte ich einen interessanten Punkt aus dem oben erwähnten Artikel von Volodymyr Zhmyr, Auf den Spuren von Nietzsche in der Ukraine, erwähnen. Darin erzählt er, wie er einmal, im Jahr 1964, die Wohnung seines Nachbarn besuchte und auf dem Tisch ein aufgeschlagenes Buch im Format 1:32 sah. Es handelte sich um eine Ausgabe von Also sprach Zarathustra aus dem Jahr 1903, übersetzt von einer Autorin namens A. V. Perelhina (ihren Vornamen konnte ich leider nicht herausfinden). Er hatte diese Übersetzung gegen ein anderes Buch eingetauscht, und erst dann konnte er sich mit diesem Text vertraut machen. Ich erzähle diese Geschichte, um zu zeigen, wie es durch reinen Zufall dazu kommen konnte, dass Nietzsche zum Lesen zur Verfügung stand. Mit anderen Worten, dieses Werk lag seit den Tagen des vorigen Reiches, der Periode, die wir „imperial“ nennen, in den Regalen der Privatbibliotheken herum, ohne den Säuberungen der bolschewistischen Behörden zum Opfer zu fallen. Nur auf diese Weise konnte ein „akademischer Philosoph“ zufällig sein Werk lesen. Es gab kein so nahes „Westdeutschland“, aus dem einige Werke hätten kommen können und schließlich war die Gesamtzahl der Veröffentlichungen und der tatsächliche Einfluss Nietzsches im Vorkriegsdeutschland viel höher, was nicht so leicht und schnell zu beseitigen war. In der UdSSR war es die Ideologie, die die Regale vieler Privatbibliotheken von solchen Büchern säuberte, während in Universitäts- oder Staatsbibliotheken spezielle Dienste dies taten.

Die Inspirationen des Untergrunds, von denen ich sprach, wären ein gutes Thema für künftige Forschungen, die aber im Moment nicht sehr gut entwickelt sind. An dieser Stelle sei jedoch das Beispiel einer Gruppe ukrainischer Intellektueller erwähnt, die sich für den Schutz der nationalen Sprache, der Kultur und der Freiheit des künstlerischen Schaffens einsetzten und durchaus nach Impulsen für ihren eigenen Fortschritt suchte – die Sechziger (Schistdesjatnyky). Nehmen wir zur Veranschaulichung einen der Dissidenten und Vertreter dieser Bewegung, der von den sowjetischen Behörden zu Tode gefoltert wurde, Wassyl Stus (1938-1985). Einer seiner Kommilitonen am Institut bezeugte, dass er sich schon immer sehr für Philosophie interessiert und neben anderen Denkern auch Nietzsche sehr intensiv gelesen habe. Da er sehr gut Deutsch sprach, ist es möglich, dass er Nietzsches deutschsprachige Werke gelesen hat, die ihm noch aus früheren Zeiten bekannt gewesen sein könnten. Wir wissen auch von seinem Tagebuch, in dem er Zitate von Philosophen, insbesondere auch Nietzsche, niederschrieb und kommentierte. Die tatsächlichen ideellen Einflüsse sind hier noch zu untersuchen, aber die Tatsache, dass der deutsche Philosoph in diesen Kreisen gut bekannt und intensiv besprochen worden war, lässt sich nicht leugnen.

Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Geschichte meines Mentors, einem bekannten Übersetzer und Spezialisten für kantische Philosophie, Vitalii Terlezkyj. Er erzählte uns Studenten, wie er an der Wende von den 80er zu den 90er Jahren an der Philosophischen Fakultät in Kyjiw studierte. Eine außergewöhnliche Ironie des Schicksals bestand darin, dass man damals, um Nietzsche zu lesen, den wichtigsten religiösen und kulturellen Ort der Ukraine aufsuchen musste, die Lawra (das Kyjiwer Höhlenkloster oder Heiliges Mariä-Himmelfahrt-Kloster). Auch dieser Frage muss nachgegangen werden: Wie und wann kamen diese Bücher in die Kirchenbibliothek? Aber jedenfalls ist es überhaupt bemerkenswert, dass ausgerechnet diese kirchliche Bibliothek Nietzsche „beschützte“ und seine Werke zum Lesen bereitstellte.

IV. Nietzsche und die ukrainische Zukunft und Gegenwart

PS: Was die dritte Periode angeht, muss vielleicht für unsere deutschsprachigen Leser betont werden, dass es sich hier um Übersetzungen in die ukrainische Sprache handelt. Russische Übersetzungen gibt es ja, nehme ich an, doch diese Übersetzungen sind Teil der Bemühungen, die während der Sowjetzeit, und wohl auch zuvor, unterdrückte ukrainische Sprache – die durchaus kein Dialekt des Russischen ist, sondern vielleicht eher mit dem Niederländischen vergleichbar, das man kaum als Dialektik des Deutschen betrachten würde – als Bildungssprache zu etablieren. Generell ist es ja ein Problem, dass man im Westen die Ukraine lange Zeit quasi als eine Art ‚Kleinrussland‘, so wie Putin, betrachtete.  Erst kürzlich sprach der deutsche Philosoph Christoph Menke in abfälliger Manier von einer eigenständigen ukrainischen Nation als propagandistischer „Erfindung“.3 Dabei ist doch klar, dass der Kampf um eine eigenständige kulturelle Identität als Bedingung der Schaffung eines demokratischen, selbstbestimmten Gemeinwesens stets Momente der Rekonstruktion und Konstruktion beinhaltet, erst recht bei Nationen, denen eine unabhängige kulturelle Entwicklung über Jahrhunderte verwehrt wurde. Man denke nur an Irlands Wiederbelebung der keltischen Sprache oder die entsprechenden Bemühungen Israels – für die Nietzsche im Übrigen ebenfalls ein wichtiger Stichwortgeber gewesen ist, ging es den Zionisten doch um das heroische Projekt der Konstruktion eines „neuen Juden“, der den Antisemitismus nicht länger erduldet, sondern offensiv bekämpft, und aufhört, so devot wie die ‚alten Juden‘ zu sein oder das eigene Judentum zu verneinen wie die Assimilierten. Soweit ich weiß, gibt es auch bei Nietzsche keine einzige Bemerkung über die ukrainischen Länder, auch wenn er sich sehr für Osteuropa interessierte, speziell für Russland und Polen, mit dem er sich sogar identifizierte (vgl. meinen Artikel zu dieser Thematik auf diesem Blog). Wir müssen diesbezüglich unsere vielleicht ihrerseits imperiale, neoimperiale, Arroganz und Ignoranz endlich aufgeben und die Unabhängigkeit der ukrainischen Kultur akzeptieren.

VM: Lieber Paul Stephan, Sie haben mit dieser Frage oder Bemerkung viele Themen angesprochen. Ich werde daher nur ganz kurz auf jedes einzelne eingehen. Zunächst zum Thema der Übersetzungen. Ja, natürlich haben wir über Nietzsches Übersetzungen ins Ukrainische gesprochen, denn warum sollte ich über andere Übersetzungen, z. B. ins Russische sprechen? Es gab auch Übersetzungen in andere Sprachen, etwa ins Polnische. Allerdings sind viele russische Übersetzungen philosophischer Literatur, wie Sie richtig bemerkten, das Ergebnis der sowjetischen Politik gegenüber Sprachen im Allgemeinen und ihren Möglichkeiten in der Wissenschaft (Philosophie, Literatur) im Besonderen. Aber in den 1990er Jahren wurden auch modernere Übersetzungen, insbesondere von Nietzsche, in Russland angefertigt. 

Ich möchte an dieser Stelle deutlich festhalten, dass alle (vor allem auch deutschsprachige Leser und Forscher), die es gewohnt sind, über die ukrainische Kultur oder Sprache ausschließlich im Rahmen der russischen Kultur oder Sprache zu sprechen, ihre Ansätze überdenken sollten, denn sie sind veraltet und haben für mich persönlich den Beigeschmack des Imperialismus. Sie haben das sehr treffend gesagt. Und auch die ersten Übersetzungen von Nietzsche, die in der vorsowjetischen Zeit, an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, entstanden sind, zeugen von dem Versuch, eine eigene Kultur, vor allem eine sprachliche, zu etablieren und zu entwickeln: Sowohl russische als auch ukrainische Übersetzungen erschienen etwa zur gleichen Zeit. Allerdings unter sehr unterschiedlichen Bedingungen. Es liegt auf der Hand, dass nur die russischen Übersetzungen von offizieller Seite unterstützt werden konnten, während die ukrainischen in den Gefängnissen inoffiziell in Form von Notizen auf Papierschnipseln angefertigt wurden. Ich beziehe mich hier auf den bereits erwähnten ukrainischen Schriftsteller Wolodymyr Wynnytschenko. Er fertigte eine der ersten ukrainischen Übersetzungen von Also sprach Zarathustra irgendwann in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts an, als er in einem zaristischen Gefängnis saß, als Ukrainisch noch nicht einmal als Sprache anerkannt und in jeder Hinsicht verboten war. Dieses Notizbuch befindet sich heute im Staatsarchiv von Kyjiw. Wie wir sehen, wurde die Übersetzung von Nietzsche für die Ukrainer von den offiziellen Stellen der verschiedenen Epochen, die sich in Moskau befanden, kaum begrüßt. Und die Aufarbeitung solcher Momente des Kampfes und der Widerstandsversuche sollte vielen westlichen Intellektuellen die Augen dafür öffnen, dass die ukrainische Kultur und Sprache durchaus eigenständig sind.

Was heißt „Kleinrussland“ überhaupt? Serhiy Plokhiy zeigte in seiner populären Studie The Gates of Europe, dass die „Kleine Rus“ den ursprünglichen Kern der Rus bezeichnete. „Klein“ meinte nur, dass es dort eine geringere Anzahl von Diözesen gab. Die „Große Rus“ entstand erst später. Die ukrainischen Länder waren also niemals ein „Ableger“ von Russland, wie es der Begriff suggeriert – es ist geradezu andersherum. Zumindest bezeichnet der Begriff ursprünglich keine Minderheit und erst recht Unterlegenheit, wie ihn Putin heute verstehen möchte. Diese Intellektuellen sollten sich mit dieser Geschichte ernsthaft auseinandersetzen, ehe sie von der ukrainischen Nation als „Erfindung“ sprechen. Eine propagandistische „Erfindung“ ist im Gegenteil das Narrativ von Russland als legitimem „Urrussland“ mit der Ukraine als „minderwertigem Ableger“. Und es ist diese Erfindung, die eingesetzt wird, um den Ukrainern jede Möglichkeit einer demokratischen Selbstbestimmung zu nehmen – so, wie es die Russen seit Jahrhunderten versuchen, obwohl große Teile der ukrainischen Länder, wie beschrieben, lange Zeit noch nicht einmal Teil des russischen Reiches waren und sich kulturell unabhängig von ihm entwickelten.

Und schließlich bin ich mir nicht sicher, ob wir historische oder kulturelle Analogien als Vorlage für eine Erklärung nehmen können. Jede Nation hat ihre eigene Geschichte, die erst einmal geschrieben werden muss, und dann können Parallelen zu anderen Geschichten von Kulturen und Sprachen gezogen werden. Für einen Europäer, wenn auch für nicht alle Intellektuellen, ist die ukrainische Geschichte immer noch unbekannt, und das untermauert dann oft leider ihre russische Interpretation. Wenn dies jedoch ein gutes Werkzeug für solche und ähnliche Intellektuelle ist, um dieses Problem zu verstehen, dann danke ich Ihnen, lieber Paul Stephan, für das Aufzeigen solcher Parallelen.

PS: Sie selbst sind ja nicht nur Beobachter, sondern auch Teilnehmer dieser, wenn man so will, ‚dritten Welle‘ der ukrainischen Nietzsche-Rezeption und wollen, wie Sie mir im Vorfeld verrieten, das erwähnte Jubiläum nutzen, um, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes, eine ukrainische Nietzsche-Gesellschaft zu begründen. Was mich in dieser Hinsicht interessieren würde, wäre, was Sie selbst als ukrainischer Nietzsche-Rezipient seinen Werken entnehmen können bzw. worin Ihres Erachtens allgemein die Bedeutung Nietzsches für die Ukraine in Ihrer gegenwärtigen Situation liegen könnte?

VM: Ja, es gibt einen solchen Gedanken und sogar einen Plan, eine solche nach Nietzsche benannte Gemeinschaft zu gründen. Ich befinde mich derzeit in der Vorbereitungsphase. Ich versuche, die mögliche Reaktion der intellektuellen Schicht der Ukraine auf eine solche Initiative zu verstehen und das mögliche Potenzial dieser Initiative zu erfassen. Wir werden sehen, was passiert, denn unter den derzeitigen Bedingungen ist das keine leichte Aufgabe.

Wissen Sie, zu verschiedenen Zeiten mochte ich verschiedene Themen oder Konzepte und Nietzsches Beschreibung derselben. Das hat sich allmählich verändert. Das einzige, was unverändert bleibt, ist mein Interesse an Nietzsches Methodik. Zumindest nenne ich sie so. Es ist eine Art und Weise, verschiedene Phänomene als eine Notwendigkeit zu analysieren, um dort etwas anderes zu sehen, das Prozesse der Degeneration oder einige Negationen zum Vorschein bringen kann, die oft vergessen oder verdrängt werden. Es geht also um ein ständig unvollendetes Denkprojekt, das von der Unzufriedenheit mit der herrschenden Verstocktheit angetrieben wird. Dieser Ansatz wird auch Nietzsche’scher „Perspektivismus“ genannt. Diese Meinung vertrete ich schon seit langem, und wir haben sie in unseren Gesprächen während unseres gemeinsamen Aufenthalt in Weimar im Jahr 2017 und danach diskutiert, wofür ich Ihnen sehr dankbar bin, und sie wird auch in unserem Artikel über Nietzsche und die ukrainische Revolution der Selbstüberwindung(Link) ansatzweise behandelt.

Auf dieser Grundlage lässt sich sagen, dass die ersten Kämpfe zur Überwindung der eigenen Sklaverei (im geistigen Sinne, die fast immer von Moskau als Unterlegenheit aufgezwungen wurde) in Form von Revolutionen stattfanden, und nun ist ein entscheidender Kampf im Gange, bei dem alles auf dem Spiel steht. Aber die Überwindung dieser Etappe wird nicht die letzte sein, denn dann müssen wir uns wieder selbst überwinden, eine neue Perspektive (im nietzscheanischen Sinne) schaffen. Und das wird eine weitere große Herausforderung sein, denn jetzt ist der ukrainische Geist in dem „Kriegsmodus“ gehüllt, ein Zustand, in dem man leicht die objektiven Parameter des Denkens verliert. Sie können durch einen ausgeprägten Patriotismus und den starken Wunsch, Gerechtigkeit herzustellen, außer Kraft gesetzt werden. Und das ist nicht schlecht, sondern normal. Denn in dem Krieg mit dem Bösen, im Kampf um die eigene Identität, muss man alle notwendigen Mittel mobilisieren, um die Quellen der eigenen Identität zu stärken. Doch sobald dieser Kampf gewonnen ist, gilt es, wieder in einen anderen, offeneren Modus überzugehen, um nicht in die Fänge des „Ressentiments“ und des „Geistes der Rache“ zu geraten, von denen Nietzsche so beredet spricht. Dies ist eine sehr ernste Herausforderung in der Nachkriegszeit! Und hier kann die Nietzsche’sche Perspektive sehr nützlich sein.

Für die heutige Ukraine ist es jedoch zunächst wichtig, eine Welle von Nietzsche-Studien im Allgemeinen in Gang zu setzen, und zwar nicht nur mit populären Thesen, die auf scharfe Aussagen über die Neubewertung des Alten abzielen, sondern um diese Methodik des tiefen und außergewöhnlichen Denkens zu begreifen. Das heißt: Nietzsche als kein doktrinärer Philosoph, sondern als ein Methodiker. Es sind ganz andere Versionen seiner Philosophie wichtig als die, die wir bereits kennen. In diesem Sinne arbeite ich derzeit an einem kleinen Projekt, um seine Philosophie in der Ukraine, insbesondere für die philosophische Gemeinschaft, anders bekannt zu machen. Es wird eine Reihe von Artikeln über Nietzsche sein, die von europäischen Forschern zu seinem 180. Geburtstag veröffentlicht werden. Diese Perspektive ist sehr wichtig, denn ich bin fast sicher, dass nur wenige Universitäten – vielleicht keine – Zugang zu zumindest einigen Nietzsche-Studien anderer Art haben.

Was ich damit meine, ist, dass Nietzsche zu einer kritischen, tiefgreifenden Analyse anregen und gleichzeitig die Kreativität fördern sollte. Mir scheint, dass seine Philosophie ein großes Potenzial auch heutzutage hat, sehr ungewöhnliche Kombinationen anzuregen. Ich würde sogar sagen: das Potenzial zur Provokation, natürlich vor allem intellektuell. Übrigens gibt es dafür sogar einen künstlerischen Beweis, das Gemälde Nietzsche im Eis oder die Geburt der Musik aus dem Geist der Tragödie von Oleksandr Rojtburd, einem ukrainischen Künstler, aus dem Jahr 2017.4 Dies ist eine ästhetische Vision seiner Philosophie, die offensichtlich nicht ohne ein provokatives Element ist. Dieses künstlerische Rätsel ist jedoch noch zu lösen und zu interpretieren.

PS: Lieber Vitalii Mudrakov, ich danke Ihnen für diesen äußerst bereichernden Einblick in die ukrainische Nietzsche-Rezeption und wünsche Ihrem Land und Ihrer Familie von Herzen alles Gute für die Zukunft!

VM: Ich bedanke mich für Ihre interessanten Frage und Ihre freundliche Einstellung.

Vitalii Mudrakov ist Philosoph, der in der Ukraine geboren wurde. Er hat Musik, Ethik und Ästhetik an der Geisteswissenschaftlichen Hochschule (Chmelnytzkyj, Ukraine) studiert und dann Philosophie und Religionswissenschaft an der Jurij-Fedkowytsch-Universität in Czernowitz (Ukraine). Seit 2022 lebt er fest in Deutschland und war Stipendiat am Kolleg Friedrich Nietzsche (Klassik Stiftung Weimar) und am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ (Universität Münster). Seit Kurzem ist er Stipendiat am „Center for Religious Studies“ (CERES) der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitet gerade an einem Konzept der „identity security“ (Identitätssicherheit). Im Fokus seiner jetzigen Forschungen stehen darüber hinaus Nietzsches Metapher als methodologisches Konzept der Erkenntnistheorie und axiologischen Transformation sowie die ukrainische Rezeption Nietzsches.

Quellenangabe zum Artikelbild

Oleksandr Rojtburd: Nietzsche in Ice, or the Birth of Music From the Spirit of Tragedy (2017). Online: https://www.wikiart.org/en/alexander-roitburd/nietzsche-in-ice-or-the-birth-of-music-from-the-spirit-of-tragedy-2017

Fußnoten

1: Zu nennen sind hier etwa der Historiker Mychajlo Hruschewskyj, der Literaturkritiker Serhij Yefremow, der Sprach- und Kulturkritiker Ahatanhel Krymskyj und die Schriftstellerin Lessja Ukrajinka.

2: Obwohl ich weiß und versuchen werde, es in einem kommenden Aufsatz zu beweisen, dass dieses Verbot nur offiziell war. Hinter den Kulissen waren nietzscheanische Ideen bei den bolschewistischen Ideologen und Inspiratoren durchaus vorhanden.

3: „Eine andere undemokratische Entität in diesem Krieg ist die ‚Nation‘, deren tiefe und lange Geschichte von einigen ukrainischen Intellektuellen entdeckt (bis vor kurzem hätte man gesagt: erfunden) und besungen wird.“ (Lieber Etienne, lieber Christoph … Online: https://www.philomag.de/artikel/lieber-etienne-austausch.)

4: Anm. d. Red.: Es handelt sich um das Artikelbild.

Sinnieren im Südwind

Zu Gast in Nietzsches Sommerhaus im Engadin

Sinnieren im Südwind

Zu Gast in Nietzsches Sommerhaus im Engadin

30.9.24
Christian Saehrendt

In knapp 2.500 m Höhe entspringt in der Südostschweiz, im Kanton Graubünden, der Fluss Inn. Über eine Strecke von 80 km fließt er zunächst durch ein Hochgebirgstal, das man das Engadin nennt. Er durchzieht hier, unweit des mondänen Kurorts St. Moritz, zwei kleine Seen, den Silsersee und den Silvaplanersee, zwischen denen das idyllische Bergdorf Sils Maria liegt. Der Philosoph Friedrich Nietzsche verbrachte in dieser erlesenen Landschaft mehrere Sommer und ließ sich von ihr zu einigen seiner wichtigsten Werke inspirieren. Christian Saehrendt begab sich an diesem vielleicht wichtigsten „Pilgerort“ der Nietzsche-Szene auf Spurensuche.

In knapp 2.500 m Höhe entspringt in der Südostschweiz, im Kanton Graubünden, der Fluss Inn. Über eine Strecke von 80 km fließt er zunächst durch ein Hochgebirgstal, das man das Engadin nennt. Er durchzieht hier, unweit des mondänen Kurorts St. Moritz, zwei kleine Seen, den Silsersee und den Silvaplanersee, zwischen denen das idyllische Bergdorf Sils Maria liegt. Der Philosoph Friedrich Nietzsche verbrachte in dieser erlesenen Landschaft mehrere Sommer und ließ sich von ihr zu einigen seiner wichtigsten Werke inspirieren. Christian Saehrendt begab sich an diesem vielleicht wichtigsten „Pilgerort“ der Nietzsche-Szene auf Spurensuche.

Besucher aus dem Norden spüren hier sofort, dass sie einen magischen Ort erreicht haben: Der Blick schweift über den Silsersee Richtung Italien, das südliche Licht schmeichelt den Augen, das Gesicht umspielt der warme Malojawind, ein thermischer Luftstrom, der in manchen Wetterlagen ganztägig in Windstärke 4 bis 5 weht. An der Spitze der Halbinsel Chastè, die weit in den Silsersee hineinragt, ist er besonders zu spüren, wenn er rauschend die Kiefern zerzaust.  

Chastè gehörte zu den Lieblingsorten Friedrich Nietzsches, der im nahegelegenen Dorf Sils Maria sieben Sommer verbrachte. Im Hause der Familie Durisch bewohnte er in den 1880er Jahren mehrfach für einige Wochen ein einfaches Gästezimmer. Im trockenen und sonnenreichen Klima des Oberengadin erhoffte der von häufigen Migränebeschwerden gequälte Philosoph günstige Bedingungen für seine Gesundheit und Arbeitsfähigkeit vorzufinden. Wichtige Werke wurden in Sils konzipiert und z. T. niedergeschrieben: Die fröhliche Wissenschaft, Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral, Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung u. a. Vor allem in seinem dichterischem Hauptwerk Also sprach Zarathustra ist Nietzsches Interpretation der Engadiner Landschaft als „heroisch“ und „belebend“ spürbar.

Blick auf den Silsersee. Foto: Christian Saehrendt, 2024

Er erlegte sich während seiner Aufenthalte in Sils einen strikten Tagesplan mit festen Arbeits-, und Essenszeiten und mehreren Stunden Bewegung auf. Das breite, flache Tal erlaubte ausgedehnte Spaziergänge in der Umgebung, bei denen man sich nicht allzu sehr verausgabte und jederzeit die Gelegenheit bestand, die mitgeführten Notizbücher mit Gedankenblitzen zu füllen. Schon der erste Aufenthalt in Sils soll ihm an einem markanten, pyramidenförmigen Stein am Ufer des Silvaplanersees einen Schlüsselgedanken beschert haben, der seinem weiteren Philosophieren eine Richtung gab: jenen „Gedanken der ewigen Wiederkunft“, der in Also sprach Zarathustra eine wichtige Rolle spielen sollte. Auf aktuellen Wanderkarten und bei Googlemaps ist der Pyramidenstein markiert, so dass auch heute jeder die Aura dieses Felsblocks bei einem Spaziergang überprüfen kann.

Das Nietzsche-Haus in Sils Maria. Foto: Christian Saehrendt, 2024

Das 200-jährige Haus im historischen Ortskern von Sils Maria, in dem Nietzsche als regelmäßiger Sommergast wohnte, wurde 1959 von der eigens dafür gegründeten „Stiftung Nietzsche-Haus in Sils Maria“ erworben, renoviert und mit Exponaten ausgestattet. Am 25. August 1960, an Nietzsches sechzigstem Todestag, eröffnete die Stiftung im Haus ein Museum. Das Konzept der Stiftung, die bis heute Trägerin des Hauses ist, ruht auf zwei Säulen: Zum einen informiert eine Ausstellung über Leben und Werk des Philosophen, zum anderen ist das Haus als lebendige Wohn-, Arbeits- und Forschungsstätte gedacht. Das Münchner Nietzsche Forum schreibt jährlich ein „Werner-Ross-Stipendium“ aus. Dieses richtet sich an junge Akademikerinnen und Akademiker, an Schriftsteller und Autorinnen, die an Texten und Projekten im erweiterten Themenkreis von Nietzsche arbeiten. Das Stipendium bietet einen kostenlosen vierwöchigen Aufenthalt im Monat September im Nietzsche-Haus mit abschließender Teilnahme am Nietzsche-Kolloquium, das jährlich im benachbarten Luxushotel Waldhaus stattfindet.1 Die bislang 14 Stipendiaten und Stipendiatinnen kamen aus Deutschland, Kanada, Frankreich, Italien, Finnland und China. Daran sieht man: Das internationale wissenschaftliche Interesse an Nietzsche hat sich also stabilisiert und die wissenschaftliche Nietzsche-Community verjüngt sich permanent. Doch nicht nur Stipendiaten können ein Zimmer im Haus bewohnen, um dort in inspirierender Umgebung zu schreiben. Auch andere Gäste, also „Zivilisten“, haben die Möglichkeit, einen Raum im Haus zu mieten. Diese Mischung der Nutzer dient dem Ziel, Dialog und Vernetzung unter Forschenden, Nietzsche-Lesern und Touristen zu fördern. Ausserdem führt die Stiftung seit Mitte der 1980er Jahre Ausstellungen zeitgenössischer Kunst mit Nietzsche-Bezug im Haus durch, schließlich hatte Nietzsche wie wohl bisher kein zweiter Denker gerade die Künstler immer wieder stark inspiriert und zu produktiver Auseinandersetzung mit seinen Ideen und seiner Person angeregt. Nach Gastspielen u. a. von Gerhard Richter und Helmut Federle war auch der Bündner Künstler Not Vital zu Gast: Ein monumentaler weisser Gips-Schnauzbart war sein Hauptexponat, das er auf dem Bett Nietzsches deponierte.

Riesenschnauz auf Nietzsches Bett. Kunstwerk von Not Vital, Ausstellungsansicht Nietzsche-Haus 2006

Seit 2021 zeigt das Nietzsche-Haus eine erneuerte Präsentation von Leben und Werk Nietzsches, die von Matthias Buschle und Wolfram Groddeck kuratiert wurde. Neben biografisch-chronologischen Fakten werden wichtige Begriffe aus der Gedankenwelt Nietzsches einem Publikum erläutert, das nicht nur aus Nietzsche-Kennern, sondern auch aus Neugierigen und touristischen Zufallsbesuchern besteht. Im Laufe der Jahrzehnte nach der Eröffnung ist dieses Publikum spürbar internationaler geworden. Zudem entdeckten in den Corona-Jahren vermehrt Schweizer, darunter viele französischsprachige Westschweizer, das Haus. Deshalb war eine mehrsprachige Konzeption des Gedenkortes notwendig geworden, die die digitale Dimension einschliesst und dem Bedürfnis des zeitgenössischen Publikums nach leicht zu verarbeitenden und wohlportionierten Informationen entgegenkommt.

Abbildung Ausstellungsansicht Nietzsche-Haus 2024

Die Ausstellungsräume wurden 2021 in einem einheitlichen Design gestaltet, auf der Hintergrundfarbe der originalen Zarathustra-Bücher, d. h. in einem dezenten Türkis. Die Abfolge der Vitrinen folgt chronologisch dem Leben Nietzsches. Raritäten wie diverse Erstdrucke und eine kleine, regelmässig wechselnde Selektion wertvoller Originalmanuskripte der bedeutenden Sammlung Rosenthal-Levy sind zu besichtigen. Die einzelnen Exponate sind – heutigen Lesegewohnheiten eines überwiegend touristischen Publikums geschuldet – eher knapp beschriftet, die viersprachigen Erläuterungen können in einem Textheft oder auf einer mobilen Website gelesen werden. In den Vitrinen integrierte Tafeln informieren über Grundbegriffe und wichtige Stichworte in Nietzsches Denken.

Die Möglichkeit zur Übernachtung in den einfachen Doppelzimmern mit historischem Flair (Minimum drei Nächte, Maximum drei Wochen, für Gruppen eine Woche) besteht während der beiden saisonalen Öffnungszeiten von Mitte Juni bis Mitte Oktober und von Mitte Dezember bis Mitte April. Leider ausgenommen davon ist das Zimmer, welches Nietzsche selbst bewohnt hat, es ist Teil der musealen Präsentation. Im Haus befindet sich auch eine Präsenzbibliothek zur Nietzsche-Forschung, die ca. 4.500 Titel umfasst. Den Hausgästen steht zudem eine zu regen Gesprächen am Kaminfeuer einladende Küche zur Verfügung.2  

In weniger als einer halben Stunde erreicht man vom Nietzsche-Haus aus die Halbinsel Chastè, die früher wie heute gerne von Nietzscheanern aus aller Welt aufgesucht wird. Manche erwarten dort die Begegnung mit dem wiederkehrenden Geist des Philosophen. So z. B der renommierte belgische Architekt und Designer Henry van de Velde. Er berichtete von einer Vision, die ihn am 25. August 1918, dem 18. Todestages Nietzsches, beim Besuch der Halbinsel Chastè überkam: „Dort empfand ich einen Schauer als ob ich plötzlich vor einem Tempel, einem Mausoleum stehen würde, wo ich mit Nietzsche selbst in Berührung kommen werde.“3 Die Aura des Ortes ist ungebrochen: Wer sich heute auf der felsigen Halbinsel aufhält, wird immer wieder auf Zeitgenossen und Zeitgenossinnen treffen, die lesend oder sinnierend auf Ruhebänken und im Grünen verweilen und sich ebenfalls für eine Erscheinung von Nietzsches Geist bereithalten.

Informationen zum Artikelbild

Blick auf Chastè, Foto von Christian Saehrendt, 2024

Fußnoten

1: Vgl. auch https://www.nietzsche-forum-muenchen.de/.

2: Vgl. https://nietzschehaus.ch/das-nietzsche-haus-i/wohnen/.

3: Brief Henry van de Veldes an Elisabeth Förster-Nietzsche, 25. August 1918, Nationale Forschungs- und Gedenkstätte der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Goethe und Schiller Archiv, Bestand E. Förster-Nietzsche = Signatur 72.

Boomer, Zoomer, Millennials

Wie unterscheiden sich die jeweiligen Perspektiven auf Nietzsche?

Boomer, Zoomer, Millennials

Wie unterscheiden sich die jeweiligen Perspektiven auf Nietzsche?

23.9.24
Hans-Martin Schönherr-Mann, Paul Stephan & Estella Walter

Diesmal im vertraulichen Du unterhielt sich Paul Stephan mit Hans-Martin Schönherr-Mann, unserem ältesten Stammautoren, und unserer jüngsten Stammautorin, Estella Walter, über unsere unterschiedlichen Generationserfahrungen und darüber, was von dem modischen Diskurs über die unterschiedlichen „Generationen“ überhaupt zu halten ist. Wir sprachen über den Poststrukturalismus, die ökologische Frage und die Vielfältigkeit möglicher Anschlüsse an Nietzsche.

Diesmal im vertraulichen Du unterhielt sich Paul Stephan mit Hans-Martin Schönherr-Mann, unserem ältesten Stammautor, und unserer jüngsten Stammautorin, Estella Walter, über unsere unterschiedlichen Generationserfahrungen und darüber, was von dem modischen Diskurs über die unterschiedlichen „Generationen“ überhaupt zu halten ist. Wir sprachen über den Poststrukturalismus, die ökologische Frage und die Vielfältigkeit möglicher Anschlüsse an Nietzsche.

Paul Stephan: Liebe Estella, lieber Hans-Martin, wir haben uns heute im virtuellen Raum getroffen, um über die „Generationenfrage“ zu sprechen. Ein „Millennial“, ich selbst, eine „Zoomerin“ und ein „Boomer“. Der Diskurs um diese verschiedenen „Generationen“ ist ja im Augenblick en vogue, in den sozialen Medien kommt man an entsprechenden Memes und Videos ja kaum vorbei, auch das Feuilleton ist voll davon. „Zoomerin“, „Boomer“ –würdet ihr euch selbst so bezeichnen?

Hans-Martin Schönherr-Mann: Wahrscheinlich bin ich, etwas zu alt für die Baby-Boomer, eher gehöre ich zu den Prä-Baby-Boomern. Ich bin andererseits auch zu jung für die richtigen Achtundsechziger – 1968 wurde ich 16 –, eher ein Post-Achtundsechziger, der von der Erfahrung der 68er-Zeit aber politisiert und intellektualisiert wurde. Die Generation meiner jungen Lehrer, etwa eine Dekade älter als ich, war teilweise von Nietzsche und Hesse beeinflusst. Ob die noch zur „unpolitischen Generation“ der frühen Bundesrepublik gehörten, ist mir nicht klar. Aber mit Nietzsche und Hesse entwickelten sie ein individuelles Verständnis ihrer Lage, so dass sie sich nicht mehr als Teil einer Gemeinschaft verstanden, wie es dagegen seit dem 19. Jahrhundert selbstverständlich gewesen war.

Estella Walter: Lieber Paul, lieber Hans-Martin, ich selbst stehe etwas ratlos vor der Generationenfrage, vielleicht weil meine Altersgruppe gerade mittendrin steckt und eine Reflexion entsprechend schwierig ist. Das (vermehrte) Interesse an Generationen als diagnostisches Werkzeug ist aber auf jeden Fall sehr spannend. Entsprechend verstehe ich mich auch nicht als zugehörig zu der meiner Altersgruppe zugeordneten Generation. Vielmehr sehe ich es als eine mitunter recht sperrige Schablone, die in manchen Analysen Sinn ergibt und in anderen nicht. In jedem Fall scheint mir Nietzsche selbst eher wenig die Gen Z zu beeinflussen als vielmehr Denker*innen, die sich auf ihn beziehen wie etwa Michel Foucault und Judith Butler oder auch öffentliche Personen wie Jordan Peterson.

PS: Ich selbst denke, dass es so etwas wie „Generationserfahrungen“ und sich daraus ergebende gemeinsame Merkmale von bestimmten Alterskohorten auf jeden Fall gibt. In manchen Stereotypen über die „Millennials“ kann ich mich wiederfinden, in anderen weniger. Aber natürlich müsste man, wissenschaftlich gesehen, ergänzen, dass andere prägende Faktoren wie soziale und lokale Herkunft, Geschlecht, Ethnizität etc. ebenso eine Rolle spielen. Und ich glaube ja auch daran, dass die Individuen nie vollständig von diesen zahlreichen Faktoren determiniert werden, sondern ihre Identität auch immer das Produkt einer individuellen Wahl ist – erst recht, wenn man um diesen Generationsdiskurs weiß und sich von den jeweiligen Stereotypen bewusst distanzieren kann; oder eben auch nicht.

SM: Dem kann ich nur zustimmen. Aber wir stellen uns ja hier der Generationenfrage. Andere Faktoren sind dann wichtig, wenn sie diese Frage tangieren. Meine Generation, soweit sie politisch war, stand Nietzsche aus marxistischer Perspektive eher ablehnend gegenüber. Anfang der siebziger Jahre war die Neuedition von Giorgio Colli und Mazzino Montinari auch noch nicht so verbreitet und bekannt – in Nicht-Nietzscheaner-Kreisen –; der erste Band auf Deutsch erscheint 1967, die Kritische Studienausgabe vollständig erst 1980. Aber es gab auch in meiner Generation eher künstlerisch orientierte Zeitgenossinnen, die sich auch auf Nietzsche beriefen. Ich kann freilich nicht mehr sagen, inwieweit dabei die diversen neuen Auslegungsfragen schon eingingen. Wahrscheinlich waren sie eher von den älteren Hesse-Fans dazu inspiriert worden.

Jene, die künstlerisch orientiert waren, haben wahrscheinlich sein Kunstverständnis des Dionysischen reflektiert. Vor allem hat sich ja durch die Rockmusik ein solches Element massiv verbreitet, verbunden natürlich auch mit Drogenerfahrungen, die jedenfalls teilweise auf eine Bewusstseinserweiterung oder zumindest neue Erfahrungen zielten, die man dann auch mit dem Zarathustra in Verbindung bringen kann: neue Werte erfinden. Die Politischen in meiner Generation waren sicher von Marx und Adorno beeinflusst und folgten noch der dort verbreiteten Ablehnung Nietzsches beruhend auf jener Auslegung, die Nietzsches Schwester befördert hatte. Wenn man sich vom französischen Existentialismus beeinflussen ließ, dann kam man Nietzsche wieder näher. Aber die Nähe zwischen beiden war nicht allzu bekannt.

PS: Was Nietzsche angeht, würde ich auch sagen, dass für meine Generation andere Denker weitaus wichtiger sind. Foucault und Butler auch, aber viele lasen auch Adorno und Marx sowieso in ihren prägenden Jahren. Besser als „Millennial“ gefällt mir das Attribut „Generation Bildungsstreik“, auch wenn es natürlich nicht meine gesamte Alterskohorte bezeichnet. Aber ich denke, alle, die um 2010 herum studiert haben und halbwegs politisch interessiert waren, wurden irgendwie von der großen Bildungsstreikbewegung geprägt. Zu Nietzsche kamen wir erst über Umwege und immer aus einer politischen Perspektive heraus, auch wenn seine Gedanken zum Bildungssystem teilweise mit unseren Forderungen nach einer echten Bildung statt bloßer Ausbildung korrespondierten. Teilweise diente Nietzsche aber auch als Sprungbrett, um ein wenig aus der starken Politisierung des Diskurses auszubrechen und die Dinge aus einer eher existenzialistischen, individuellen und künstlerischen Perspektive heraus zu bedenken.

EW: Einen gemeinsamen Nenner zu finden, wer unter den Studierenden (außerhalb der Uni stoße ich eher selten auf jemanden, der Bezugspunkte zu Nietzsche hat) sich für Nietzsche interessiert, ist nicht so leicht. Ich denke, ähnlich wie bei dir, Paul, stößt man eher durch Umwege oder Zufälle auf seine Werke. Natürlich gibt es die (links-)politisch Orientierten, die vom Poststrukturalismus her kommen, dann gibt es aber auch die Lehnstuhl-Philosophiestudierenden, die sich strikt fachlich für ihn interessieren und solche, meistens aus der analytischen Philosophie, die Nietzsche wenn überhaupt als literarischen Zeitvertreib, nicht als Gegenstand der philosophischen Auseinandersetzung betrachten.  Selbstverständlich finden sich hier und da auch jene, die Nietzsche zum Selbsthilfe-Guru verkommen lassen. Das mag unter anderem daran liegen, dass Nietzsche eine derart breite Projektionsfläche bietet, vor allem rhetorisch ist für jeden ein passender Slogan dabei. Seine Ambiguität macht ihn ja gerade so interessant.

Für die die Gen Z betreffenden Geschehnisse, die Zeuge unserer widersprüchlichen Zeiten sind (Klimawandel, reaktionäre Spaltung der Gesellschaften, Identitätspolitik, kolonialer Hangover, globale Ausbeutungsverhältnisse usw.) ist Nietzsches eigene Widersprüchlichkeit unleugbar von Aktualität, sie ist wie ein Spiegel, eine Konfrontation mit uns selbst. Allerdings spielt er in der politischen Auseinandersetzung mit all diesen Geschehnissen und den Umgang mit ihnen eine geringe Rolle. Anders als Marx oder Adorno verbleibt er meistens in den Seminaren und Lehrbüchern, selten schafft er es auf die Straße.

SM: Zunächst noch zur Bildung: Meine Generation und die von 68 forderten fleißig Reformen – man denke an die Parole: „Unter den Talaren der Muff von 1.000 Jahren.“ Aber sie bekamen letztlich eine Verschulung, die sie dann später selber umsetzten. Das hat wenig mit Nietzsche zu tun, höchstens der damit verbundene Anspruch auf Selbstentfaltung, der diesen Generationen durch die alte Uni verstellt schien – welch ein Irrtum, bot die alte dazu immer noch mehr Möglichkeiten als die späteren reformierten Unis. Die Politischen unter uns hatten denn auch mit einer Spaltung der Gesellschaft kein Problem. Die erschien immer schon gespalten und die heutige Rede davon ist eine merkwürdige Romantisierung nach der Integration von Linken und Grünen in den Politikbetrieb. Meine Generation der Siebziger orientierte sich ökologisch – da passte höchstens eine gewisse Naturromantik zu Nietzsche. Ich habe Nietzsche in den Achtzigern dann als Wissenschaftskritiker ökologisch gelesen – eine Lesart die bis heute niemandem gefällt. Aber es gab auch eine politische Richtung, die sich vom dogmatischen Marxismus abkehrte, die ich vielleicht „spontaneistisch“ nennen möchte und die über die Poststrukturalisten auf Nietzsche kam. Wie schnell sich Foucaults genealogische Wende der siebziger Jahre danach verbreitete, ist fraglich. Ende der Siebziger aber dürfte sie durchgesickert sein. Trotzdem hat sich Nietzsches und Foucaults Moralkritik wohl eher wenig verbreitet. Schließlich boomte in jenen Jahrzehnten die Ethik. Da wollte kaum jemand eine Kritik an der Ethik hören, zu der ich im Anschluss an Nietzsche und Foucault bis heute neige.

EW: Mit der poststrukturalistischen Leseart bin ich vertraut, wie aber genau lässt sich Nietzsches Wissenschaftskritik ökologisch lesen?

SM: Nach Nietzsche erfasst man die Natur nicht, wie sie wirklich ist. Dann muss man umso vorsichtiger mit ihr umgehen. Ökologische Technik wäre dann nicht die Antwort, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass die Wissenschaften wirklich erzählen, was da passiert.

EW: Verstehe. Das Argument scheint mir mittlerweile aber doch verbreitet. Oder zumindest die Skepsis gegenüber einem technologischen Lösungsansatz in Anbetracht limitierten Wissens über die Natur.

SM: Dann könnte die Letzte Generation aber nicht behaupten, sie wäre die letzte, die noch was gegen die Klimaveränderung tun könnte – jedenfalls mit Nietzsche kann die Klimaveränderung nicht mehr als eine Prophezeiung sein. Die Grünen sind längst szientistisch und technizistisch.

PS: „Skepsis“ ist ein gutes Stichwort. Die „Millennials“ scheinen eine sehr skeptische und zögerliche Generation zu sein. Ob im Privaten, im Politischen, im Philosophischen: Man will sich nicht festlegen und sich alle Optionen offenhalten. Das treiben wir manchmal bis zum Exzess. Die vorhergehenden und nachfolgenden Generationen scheinen mir oft mehr Mut und Entschlossenheit aufzuweisen.

Das drückt sich meines Erachtens in der Dominanz von Foucault in meiner Generation aus. Zumindest die Geisteswissenschaften und der feuilletonistische Diskurs stehen ganz im Bann eines seichten Postmodernismus. Ein bisschen Hedonismus, ein bisschen Relativismus, viel Skepsis, aber doch auch kein regelrechter Skeptizismus. Ein bisschen wie South Park oder Vice. Dazu passt Nietzsche eigentlich, aber nur ein bestimmter, stets durch den Blickwinkel der Postmoderne gelesener Nietzsche. Ich denke, um uns aus unserer generationellen Lähmung zu befreien, müssen wir diese Denkweise hinter uns lassen. Eine Wiederentdeckung Nietzsches – aber sicher auch des echten Foucault beispielsweise, der von seinem common sense-Zerrbild natürlich sehr verschieden ist – könnte dabei helfen.

EW: Diese Denkweise, von der du spricht, zieht sich durch die Generationen. Das Gefühl der Machtlosigkeit und Lähmung, der Bedeutungslosigkeit in Anbetracht der verzweifelten Lage, ist nicht weniger in den darauffolgenden Generationen zu beobachten. Es ist eben der Nihilismus des „letzten Menschen“ von dem Nietzsche spricht. Die Politisierung z. B. der Gen Z mag dem widersprechen, schließlich fordert sie ja Veränderung und Neuaufbrüche. Doch muss auch dort auf die Wege und Methoden geschaut werden. Aktivismus findet auf den sozialen Medien statt, der hört sich allerdings eher nach moralischen Schreien an, die die materielle Basis der Probleme nicht berühren. Gleiches gilt für Aktivismus, der auf den Straßen stattfindet: Demonstrationen in der Größenordnung, wie wir sie kennen, sind hauptsächlich von symbolischer Natur. Subversive Störungen und Unterbrechungen einiger kleinen Gruppen provozieren zwar einen Aufschrei, ändern langfristig allerdings wenig, sofern sich keine kollektive Organisierung daraus entwickelt.

Zu Hans-Martins Einwand möchte ich noch kurz anmerken: Da stimme ich dir zu. Allerdings gibt es durchaus immer wieder Stimmen, die technologische Lösungsansätze, solange sie noch kapitalistischen Gesetzen folgen, kritisieren. Damit verbinde ich auch den Einwand, dass die Natur eine unberechenbare und unser Wissen über sie ein notwendig eingeschränktes ist. Sie der Technologie, deren Entwicklung zumal an profitmaximierende Gesetze gebunden ist, zu unterwerfen, birgt Gefahren. Wobei das vielleicht ein anderer Aspekt ist …

Was für ein ökologisches Vorgehen würdest du denn vor dem Hintergrund der epistemologischen Probleme vorsehen? Irgendwo muss man ja anfangen, wenn auch nicht unter wissenschaftlicher und technischer Vorherrschaft.

SM: Beide Einwände sehe ich aus der Perspektive meiner Generation freilich anders. Mir scheint eher eine politische Selbstherrlichkeit zu herrschen und der Skeptizismus in der Bevölkerung ist kein philosophischer, der wirklich an den Wissenschaften im Stile von Nietzsches Morgenröthe zweifeln würde. Die Leute wissen nicht mehr wohin die Reise geht, weil sich ein Zweifel am Fortschritt verbreitet hat. – Andererseits erwarten immer noch viele ihr Heil von den Institutionen, kehrt hier doch eine Staatsgläubigkeit wieder. Ich kann das generationenmäßig nicht zuordnen. Aber in den Führungspositionen sitzen noch meine Generation und die nachfolgende und die bestimmen die öffentliche Meinung, die freilich die neuen Medien nicht mehr kontrolliert – daher das Gejammere. Zugleich denken alle Generationen, dass sie keine Macht und keinen Einfluss haben. Dazu sollte man doch bei Foucault nachschauen. Jeder und jede beeinflusst das Geschehen. Aber die Intellektuellen, nicht zuletzt Nietzsche beschweren sich permanent, dass sie so einflusslos wären, dabei wissen sie es doch genau. Aber auch der Intellektuelle ist nur ein einzelner Mensch und Expertenherrschaft erlaubt ihm noch weniger Einfluss als die Herrschaft von Staat und Kapitalismus. Der Kapitalismus ist mit der Umwelt besser umgegangen als der ehemalige Sozialismus. Alternativen sind nicht in Sicht. Da halte ich es doch lieber mit dem Nietzsche-Rezipienten Heidegger. Der Mensch ist nicht Herr des Seins. Mit vermeintlicher Tatkraft entstehen mindestens so viele Probleme wie diese löst. Statt Handeln fordert Heidegger Denken. Wenn die Wissenschaften freilich die Frage nach dem Sinn von Sein stellen, wären sie nicht mehr so erfolgreich. Aber vielleicht wäre das das Gebotene. – Man muss die 11. Feuerbach-These umdrehen: Wer die Welt verändern will, muss sie erst anders verstehen. Und genau das hat Marx gemacht, Nietzsche freilich auch. Wer war einflussreicher? Mit der Idee der ewigen Wiederkunft des Gleichen womöglich heute Nietzsche.

EW: Den meisten von dir angesprochenen Punkten stimme ich tatsächlich zu. Deshalb ja meine Einschätzung, dass das Gefühl der Machtlosigkeit ein generationsübergreifendes Phänomen ist und sich selbst immer neuen Stoff zur Selbstbestätigung gibt. Dann folgt als Konsequenz der propagierten, vermeintlichen, Ohnmacht die Suche nach neuen Göttern (Staat, Identität, Kapital, Wahrheit etc.). – Denken und Handeln schließen sich meines Erachtens aber nicht aus. Wer sich ins Innere vergräbt und lediglich in platonischen Wolken lebt, wird sich ebenso wenig verändern wie jene, die sich vom gedankenlosen Handlungszwang treiben lassen. („Handeln“ darf hier allerdings nicht im Sinne einer rationalen Ursache-Wirkungskette verstanden werden).

Du bist mir aber noch eine Antwort auf die Frage schuldig geblieben, was für ein ökologisches Vorgehen du vor dem Hintergrund der epistemologischen Probleme vorsehen würdest.

SM: Das ist letztlich die Frage, welchen Stellenwert man der ökologischen Problematik einräumt, die momentan doch große Beachtung findet. Und viel ist auch seit den siebziger Jahren passiert. Das ging von linken Bürgerinnen aus meiner Generation aus. Viele haben Bioläden aufgemacht. Man sollte dem eher individuell als staatlich begegnen. Das scheint mir nachhaltiger. Staatsmänner, auch Frauen, können das nicht. Die Bürgerinnen müssen es selber machen und den Staat veranlassen, sie dabei zu unterstützen. Aber politische Probleme sind nicht monokausal, sondern es gibt viele verschiedene, die genauso wichtig sind. Ich denke, dass man dabei von Nietzsche viel lernen kann. Aber es ist klar, das betrifft primär Intellektuelle, wiewohl Nietzsche sicher einer der wenigen Philosophen ist, der auch außerhalb der Philosophenzunft rezipiert wird.

PS: Ja, da scheint es mir auch wieder eine generationelle Differenz zu geben. Bei meiner Generation nehme ich es so wahr, dass für uns, jedenfalls um 2010 herum, die ökologische Frage vollkommen nachranging gewesen ist. Da haben wir uns nicht so sehr drum geschert, sondern eher um die erwähnte Frage nach einem guten und gerechten Bildungssystem, die Friedensfrage (Stichwort Irak-Krieg) und der uns möglich erscheinende Kollaps des Finanzsystems in Folge der Krise von 2008. Ein wenig komisch, im Nachhinein betrachtet. Vielleicht wollten wir uns damit auch von den Älteren abgrenzen, denen diese Problematik so wichtig war. Und wir waren, bei aller Politisierung, doch auch sehr individualistisch drauf und hätten nicht im Traum daran gedacht, auf unsere Billigflüge quer durch Europa und Fleisch zu verzichten – das sind alles Themen, die erst ein wenig später aufkamen, auch wenn meine Generation in dieser Hinsicht inzwischen „aufgeholt“ hat, wenn man so sprechen mag.

Den letzten Aspekt, den du aufgebracht hast, Hans-Martin, finde ich aber auch noch wichtig, hervorzuheben. Ich kenne sehr viele Menschen, die niemals studiert, aber Nietzsche gelesen haben und etwas mit ihm anzufangen wissen. Da gleicht er ein wenig Kafka, auch Marx. Das sind alles Autoren, die „populär“ sind. Man darf die Geschichte der Nietzsche-Rezeption nicht bloß als Geschichte seiner akademischen Kommentierungen schreiben, sondern muss sie viel breiter erzählen, sonst nimmt man nur die Spitze des Eisbergs in den Blick.

1, 2, 3…

Zur neuen Dauerausstellung im Naumburger Nietzsche-Haus

1, 2, 3…

Zur neuen Dauerausstellung im Naumburger Nietzsche-Haus

16.9.24
Lukas Meisner

Seit 1994 befindet sich in jenem Haus in Naumburg, in welchem Nietzsche nach seinem geistigen Zusammenbruch 1889 mit seiner Mutter mehrere Jahre lang lebte, ein Leben und Werk gewidmetes Museum. Anlässlich des dreißigjährigen Jubiläums seines Bestehens wurde die Dauerausstellung des Nietzsche-Hauses vollständig umgestaltet, kuratiert vom Berliner Philosophen Daniel Tyradellis. Unser Stammautor Lukas Meisner war vor Ort und hat sie sich angesehen.

Seit 1994 befindet sich in jenem Haus in Naumburg, in welchem Nietzsche nach seinem geistigen Zusammenbruch 1889 mit seiner Mutter mehrere Jahre lang lebte, ein Leben und Werk gewidmetes Museum. Anlässlich des dreißigjährigen Jubiläums seines Bestehens wurde die Dauerausstellung des Nietzsche-Hauses vollständig umgestaltet, kuratiert vom Berliner Philosophen Daniel Tyradellis. Unser Stammautor Lukas Meisner war vor Ort und hat sie sich angesehen.

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Es ist ein faszinierendes Fleckchen Land, die Thüringer Städtekette. Im Westen die Lutherstadt Erfurt mit ihrem mittelalterlichen Kern und ihrem etwas anderen „Speckgürtel“ aus Jugendstil; im Osten Jena, das Herz des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik gleichermaßen; in deren Mitte Weimar, seinerseits das Zentrum der deutschen Klassik, der Musikhochschulen, der ersten Republik, des Bauhauses – aber auch: Nietzsches Sterbeort.

Gedenktafel am Nietzsche-Haus in Naumburg

Nicht weit von dieser geistesgeschichtlich bedeutsamen Städtekette liegt, im idyllischen Saale-Unstrut-Delta, Naumburg. In dieser wunderschönen Stadt verbrachte Nietzsche seine Schulzeit und jene Jahre der ‚geistigen Umnachtung‘, in denen er von seiner Mutter gepflegt wurde. Immer wieder kehrte er hierher – Zeit seines Lebens – zurück von seinen ausgedehnten Wanderungen in der Schweiz und in Italien. Hier, im Weingarten 18, wo Nietzsches Mutter ab 1858 lebte, befindet sich bis heute das Nietzsche-Haus, in dem eine neue Dauerausstellung auf ungewöhnlich ästhetische Weise das Denken und die Biografie des Philosophen näherbringt. Fünf ausgedehnte Audiospuren – auf Deutsch oder Englisch – führen in 1, 2, 3… Nietzsche die Gäste durch neun mitunter beengte Räume über zwei Stockwerke hinweg. An Kinder ist dabei ebenso gedacht, wie an jene, die Nietzsches Nähe zum Tierischen und zum Dinghaften für fundamental halten; denn der Mensch ist kein Hinterweltler, kein Transzendenzanhängsel, sondern ein Irdischer, Hiesiger und damit so leiblich wie materiell wirkende Wirklichkeit.

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In der Audiospur der Ausstellung zu Nietzsches Leben fasziniert neben seiner Berufung mit 24 Jahren auf eine Professur in Basel (noch bevor er promoviert wurde) und seine ausgedehnten Wanderjahre nach der verfrühten Pensionierung aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes vor allem sein „Turiner Erlebnis“. In diesem warf er sich, der Überlieferung nach, einem gequälten Pferd wie schützend um den Hals, was laut offizieller Erzählung den Anfang seines „Wahnsinns“ markiert. Wahnsinn noch wird so sinnlich vermittelt; die Anekdote wirkt wie ein Beweis gegen die Lehrmeinung für all jene, die ihm gegenüber offen sind: Vom Willen zur Macht der Quälenden, vom Mitleidlosen der Herrschenden war der Mensch Nietzsche augenscheinlich weniger erfreut als seine Lehre es vermuten lässt. Ja, es scheint, als sei er von kaum etwas so abgestoßen gewesen wie von „blonden Bestien“ und deren brutalem „Übermenschentum“. Das Museum legt diesen Schluss zwar nicht nahe, behandelt Nietzsches animalische Epiphanie aber mit entsprechender Sympathie.

Pferde-Plastik in der Ausstellung 1, 2, 3...

3

Der neuen Dauerausstellung ist darüber hinaus zeitgemäßer Geschmackssinn zu diagnostizieren. Doch war Nietzsche nicht ein Unzeitgemäßer? War er nicht ein Verächter des Geschmacks und der Mode? Texttafeln jedenfalls hat 1, 2, 3… Nietzsche kaum und dafür umso mehr Gimmicks, was sich in gewissem Sinne passend ins Stadtbild Naumburgs zu Postwendezeiten einfügt – wo einzig die Fassaden noch vom Bunten handeln. Die Präsentation des Museums spiegelt dergestalt das Museale seiner Umwelt wider, wobei der frühe Nietzsche dem sicher nicht mit Wohlgefallen begegnet wäre. Auch vermittelt sie dem Besucher eher oberflächliches und unkritisches als tiefgreifendes oder neues Wissen. Die Adressaten scheinen der Form wie dem Inhalt nach folglich mehr Bekenner als Kenner Nietzsches zu sein – mehr aus der Popkultur als durch philosophische Studien informiert. Gerade für diese Adressaten andererseits hält sie wichtige Korrekturen altbewährter Vorurteile bereit.

Blick auf den Naumburger Dom

Etwa klärt sie darüber auf, dass Nietzsche eben kein Nihilist (sondern, zumindest dem Selbstanspruch nach, Anti-Nihilist) war und dass sein Bonmot „Gott ist tot“ komplexer (ja, letztlich anders) zu verstehen ist, denn als resümierendes Konstatieren eindimensionaler Modernegläubigkeit. In dieselbe Kerbe hauend, jedoch seinerseits klischiert, scheint das hauptsächliche Feindbild von 1, 2, 3… Nietzsche die Habermassche Problematisierung der nietzscheanischen Einebnung der Differenz zwischen Philosophie und Literatur zu sein. Diese Problematisierung allerdings versäumt es ihrerseits, Habermas‘ Überidentifizieren Nietzsches mit dem Poststrukturalismus (aus dem Philosophischen Diskurs der Moderne bekannt) zu hinterfragen, was Wege sowohl über den Hegel der Bundesrepublik Habermas’ wie über die Neokonservativen des neuen Geists des Kapitalismus – die Poststrukturalisten – hinaus hätte eröffnen können.

Fraglich bleibt demgemäß auch, ob im Falle Nietzsches, wie es die Ausstellung suggeriert, überhaupt von Begriffen – in Sachen „Wille zur Macht“ oder „ewige Wiederkunft“ – gesprochen werden kann, wenngleich die Auswahl dieser in den Museumsräumen durchaus überzeugt. Schließlich philosophierte hier ein Wanderer mit seinen Schatten und einem Hammer, kein Systematiker mit Enzyklopädie und dialektischer Methode. Dennoch wird der Nietzsche-Neugierige in 1, 2, 3… nicht nur über dessen Gegenmethode der Genealogie und der Ästhetik (der Schein kommt vor dem Bewusstsein!) in Kenntnis gesetzt, sondern auch über heute – nicht zuletzt politisch – zentrale Konzepte wie „Ressentiment“ oder „Nihilismus“. Letzterer freilich wird fragwürdigerweise erörtert als „von Nietzsche geprägt“ und als bloße Gegenwartsbeschreibung des späten 19. Jahrhunderts, statt ihn jenseits seiner russischen Entstehungsbedingungen – und mit Nietzsche – in eine Doppelverbindung zu Religion und Szientismus zu bringen, die bis heute Bestand hätte.

Nicht zuletzt dürfte es Nietzschekenner wenig überzeugen, in dessen „Erd-Regierung“, die Sklaverei, Feudalität und Ungleichheit heranzüchten sollte (wie noch der zynische Postkritiker Sloterdijk erinnerte), nichts als eine Verteidigung der „Vielfalt“ wiederzufinden, wie 1, 2, 3… vorschlägt, als sei ausgerechnet Nietzsche der erste Linksliberale gewesen. Die Verteidigung der „Fernstenliebe“ hingegen, die allen Nationalismus und einigen Antisemitismus (wenngleich bei Nietzsche leider kaum Rassismus) ausschließt, als den essentiell anti-essentialistischen Beitrag Nietzsches zu Zeiten des Neochauvinismus hervorzuheben, ist definitiv ein Verdienst der neuen Ausstellung im Nietzschehaus.

Nietzsche-T-Shirts in der Ausstellung 1, 2, 3...

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Aller Kritik ungeachtet bietet 1, 2, 3… dem Besucher einen vergnüglichen, leichten, unterhaltenden und gleichsam bildenden Nachmittag auch zu Werktagen, an denen das Museum von 14 bis 17 Uhr geöffnet hat (außer montags). Es dürfte eine geeignete Zeitspanne sein, um sich die verschiedenen Tonspuren anzuhören und – entlang ihrer – diverse akustisch vermittelte Erfahrungen derselben haptisch einholbaren Räumlichkeiten zu durchleben. Zwar widersteht auch die neue Ausstellung nicht vollends der Versuchung, Nietzsche zu romantisieren bzw. zu heroisieren; Menschen, die Nietzsche schon seit Jahren und Jahrzehnten lesen, dürfte jener Mensch, der vom Übermenschen schrieb, durch sie dennoch ein ganzes Stückchen näherkommen. Gerade dieses Näherbringen des Menschen Nietzsche ist am dankbarsten hervorzuheben in unserer Epoche hegemonialer Selbstabschaffung des Menschen, die ideologisch von anti-, trans- und posthumanistischen Avantgarden vorauseilend eingeholt zu werden versucht wird. Nietzsche jedenfalls war noch ein Mensch, dem lediglich das Ziel und dergestalt die Gattung fehlte, nicht aber die Menschlichkeit, wenn es ums Leiden eines Tieres ging.

Nietzsche-Denkmal von Heinrich Apel aus dem Jahr 2007 auf dem Holzmarkt in Naumburg

5

Im besten Sinne könnte 1, 2, 3… insofern dazu beitragen, Orte wie Naumburg, Jena und Weimar, Figuren wie Nietzsche, Hegel und Goethe geistesgeschichtlich wieder füreinander zu öffnen: Denn Nietzsches proteleologische Frage nach dem selbstbestimmten Ziel des Menschen, das Authentizitätsideal der deutschen Romantik, die rationale Gesellschaft des deutschen Idealismus und die adäquate Ordnung des guten Lebens (deutsche Klassik) gehören jenseits aller bildungsbürgerlichen Ressentiments zusammen – vor allem aber: jenseits aller Deutschtümelei.

Link zur Internetseite des Nietzsche-Haus mit weiteren Informationen.

Lukas Meisner in Naumburg, fotografiert von einer anonymen Freundin

Informationen zu den Bildern

Alle Bilder dieses Artikels stammen, sofern nicht anders gekennzeichnet, vom Autoren.

Artikelbild: Front des Nietzsche-Hauses in Naumburg

Darts & Donuts
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Ich empfinde alle Menschen als schädlich, welche dem, was sie lieben, nicht mehr Gegner sein können: sie verderben damit die besten Dinge und Personen.

(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

Nietzsche sagt: „ChatGPT ist dumm.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

Nietzsche sagt: „Man soll den Computern misstrauen, sie haben ein Hirn, eine Hand, einen Fuß und ein Auge, aber kein Herz.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.

(ChatGPT auf die Bitte hin, einen Aphorismus im Stile Nietzsches zu verfassen)

Werk. – Es gibt keine irreführendere und falschere Ansicht als die, dass das Schreiben oder das Werk lustvolle Angelegenheiten seien. Es ist ganz das Gegenteil! Das Werk ist einer der größten Gegner und schlimmsten Feinde. Und wer aus Freiheit und nicht aus Gewohnheit schreibt, vermisst an ihm Umgangsformen und Gewissen – der ist ein Schwein!

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Gefährliche Wahrheit. – Viele psychische Pathologien machen ihren Wirt ultrasensibel. Sie bekomme Antennen für die kleinsten seelischen Regungen ihres Gegenübers, sehen den kleinsten Verrat, die kleinste Inkongruenz, den kleinsten Reißzahn, den hässlichsten Hund im Menschen. Als Feind des Menschengeschlechts zückt der Arzt seinen Notizblock und ruft also „die Pfleger“ herein.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Glück: Keinen mehr nötig zu haben und so rückhaltlose Zuwendung sein können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 44)

Dein Rechthaben nicht offen zur Schau stellen. Nie der Weg sein. Dem, der Recht hat, will man leicht Unrechttun und man fühlt sich gemeinsam im Recht dabei, weil das Gefühl für Gleichheit ständig trainiert wird und die Übung der Freiheit eine Seltenheit geworden ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 43)

Wahre Liebe: Durch den Anderen hindurch lieben.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 42)

Zusammensein wollen: Weil es leichter ist? Weil es bereichert? Weil man keinen Willen kennt, der lange Wege allein gehen kann?

(Neue Sprüche und Pfeile, 41)

Helfen wollen: Weil es sichgehört? Weil einem Gleiches widerfahren kann? Weil man hat und gerne gibt? Weil einem nicht die aktuelle Armut betroffen macht, sondern die Schande, dass Chancen ungenutzt bleiben müssen?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 40)

Keine Größe ohne ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten. Aus dem Schein zu einem Mehr an Sein. Aus den Erfolgen der Sprünge in eine Rolle, in der man sich nicht kannte, entsteht der Glaube anein Können, das mehr aus einem machen kann.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 39)

Wem die Stunde schlägt. – Wer sich einen Termin macht, etwa ein Date in zwei Wochen, freut sich, trifft allerlei Vorbereitungen, fiebert darauf hin, hält durch und überlegt, was er sagen soll und so weiter. – Dann ist der Tag da. In der Zukunft glänzte alles noch, fühlte sich anders an. Man denkt sich: Es ist alles ganz wie vorher. Alles, was ich getan habe, war nur Selbstzweck, man erwartete das Warten und Vorstellen und nicht die Sache selbst, nicht den Kairos, den man nicht erwarten kann.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Niederes und höheres Bewusstsein. – Bin ich vor die Wahl gestellt, entweder erdrückt zu werden, tot zu sein und zu schweigen oder zu lästern und ungläubig zu sein – Gift in meinen Drüsen mir zu sammeln, wie mir angeboren, Reptil, das ich bin –, ich würde immer das Zweite wählen und mich niedrig, schlecht, negativ und ungebildet nennen lassen. Lieber will ich mich von meinem Gift befreien als es mir zu Kopf steigen zu lassen. Tritt einer dann in meine Pfützen, sei’s so – gebeten hat man ihn nicht!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Schwere und die Sinnlosigkeitder Dinge. – Wer einmal den unbegründeten Wunsch verspüren sollte, sich über die wesentlichen Dinge Gedanken zu machen, das Sein der Dinge und die Zeit, der ist besser beraten, es zu unterlassen. Der Verstand tendiert dazu, solche Dinge zäh und schwer zu machen. Am Ende findet man sich beim Denken und Überlegen dabei wieder, das Ding selbst nachzuahmen und denkt den Stein, das Stein-Seins, verfällt in gedachte Inaktivität.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Nichts. – In der Indifferenz ist noch alles und jedes zu ersaufen. Der größte Mut, der Hass, die Heldentaten, die Langeweile selbst verschlingt sich und die große Dummheit, Eitelkeit.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Für Franz Werfel. – Ein Autor, der dir sagt: „Ach, meine Bücher…, lass dir Zeit, lies erst dies ein oder andere. Das kann ich dir empfehlen: Ich liebe Dostojewski.“ – Das ist Größe und nicht die eitle Schwatzerei derjenigen, die ihre eigene Person und die Dringlichkeit der eigenen Ansichten vor sich hertragen.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Illusions perdues. – Wieso ist es so,dass das schönste, romantischste, bewegendste, rührendste, herzaufwühlenste Buch gegen die blasseste Schönheit von zweifellos hässlichem Charakter keine Chance hat und so attraktiv wie eine uralte Frau wirkt?

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Wider einfache Weltbilder. – Wir sind ein krankendes Geschlecht; schwitzend, von Bakterien übersät. Wir haben Bedürfnisse, geheimen Groll, Neid; die Haare fallen uns aus, die Haut geht auf mit Furunkeln; wir vertrauen, langweilen uns, sind vorlaut; pöbeln, sind übertrieben schüchtern, schwätzen Unsinn, konspirieren, sind erleuchtet, sind verblendet, eitel, machthungrig, einschmeichelnd, kriecherisch – jenseits von Gut und Böse.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vom Unglauben getragen. – Wie könnte man es nicht anbeten, das großartige formlose Unding, welches das Sein ist? Monströs wie allerfüllend. Das große Nichts, das die Alten die Hölle nannten, qualmt und beschenkt uns mit den schönsten Schatten.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Das herzliche Lachen der Literatur. – Hat jemals ein Mensch, der vor einem Buch saß, sich den Bauch und die Tränen vor Lachen halten müssen? Ich schon; aber nur in der Vorstellung – und aus Schadenfreude über solche Idiotie.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Ananke. – Weil die Literatur, obzwar sie die dümmste, platteste, schlechteste Grimasse der Zeit darstellt, doch von ihr den kleinsten Kristallsplitter Reinheit enthält, ist sie unerbittlich erbarmungslos und erschreckend in ihrer Folge. Wir wissen nur eins: Sie wird kommen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Kind in der Bibliothek. – Die Mutter muss dem Kind verbieten: „Nein, wir gehen nicht da rein!“ Das Kind sagt: „Da!“, und will ein Regal hochklettern. Bücherregale sind Klettergerüste. Weil es das nochnicht gelernt hat, läuft es wie ein Betrunkener nach seiner Mutter.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Authentisch sein wollen: Weil es sich schickt? Weil man die Halbwahrheiten satt hat? Weil man einsah, dass nur ein Eingestehen zu tieferen und offeneren Bindungen führt?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 38)

Herausragend sein wollen: Weil man Bewunderer will? Weil man es den Mittelmäßigen zeigen möchte? Weil man das Banale nicht mehr aushält?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 37)

Weil die Kritik zunehmend nicht widerlegen, sondern vernichten will, ist die gute Moral der Moderne die kategorische Revisionierbarkeit. Sein ist Versuch zum Sein. Daher bemisst sich kompetente Urteilskraft an der Distanz zum guillotinenhaften Verurteilen. Korrekte Korrektheit ist selbstironisch.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 36)

Wer nicht von sich auf Andere schließt, verpasst die Chance zu einer Welt genauso wie jemand, der von Anderen nicht auf sich schließt. Im revidierbaren Mutmaßen lichtet sich das Zwielicht des Miteinanders ein wenig und es erhöht sich die Möglichkeit zu einem halbwegs zuverlässigen Versprechen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 35)

Im Gehen wird das Denken weich und weit. Wer die Welt um sich hat, für den wird das Rechthaben zu einer unschönen Angewohnheit. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, laufen einem die Sätze wie angenehme Begegnungen über den Weg, die einen überraschen mit der Botschaft, wie wunderbar egal man doch ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 34)

Ohne Erfolge wäre das Leben ein Irrtum. Die Karriere ist die Musik des Lebens, auch für die, die sich für thymotisch unmusikalisch halten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 33)

Schonungslose Ehrlichkeit belügt sich selbst, weil es ihr nicht um Wahrheit geht, sondern um den Effekt des Entblößens als bloße Intensität des Auftrumpfens. Sie will nicht aufzeigen, sie will es den Anderen zeigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 32)

Abhängigkeit macht angriffslustig. Man will sich selber beweisen, dass man etwas ist und attackiert die lebenswichtigen Helfer, als wären sie Meuterer. Dabei ist man selbst derjenige, der meutert. Für das klassikerlose Tier gilt: Es gibt ein falsches Leben im richtigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 31)

Sich Zeit lassen, wenn die Zeit drängt. Panik macht ungenau. Fünf vor zwölf ist es immer schon für diejenigen, die überzeugt sind, genau zu wissen, was zu tun ist, ohne dass sie die Komplexität der Lage je verstanden hätten. Es ist die Tragödie des Weltgeistes, dass seine selbsternannten Apostel erst einen überwältigenden Eindruck mit ihrer Entschiedenheit machen und dann einen schockierenden Eindruck mit den Wirkungen ihrer Entscheidungen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 30)

Ein Schreibfehler. – Was heißt erwachsen werden? – ...die kindlichen Züge anlegen ...!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Geschlechterkampf. – Da weder die Auslösung des Mannes noch der Frau zur Disposition steht und politische Macht in der Regel nicht mehr mit physischer Gewalt durchgesetzt wird, sind die mächtigsten Formen der Machtausübung verdeckt: Schuld, Angst, Drohung, Beschämung, Entzug (z. B. von Liebe und Solidarität), Zurschaustellung. Sie alle operieren mit Latenzen und unsichtbaren Scheingebilden, entfesseln dieFantasie.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Gewissensqual über das Gewissen: Das Gewissen, das sich nicht selber beißen lernt, wird zum Mithelfer der Gewissenlosigkeit. Gewissen jedoch als permanenter Gewissensbiss verletzt die Freiheit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 29)

Die erzwungene Höflichkeit provoziert die Lust zur Unhöflichkeit. Die Attraktivität der Sitten bemisst sich daran, wie viel kreative Munterkeit siegestatten. Sitten, die Recht haben wollen, werden unweigerlich zu Unsitten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 28)

Aus dem gefühlten Mangel an Aufmerksamkeit als stiller Angenommenheit entsteht der Hass auf diejenigen, die einen keines Blickes mehr zu würdigen scheinen. Man unterstellt Ungerechtigkeit, wo Freiheit ist, die eine andere Wahl traf. Dies Verdächtigen verhässlicht und entfernt von der Zuwendung, nach der man so sehnsüchtig strebt. Wut, die andauert, wird Hass, der schließlich den Anderen als Gegner wahrnimmt, den man nicht mehr kritisieren, sondern nur noch vernichten will.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 27)

Schatten über der rechten Hand. – Ist der Todesengel derselbe wie der der Liebe? – Erkennen wir nicht den Schatten aneinander, überall?

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Die Freiheit in der Literatur. – Kein Mensch wird geboren und liest „die Klassiker“.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Immerhin. – Man hat als Mensch genug Zeit bekommen, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Respekt. – Da duzt man die Leute undschon verlieren die allen Respekt – Demokratie!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vorsicht. – Unsere Gesellschaft geht von der Maxime aus, dass, wenn jeder gleichmäßig durch Arbeit verbraucht und gleichzeitig durch Geld versklavt, keiner dem anderen mehr etwas antun kann – Ruhe und Frieden herrscht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

 2023. – Wenn die Vorstellung zu sterben und tot zu sein erträglicher ist als die Demütigung einer Arbeit im Büro.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Dada. – Das Heute schafft noch aus dem unsinnigsten Blödsinn eine Ideologie zu machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Das Beständige. – Wenig auf dieser Erde ist ewig und bleibt über die Zeit hinweg erhalten. Bildung nicht, Geschichte nicht, Bräuche nicht, Sitten nicht. Ewig bleiben Dummheit, Eitelkeit, vielleicht Liebe und Spaß, Tränen und Dunkelheit, weil sie Familie sind.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Theater. – Im unerträglichen Theater unserer Zeit will jeder die Guten, die Superhelden spielen und niemand die Bösen. Ihre Zahl ist deswegen zu klein und die der Guten zu hoch. Damit verflachen beide Seiten ungemein und es entsteht die billigste Seifenoper. Wären wir nicht musikalisch begleitet, wir wollten nach Hause gehen, an den Schreibtisch und unsere Charaktere nochmal gründlich überdenken und -arbeiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Mädchen mit einem Korb Erdbeeren. – Das Wetter ist schön. Ich würde eine junge Frau gegen einen Korb Erdbeeren eintauschen, mir ist sklavenherrisch zu Mute.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Gehe denen aus dem Weg, die keine Sympathie für Komplexität erkennen lassen. Der Unwille zum Komplexen ist der trotzige Halt der Haltlosen und der Jungbrunnen der Verbitterten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 26)

Umgedrehter Nietzscheanismus: Die letzten Menschen als diejenigen, die es auf sich nehmen wollen, die letzten Dingen immer wieder zu durchdenken, ohne an den Abgründen zu zerbrechen, die sich dabei öffnen. Ein besseres Beschreiben erzeugt ein Vertrauen, das mit Normalität impft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 25)

Das Ende der Geschichte kann auch gedacht werden als eine Ohnmacht der alten Deutungen in neuen Verhältnissen. Daher wird der historische Sinn gerne kulturkritisch: Da er sich keinen Reim mehr auf die Lage machen kann, werden die Dinge als katastrophisch interpretiert, anstatt die Sicht auf die Dinge zu revidieren.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 24)

Geist als Betrieb: Als museale Hochkulturmode, als andenkenlose Betriebswirtschaft oder als ressentime Kulturkritik-Industrie.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 23)

Wenn man wieder kreativ sein muss. – Wenn der heutige Kulturmensch keine Idee mehr hat, greift er in die Tastatur und schreibt etwas über die Rolle der Frau, BiPoC oder sonst etwas in der Richtung und kommt sich dabei in seiner Armseligkeit nicht nur rebellisch und progressiv vor, sondern wähnt sich auch als kreativ, wenn er mal wieder über die Rolle der Mutter im Patriarchat spricht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fitness. – Ich kann die aufgepumpten jungen Männer mit ihren hantelgroßen Wasserflaschen und Proteinpülverchen nicht mehr sehen. Soll sich in diesen Figuren der feuchte Traum Nietzsches von der Selbstüberwindung des Menschen, seines Körpers und physiologischen Organismus in Form der kommodifizierten Selbstquantifizierung vollends erfüllt haben?

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Sichtbar durch Agitation. – Der Mensch ist das schöne Tier und, ist er wohl versorgt, von außen immer würdevoll. Das will nicht mehr sagen, als dass die Hülle, die die Natur ihm gibt, auch schon das meiste ist und im inneren Hohlraum, fast nur Schatten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Wissenschaftliche Erlösung: Nach einer neuen Erkenntnis der Gehirnforschung ist es unmöglich, zugleich Angst zu haben und zu singen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 22)

Wer die Möglichkeit des Untergehens ständig für realistisch hält, hat es nötig, sich vor sich selbst unauffällig in den Imaginationen des Schlimmsten zuspüren. Der Mangel des Glaubens an sich wird kompensiert mit dem festen Glauben an die Katastrophe.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 21)

Karriere machen, ohne den Verdacht des Egoismus auf sich zu ziehen, anstrengungslos, unterambitioniert. Aber doch das Verlangen, gesehen zu werden in der bemühten Mühelosigkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 20)

Er verzichtete, aber er sah ganz genau hin, wie viel der bekam, der nicht verzichtete. Der schielende Verzicht hat die schärfsten Augen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 19)

Sinn ist der Ersatz für fehlende Initiative. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, wird offen für die Erfindung von Gründen, wer an seinem Zustand schuld sein soll. Die Langeweile der Haltlosen wird zum Verbrechen der Vitalen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 18)

Philologe sein. – Permanentes Standgericht.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Weil es Mut braucht, sich Künstler zu nennen. –  Kunst ist das Gegenteil von Angst.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Leipzig. – Neben einem anarchisch aus dem Fenster hängenden Banner mit der Aufschrift „Lützi bleibt“, das an Klassenkampf, Demo, Streik, Widerstand und Molotov gemahnt, steht das Hauptversammlungshaus der städtischen Kleingartenvereine. Noch zwei Häuserblöcke weiter, ein Yoga-Studio.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Kreative ist nicht apolitisch. Er interessiert sich nicht einmal für Politik. Erst wenn die Räume enger werden, die ihn animieren, beginnt er sich politisch zu engagieren aus apolitischen Motiven.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 17)

Der Verlierer denkt: „Die Wahrheit, die meinen Sieg verhindert, muss Lüge sein!“ Der Sieger denkt: „Solange ich den Sieg nötig habe, habe ich noch nicht gewonnen.“

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 16)

Wer lange genug allein ist, will sich selber nicht mehr verstehen. Darin liegt die Möglichkeit einer reifen Gedankenlosigkeit. Man treibt dann noch Philosophie wie man Jahreszeiten erlebt. Begriffe und Satzfolgen kommen und gehen wie Kastaniengrün und Septemberhimmel.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 15)

Im gelingenden Bewundern überwindet man sich zu sich. Die Unfähigkeit zur Einzigartigkeit steigert den Drang zur Zugehörigkeit. Wenn Konsens zum Kommando wird, wird Freiheit zur Ungerechtigkeit. Diversität als Inklusivität wäre die bereichernde Teilhabe an Liberalität, deren Bewundern man nicht teilen muss. Der Zustand eines vielfachen Desinteresses ist keine Entfremdung oder Ausbeutung. Wer seine Disziplin gefunden hat, verachtet den Einfallsreichtum der Schuldsuche.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 14)

Früher entsprach der Wahrnehmung der Schönheit das Kompliment. Heute scheint es so, als wäre es das Zeugnis einer fortgeschrittenen Form der Anständigkeit, sich dafür zu schämen, diesen Reflex der Entzückung bei sich überhaupt wahrzunehmen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 13)

Die Freudlosen werden leicht die strengen Apostel eines Sinns des Lebens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 12)

Das Gewissen wächst im Horchen auf das Bewirkte. Es formt sich als Ohr der Reue.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 11)

Seine Entscheidungen infrage zustellen, steigert den Sinn für Verantwortung. Man weiß nie, was man alles getan hat. Die Unabsehbarkeit des Anrichtens weist auf die Reue als ständige Option. Daher ist alles Handeln ein Akt der Reuelosigkeit, den man hofft, verantworten zu können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 10)

Hilflosigkeit: Der letzte Stolz.

(Michael Meyer-Albert, Neue Pfeile und Sprüche, 9)

Die Krise lehrt weite Gedanken oder sie verleiht die zweifelhafte Stärke zu einer unschönen Exzentrik.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 8)

Im fehlerhaften Menschen genießt Gott seine Unfehlbarkeit. Im unfehlbaren Gott erträgt der Mensch seine Fehlbarkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 7)

Wer das wilde Leben nötig hat, denkt nicht wild genug. Golden, treuer Freund, ist alle Theorie. Und fahl des Lebens grauer Baum.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 6)

Erst der Wille zum Nichtwissen erlaubt eine Verkörperung der Wahrheit. Das Wort darf nicht ganz Fleisch werden.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 5)

Poesie. –  Eine Definition: Die Summe all’ dessen, was keine öffentliche Redaktion, die auf ihren Ruf, ihr Image und Inserate achten will, veröffentlichen würde.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Fortschritt. – Wenn die Städter auf das Land und seine der Vergangenheit Zeit entstammenden primitiven Sitten süffisant herabblicken, blickt die Zukunft gehässig auf sie, die Idioten, herab.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Glaube daran, dass es keine Wahrheit gäbe, ist selbst wieder eine Wahrheit, die es auf Dauer nicht mit sich aushält. Zweifel wird dogmatisch, depressiv oder paranoid.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 4)

Die Einsamkeit des Philosophen ist seine gute Gesellschaft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 3)

Wissen ist Ohnmacht. Die Mutigsten beherrschen die Kunst des Vergessens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 2)

Von nichts kommt nichts? Wäre dann der, der nichts tut, schuldloser?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 1)

Nietzsche. – Es geht darum Zündkerzen in den Zeitgeist zu setzen. Entzünden sollen sie andere! Wie im menschlichen Körper ein winziger, brennender, strahlender, leuchtender Kristallsplitter Wahrheit in ein System eingesenkt reicht, um ein Gerinnsel und einen Schlaganfall auszulösen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Rotten, Tribalismus. – Der*Die Deutsche ist Neurotiker*In und chronifiziert, staatlich anerkannt feige. Talent ist in Deutschland rar gesät.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Ablehnung. – Man darf nicht vergessen, dass selbst in dem „je te déteste“ oder „tu me détestes“ eine Form von Beziehung steckt. Sie ist nicht Indifferenz, sondern eine Form von Wille, Wunsch oder Velleität des Dialogs.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Schlagfertigkeit. – Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welche geringen Anlässe die Menschen benutzen, um einer den anderen zu demütigen oder auch nur sein kleines Mütchen am anderen abzukühlen. Dennoch: Auch aus der Ablehnung kann noch eine Lust über das eigene Wachstum, eine Lust an der Ablehnung entspringen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Smalltalk. – Aus oberflächlich und anfänglichen Gesprächen lernt man manchmal Leute kennen (oder erzeugen diese Gespräche ihre Menschen?), die, wenn man ihnen zuhört, genau demjenigen Menschenbild der Konkurrenz entsprechen, von dem die Lehrbücher der Ökonomie scheiben, und es gruselt einen. – Ein Scherz, bitte ein Scherz, nur einen, fleht man innerlich! Und zeig mir, dass es ein Mensch ist! – Man einigt sich auf einige Statusmodalitäten der Berufswahl und stellt einige politische Ansichten zur Schau.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Im Dreck spielen. – Im menschlichen Verkehr liegt doch etwas Dreckiges. Die ganze Summe aus Verlogenheit, Untreue, Illoyalität und Machtspielen, die ihn so unappetitlich, aber gleichzeitig schmerzlich wie unerlässlich machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Kleinlichkeit. – Am Ende des Tages – und man glaubt es kaum – kommt es genau auf die Frage an: Willst du Kaffee oder Tee trinken? – Daran entscheidet sich alles! Ich habe mal eine Frau kennengelernt,die nicht mit der Gewohnheit vertraut war, morgens einen Tee oder Kaffee zu trinken. Sie machte sich schlicht keine Gedanken darum, trank vielleicht mal ein lauwarmes Glas Wasser. Sie ist mir dadurch unheimlich und suspekt geworden. – Einen Tag nachdem ich das geschrieben hatte ging mir mein Wasserkocher kaputt. (Höchste göttliche Ahnung!)

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fähigkeit der Vision. — Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man der Vision — das heisst einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen“ — gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

(Nietzsche, Morgenröthe, 66)

„Alle Wahrheit ist einfach.“ — Ist das nicht zwiefach eine Lüge? —

(Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 4)

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