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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches

Der Künstler als Egomane

Eine Abrechnung?

Der Künstler als Egomane

Eine Abrechnung?

20.8.24
Natalie Schulte

Künstler kommen bei Nietzsche oft nicht gut weg. Sie stellen den Prototypen des unselbstständigen, wahrheitsfeindlichen und wirklichkeitsverneinenden Menschen dar, der ohne Selbstbeherrschung seinen eigenen Stimmungen ausgeliefert ist. Ein kindisches, dramatisierendes, jähzorniges und im Ganzen lächerliches Wesen, ein Egomane, dessen Handeln und Gehabe allein darauf ausgerichtet ist, um den Beifall der Anderen zu buhlen. Oder ist Nietzsche hier nicht ganz beim Wort zu nehmen? Sollte damit tatsächlich sein letztes Urteil über den kreativen Geist gefallen sein?

Vieles von dem, was Nietzsche am Künstler beschreibt, entwickelt er an der Figur Richard Wagner, mit dem ihn eine kurze, intensive, letztlich aber vor allem enttäuschende Bekanntschaft verbindet. Der Künstler und der Denker, so hätte für Nietzsche eine Zeit lang die ideale Freundschaft aussehen können. Aber nach dem Bruch mit Wagner hat Nietzsche viel Abfälliges über den Künstler als Typus zu sagen. Wie anders – zum Vergleich – gestaltet sich die Freundschaft zwischen Künstler und Denker in Narziß und Goldmund von Hermann Hesse, der sich ausführlich mit Nietzsche auseinandersetzt.

Künstler kommen bei Nietzsche oft nicht gut weg. Sie stellen den Prototypen des unselbstständigen, wahrheitsfeindlichen und wirklichkeitsverneinenden Menschen dar, der ohne Selbstbeherrschung seinen eigenen Stimmungen ausgeliefert ist. Ein kindisches, dramatisierendes, jähzorniges und im Ganzen lächerliches Wesen, ein Egomane, dessen Handeln und Gehabe allein darauf ausgerichtet ist, um den Beifall der Anderen zu buhlen. Oder ist Nietzsche hier nicht ganz beim Wort zu nehmen? Sollte damit tatsächlich sein letztes Urteil über den kreativen Geist gefallen sein?Vieles von dem, was Nietzsche am Künstler beschreibt, entwickelt er an der Figur Richard Wagner, mit dem ihn eine kurze, intensive, letztlich aber vor allem enttäuschende Bekanntschaft verbindet. Der Künstler und der Denker, so hätte für Nietzsche eine Zeit lang die ideale Freundschaft aussehen können. Aber nach dem Bruch mit Wagner hat Nietzsche viel Abfälliges über den Künstler als Typus zu sagen. Wie anders – zum Vergleich – gestaltet sich die Freundschaft zwischen Künstler und Denker in Narziß und Goldmund von Hermann Hesse, der sich ausführlich mit Nietzsche auseinandersetzt.

Eine der bekanntesten literarischen Dichotomien, welche den Typus des Künstlers demjenigen des Denkers gegenüberstellen, ist wohl Hermann Hesses Narziß und Goldmund. Hesse, einer der vielen Literaten, die sich im 20. Jahrhundert intensiv mit Nietzsches Werk auseinandersetzten, schrieb in seinem 1930 erschienenen Roman von der erfüllten Freundschaft zweier gegensätzlicher Gestalten – dem Denker Narziß und dem Künstler Goldmund. Ihre Bekanntschaft befähigt sie, in den Bereichen Fortschritte zu machen, die sie bisher vernachlässigt haben, emotionale Bindung bei Narziß, Selbstkenntnis bei Goldmund. Ihrem Wesen entsprechend ist ihre gemeinsame Zeit nur eine vorübergehende, denn Goldmund zieht es in die Welt, während das äußere Leben für Narziß als dem Typus des Introvertierten nur Last und Zumutung, er mithin im Kloster am besten aufgehoben ist. Die Bewunderung, welche die beiden Charaktere füreinander hegen, schließt sich stets als Kreis. Bewundert Goldmund zuerst Narziß’ Klugheit und Ernsthaftigkeit, so ist alsbald Narziß von dem schönen, lebendigen Knaben Goldmund hingerissen. Obwohl Hesse später schreibt, dass er seine beiden Charaktere nicht als bloß schematische Typen des Künstlers als Sinnenmensch und des Denkers als Geistmensch verstanden wissen will, sind sie doch scharf voneinander abgegrenzt.  

Die Bedeutung ihrer Freundschaft fasst Narziß einmal hellsichtig zusammen: „Unser Ziel ist nicht, ineinander überzugehen, sondern einander zu erkennen und einer im andern das sehen und ehren zu lernen, was er ist: des andern Gegenstück und Ergänzung.“1

Ungefähr so, könnte man sich vorstellen, hätte sich Nietzsche seine Freundschaft mit dem Künstler Wagner auch gewünscht. Indes war sie von vornherein wenig darauf angelegt, ein Verhältnis auf Augenhöhe zu werden, war Nietzsche doch ein junger, unbekannter Akademiker von 24 Jahren und Wagner ein berühmter und streitlustiger Künstler von 55. Viel ist über die gescheiterte Freundschaft, so man sie überhaupt als solche bezeichnen will, geschrieben worden, viel über Nietzsches Wünsche, seine Hoffnungen und seine Enttäuschung. Man kann gar versucht sein, alles, was Nietzsche über den Künstler geschrieben hat, auf Wagner zu projizieren, Nietzsche selbst gibt dazu Anlass, wenn er in seinem Werk, das bezeichnenderweise Der Fall Wagner heißt, schreibt, dass dieser schlechthin der Typus des Künstlers der Décadence sei (vgl. Abs. 5). Weitere Details aus Nietzsches Biographie wie der frühe Vaterverlust bemüßigen Interpreten zu Spekulationen über einen übertragenen Ödipuskomplex und weitere psychische Schieflagen der Person Friedrich Nietzsche.

Der Künstler ist, wie man zugeben muss, für Nietzsche häufig der Musiker, aber auch der Dichter und – wenn auch seltener explizit – der bildende Künstler. Die Vorstellungen, die Nietzsche sich über Charaktere wie Goethe, Beethoven, Shakespeare, Lord Byron, Stendhal, Michelangelo und viele weitere macht, gehen, so dürfen wir annehmen, ebenso in seinen Typus des Künstlers ein wie die zur Bildsäule erstarrte Figur Richard Wagners. Wir können sogar versucht sein, anzunehmen, dass, anstatt den Künstler als Wagner zu lesen, andersherum Namen wie „Wagner“ und „Schopenhauer“ längst nicht mehr die Personen Wagner oder Schopenhauer meinen, sondern zu Chiffren werden für Unterarten innerhalb des Typus Künstler bzw. Philosoph. Erst wenn wir auf diese Weise Nietzsches Denkfiguren verstehen, werden sie zur Analyse von Menschen und möglicherweise sogar für das eigene Selbstverständnis brisant, vorausgesetzt, dass man künstlerische Ambitionen hegt oder sich als gelehrter oder kontemplativer Mensch versteht.

Der Künstler mit schlechtem Charakter

Das träumerisch-sensible Charisma, das Hesse seinem künstlerischen Protagonisten verleiht, scheint weit entfernt von Nietzsches Charakter des künstlerischen Menschen, wie er ihn in der Morgenröthe, Aph. 41, skizziert, denn „als Personen [sind sie] zumeist unleidlich, launisch, neidisch, gewaltsam, unfriedlich gewesen.“ Anstatt sich selbst zu suchen, eigene Wege zu gehen und Missachtung zu riskieren, sind sie häufig nur die Ersten im Gefolge eines Herrschers, besonders beredte Schmeichler und zuletzt eben nichts anderes als Günstlinge des Hofes.2 Der Künstler, so schreibt Nietzsche auch in der Genealogie der Moral, ist unfähig, alleine zu stehen, er kann nicht eine primäre Gedankenfigur oder ein Ideal erschaffen, er muss sich ein solches vom Denker leihen und seine Kunst in dieses Ideal hinein projizieren.3 Die starke Gefühlswelt, die Tiefsicht, die man ihm zuschreibe, nicht zuletzt, weil man Tiefe und Vielschichtigkeit in seinem Werk erblicke, sei gar nicht unbedingt ein echter Wesenszug von ihm. In seiner Launenhaftigkeit, seiner Aggression sei der Künstler affektiert, er übertreibe seine Gefühle, weil es von ihm erwartet werde und es dem Geniekult diene.4 Dort aber, wo er in seinem Werk am tiefsten scheine, dort wo er eine schöne und edle Seele zeichne, moralische Motive und Stoffe, genau dort habe er nur mit gläsernem Auge hingeblickt, „mit dem sehr seltenen Erfolge, dass diess Auge zuletzt doch lebendige Natur wird, wenn auch etwas verkümmert blickende Natur, – aber mit dem gewöhnlichen Erfolge, dass alle Welt Natur zu sehen meint, wo kaltes Glas ist“5.

Der infantile Künstler

Immer wieder zeichnet Nietzsche den Künstler als kindlichen Charakter, als jemand, der nur spielen will, der egoistisch ist, der andere gar nicht richtig sehen oder anerkennen kann, weil er sich fortwährend nur um die eigene Person dreht und andere nur als Reflektoren für die eigene Bewunderung benutzt. Nietzsche, der das Spiel und das Versuchen in zahlreichen Aphorismen der Morgenröthe, der Fröhlichen Wissenschaft und im Zarathustra aufwertet, schreibt allerdings in Menschliches Allzumenschliches kritisch dazu:

An sich ist nun der Künstler schon ein zurückbleibendes Wesen, weil er beim Spiel stehen bleibt, welches zur Jugend und Kindheit gehört: dazu kommt noch, dass er allmählich in andere Zeiten zurückgebildet wird. So entsteht zuletzt ein heftiger Antagonismus zwischen ihm und den gleichalterigen Menschen seiner Periode und ein trübes Ende[.]6

Der Künstler als Wahrheitsfeind

Der Künstler wehrt sich gegen das Erwachsenwerden; anstatt dass kühle Vernunft die Welt und das Leben erklärbar und berechenbar macht, möchte er in frühere Zeiten zurück. Er will sich das magische Denken durchaus nicht nehmen lassen. Fernere Zeiten – Nietzsche assoziiert hier das junge Lebensalter, in dem der Künstler stecken bleibt, mit der noch jungen Menschheit – liegen ihm näher.7 Der Schritt zur Ratio wurde nicht vollzogen, Götter, Dämonen und Geistwesen beherrschten eine unverständliche und chaotische Welt, die eines Zaubermeisters bedürfe. Dies ist der rechte, echte Künstlergeschmack nach Nietzsche und wenn er auch verdeckt ist, zeigt er sich doch in der natürlichen Abneigung des Künstlers gegen die Wissenschaft. Er hasst die Wissenschaft und beneidet sie zugleich, weil sie die moderne Zaubermeisterin ist, welche neue Errungenschaften möglich macht. Wenn sich der Künstler nun aber zu dieser alten Welt der Geister und Feen zurück sehnt, dann nicht weil er wirklich an diese Zauberdinge oder gar an einen Gott glaubt – Nietzsche wird nicht müde, Kunst und Glaube einander antithetisch gegenüberzustellen –, nicht weil er darin eine Wahrheit zu haben meint, nein, er möchte eigentlich nur seine eigenen Existenz- und Schaffensbedingungen optimieren und dies ist „das Phantastische, Mythische, Unsichere, Extreme, den Sinn für das Symbolische, die Ueberschätzung der Person, den Glauben an etwas Wunderartiges im Genius“8.

Der Künstler als Wirklichkeitsfeind

Zuletzt, und dies ist vermutlich der schärfste Vorwurf, ist der Künstler bei Nietzsche nicht ein Mensch der wirklichen Welt. Denn es ist ein Ungenügen an der Wirklichkeit, das ihn zum Künstler werden lässt, er erfindet die Helden, die er selbst nicht verkörpern kann:

Thatsächlich steht es so, dass, wenn er eben das wäre, er es schlechterdings nicht darstellen, ausdenken, ausdrücken würde; ein Homer hätte keinen Achill, ein Goethe keinen Faust gedichtet, wenn Homer ein Achill und wenn Goethe ein Faust gewesen wäre. Ein vollkommner und ganzer Künstler ist in alle Ewigkeit von dem „Realen“, dem Wirklichen abgetrennt[.]9

Würde der Künstler nun aber immerhin zwischen seinen Fantasien und seiner Person und ihrer Substanz unterscheiden können, würde vielleicht ein letzter Rest Respekt vor ihm gewahrt. Aber leider ist dieser Typus Mensch stark von der Bewertung und Achtung anderer abhängig, die, wie man gerechterweise hinzufügen muss, leicht dazu verführt werden können, im Künstler etwas von dem Helden zu sehen, den dieser erfand. Der Geniekult, der um den Künstler entsteht, entlastet den gewöhnlichen Menschen davon, sich selbst eine größere Aufgabe, ein Werk zu suchen.10 Wenn ein Werk nur von einem Genie geschaffen werden kann, dann ist jeder eigene Versuch bloße Zeitverschwendung. Nichts bläht aber das Selbstbewusstsein des Künstlers mehr auf als eine solche Deutung. Bewunderung wirkt wie eine Droge auf ihn. Immer mehr möchte er sein, darstellen, von immer mehr Personen bewundert werden. Dies verdirbt nicht nur seine Kunst, die zum „Pöbel“ herabsteigt, sondern auch seine Persönlichkeit, die zur bloßen Maske verkommt. Als Schauspieler verliert der Künstler seine substanzielle Persönlichkeit. Er ist nie, was er darstellt, aber er kann auch gar nicht mehr anders als darstellen.11

Der Künstler psychisch gestört?

Zuletzt könnten wir also sagen, dass Nietzsche ein hochgradig pathologisches Bild des Künstlers zeichnet, das nach heutiger Trivialpsychologie der Persönlichkeitsstörung des Narzissten entsprechen müsste: egozentrisch, kindisch und charismatisch. Je nach Gelegenheit, wenn er es sich leisten kann, launisch, mit Störungen der Impulskontrolle, wechselhaft in seinen Zuneigungen. Schwankend in seiner eigenen Selbsteinschätzung zwischen Größenwahn und Minderwertigkeit, dazu gezwungen, andere zu sich zu verführen, um dann in der Folge an die eigene Grandiosität zu glauben, die er sich selbst nicht abnehmen kann. Jedes moralische Gewissen ist ihm naturgemäß fremd oder allenfalls ein Verkleidungsstück in dem reichen Sortiment der Maskerade.  

Aber dies wäre natürlich nicht die Philosophie Nietzsches, wenn es sich gar so simpel verhielte und man dieses Bild nicht auch in ein Kippverhältnis bringen könnte. Sind bei Hesse Künstler und Denker als Typen der Vita activa und der Vita contemplativa scharf voneinander abgegrenzt, so scheinen sie bei Nietzsche eine gemeinsame Schnittmenge zu besitzen. Der Philosoph ist bei Nietzsche die konsequente Weiterführung des asketischen Priesters und auch der Künstler scheint nur bei einer Weggabelung einen anderen Pfad eingeschlagen zu haben. All die negativen Charaktereigenschaften, die Nietzsche in der Morgenröthe 41 benennt, ordnet er einem Künstlertypus zu, der aus dem Kontemplativen erwächst. Und der Denkertypus, nun, der schneidet bei Nietzsche auch nicht viel besser ab. Denn er vereint in sich die schlechten Charaktereigenschaften des Künstlers mit der Neigung des Priesters, die Freude und das Leben den anderen madig zu machen und setzt noch eine dritte schlechte Eigenschaft obendrauf: Mit ihren dialektischen Gedankengängen sorgen sie bei anderen Menschen auch noch für viel Langeweile.12

Ja, selbst bei den Philosophen scheint es mit ihrer Liebe zur Wahrheit nicht weit her zu sein. Die Ideale, welche die Philosophen hochgelobt haben – zumeist asketische Ideale der Enthaltsamkeit, der Besitzlosigkeit etc. – sind lediglich die beste Grundlage für ihr eigenes Schaffen:

Freiheit von Zwang, Störung, Lärm, von Geschäften, Pflichten, Sorgen; Helligkeit im Kopf; Tanz, Sprung und Flug der Gedanken; eine gute Luft, dünn, klar, frei, trocken, wie die Luft auf Höhen ist, bei der alles animalische Sein geistiger wird und Flügel bekommt[.]13

Dort also wo der Künstler zurück in eine magische Welt drängt, in der er zum Mittler zwischen Gott- und Menschenwelt verklärt wird, so der Philosoph in Richtung eines Elfenbeinturms, von wo er alles trefflich wahrnehmen kann, ohne von alltäglichen Zumutungen geplagt zu werden.  

Ist dies aber tatsächlich noch eine Kritik am Künstler bzw. Denker oder nicht vielmehr die Kritik am naiven Glauben an eine überpersönliche Wahrheit und überzeitliche Ideale? Die eigenen Lebensbedingungen bejahen und nicht eine Wahrheit, die möglicherweise lebensfeindlich ist, das könnte sowohl Künstler als auch schlauere Denker einen. Und wenn andere Menschen nun den Künstlern und Denkern auf den Leim gehen, ihre Ideale als ewige glauben, diese bewundern, bezahlen und selbst gröberen, langweiligen Tätigkeiten nachgehen, weil sie in sich selbst kein Genie erblicken, das sie als notwendig für das Künstlerdasein erachten, und ja, wenn sie sich ein Weilchen in Enthaltsamkeit und Meditation üben, ohne dass es ihnen gut tut, nun, was kümmert es die Künstler und Denker? Sie haben es nötig, Schein und Aura, um sich zu wahren, sollte die Welt nicht von ihnen verlangen, einem ehrbaren Brotberuf nachzugehen. Und nicht zuletzt danken es die Künstler und Denker der Welt, indem sie diese schöner machen und durch Geschichten und Dichtungen bereichern oder Ideen und Ideale vorstellen, die die Menschen inspirieren.

Je weniger eine objektive, für alle Menschen gültige Wahrheit hinsichtlich überzeitlicher Ideale und Werte überhaupt überzeugt, desto näher rücken bei Nietzsche Künstler und Denker. Der Denker ist schließlich vielleicht nichts anderes als ein Künstler, der Werte und Ideale schafft, so wie der Maler sein Bild malt und der Bildhauer die Skulptur aus dem Stein befreit. Beide Typen gehen vom gemeinsamen Feld des Kontemplativen aus, vom Beobachtenden, Introvertierten, Inaktiven und Brütenden,14 aber die schöpferische Kraft verleiht ihnen eine Aktivität, welche die schlichte vita activa übertrifft. Nietzsche gibt ihr einen neuen Namen: die vis creativa. Der dichterische Denker, der Künstlerphilosoph unterschätzt sich zunächst:

[E]r meint, als Zuschauer und Zuhörer vor das grosse Schau- und Tonspiel gestellt zu sein, welches das Leben ist: er nennt seine Natur eine contemplative und übersieht dabei, dass er selber auch der eigentliche Dichter und Fortdichter des Lebens ist, — dass er sich freilich vom Schauspieler dieses Drama’s, dem sogenannten handelnden Menschen, sehr unterscheidet, aber noch mehr von einem blossen Betrachter und Festgaste vor der Bühne. Ihm, als dem Dichter, ist gewiss vis contemplativa und der Rückblick auf sein Werk zu eigen, aber zugleich und vorerst die vis creativa, welche dem handelnden Menschen fehlt, was auch der Augenschein und der Allerweltsglaube sagen mag. Wir, die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort Etwas machen, das noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen. Diese von uns erfundene Dichtung wird fortwährend von den sogenannten practischen Menschen (unsern Schauspielern wie gesagt) eingelernt, eingeübt, in Fleisch und Wirklichkeit, ja Alltäglichkeit übersetzt. Was nur Werth hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur nach, — die Natur ist immer werthlos: — sondern dem hat man einen Werth einmal gegeben, geschenkt, und wir waren diese Gebenden und Schenkenden! Wir erst haben die Welt, die den Menschen Etwas angeht, geschaffen!15

Nietzsche verleiht dem Denken in seiner Philosophie eine radikale Wirkmacht. Indem Philosophen neue Sichtweisen auf die Welt entwickeln, indem sie bereits ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Lebensbereiche werfen und andere vernachlässigen, werten sie, selbst wenn sie noch zu beschreiben meinen, einiges auf und anderes ab. Philosophen und Priester geben damit den Menschen neue Rollenbilder, sie sind die Drehbuchautoren für die wirkliche Welt. Und was ist nun mit den Künstlern? Mit dem Geniekult entlasten sie doch scheinbar nur Menschen von eigenen schöpferischen Versuchen. Halten sie den Menschen also klein? Nun, das wäre vermutlich eine unfaire Betrachtung, denn gerade die Künstler werten ganze Gefühlswelten, Handlungsmöglichkeiten, Heldengeschichten auf. Sie ermöglichen, so müsste man doch aus Nietzsches Philosophie schließen, erst ganz neue Empfindungen, die man vormals gar nicht erlebte. Die Nervosität, die romantische Liebe, die Empfindsamkeit – sind das nicht die Erfindungen der Künstler? Nietzsche hätte vielleicht eingewendet, dass die Künstler seiner Theorie nach nicht alleine stehen können, dass sie ein Ideal von jemand anderem borgen müssen. Vorausgesetzt, dies wäre wahr, so wären die Künstler immer noch diejenigen, welche ein Stück blasse Theorie in Feuer und Flamme verwandeln und erst die Sehnsucht erwecken, die Menschen in andere Richtungen ziehen lässt. Hin und wieder ergibt sich vielleicht sogar ein günstiger Zufall: ein künstlerischer Philosoph, ein philosophischer Künstler – und darüber hinaus die Möglichkeit der Freundschaft zwischen dem Einen und dem Anderen.  

Quellen

Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. Frankfurt a. M. 1978.

Fußnoten

1: Hesse, Narziß und Goldmund, S. 44.

2: Vgl. Zur Genealogie der Moral, III, 5.

3: Vgl. ebd.

4: Vgl. Menschliches, Allzumenschliches I, 211.

5: Menschliches, Allzumenschliches II, Vermischte Meinungen und Sprüche, 151.

6: Menschliches, Allzumenschliches I, 159.

7: Vgl. ebd.

8: Menschliches, Allzumenschliches I, 146. Vgl. dazu auch die Aphorismen 147 und 155 im selben Buch.

9: Zur Genealogie der Moral, III, 4.

10: Vgl. Menschliches, Allzumenschliches I, 162.

11: Vgl. Also sprach Zarathustra, Der Zauberer.

12: Vgl. ebd.

13: Zur Genealogie der Moral, III, 8.

14: Vgl. Zur Genealogie der Moral, III, 10.

15: Die fröhliche Wissenschaft, 301.

Nietzsches Affe, Nietzsches Pfaffe

Die Causa Oswald Spengler

Nietzsches Affe, Nietzsches Pfaffe

Die Causa Oswald Spengler

12.8.24
Christian Saehrednt

Im folgenden Artikel gibt Christian Saehrendt einen kurzen Einblick in das Werk eines der vielleicht umstrittensten, aber auch einflussreichsten Nietzsche-Interpreten des 20. Jahrhunderts: den deutschen Philosophen Oswald Spengler (1880–1936). Der Verfasser von Der Untergang des Abendlandes (1917/22) gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Konservativen Revolution“, einer intellektuellen Strömung, welche vor 1933 maßgeblich an der kulturellen Destabilisierung der Weimarer Republik beteiligt war. In Deutschland weitgehend in Vergessenheit geraten, wird er im globalen Kontext weiterhin eifrig rezipiert, so etwa in Russland.

Im folgenden Artikel gibt Christian Saehrendt einen kurzen Einblick in das Werk einer der vielleicht umstrittensten, aber auch einflussreichsten Nietzsche-Interpreten des 20. Jahrhunderts: den deutschen Philosophen Oswald Spengler (1880–1936). Der Verfasser von Der Untergang des Abendlandes (1917/22) gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Konservativen Revolution“, eine intellektuelle Strömung, welche vor 1933 maßgeblich an der kulturellen Destabilisierung der Weimarer Republik beteiligt war. In Deutschland weitgehend in Vergessenheit, wird er im globalen Kontext weiterhin eifrig rezipiert, so etwa in Russland.

Oswald Spengler ist heute im deutschsprachigen Raum fast vergessen. Vor hundert Jahren war der Münchner Philosoph eine Reizfigur des öffentlichen Lebens und zugleich einer der prominentesten Nietzscheaner.1 Sein Monumentalwerk Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte hatte ihn berühmt gemacht. Spengler zählte zu den ersten und erfolgreichsten antiwestlichen Untergangsvermarktern, die lustvoll schaudernd von einem großen Publikum gelesen wurden – vor allem im Westen. Weniger bekannt ist, dass Spengler seinerzeit auch von einem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Russland und dem Westen, von einem „wahrhaft apokalyptischem Haß“ Russlands gegen den Westen ausging. Das kommt bei extremistischen russischen Ideologen wie Alexandr Dugin heute noch (oder wieder) gut an. Insofern ist Spengler wieder aktuell geworden – auch für uns im ewig untergehenden Westen.

Fast zehn Jahre lang hatte Spengler am Untergang des Abendlandes gearbeitet. 1917 war der erste Band publiziert worden, 1922 der zweite. Ab 1923 brachte C.H. Beck dann beide Bände zusammen auf den Markt, u. a. in einer ledergebundenen Prachtausgabe. Das Buch erzielte damals eine enorme Breitenwirkung und wurde vor allem im Deutschen Reich, das gerade den Ersten Weltkrieg verloren hatte, als kulturpessimistischer Weckruf verstanden und explizit auf das Schicksal der Nation bezogen.

Buchtitel Spengler und Dugin

Doch der intellektuelle Allrounder Spengler zielte in seiner Morphologie der Weltgeschichte nicht nur auf das Deutsche Reich, sondern versuchte sich an einer globalen Geschichtsschreibung. Im Gegensatz zum damals noch gängigem linearen Fortschrittsnarrativ der Moderne vertrat er eine These, nach der Hochkulturen periodisch aufsteigen, blühen und untergehen. Sein zyklisches Geschichtsverständnis skizziert eine Abfolge von Kulturen mit jeweils rund 1.000 Jahren Lebenszeit. Nun, am Anfang des 20. Jahrhunderts, scheint ihm die Kultur des christlichen Westens am Ende zu sein – verursacht durch Kapitalismus, Geldgier, übertriebenen Individualismus und Mangel an Spiritualität. Doch sieht er zugleich den Anbeginn eines neuen Zeitalters, den Aufstieg einer neuen Hochkultur, am östlichen Rande Europas. Oftmals versteckt in Fussnoten, kommt Spengler immer wieder auf Russland zu sprechen, das im schärfsten Gegensatz zum todgeweihten Westen stehe. Er attestiert der russischen Kultur das Potential, den für den Untergang des Westens massgeblichen Kapitalismus und Technizismus zu überwinden, „der Russe“, dessen „ganz mystisches Innenleben das Denken in Geld als Sünde empfindet“2, werde „eine ganz andere Welt um sich errichten, in der es nichts von dieser teuflischen Technik mehr gibt.“3„Nirgends war die Reaktion auf Spenglers Hauptwerk so schnell, massiv und breit wie im postrevolutionären Russland“, schreibt der Politologe Zaur Gasimov.4 In den ideologischen Auseinandersetzungen der frühen Sowjetzeit wurde Spengler im Kontext einer konservativen und religiösen russischen Identitätssuche rezipiert. Spenglers Werk wurde von den sowjetischen Behörden bald darauf als ‚religiöse Literatur‘ verboten, Auftritte in der Sowjetunion waren ihm verwehrt. Erst während der Perestroika und vor allem in den frühen 1990er Jahren wurde er wiederentdeckt, es kam zu neuen Übersetzungen und Nachdrucken seines Untergangs mit Auflagen von mehreren zehntausend Exemplaren. Auch zu Beginn des neuen Jahrtausends ging der russische Spengler-Boom weiter, es erschienen zahlreiche wissenschaftliche Publikationen über ihn.5 In seinem Buch Eurasische Mission (Evrazijskaja Missija, 2005) ging Alexandr Dugin mehrfach auf Spengler ein, den er als Vordenker und als Bezugsgröße für seine heutige „Eurasische Bewegung“ ansieht. So schrieb Dugin u. a., man könne an Spenglers programmatische Begriffspaare „Kultur und Zivilisation“, „Organisches und Künstliches“, „Historisches und Technisches“ noch heute anknüpfen.6 Schon vor Beginn der Invasion der Ukraine hatte Dugin frohlockt: „Der Westen steht am Abgrund“7, während Außenminister Sergej Lawrow im Sommer 2022 bei einem Vortrag die Ansicht vertrat, Spenglers Analyse vom „Untergang des Abendlandes“ sei „sehr weitsichtig“ gewesen.8 Bereits seit Jahren begleitet Außenminister Lawrow die immer aggressiver werdende Außenpolitik seines Landes mit Reden über „Russlands Verantwortung in der Weltpolitik“, die Bezug auf Spengler nehmen, etwa 20089 oder 201110. Der russische TV-Starmoderator Wladimir R. Solowjow hingegen legte seinen Zuschauern zu Jahresbeginn 2023 nahe: „Leben ist extrem überbewertet.“ Das Leben sei nur lebenswert, wenn man bereit sei für etwas zu sterben.11 Auch hier steht wieder Spenglers Menschenbild im Raum. Dass man im Westen immerzu an der „Vervollkommnung des Ich“ arbeite, sei etwas, fabulierte der deutsche Privatgelehrte, „was der echte Russe als eitel empfindet und verachtet. Die russische, willenlose Seele, deren Ursymbol die unendliche Ebene ist, sucht in der Brüderwelt, der horizontalen, dienend, namenlos, sich verlierend aufzugeben.“12 Vor hundert Jahren war Spengler in Deutschland heiss diskutiert worden, dann wurde er als Kulturpessimist und unwissenschaftlicher Schwurbler zu den Akten gelegt. Anders im Russland der Gegenwart: Aus Lawrows, Dugins und Solowjows Kehlen vernimmt man deutlich die Stimme des deutschen Untergangspropheten.

In der Weimarer Republik tritt Spengler zunehmend als intellektueller Erbe und Vollender von Nietzsches Gedankenwelt auf – oder wird in schmeichelhafter Weise als solcher interpretiert. Allein an 44 Stellen seines Untergang-Bestsellers bezieht sich Spengler expressis verbis auf Nietzsche oder zitiert ihn. Spengler erhält, u. a. durch die Unterstützung des Jurors Thomas Mann, 1919 den Preis des Nietzsche-Archivs, der von dem Unternehmer Christian Lassen gespendet worden war. Im Februar 1923 hält er im Archiv seinen ersten Vortrag mit dem Titel „Geld und Blut“, im Juni 1923 wird er in den Vorstand des Nietzsche-Archivs gewählt, allein im Jahre 1924 reist er siebenmal nach Weimar, um weitere Vorträge zu halten und an Sitzungen teilzunehmen.13 Bemerkenswert ist, dass er die Musik als wichtigstes Bindeglied zwischen Nietzsche und seiner Morphologie der Weltgeschichte bezeichnet. In einem Vortrag, den Spengler am 15. Oktober 1924 im Nietzsche-Archiv zum Thema „Nietzsche und sein Jahrhundert“ hält, würdigt er dessen Geburt der Tragödie als entscheidende Inspirationsquelle für den globalen historiografischen Ansatz des Untergangs:  

Die Befreiung erfolgte aus dem Geiste der Musik. Von dem Musiker Nietzsche stammt die Kunst, sich in den Stil und den Takt fremder Kulturen einzufügen, jenseits und oft im Widerspruch zu den Quellen …14

Am Ende des Vorwortes des Untergangs scheint sich Spengler vor seinen großen Vorbildern zu verneigen, vor „Goethe und Nietzsche. Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen…“15 Tatsächlich stilisiert sich Spengler in seinem Buch und in seinen Vorträgen zu demjenigen, der Nietzsches Fragen weiterdenkt und beantwortet. Fast schulmeisterlich bewertet und korrigiert er Nietzsche und schwingt sich zum wahren Kenner und Vollender von dessen Gedankenwelt auf, wie das folgende Beispiel aus dem Untergang zeigt.  

Spengler lobt zwar: „Es wird immer das große Verdienst Nietzsches bleiben, als erster das Doppelwesen aller Moral erkannt zu haben“ (S. 981), tadelt aber zugleich: „Nietzsche ist von einer wirklich objektiven Morphologie der Moral weit entfernt geblieben“ (S. 403), und kanzelt ihn pauschal ab:

Aber seine Forderung an den Denker, sich jenseits von Gut und Böse zu stellen, hat er selbst nicht erfüllt. Er wollte Skeptiker und Prophet, Moralkritiker und Moralverkünder zugleich sein. Das verträgt sich nicht. Man ist nicht Psycholog ersten Ranges, solange man noch Romantiker ist. Und so ist er hier, wie in all seinen entscheidenden Einsichten, bis zur Pforte gelangt, aber vor ihr stehen geblieben. (S. 441)

Auch das folgende Beispiel zeigt die typische Mischung von Tadel, Lob und purer Spekulation, mit der Spengler Nietzsche behandelt. So kritisiert er: „Hätte Nietzsche vorurteilsfreier […] seine Zeit beobachtet, so würde er bemerkt haben, dass eine vermeintlich spezifisch christliche Mitleidsmoral in seinem Sinne auf dem Boden Westeuropas gar nicht besteht“ (S. 443), lobt dann Nietzsche, er sei „der faustische Nihilist“, der die Ideale von gestern zertrümmere (S. 456), um anschließend zu behaupten: „Das Dritte Reich ist das germanische Ideal, ein ewiges Morgen, an das alle große Menschen wie Nietzsche […] ihr Leben knüpfen.“ (S. 465)  

Im Blick auf die Musik und die Kunst interessiert Spenglers These vom kulturellen Stillstand in der Moderne. Bei der Lektüre des Untergangs fällt auf, dass er die eigentliche Kraft des zivilisatorischen Zeitalters in seinen technischen Artefakten und in den Wissenschaften verortet, „seine Kulturleistungen, d. h. die noch immer epigonal fortgeschleppten Reminiszenzen an die längst verschwundene Phase der kulturellen Jugend oder Reife, sind demgegenüber untergeordnet, sie sind unlebendig und langweilig.“16 Dieser Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, gerade im Blick auf die zeitgenössischen Spielpläne von Theatern, Opernhäusern sowie im Blick auf die renommierten Museumssammlungen. Weithin dominieren in der heutigen Hochkultur noch die altbekannten literarischen Vorlagen, Stücke und Werke aus dem 19. Jahrhundert und der Jahrhundertwende. Spengler greift in diesem Sinne auch die Kontroverse zwischen Wagner und Nietzsche auf:

Alles, was Nietzsche von Wagner gesagt hat, gilt auch für Manet. Scheinbar eine Rückkehr zum Elementarischen, zur Natur […][,] bedeutet ihre Kunst ein Nachgeben vor der Barbarei der Städte, der beginnenden Auflösung, wie sie sich im Sinnlichen in einem Gemisch von Brutalität uns Raffinement äußert […][.] Eine künstliche Kunst ist keiner organischen Fortentwicklung fähig. Sie bezeichnet das Ende. Daraus folgt, dass es mit der abendländischen bildenden Kunst unwiderruflich zu Ende ist. Die Krisis des 19. Jahrhunderts war der Todeskampf […][,] was heute als Kunst betrieben wird, ist Ohnmacht und Lüge, die Musik nach Wagner so gut wie die Malerei … (S. 377)  

Spengler sieht somit Wagners Kunst als eklektisches und kommerzielles Produkt der Moderne an, als schwärmerisches und unwahrhaftiges Spektakel – ohne jede mystische Tiefe.

Prachtausgabe Der Untergang des Abendlandes von C. H. Beck, die 2023 online antiquarisch angeboten wurde. Screenshot 31. 12. 2023

Summa summarum suchte Spengler Nietzsche in die Rolle eines Vorläufers der eigenen Philosophie zu drängen. Dennoch wird Spengler heute von der Fachwelt in vielerlei Hinsicht als bloßer Epigone Nietzsches gesehen:  

Dies liesse sich anhand einer umfangreichen Liste verdeutlichen, die alle gemeinsamen Anschauungen enthielte. Nicht nur initiale Interpretationsmuster des Untergangs des Abendlandes wie die Analyse der Dekadenz, der historisierte Willen zur Macht, die Sinnbestimmung der antiken Kultur oder der ambivalente Rassebegriff, sondern auch zahlreiche deskriptive Details wären darauf zu verzeichnen. Hinzu kommt die unverkennbare stilistische Anlehnung an das bewunderte Vorbild. Nietzsche ist – anders als Goethe – nahezu auf jeder Seite Spenglers anwesend.17  

Spengler brachte es in der Weimarer Republik zu erheblicher Prominenz, fand aber auch zahlreiche Neider und Gegner vor, die ihn, z. T. aus guten Gründen, inhaltlich oder politisch ablehnten. U. a. äußerten sie den Vorwurf, dass er Nietzsches Gedankengut verwässere und allzu populistisch-zeitgeistig aufbereite. Thomas Mann, der noch 1919 – wie seine Randnotate im ersten Band des Untergangs zeigen – als Spenglerianer gelten durfte, äußerte sich in den folgenden Jahren immer kritischer und abfälliger über Spengler, etwa in der berühmten am 13. Oktober 1922 gehaltenen Rede Von deutscher Republik aus Anlass des 60. Geburtstags von Gerhart Hauptmann18 oder im Essay Über die Lehre Spenglers19. U. a. betitelt Mann Spengler als „Nietzsches klugen Affen“ und bezieht sich dabei auf eine Figur aus dem Zarathustra, einen dem Meister ebenso treuen wie überaus lästigen Begleiter, der als „Affe[] Zarathustra’s“20 bezeichnet wird.21 Der prominente liberale Kulturpolitiker und überzeugte Nietzscheaner Harry Graf Kessler gab sich keine Mühe, seinen Unwillen hinter literarischen Anspielungen zu verbergen. Er berichtete in brutaler Offenheit über die Nietzsche-Tagung 1927 in Weimar, bei der Spengler im überfüllten Saal über „Nietzsche und das 20. Jahrhundert“ sprach. Der Vortrag sei ein einziges „Debakel“ gewesen:  

Ein dicker Pfaffe mit einem fetten Kinn und einem brutalen Mund – ich sah Spengler zum ersten Mal – trug eine Stunde lang das abgedroschenste, trivialste Zeug vor […][,] nicht ein eigener Gedanke […]. Für das Nietzsche-Archiv eine bedauerliche Blamage, diesen halbgebildeten Scharlatan haben sprechen zu lassen. Der Vortrag war so seicht […][,] vielleicht ist er der erste Nietzsche-Pfaffe.22

Quellen

Gasimov, Zaur: Spengler im heutigen Russland. Zur Neu-Eurasischen Rezeption der Kulturmorphologie. In: Gilbert Merlio u. a. (Hg.): Spengler ohne Ende. Ein Rezeptionsphänomen im internationalen Kontext. Frankfurt a. M. 2014, S. 243–257.

Dugin, Alexandr: Eurasische Mission. Eine Einführung in den Neo-Eurasianismus. London 2022.

Felken, Detlef: Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur. München 1988.

Thomas Mann: Über die Lehre Spenglers. In: Gesammelte Werke, Band 10: Reden und Aufsätze. Teil 2. Frankfurt a. M. 1974, S. 172–179.

Ders.: Von deutscher Republik. In: Gesammelte Werke, Band 11: Reden und Aufsätze. Teil 3. Frankfurt a. M. 1974, S. 811–852.

Pfeiffer-Belli, Wolfgang (Hg.): Harry Graf Kessler Tagebücher 1918 bis 1937. Frankfurt a. M. 1996.

Sieferle, Rolf Peter: Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen. Frankfurt a. M. 1995.

Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1923. Hier verwendet: Taschenbuchausgabe dtv (München 2000).

Wenner, Milan: Spannungsvolle Nähe. Oswald Spengler und das Nietzsche-Archiv im Kontext der Konserativen Revolution. In: Ulrike Lorenz & Thorsten Valk (Hg.): Kult – Kunst – Kapital. Das Nietzsche-Archiv und die Moderne. Göttingen 2020, S. 133–152.

Zumbini, Massimo Ferrari: Untergänge und Morgenröten. Nietzsche – Spengler – Antisemitismus. Würzburg 1999.

Nachweis zum Artikelbild

Spengler im russischen Birkenwald. Christian Saehrendt, Öl auf Leinwand, 2005.

Fußnoten

1: Vgl. den Überblicksartikel Milan Wenner, Spannungsvolle Nähe.

2: Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 1181.

3: Ebd., S. 1190.

4: Zaur Gasimov, Spengler im heutigen Russland, S. 243.

5: Vgl. ebd., S. 245 f.

6: Vgl. Alexandr Dugin, Eurasische Mission, S. 7.

7: Zitiert nach Dugins deutschsprachiger Website „Die 4. politische Theorie“ (abgerufen am 7. 5. 2024).

8: So gab ihn die kremlnahe Nachrichtenagentur Ria Nowosti wieder (vgl. Redaktionsnetzwerk Deutschland, 10. 7. 2022).

9: Vgl. Rede von Russlands Außenminister S. V. Lawrow bei der Eröffnung der internationalen Konferenz des Bergedorfer Gesprächskreises „Russlands Verantwortung in der Weltpolitik“, Moskau, 25. Oktober 2008. https://mid.ru/de/foreign_policy/news/1624365/ (abgerufen am7. 5. 2024).

10: Vgl. Rede an der MGIMO-Universität des Außenministeriums Russlands, Moskau, 1. September 2011. https://mid.ru/de/foreign_policy/news/1602124/ (abgerufen 7. 5. 2024).

11: Russian Media Monitor, 21. 4. 2023, https://www.youtube.com/watch?v=vQsZu44xAUY (Min. 2:14).

12: Spengler, Der Untergang, S. 394.

13: Vgl. Detlef Felken, Oswald Spengler, S. 158.

14: Zit. n. Massimo Ferrari Zumbini, Untergänge und Morgenröten, S. 45.

15: Spengler, Der Untergang, Vorwort, S. IX.

16: Rolf Peter Sieferle, Die Konservative Revolution, S. 111.

17: Felken, Oswald Spengler, S. 164.

18: Vgl. S. 841.

19: Vgl. S. 173.

20: Also sprach Zarathustra, Vom Vorübergehen.

21: Vgl. Zumbini, Untergänge und Morgenröten, S. 38.

22: Wolfgang Pfeiffer-Belli, Harry Graf Kessler Tagebücher 1918 bis 1937, S. 574 f. (15. 10. 1927).

Nietzsche gegen die Körperleugner

Ein Gespräch mit dem Philosophen und Youtuber Jonas Čeika

Nietzsche gegen die Körperleugner

Ein Gespräch mit dem Philosophen und Youtuber Jonas Čeika

8.8.24
Henry Holland & Jonas Čeika

Nachdem er auf unserem Blog bereits das Buch How to Philosophize with a Hammer and Sickle und den Youtube-Kanal von Jonas Čeika besprach (CCK Philosophy) (Link) interviewte Henry Holland den US-Amerikaner über die Blockaden der akademischen Philosophie, Nietzsches Relevanz als Denker am „Leitfaden des Leibes“ und über Spannungen zwischen seinem Anspruch als Antiphilosoph und seiner sozialen Position.

Nachdem er auf unserem Blog bereits das Buch How to Philosophize with a Hammer and Sickle und den Youtube-Kanal von Jonas Čeika besprach (CCK Philosophy) interviewte Henry Holland den US-Amerikaner über die Blockaden der akademischen Philosophie, Nietzsches Relevanz als Denker am „Leitfaden des Leibes“ und über Spannungen zwischen seinem Anspruch als Antiphilosoph und seiner sozialen Position.

Henry Holland: Jonas, könntest du den Lesern hier in Deutschland und der Schweiz, die deinen einflussreichen philosophischen Youtube-Kanal vielleicht nicht kennen, etwa über deinen Werdegang erzählen und wie es dazu kam, dass du nun über Nietzsche und die Linke schreibst und aufklärst? In deinem 2021 erschienenen Buch How to Philosophize with a Hammer and Sickle, das bislang leider noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, gehst du die Frage nach, warum die heutige akademische Philosophie so sehr von einem entpersonalisierten Ansatz dominiert ist. Und du verfolgst sogar diesen Trend bis in die 1950er Jahre zurück, als „[Senator Joseph] McCarthys akademische Handlanger [...] die akademische Philosophie von der ehrgeizigeren Aufgabe eines kritischen und reflektierten Selbstverständnisses abdrängten.“1 Hier wurde eine entpersonalisierte Philosophie absichtlich als Methode eingesetzt, um das Risiko einer linken „Subversion“ der Akademie zu verringern. Siehst du auch deine Entscheidung vor sechs Jahren, deine Zeit in den Aufbau deines inzwischen viel beachteten Youtube-Kanals zu investieren, anstatt einer konventionellen akademischen Karriere den Vorzug zu geben, in dem gleichen Kontext? Hing die Entscheidung mit deinem Verständnis davon ab, wie die akademische Philosophie die Menschen heute im Stich lässt?

Jonas Čeika: Ich habe während meines Bachelor-Studiums in Philosophie an der NTNU [Technisch-Naturwissenschaftliche Universität Norwegens] mit meinem Youtube-Kanal angefangen. Damals interessierte ich mich sowohl für linke Politik als auch für die im 20. Jahrhundert geschriebene Kulturtheorie — und mein Kanal fing erst dann an populär zu werden, als ich eine Video-Antwort auf Jordan Petersons Verständnis der postmodernen Philosophie produzierte.2 Ohne das Wissen und die Erkenntnisse, die ich in der akademischen Welt sammelte, wäre mein Kanal mit Sicherheit unmöglich gewesen, denn erst dort beschäftigte ich mich mit Politischer Philosophie und mit Kulturtheorie.  

Dennoch frustet es mich, diese Neigung zu einer hyperfokussierten thematischen Konzentration in der akademischen Philosophie – ein Symptom für den allgemeinen Trend zur Spezialisierung in der spätkapitalistischen Arbeitsteilung. Die überwältigende Flut an verfügbaren Informationen zwingt Wissenschaftler·innen dazu, sich auf ein sehr begrenztes Fachgebiet zu spezialisieren. Sicherlich ist das oft ein notwendiger Schritt; aber mit der Reduzierung aller Wissenschaftler·innen auf ihre Rolle als hochgradig abgegrenzte Spezialist·innen bleibt wenig Raum für Analysen der gesellschaftlichen Totalität und der breit angelegten sozialen Verhältnisse, wie sie von Marx und Nietzsche durchgeführt wurden. Diese zwei Persönlichkeiten unterlagen den üblichen akademischen Zwängen nicht. Die Spezialisierung geht oft auf Kosten des größeren Zusammenhangs.

Ein bedeutungsvolleres Problem ist jedoch die Abschottung der akademischen Intellektuellen von der breiteren Gesellschaft. Auch hier stellen Nietzsche und Marx Ausnahmen dar, aber selbst hoch akademische Philosophen der frühen Moderne, wie etwa Kant und Hegel, hatten immensen Einfluss auf das Denken der breiteren Gesellschaft. Heutzutage erreichen Philosoph·innen nur noch selten diese Art von Einfluss, und wenn sie ihn haben, dann oft aufgrund von Faktoren außerhalb der akademischen Welt. In den 2020er Jahren tendieren Wissenschaftler·innen — teilweise aufgrund der oben erwähnten sehr engen Schwerpunktsetzung — immer mehr dazu, fast nur noch für andere Wissenschaftler·innen zu schreiben.  Spezialist·innen schreiben also vor allem für andere Spezialist·innen. Dadurch entstehen umzäunte akademische Blasen, in die  Menschen ohne höheren Universitätsabschluss nur schwerlich irgendeinen Eingang finden können. Wenn man aber über die Schriften von Philosoph·innen forscht, die eine umfassende Umgestaltung der Gesellschaft oder der Kultur anstrebten, denn wirkt es wie eine Verfälschung, wenn man ihr Werk lediglich zum Gegenstand einer akademischen Nische verkommen lässt. Theorie mittels Youtube zu präsentieren ermöglichte es mir, Millionen von Menschen zu erreichen, was in der gewöhnlichen, formellen Rolle eines Wissenschaftlers höchst unwahrscheinlich gewesen wäre. Darüberhinaus befreite dieses Medium mich von den akademischen Zwängen einer einengenden Spezialisierung. Das soll nicht heißen, dass Youtube nicht seine eigenen Zwänge und Fallgruben hat, beispielsweise aufgrund des dort verwendeten Algorithmus’ oder aufgrund der anderen Mechanismen, welche die Reichweite einzelner Videos bedingen. Aber die Möglichkeit, ein größeres Publikum als sonst zu erreichen, gab mir dennoch einen anderen Sinn für die Bedeutung meiner philosophischen Studien, als ich ihn sonst gehabt hätte.

HH: Das Erscheinen von Domenico Losurdos monumentaler intellektueller Biografie Nietzsches 2020 in englischer Übersetzung war ein schwerwiegendes Ereignis der neueren anglophonen Nietzsche-Forschung und lag nur ein Jahr vor der Veröffentlichung deines eigenen Buches. (Die deutsche Übertragung, Nietzsche, der aristokratische Rebell, kam bereits 2012 im Argument Verlag heraus.) Auch wenn du dich nicht direkt mit Losurdos Argumenten in deinem Buch auseinandersetzt – da diese in der Hauptphase deines Schreibens an dem Buch ja noch nicht zur Verfügung standen –, hat Losurdos Arbeit denn in der Zwischenzeit doch Veränderungen in deiner Art Nietzsche zu lesen bewirkt?

JC: Sekundärliteratur zu Nietzsche gibt es ohne Ende. Als Losurdos Buch mir erstmals gewahr wurde, war ich bereits in der Endphase meines Schreibens und hatte nicht die Zeit, eine Replik an Losurdo auf organische Weise in meinem Buch zu integrieren.

Ich bewundere die Nietzsche-Forschung von Losurdo, finde sie aber gleichzeitig ziemlich reduktiv. Jeder Philosoph ist eine Art Vielheit, die aus verschiedensten Blickwinkeln angegangen werden kann, und was als wesentlich oder eben zufällig bezüglich einer Philosophie eingestuft wird, hängt von dem Blickwinkel ab, den man zu einem bestimmten Zeitpunkt einnimmt. Losurdo versucht, Nietzsche auf einen solchen Ausgangspunkt zu reduzieren, nämlich auf seine Ablehnung des Sozialismus und der Politik der Arbeiterklasse. Sicherlich ist das ein produktiver Gesichtspunkt, aber keineswegs der einzige, und durch eine solche Reduktion geht immer etwas verloren, besonders bei einem so facettenreichen Philosophen wie Nietzsche. Ein Beispiel: Losurdo kontextualisiert Nietzsches Werdegang im Lichte seiner Reaktion auf die Pariser Kommune, die nach Losurdos Ansicht allen seinen späteren Werken einen im Wesentlichen antisozialistischen Charakter verlieh. Die Idee ist, dass der Antisozialismus nicht nur einer von vielen Aspekten seines Werks ist, sondern die Grundlage für alle reifen Werke Nietzsches darstellt. Aber das greift zu kurz. In einem von Nietzsches Notizbüchern aus dem Jahr 1877, das er einige Jahre nach den Ereignissen der Pariser Kommune schrieb, äußerte sich Nietzsche, wahrscheinlich aufgrund seiner Freundschaft mit Malwida von Meysenbug, positiv über den Sozialismus, den er als „die höchste Moralität” beschrieb.3 Zu der Zeit verwendete er den Begriff „Moralität“ nicht in einem pejorativen Sinne. Von Losurdos Standpunkt aus kann diese Notiz nur als inkohärent oder inkonsistent mit seinem restlichen Werkkorpus abgelehnt werden, aber genau das macht einen solchen Ansatz reduktiv. Er ist eben nur einer von mehreren möglichen Blickwinkeln und kann deswegen die Bedeutung, die Wirkung und die Verwendungsmöglichkeiten von Nietzsches Schriften nicht vollständig erfassen.

Die Gesamtheit Nietzsches Philosophie als eine spezifisch antisozialistische Philosophie darzustellen ist mehr als nur reduktiv. Sie schränkt außerdem auch neue und kreative Möglichkeiten ein, die Nietzsches Werke bieten. Wie ich an anderer Stelle beschrieb, ist mein Nietzsche-Buch eher als Ereignis und weniger als Darstellung intendiert. Und die Ereignisse, die seine Schriften hervorbringen können, übersteigen bei weitem ihren ursprünglichen politischen Kontext.

HH: Schon früh in Hammer and Sickle kennzeichnest du Nietzsche als einen Philosophen der individuellen, menschlichen Körper. Du schlägst vor, dass diese Schwerpunktsetzung Nietzsche zu einer Ausnahme unter den kanonischen, westlichen Philosophen macht, die den Körper mehrheitlich ignoriert oder schlechtgeredet haben. Und obwohl du darauf hinweist, dass französische Philosophen, im Nachspiel zu 1968, den Körper doch erfolgreich in die Philosophie hineingeholt haben, betonst du auch, wie die angloamerikanische Tradition diese Innovation weitgehend übersehen hat. Du porträtierst diese letztere Tradition als eine, in der der Körper selten als Mittelpunkt des Handlungsvermögens bzw. des agency verstanden wird. Magst du etwas zu den Schnittstellen zwischen Nietzsche, dem Körper und agency erzählen? Und auch etwas darüber wie reagiert wird, wenn du Nietzsche als Philosophen des Körpers in zeitgenössische Polemiken und Debatten einführst? Beispielsweise ist die Trans*politik, die primär an Universitäten des Globalen Nordens ausgefochten wird, u. a. auch eine Politik des Körpers. Wie bringst du dieses Phänomen im Einklang mit deinem Verständnis, dass das anglophone universitäre Milieu weiterhin den Körper als solchen marginalisiert?  

JC: Obwohl der Körper in breiten Teilen der angloamerikanischen academia durchaus theoretisiert wird, ist es von Belang, dass ein Großteil dieses Theoretisieren aus literary theory departments4 oder Soziologie-Instituten stammt, nicht aus Instituten für Philosophie. Manchmal stammt dieses Theoretisieren sogar aus Fakultäten für Kunst oder aus politischem Aktivismus auf Unigeländen. Viele Veränderungen sind auch in den behäbigen Philosophie-Instituten anzutreffen. Aber unter angloamerikanischen Philosophinnen und Philosophen gibt es immer noch einen großen Rückhalt für die Idee, dass Philosophie schlussendlich ein unkörperliches Unternehmen ist. Viele Fachbereiche, die auf anglophone, analytische Philosophie konzentriert sind, agieren weiterhin intellektuell ziemlich beschränkt – mindestens bezüglich welcher Stil und welche Inhalte überhaupt zugelassen werden.

Der Trans-Kampf ist deswegen interessant, weil er als Schnittstelle zwischen Körper und „Gender“ zu deuten ist: Gender verstanden hier sowohl als einen Satz gesellschaftlicher Geschlechtsnormen als auch als eine Ideologie. Dieser Kampf ist besonders fruchtbar, wenn er mit materiellen Anliegen, und Anliegen bestimmter sozialen Klassen, in Beziehung gesetzt wird. Beispielsweise wenn es um den Zugang zur Gesundheitsvorsorge und zu Wohnraum für Trans-Menschen geht. Hier fungiert der Körper als eine Art Übertrager, um die gesellschaftliche Situation metaphorisch darzustellen, welcher das Partikularinteresse (Gender-Identität) mit universalen Interessen (das Bedürfnis nach Gesundheit und Obdach) verknüpft.

HH: Sowohl für dich als auch für Linke, die auf „der anderen Seite“ der Nietzsche-Debatte stehen, bleibt es aufschlussreich, was dieser Philosoph uns über Lohnarbeit und die Anliegen spezifischer Klassen erzählen kann. Du resümierst, zum Beispiel, dass Nietzsches Rente – von der Universität Basel ab dem fünfunddreißigsten Lebensjahr bezogen, nachdem er krankheitsbedingt seine Stelle dort verließ –, es „ihm ermöglichte, den Rest seines Lebens zu verbringen, ohne Lohnarbeit oder Kommerz betreiben zu müssen.“5 Außerdem legst du nahe, dass diese Position „außerhalb“ des Lohnarbeitssystems und der Geschäftswelt ihm außerordentliche Einsichten ermöglichte. Sue Prideaux, Autorin der 2018 erschienenen Nietzsche-Biografie I am Dynamite!, weist jedoch darauf hin, dass Nietzsche lediglich sechs Jahre lang, also bis 1885, diese Rente empfing, und dass sie substantiell, jedoch kein Vermögen war: 3.000 Schweizer Franken jährlich.6 Diese eingegrenzte Bezugszeit veranlasste William Schaberg zu der These, dass das Schreiben für Nietzsche doch eine Lohnarbeit war, die er kommerziell vorantrieb.7 Seine Hauptverleger, Ernst Schmeitzner und E. W. Fritzsch, zahlten Nietzsche ein Pauschalhonorar von gewöhnlich 30 oder 40 Reichsmark pro Druckbogen, zusätzlich zu seinen Tantiemen aus den spärlichen Verkäufen.8 Dieses Stückarbeitshonorar, welche das Äquivalent von circa 37 Franken derselben Zeit, oder grob gerechnet über 1% seiner Jahresrente darstellte, bot Nietzsche, so Schaberg, einen großer Anreiz zum Schreiben. Nietzsches „magere Verkaufszahlen“ waren zudem auch weitaus höher als die der meisten US-amerikanischen oder deutschen Universitätsphilosophen zu ihren Lebzeiten im 21. Jahrhundert: 22.900 Exemplare von Nietzsches Werken wurden bis 1893 verkauft.9

Tragen solche Missverständnisse zu einer Fehlcharakterisierung Nietzsches als ein außerordentlich privilegierter Mensch bei, der von den Einschränkungen der Lohnarbeit nicht betroffen war? Und magst du dich zu Daniel Tutts Behauptung positionieren, dass Nietzsche vordergründig an

eine Klasse von Lesern appelliert, die ein ambivalentes und oft abschätziges Verhältnis zur Arbeiterklasse und zum Klassenkampf im weiteren Sinne haben. Nietzsche neigt dazu, diejenigen anzusprechen, die kollektiv in der marxistischen Klassentheorie als das Kleinbürgertum bezeichnet werden, und die eine widersprüchliche Klassenposition einnehmen, die durch ihre Nicht-Beziehung zur produktiven Arbeit definiert ist.10

Diese Behauptung steht augenscheinlich im Widerspruch zur Umfrage, die 1897 für die Leipziger Arbeiterlesesaal durchgeführt wurde. Diese ergab, dass Nietzsches Texte weitaus häufiger von Arbeiterinnen und Arbeitern ausgeliehen wurden als die von Marx, Lassalle und Bebel.11  Schaden solche zwanghaften innerlinken Debatten, welche produktive gegen nicht-produktive Arbeit ausspielen, dem Aufbau breiterer Allianzen für die Aufhebung des Kapitalismus? Und könntest du dieselbe Debatte wieder auf Nietzsche zurückführen?

JC: Es stimmt, Nietzsches Rente lief bei weitem nicht bis zu seinem Lebensende. Aber als er ab 1885 keine weiteren Zahlungen erhielt, hatte er lediglich drei Jahren seiner Karriere als Autor mit regelmäßigen Veröffentlichungen vor sich. Wir können also doch sagen, dass der Großteil seiner Karriere von seiner Rente mitgetragen wurde — und dass diese privilegierte Position zum sozial distanzierten Charakter vieler seinen Schriften beitrug.  Selbst nachdem seine Rente auslief, wurde er von Freunden und seiner Familie finanziell unterstützt. Er musste sich also nie ernsthafte Sorgen um sein Auskommen machen.

Aus seiner persönlichen Perspektive ist es wohl wahr, dass Nietzsche mehr als nur symbolische Summen vom Bücherverkauf verdiente. Dennoch blieben diese Verkaufszahlen gelegentlich so dürftig, dass sein Werk kein Interesse bei den Verlegern erwecken konnte. So etwa beim vierten Teil vom Zarathustra, den seinen Verleger nicht interessierte, weil er die kommerziellen Chancen des Buches als arg niedrig einstufte. Deswegen legte Nietzsche immer wieder sein eigenes Geld im Verlegen seiner Bücher an.  Und er schickte in der Regel kostenlose Exemplare an einen kleinen Kreis ihm persönlich bekannter Leser·innen. Es zeugt vom Wert, den er seinen Schriften beimaß, dass er bereit war Geld zu verlieren, um sie in Umlauf zu bringen.

Obwohl ich nicht bezweifle, dass Nietzsches Tantiemen für ihn persönlich von großer Bedeutung waren, es handelte sich dabei sicherlich nicht um eine Kapitalanlage. Aus diesen Gründen würde Nietzsche sicherlich nicht als produktiver Arbeiter im strengen marxistischen Sinne gelten – obwohl er als Warenhändler betrachtet werden könnte! Das macht aber seine Arbeit keineswegs weniger bedeutend. Vielleicht sogar im Gegenteil. Seine sehr unkonventionelle Schriftstellerei erforderte ein hohes Maß an Unabhängigkeit und profitierte davon, dass sie weder für die Verlage unbedingt profitabel war noch vom Kapital in Auftrag gegeben wurde.

Wie du richtig anmerkst, kann Daniel Tutts Behauptung der dominanten Kleinbürgerlichkeit von Nietzsches ersten Lesern angesichts dessen, wie beliebt Nietzsches Werken unter den Arbeitern waren, so nicht standhalten. Ich bezweifele auch die Gültigkeit von Tutts Kennzeichnung des Kleinbürgertums als einer Klasse, die in einer „Nicht-Beziehung zur produktiven Arbeit“ steht. Das Kleinbürgertum ist sehr wohl in der Lage, produktive Arbeit zu verrichten, und kann sich daher genauso auf diese beziehen wie das Großbürgertum.

In anglophonen marxistischen Kreisen wird gerade recht hitzig über produktive im Gegensatz zur unproduktiven Arbeit debattiert.  Die schädlichste Art, diese Diskussion zu führen, ist die moralisierende, die diese ökonomischen Kategorien zu Werturteilen verklärt. Das verwandelt sie von Kategorien, mit den Marx und Engels die Funktionsweise des Kapitalismus erklärt haben, in Kategorien moralischer Bewertung. Dies führt oft zu einer reaktionären Verdinglichung der Lohnarbeit. Produktive Arbeiterinnen und Arbeiter sind diejenigen, die Mehrwert schaffen — nicht weniger, aber auch nicht mehr. Das hat nichts mit Kategorien der Gerechtigkeit oder der Vornehmheit zu tun. Und sogenannte nicht-produktive Arbeiter, ebenso wie Arbeitslose, spielen in vielen Fällen eine positive Rolle im Klassenkampf und in der emanzipatorischen Politik.

HH: Um unseren vielen Gesprächsfäden zusammenzuführen: Betrachtest du Philosophie und andere Peer-to-Peer-Bildung, die über YouTube-Videos vermittelt wird, als einen Mikrokosmos des Akzelerationismus? Könnte dieses Medium die traditionellen Widersprüche des Lernens in kapitalistischen Gesellschaften überwinden? Bis heute üben eine winzige Anzahl festangestellter Professoren einen großen Einfluss auf die philosophischen und auch auf gesellschaftspolitischen Debatten aus. Während die meisten Studierende und Laien diese Diskurse, mittels derer sie sich bilden sollen, als solche erleben, in denen sie niemals eine Stimme haben können – und die sie daher nicht zu beherrschen brauchen. Kannst du über deine Erfahrungen mit dem Aufbau deiner Patreon-Community von mittlerweile rund 1.000 Mitgliedern sprechen, die ein oder fünf oder zehn Dollar monatlich beitragen, um dir deinen Lebensunterhalt zu sichern während deiner umfangreichen Arbeit bei der Recherche und Produktion der Videos? Wie würdest du dieses Modell mit Nietzsches eigenen Erfahrungen und Strategien beim Aufbau seiner Lesergemeinschaft vergleichen? Sind die intellektuellen Freiheiten, die dir dieses Arbeitsmodell bietet, deine primäre Motivation für die Wahl? Oder bist du vor allem durch die erfahrene Möglichkeit motiviert, Hunderttausende mehr Menschen erreichen zu können, als du sie in einer traditionellen Rolle als Hochschullehrer oder Professor erreicht hättest?

JC: In Hammer and Sickle bezeichne ich das „technologische Erhabene“ als ein neues Potenzial, das uns der Kapitalismus zur Verfügung gestellt hat.12 Und ich zweifle nicht daran, dass die dadurch ermöglichte Geschwindigkeit der Kommunikation unglaublich wertvoll ist und selbst unter den gegenwärtigen katastrophalen Bedingungen neue pädagogische, kulturelle und ästhetische Möglichkeiten eröffnet hat – einschließlich neuer Räume für Philosophie und Theorie, die nicht an ein Territorium oder eine akademische Institution gebunden sind. Man kann meine Patreon-Community mit Nietzsches Lesergemeinschaft vergleichen, aber sie unterscheiden sich eindeutig durch die Geschwindigkeit des Feedbacks und das Tempo der Interaktion zwischen Autor und Publikum. In manchen Situationen sogar durch die diffusere Grenze zwischen Sender und Empfänger, die zeitweilig aufgehoben wird. Bei der Arbeit im Internet gefällt es mir recht gut, dass ich die Gedanken und Diskussionen, die meine Beiträge einleiten, sofort mitverfolgen kann. Diese dienen wiederum als Inspirationen für neue Videos. Deswegen sehe ich mich als viel stärker von meinem Publikum beeinflusst und weniger von ihm isoliert als Nietzsche, was sowohl positive als auch negative Konsequenzen mit sich bringt.

Schon vor der Entwicklung des Internets stellten sich einige Gesellschaftstheoretiker eine künftige horizontale Form der Kommunikation und des kulturellen Austauschs vor, in der die Grenze zwischen Sender und Empfänger zugunsten der sozialen Gegenseitigkeit aufgehoben würde. Das Internet hat dies in größerem Umfang als je zuvor möglich gemacht. Dieses gesamte emanzipatorische Potenzial wurde jedoch blockiert und auf einige mächtige multinationale Konzerne konzentriert, die im Bündnis mit verschiedenen Regierungen all dieses immense Potenzial auf Werbung, das Sammeln von Daten und Überwachung ausgerichtet haben. Ich denke, wir können uns kaum vorstellen, welche Möglichkeiten ein sozialisiertes Internet noch für uns kreieren könnte.

Jonas Čeika ist ein in Norwegen lebender Schriftsteller. Er hat Philosophie an der NTNU (Technisch-Naturwissenschaftliche Universität Norwegens) studiert und 2018 hat den „CCK Philosophy“ Kanal auf Youtube gegründet, der nun von über 283.000 Interessierten abonniert wird. Weiterhin ist Čeika als Drehbuchautor und Produzent für seinen Kanal tätig. Neben zahlreichen Videos, in denen es um die Schnittstellen zwischen Politik, Philosophie und Kritischer Theorie geht, gehört zu seinen Buch- und anderen Publikationen How to Philosophize with a Hammer and Sickle: Marx and Nietzsche for the Twenty-First Century (London 2021).

Henry Holland (geb. 1975) ist Literaturübersetzer, aus dem Deutschen ins Englische, und lebt in Hamburg. Darüber hinaus schreibt und forscht er zur Ideen- und Kulturgeschichte und veröffentlichte 2023 zu Ernst Bloch und Rudolf Steiner in German Studies Review. Zusammen mit dem Religionswissenschaftler Aaron French (Universität Erfurt), arbeitet er an einer kritischen, englischsprachigen Steiner-Biographie. Mehr zu Hollands wissenschaftliche Arbeit und Kulturpolitik erfährt man auf seinem Blog, German books, reloaded, oder in Print-Zeitungen. Er ist Mitglied und im Vorstand vom Hamburger writers’ room: Der Arbeitsraum für literarisch Schreibende in Europa.

Quellen

Čeika, Jonas: How to Philosophize with a Hammer and Sickle. Nietzsche and Marx for The Twenty-First Century. London 2021.  

Pfannkuche, August: Was liest der deutsche Arbeiter? Aufgrund einer Enquete beantwortet. Tübingen 1900.

Prideaux, Sue: I am Dynamite! A Life of Nietzsche. London 2018.

Schaberg, William: The Nietzsche Canon. A Publication History and Bibliography. Chicago 1995.

Tutt, Daniel: How to Read Like a Parasite. Why the Left Got High on Nietzsche. London 2024.

Fußnoten

1: Čeika, How to Philosophize, S. 40.

2: Anmerkung HH: Čeikas „Peterson“-Video wurde seit seiner Veröffentlichung im Jahr 2018 über ein Million Mal angeklickt.

3: Anmerkung HH: Der vollständige Satz von Nietzsche lässt allerdings auch gegensätzliche Lesarten offen: „Der Socialismus [sic] beruht auf dem Entschluss die Menschen gleich zu setzen und gerecht gegen jeden zu sein: es ist die höchste Moralität“ (Nachgelassene Fragmente 1876, Nr. 21[43]).

4: Anmerkung HH: nicht identisch mit deutschsprachigen literaturwissenschaftlichen Fakultäten, aber ähnlich.

5: Čeika, How to Philosophize, S. 71.

6: Vgl. Prideaux, Dynamite, Kapitel 10, E-Book-Location 16.55.

7: Schabergs Buch enthält zahlreiche Beispiele dafür, wie Nietzsche das Honorar für jede Publikation mit seinen Verlegern neu aushandelte und wiederholt Unzufriedenheit mit der Höhe der Honorare ausdrückte.  Vgl., um nur zwei solche Beispiele zu erwähnen, The Nietzsche Canon, S. 48 und 56.

8: Zum Beispiel schrieb Schmeitzner Nietzsche am 21. 9. 1883 (vgl. Schaberg, The Nietzsche Canon, S. 96), dass er 40 Reichsmark für jeden der 7,5 Druckbogen erhalten sollte, die „Zarathustra II“ enthalten würden. Es hilft an dieser Stelle sich zu vergegenwärtigen, dass ein Druckbogen im Allgemeinen 16 Buchseiten umfasste.

9: Für weitere Informationen über den Verkauf von Nietzsches Büchern, siehe die Rezension von Schabergs Buch hier.

10: Daniel Tutt, How to Read Like a Parasite, S. 153.

11: Vgl. August Pfannkuche, Was liest der deutsche Arbeiter?

12: Vgl. Čeika, How to Philosophize, S. 209.

Lieber das Nichts wollen, als nicht wollen

Selbstentfremdung durch die moderne Wissenschaft

Lieber das Nichts wollen, als nicht wollen

Selbstentfremdung durch die moderne Wissenschaft

1.8.24
Estella Walter

Nietzsches Wissenschaftskritik ist vielleicht eines der bis heute provokantesten, aber auch relevantesten, Teilgebiete von Nietzsches umfassender Kritik der modernen Kultur. Estella Walter rekonstruiert ihre vielleicht bedeutendste Formulierung in der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral und zeigt auf, inwiefern Nietzsche Wissenschaft als Form der Entfremdung begreift. Sie erläutert diesen für die moderne Philosophie so zentralen Begriff und schlägt über ihn eine Brücke von Nietzsche zum (jungen) Marx: Beide sind Kritiker der Entfremdungen der modernen Lebensform, deren Kritiken wir zusammen lesen sollten, um zu einem umfassenden Verständnis derselben zu gelangen.

Nietzsches Wissenschaftskritik ist vielleicht eines der bis heute provokantesten, aber auch relevantesten, Teilgebiete von Nietzsches umfassender Kritik der modernen Kultur. Estella Walter rekonstruiert ihre vielleicht bedeutendste Formulierung in der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral und zeigt auf, inwiefern Nietzsche Wissenschaft als Form der Entfremdung begreift. Sie erläutert diesen für die moderne Philosophie so zentralen Begriff und schlägt über ihn eine Brücke von Nietzsche zum (jungen) Marx: Beide sind Kritiker der Entfremdungen der modernen Lebensform, deren Kritiken wir zusammen lesen sollten, um zu einem umfassenden Verständnis derselben zu gelangen.

I. Entfremdung – oder die Wissenschaft der Unterwäsche

Unter dem Titel Impact of Wet Underwear on Thermoregulatory Responses and Thermal Comfort in the Cold – „Der Einfluss von nasser Unterwäsche auf thermoregulatorische Reaktionen und thermalen Komfort im Kalten“ – wurde im Jahr 1994 eine Studie veröffentlicht, die zu dem Ergebnis kam, dass nasse Unterwäsche in einer kalten Umgebung eine „kühlende Wirkung auf […] den thermischen Komfort“1 habe; nasse Unterwäsche, so die bahnbrechende Erkenntnis, fühlt sich also nicht gut an. Was sich wie eine Parodie auf die moderne Wissenschaftslandschaft liest, lässt sich im besten Falle als seichtes Entertainment zu Gemüte führen, im schlimmsten, und das heißt im ernsten, im ernstgenommenen, Fall jedoch erhaschen wir einen Blick auf die Symptomatik einer Gesellschaft, die sich selbst aufgegeben und nun fatalistisch dem mechanischen Zählen grauen Wüstengesteins verschrieben hat. Bei der Lektüre der Art obiger Studie, redundant, tautologisch, unsinnig und dennoch wie Sand am Meer verbreitet, macht sich ein dumpfes Gefühl kalter Leblosigkeit breit, wir haben es mit totem Material zu tun – oder, um es mit der Terminologie Nietzsches auszudrücken, mit einem tiefgreifenden Nihilismus. Diese Erkenntnis ist keineswegs neu, Friedrich Nietzsche widmete sich bereits 1887 im Werk Zur Genealogie der Moral der modernen Wissenschaft und unterzog ihr eine bis heute nachhallende Kritik. Wissenschaft, so eine der Kernthesen, sei ein zeitgenössischer Auswuchs des asketischen Ideals und als solches lebensverneinend und selbstwidersprüchlich. Anstatt sich in den Dienst des Lebens zu stellen, Quelle sich neuschöpfender Potenziale zu sein, katapultiert sie den Menschen weg vom Diesseits hinein ins abgrundtiefe Nichts. Dort, dafür möchte ich argumentieren, wird er sich selbst fremd, ist entfremdet von der unmittelbaren Welt, in der er lebt. In Nietzsches Wissenschaftskritik scheint also, wenn auch nicht explizit ausgedrückt, eine Entfremdungskritik zu schlummern.

„Entfremdung“ ist allerdings – so die gängige Kritik – ein heikler Begriff, impliziert dieser doch Entfremdung von etwas, etwas, das bereits präexistierte. Nur, was soll das sein? Wie kann man, gerade vor dem Hintergrund von Nietzsches Kritik am Ursprungsdenken der Metaphysik und dessen Fortsetzung in der modernen Wissenschaft selbst, dieses etwas noch voraussetzen? Gibt es nichts als Entfremdung, ist das Leben, wie es manche postmoderne Theoretiker*innen durchaus in Anknüpfung an Nietzsche lehren, ein eitles Spiel von Masken, hinter denen kein Gesicht mehr steckt?

Es stellt sich also dringend die Frage, was genau Selbst- und Weltentfremdung bedeutet. Um sie zu beantworten, soll zunächst Nietzsches Wissenschaftskritik eingehender beleuchtet werden, um anschließend mithilfe Marxscher Analysen herauszuarbeiten, inwiefern die moderne Wissenschaft als eine Form der Entfremdung verstanden werden kann.

II. Wissenschaft und Wahrheit: Das letzte asketische Ideal  

Die Bedeutung asketischer Ideale ist ebenso divers, wie seine Anwendung in der Weltgeschichte universell ist. Der Asketismus mag sich in der Kunst ebenso wie in der Philosophie oder allen voran in der christlichen Religion – diesem „Platonismus für‘s ‚Volk‘“2 – finden lassen und mit ihm stets ein passendes Ideal, eine den Menschen transzendierende und somit unerreichbare Idee, die ihn rechtfertigt: Gott, Staat, Kapital. Was all diese Manifestationen des Asketismus jedoch gemein haben, sein Nukleus, ist ein Kampf um die Wertung, die Wertbestimmung des Lebens, indem dieses nämlich „in Beziehung gesetzt [wird] zu einem ganz andersartigen Dasein“3, einem höheren, vollkommeneren; einem, das, um es zu bejahen, die Herabsetzung des eigenen Lebens verlangt, es als „Irrweg, den man endlich rückwärts gehn müsse“ (ebd.) zu behandeln nötigt. Doch, bemerkt Nietzsche, bedarf die Durchsetzung einer solchen kollektiven Selbstverneinung durch die Entwertung des Lebens selbst eine gewaltige Kraft. In ihr „drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus“4. Das asketische Ideal ist Ausdruck eines Machtwillens, eines Willens zur Macht.

Es ist jedoch ein Ausdruck, der zu sich selbst im Widerspruch steht, der sich selbst kannibalisiert, um am Leben zu bleiben. Unter seiner Herrschaft gedeiht das Sich-Ergötzen an allem, was leidet, was verelendet und geknechtet wird, kurz, was dem Erblühen des menschlichen Lebens opponiert. Dieser Wunsch nach Selbstminimierung, Selbsteliminierung, nach wässriger Suppe, die gerade noch bekömmlich ist, und die damit einhergehende Furcht vor allem Lebendigen, vor jeglicher Tatkraft und Großartigkeit, sie münden unweigerlich im Nihilismus, im Willen zum Nichts: „[L]ieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen…“5

Es handelt sich um eine pervertierte „Machterlangung in der faktischen Ohnmacht durch die Kräfte des Imaginären“6, denn wer sich mit anderen Mitteln nicht zu wehren weiß, greift zu tückischeren Waffen – sei es Moral, Tugend oder Schuld. In letzter Instanz ist das asketische Ideal ein Stillen des Leidens all jener, die ohnmächtig und des Lebens überdrüssig sind, denen jedes Mittel noch zum Kampf um Selbsterhaltung dient, ganz gleich wie giftig die Heilwässerchen. Unfähig zu handeln, erlaubt ihnen das asketische Ideal immerhin eine „Affekt-Entladung“7, also eine Befriedigung der „Betäubung von Schmerz durch Affekt“ (ebd.) – Ressentiment, Schuld, Gewissen, die sich nach innen richten, sich vergeistigen, und dort den Menschen in sich selbst zur Geisel nehmen. „[D]u selbst bist an dir allein schuld!“ (ebd.), also sei fromm und bescheiden, im Nicht-Wollen liegt die Erlösung. Und so diszipliniert sich der Leidende, straft sich für seine eigene Existenz.  

Mit solchen Kunststücken der Machtausübung sind die meisten nur allzu vertraut, sie schreien geradezu nach den Imperativen des Christentums. Wer sich aber des Atheismus rühmt, sich im Schutze der Vernunft und Objektivität wägt und selbstsicher die archaischen Überbleibsel religiöser Zeitalter belächelt, dem sei an dieser Stelle zur Vorsicht geraten. Zu oft wird die Errungenschaft moderner Wissenschaften als Überwindung der asketischen Ideale, als Ende der Metaphysik und Beginn der sich selbstgenügenden Wahrheit gefeiert. Wer braucht Gott, wenn es Darwin gibt? Nietzsche warnt vor dieser Selbsttäuschung. Die Wissenschaft habe keinen Mut zu sich selbst, ihr Wesen ist nach wie vor substanzlose Hülle „und wo sie überhaupt noch Leidenschaft, Liebe, Gluth, Leiden ist, da ist sie nicht der Gegensatz jenes asketischen Ideals, vielmehr dessen jüngste und vornehmste Form8. In ihr findet der selbstzerstörerische Wille zum Nichts, nach dem er Gott getötet hat, nun gottlos auf der Suche nach einem neuen Glauben ist, sein letztes Asyl. In der wissenschaftlichen Geschäftigkeit, die sich voller Ernst selbst an die Spitze aller Wichtigkeit setzt, liegt der noch übrigbleibende Trost über den Verlust des großen Glaubens, des Ideals, das doch zumindest die Wehen und Leiden zu begründen vermochte. Wer fleißig arbeitet, braucht nicht nachzudenken. Wer das Wohlbefinden in nasser Unterwäsche als der Erforschung würdigen Gegenstands hochpoliert, der braucht sich der „Frage nach dem Wozu“9, den „[g]rundsätzlichen Problemen“ (ebd.) nicht zu stellen. Die modernen Wissenschaftler*innen sind überzeugt von ihrer Freiheit gegenüber allen überirdischen Fesseln, sie müssen von ihrer Freiheit überzeugt sein, um zur Ruhe kommen zu können. Hinter diesem Selbstbetrug steckt jedoch, wie von uns in ehrlichen Stunden bereits befürchtet, die Unterwerfung unter ein letztes, ganz grundlegendes Ideal: der Glaube an die absolute Wahrheit. Dieser Wille zur Wahrheit, und damit soll gesagt sein, prinzipielle Wahrhaftigkeit und Objektivität, ist selbst noch „Glaube an einen metaphysischen Werth, einen Werth an sich der Wahrheit10. Am Himmel der Ideen hängt der universelle Wahrheitsanspruch, unerreichbar und also umso verzweifelter begehrt. Er verlangt, wie jedes andere Ideal auch, die Bejahung einer anderen, göttlichen Welt, die im Gegensatz zur unseren steht und somit angewiesen ist auf strenge Entsagung aller Sinnlichkeit, auf Verzicht „auf Wertungen und Interpretationen […]. Indem sie [die Gelehrten] sich eines jeden Urteils enthalten wollen, treiben sie die ‚Selbstverachtung des Menschen‘ auf die Spitze“11. Den asketischen Gelehrten bleibt nichts anderes übrig, als sich in ihren Elfenbeinturm zu flüchten, dort die Anhäufung des Staubes zu beobachten und die Welt möglichst unbemerkt an sich vorbeiziehen zu lassen. Wir haben es mit einer Passivität sondergleichen zu tun, die uns dazu zwingt, die heiße Luft des Status quos zu atmen. Solch ein nihilistisches Wahrheitsdogma zeigt seine absurden, verheerenden Wirkungen: die Hälfte aller veröffentlichten Forschungsartikel landen ungelesen auf der Informationsmülldeponie, 90% von ihnen werden nie zitiert12 und während sich die bizarrsten Gestalten in hedonistischen Ressorts auf dem Mond verschanzen, kämpft der sogenannte ‚globale Süden‘ mit den von der Menschheit selbst verursachten, sehr wirklichen Konsequenzen von Hungerkrisen, Krieg und Ausbeutung. Das asketische Ideal ist wie auch die moderne Wissenschaft von der Unantastbarkeit der Wahrheit abhängig und dahingehend also auch von einer „Verarmung des Lebens13; der Atheismus ersetzt Gott mit der christlichen Moral selbst, verborgen im wissenschaftlichen Gewissen, das sich doch nur die Welt nach dem Maßstab „einer göttlichen Vernunft“14 zurechtbiegt.

III. Entfremdung durch Wissenschaft

Bevor wir die moderne Wissenschaft als Entfremdungsphänomen verstehen können, müssen wir uns zunächst den bereits angedeuteten Schwierigkeiten des Entfremdungskonzepts annehmen. Wer von Entfremdung spricht, weist notwendigerweise auf die Relationalität zweier Instanzen hin: Es gibt etwas, das von etwas anderem entfremdet ist. Viel zu eilig ließe sich jedoch, ausgehend solcher Überlegungen, auf einen vor-entfremdeten Ursprung schließen, zu dem es zurückzukehren gelte. So hat auch Nietzsche seine Probleme mit der Fetischisierung des Ursprungs, wird dieser doch unüberlegt mit dem Zweck, der Richtigkeit oder ultimativ mit der Wahrheit einer Sache in den Topf geworfen.15 Wer jedoch etwas „Zu-Stande-Gekommenes“ (ebd.) mit seinem Ursprung gleichsetzen möchte, verkennt dessen Geworden-Sein, dessen historische Wandlungen und Überschreibungen; verkennt, „dass alles Geschehene […] ein Überwältigen, Herrwerden und dass wiederum alles Überwältigen und Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige ‚Sinn‘ und ‚Zweck‘ nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss.“ (Ebd.) Wir mögen also den Entstehungsprozess eines Phänomens nachvollziehen können, nicht jedoch seinen Ursprung im Sinne einer Stunde null, in der es magischerweise ex nihilo zu existieren begann. Der Ursprung ist eine Illusion, er ist stets unwahr. Stattdessen haben wir es mit einer Kette von „Überwältigungsprozessen“ (ebd.) von Kräften zu tun, die auf einen Willen zur Macht verweisen.

Wenn wir uns aber von der Idee einer präexistenten Wahrheit, eines essenziellen Wesens verabschieden, wozwischen besteht dann noch die entfremdete Beziehung? In seiner Frühschrift Ökonomisch-philosophische Manuskripte behandelt Marx Entfremdung als „Kritik der Existenz eines Abstrakt-Allgemeinen“16: „Die Entfremdung ist […] der Gegensatz eines abstrakten Denkens und der sinnlichen Wirklichkeit“ – „daß das menschliche Wesen […] im Gegensatz zum abstrakten Denken sich vergegenständlicht, gilt als das gesetzte und aufzuhebende Wesen der Entfremdung“17. Oder in anderen Worten, durch die Abstraktion von und Vergeistigung der sinnlichen Welt, die einen metaphysischen Kosmos schafft, in dem sich der Mensch als übergreifende, totale Einheit außerhalb seiner selbst versetzt, entfremdet er sich sowohl von seinem unmittelbar und sinnlich erfahrbaren Leben wie auch von der Welt, in der sich dieses Leben konstituiert. Die moderne Wissenschaft und ihr unablässiger Wahrheitsdrang, das letzte asketische Ideal, gehören zu eben diesem Kosmos. Sie eignet sich die „zu Gegenständen gewordenen [d.h. verdinglichten; EW] Wesenskräften des Menschen“ (ebd.) an und lässt sie zu geistigen Echos ihrer selbst verkommen – die Seele wird zum Gefängnis unseres Körpers18. Die Entfremdung durch die Wissenschaft ist also keineswegs die Entfremdung von einem wahren Ursprung oder einem idealen Wesen, denn schließlich würde man mit einer solchen Annahme erneut in die mystifizierende Falle einer metaphysischen Transzendenz fallen. Vielmehr ist sie „Entäußerung des sich wissenden Menschen oder die sich denkende entäußerte Wissenschaft“19, die das Wesen des Lebens, nämlich seine „Steigerung über sich hinaus“20, sein kontinuierliches Werden, negiert. Sie ist der Leerlauf, die Stagnation, das Auf-der-Stelle-Treten eines minimierten Lebens, hervorgerufen vom Gebot eines abstrakten und steifen Wahrheitsanspruches, der jede Verflüssigung von Form und Sinn verbietet. Sie ist Resultat einer Selbstmedikation gegen das verdrießliche Leiden an der eigenen Existenz.

IV. Fazit: Lebensfeindlichkeit mit Methode

Ein oft anzutreffendes Narrativ der Moderne ist ihre wissenschaftliche Fortschrittlichkeit, ihre beispiellosen Errungenschaften. Auch wenn diese nicht dementiert werden sollen, so legt Nietzsches Wissenschaftskritik doch den Finger auf die heimliche Wunde und erweist sich auch heute noch als relevanter denn je. Im Kern der modernen Wissenschaft mit all ihren Spezialisierungen, ausgefeilten Methoden und Systemen, liegt ein tragischer Nihilismus, ein als kühle Besonnenheit getarnter Wunsch zur Selbstaufhebung. Die Wissenschaft hat keineswegs ihren Selbstwert gefunden, noch bedeutet sie Befreiung von den Geistern der Metaphysik. Vielmehr bedarf auch sie noch einer Hand von oben, ist auch sie noch angewiesen auf eine „wertschaffende[] Macht“21, dem Ideal einer absoluten Wahrheit, das zu erreichen nicht möglich ist und also einen immer noch härteren Asketismus gebietet. Gebunden an ein scheinhaftes und deshalb umso festgezurrteres Abstraktum fängt sie das Leben ein und entfremdet es nicht von einem vermeintlich präexistenten Ursprung, sondern von seinem sich immer neu schöpfenden Werdensprozess, von einer sinnlichen, materiellen Wirklichkeit. Selbstverständlich bleibt Nietzsche nicht bei einer Diagnose der modernen Wissenschaft und Moral stehen. Er hat seine eigene Vorstellung von Selbstüberwindung, von der Überwindung des uns anheimgefallenen Nihilismus. Wie fruchtbar diese sind, bleibt eine spannende Frage, die es in weiteren Artikeln auf diesem Blog zu beleuchten gilt.

Literatur

Bakkevig, Martha Kold & Ruth Nielsen: Impact of Wet Underwear on Thermoregulatory Responses and Thermal Comfort in the Cold. In: Ergonomics 37, Nr. 8 (August 1994), S. 1375–89. (Link)

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 2021.

Heidegger, Martin: Nietzsche. Hg. v. Brigitte Schillbach. Gesamtausgabe. I. Abteilung, Veröffentlichte Schriften 1910-1976, Bd. 6.1/2. Frankfurt a. M. 1996.

Heit, Helmut: Wissenschaftskritik in der Genealogie der Moral. Vom asketischen Ideal zur Erkenntnis für freie Menschen. In: Ders. & Sigridur Thorgeirsdottir: Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation. Berlin & Boston 2016, S. 252–274.

Meho, Lokman I.: The rise and rise of citation analysis. In: Physics World 20, Nr. 1 (Januar 2007), S. 32–36. (Link)

Marx, Karl: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte. Hg. v. Barbara Zehnpfennig. Hamburg 2008.

Saar, Martin: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt a. M. & New York 2007.

Wallat, Hendrik: Das Bewusstsein der Krise. Marx, Nietzsche und die Emanzipation des Nichtidentischen in der politischen Theorie. Bielefeld 2009.

Fußnoten

1: „[C]ooling effect on […] thermal comfort“ (Bakkevig und Nielsen, Impact on Wet Underwear).

2: Jenseits von Gut und Böse, Vorrede.

3: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 11.

4: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 1.

5: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 28.

6: Saar, Genealogie als Kritik, S. 82.

7: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 15.

8: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 23.

9: Heit, Wissenschaftskritik in der Genealogie der Moral, S. 263.

10: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 24.

11: Heit, Wissenschaftskritik in der Genealogie der Moral, S. 265.

12: Vgl. Meho, The rise and rise of citation analysis.

13: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 25.

14: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 27.

15: Vgl. Zur Genealogie der Moral, Abs. II, 12.

16: Hendrik Wallat, Das Bewusstsein der Krise, S. 113.

17: Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, S. 131.

18: Vgl. hierzu etwa auch Foucault, Überwachen und Strafen, S. 42.

19: Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, S. 133.

20: Heidegger, Nietzsche, S. 439.

21: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 25.

Nietzsche dingfest machen

Nietzsche dingfest machen

11.7.24
Natalie Schulte

Hat Nietzsche eindeutige philosophische Lehren? Mit Nietzsches Vieldeutigkeit wird bis heute gekämpft. Wann meint er, was er sagt? In ihrem Essay geht Natalie Schulte der Frage nach, wo inmitten von assimilierender Vereindeutigung durch weltanschauliche Programme einerseits und akademisch versierte Zerstreuung von Nietzsches Gedankenbauten in zahl- und zusammenhangslose Fragmente und Perspektiven andererseits die heutige Auseinandersetzung mit Nietzsche ihre entscheidenden Herausforderungen zu verorten hat. Zwischen den Gefahren der Vereindeutigung seiner Philosophie und der grenzenlosen Relativierung seiner Thesen sucht sie nach einem fruchtbaren dritten Weg, mit der Frage nach dem „eigentlichen Nietzsche“ umzugehen.

Hat Nietzsche eindeutige philosophische Lehren? Mit Nietzsches Vieldeutigkeit wird bis heute gekämpft. Wann meint er, was er sagt? In ihrem Essay geht Natalie Schulte der Frage nach, wo inmitten von assimilierender Vereindeutigung durch weltanschauliche Programme einerseits und akademisch versierte Zerstreuung von Nietzsches Gedankenbauten in zahl- und zusammenhangslose Fragmente und Perspektiven andererseits die heutige Auseinandersetzung mit Nietzsche ihre entscheidenden Herausforderungen zu verorten hat. Zwischen den Gefahren der Vereindeutigung seiner Philosophie und der grenzenlosen Relativierung seiner Thesen sucht sie nach einem fruchtbaren dritten Weg, mit der Frage nach dem „eigentlichen Nietzsche“ umzugehen.

Schon lange ist der Vorwurf populär, man könne Nietzsche für und gegen alle Ansichten in Anspruch nehmen, weil er sich in seinen Werken fortlaufend selbst widerspreche und jede beliebige Meinung sowohl vertrete als auch angreife, sodass ein „eigentlicher“ Nietzsche gar nicht übrig bleibe – allerhöchstens derjenige, den der jeweilige Leser sich selbst wünsche als Freund oder, je nachdem, auch als Feind. Nietzsche eine weiße Wand? Eine Projektionsfläche für Wünsche? Am schärfsten hat dies vermutlich Kurt Tucholsky formuliert:

Wer kann Nietzsche nicht in Anspruch nehmen! Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen. [...] Für Deutschland und gegen Deutschland; für den Frieden und gegen den Frieden; für die Literatur und gegen die Literatur – was Sie wollen.1

Wer sich längere Zeit mit Nietzsche beschäftigt, kommt nicht umhin, sich zu fragen, ob Tucholsky damit nicht das treffendste Wort gesprochen hat. Denn auf der nie enden wollenden Jagd nach Nietzsches eigentlicher Philosophie ist bereits viel Widersprüchliches gesagt worden: Dass sie den geistigen Boden bereitet habe für den Nationalsozialismus, dass sie in den drei Hauptlehren des „Übermenschen “, des „Gedankens der ewigen Wiederkunft“ und des „Willens zur Macht“ kulminiere, dass ihr kritisches Potenzial höher einzuschätzen sei als ihr affirmatives, dass sie als „Künstlermetaphysik“ nur eben als Individualphilosophie  gelte, dass der „tragische Gedanke“ als roter Faden Nietzsches gesamte Philosophie durchziehe – um hier nur einige Interpretationen herauszugreifen.

Wir könnten auch zu behaupten wagen, dass bisher keine Position abwegig genug war, um nicht in Nietzsche ein Vorbild und in seinem Werk nicht mindestens ein Zitat zum Beweis zu finden. Nietzsche ein Frauenverächter und Emanzipationsfeind? Mal nicht so vorschnell – wie viel Entwicklungsspielraum räumt er doch den Frauen ein, und konnte nicht gerade seine genealogische Methode zu einem wichtigen Werkzeug der feministischen Theorie avancieren? Nietzsche bedauert, dass der Protestantismus so vielen katholischen Ausschweifungen ein Ende bereitete – allerdings nicht dem Christentum? Nun, aber irgendwie spürt man doch durch alle Abneigung hinweg Nietzsches geheime Bewunderung für Luther und dessen Haltung des „hier stehe ich und kann nicht anders“.

Nietzsche rechts und ein Chauvi, ein reaktionärer, antiliberaler, antihumanistischer Holzklotz? Mitnichten, es hat nur eine zärtliche Vaterhand gefehlt, so dass die männlichen Machtfantasien hie und da übers Ziel hinausschossen. Aber mit ein wenig Feinarbeit ziselieren wir die subtileren und, entschuldigen Sie die Wortwiederholung, „eigentlichen“ Grundzüge heraus und erkennen, siehe da: Nietzsche ist ein Linker, ein lupenreiner Demokrat, ein Menschenfreund. Inkognito vielleicht gar für sich selbst, aber im Dienst der „guten Sache“ (welche diese auch immer ist), und unsere Sache als guter und tollkühner Interpret wird es sein, uns anhand des roten Fadens nicht hinaus aus dem Labyrinth in die Freiheit zu hangeln, sondern hinein bis zu Herz und Hirn des Philosophen.

Kapitulation vor der Inkohärenz

Aber lassen wir die Ironie beiseite. Nietzsche gilt berechtigtermaßen als unsystematischer Philosoph, und die Kernideen seiner Philosophie zu benennen kann einiges an Kopfzerbrechen bereiten. Angesichts all der gegensätzlichen Versuche, seine Philosophie in ihrem Wesen zu bestimmen, könnte es einem ratsam erscheinen, bescheidener aufzutreten und lediglich zu beweisen, dass sich all die bisherigen Bestimmungen als Reduktionen erweisen, die weit eher den jeweiligen Wünschen des Interpreten entsprechen als Nietzsches Philosophie. Denn immer – immer (?) – ließe sich ein Gegenbeispiel finden oder eine feinsinnige Gegeninterpretation, die jede noch so klare Aussage in Zweifel zieht. Wir behaupten also nicht mehr, dass es einen Kern seiner Philosophie gebe oder eine Ader, die sich aufsplittet in viele kleine, reiche Nebenadern, die aber doch alle vom selben Zentrum her Blut und Leben beziehen. Wir versuchen, Nietzsche fragwürdiger zu gestalten, und einzutauchen in ein Spiel der Bezüge und Referenzen, als ernsthafte Forscher benennen wir Quellen und vertiefen uns in Lesespuren von Nietzsches eigener Lektüre. Ein Gesamtbild wirkt überholt, verlangt nach jener einen Zentralperspektive, der wir doch schon längst das Licht ausgeknipst haben, während wir behaupten, dass Nietzsche eher einem jener Wechselbilder gleicht, in dem man entweder Frau oder Vase sieht. Und wenn wir denn wirklich noch an der Metapher des Labyrinthes festhalten wollen würden, dann wäre dieses vermutlich von Maurits Cornelis Escher gemalt und hätte weder Ein- noch Ausgang, weder Herz noch Mittelpunkt, sondern nur eine Vielzahl von Minotauren, die sich aus der Zweidimensionalität in eine verquere Dreidimensionalität zeichnen, als würden sie selbst noch unterstreichen, bloß handgemacht zu sein.

In gewisser Weise haben diejenigen, die sich zuerst auf die Suche nach Nietzsches eigentlicher Philosophie begaben, schon den weiteren Weg der Nietzscheforschung vorgezeichnet. Mit jedem festen Porträt musste das Kippbild negiert und gezeigt werden, dass es ironisch gebrochen ist, oder nur ein unselbständiger Versuch, oder eingebettet werden kann ins Gesamtbild. Diese Methode der zunächst partikularen Untergrabung wurde schließlich von Teilen der neueren Nietzscheforschung perfektioniert, universalisiert und schließlich verwissenschaftlicht. Nun aber zerrinnt uns jede Aussage über seine Philosophie in den Fingern. In einem gigantischen Korrosionsprozess läuft seine Philosophie Gefahr, sich in einzelne Atome aufzulösen, und von Aphorismus zu Aphorismus erstreckt sich weiter Raum: „Finden wir noch eine Brücke? Gibt es noch ein Hinüber? Gibt es noch ein Wohin?“ Dürfen wir das mit ein wenig nietzscheanischer Tragik fragen

Philosophie als fragmentarisches Sammelsurium

Oder, so wird ein nüchterner Geist vielleicht einwenden, besteht da gar keine Gefahr? Liegt der Zauber von Nietzsches anhaltender Modernität nicht gerade darin, dass sich jede Zeit ihren eigenen Nietzsche kreiert? Im Zeitalter der Ideologien war es naturgemäß ein Nietzsche der zarathustrischen Lehren, heute ein anschmiegsam ambiger Philosoph des Einerseits-Andererseits, nicht dingfest zu machen, stets einen Schritt voraus, immer schillernd, nie zu greifen. Mit einem überlegenen Lächeln dürfen wir neuen Experten beginnenden Nietzscheinterpreten zuschauen, wie sie noch nach einer festen Aussage haschen. Nun, womöglich kennen sie noch nicht die erste Skizze oder die zweite Überarbeitung vor dem veröffentlichten Aphorismus. Multiplizieren wir die Interpretationsmöglichkeiten mit jedem geänderten Artikel pro Abschnitt, kehren wir die Vorzeichen versuchsweise einmal herum und bedenken, dass Minus mal Minus Plus ergibt. Ein Komma erschüttert die neuere Forschung heute mehr als die Frage, ob Nietzsche den Gedanken der Wiederkunft als gescheitert verwarf.

Was aber ist dann die Beschäftigung mit Nietzsches Philosophie anderes als eine geistreiche Spielerei in einem hermetisch akademischen Raum, in dem Experten sich kenntnisreich die Bälle zuspielen? Sie selbst nehmen ja nichts mehr ernst. Und krankt daran nicht der akademische Diskurs unserer Universitäten? Sie glauben ja nicht mehr: dass die Wahrheit sich benennen lässt, Moral in einem Himmel festgeschrieben steht, dass die Philosophie die Welt verändert. Abgeklärt erscheint Philosophie nunmehr als Produkt eines abgeschlossenen Verdauungsvorgangs von jüngster Geschichte, soziokulturellem Rahmen, gewachsener Mentalität und Politik, das der Rest der Bevölkerung auch getrost ignorieren kann. Eine Philosophie, die dabei ist, ihre wesentlichen Erkenntnisansprüche aufzugeben, gerät zum bloßen Archiv, einer unschöpferischen Institution, die sich nicht mehr traut, Wahrheit überhaupt zu suchen, sondern lediglich neue Aspekte an einer geistreichen Chronologie interessanter Ideen präsentiert.  

Aber auch diese Kritik ist vielleicht zu kurz gegriffen und wird der heutigen Lage der Philosophie nicht gerecht. Welche philosophische Schule könnte denn noch überzeugen? Wer wollte sich ernsthaft und aus ganzer Seele einen Kantianer nennen? Und wer einmal einem Heideggerianer begegnet ist, weiß, dass er ein solcher lieber auch nicht werden will. So drängt sich die Frage auf: Was kann uns eine gewordene Philosophie für unser künftiges Denken sein? Und wie können wir einer Philosophie wie der von Nietzsche heute begegnen?

Philosophie als Kritik

Wir kommen gerechterweise kaum umhin, an der neueren Nietzscheforschung zu würdigen, dass sie als Korrektiv den vielen Simplifizierungen in Nietzschedeutungen den Garaus macht und gerade diejenigen widerlegt, die sich am lautesten mit seinem Namen brüsten: Die Selbstoptimierer und seichten Lebensratgeber und natürlich, wie eh und je, die politische Rechte, die nicht davon lassen kann, sich mit einer Handvoll Schlagworte Nietzsche zu eigen zu machen.

Von seiner Philosophie können wir sicher die Skepsis gegenüber geschlossenen philosophischen Systemen lernen. Es ist verführerisch, ein einmal mühevoll errichtetes Gedankengebäude nach Kräften gegen die Zweifler zu verteidigen. Aber allzu leicht wird man zum Gefangenen der Architektur, die man mit 35 in die Welt gesetzt hat. In Nietzsche finden wir ein authentisches Denkzeugnis, das zeigt, wie man sich von Früherem unbeschwert löst, und über den Haufen wirft, was zu eng und überholt erscheint. Insofern lernen wir mit und durch Nietzsches Philosophie das eigenständige Denken, nicht aber ein geschlossenes Lehrsystem. Damit freilich ist die Gefahr der Beliebigkeit nicht gebannt. Der Versuch, eine weittragende Perspektive in Nietzsche zu finden, kann nicht belanglos sein, und regt zu einer geistigen Anstrengung an, die sich als weit spannungsreicher gestaltet als das selbstgerechte Sich-Abfinden, dass Nietzsches Denken in atomistische Einzelaussagen zerfallen lässt, die nur für sich stehen und allerhöchstens in subjektiven Kontext gerückt werden könnten.  

Zuletzt kehren wir aber zurück zur eingangs gestellten Frage: Können wir Nietzsche dingfest machen? Oder lässt sich mit ihm, wie Tucholsky behauptet, alles rechtfertigen, alles angreifen? Sehen wir uns kurz die Strategien an, mit denen gewisse Aussagen aus Nietzsches Philosophie unterhöhlt, mindestens aber relativiert werden, sodass man Nietzsche, im Extrem gedacht, auf keine einzige Stelle festnageln könnte, die „etwas so meint, wie es da steht“.

Strategien der Auflösung und Einwände

Dass sich tatsächlich zu jeder These die Gegenthese finden lässt, so heißt es. Dies ist eine starke Behauptung, die dennoch den Vorteil hat, dass sich leicht Beispiele aufzählen lassen. Ob diese Gegensätze noch Gegensätze bleiben, wenn man sie genauer interpretiert, sei an dieser Stelle dahingestellt. Aber gibt es eine Meinung, der an keiner Stelle widersprochen wird, wenn man sie auf die schlichteste Art und Weise versteht? Und siehe da, der selbstbestimmte Tod etwa, der Freitod, um nur ein Beispiel zu nennen, genießt bei Nietzsche uneingeschränkte Affirmation. Er stellt ihn in starken und eindeutigen Kontrast zum vom ihm kritisierten geistigen und körperlichen Dahinsiechen, das im natürlichen Tod sein Ende findet. Eine Gegenthese hierzu sucht man vergebens.

Einige Aussagen müssen auf eine Weise biographisch verstanden werden, dass sie praktisch aus Nietzsches Philosophie heraus subtrahiert werden können. Das alte Weiblein, das Zarathustra den wenig charmanten Ratschlag gibt, eine Peitsche mitzunehmen, wenn Mann zu Frauen geht, sei beispielsweise nur eine Persiflage auf Nietzsches Schwester Elisabeth. Aus der Stelle ließe sich folglich keine etwaige misogyne Einstellung ableiten. Aber selbst wenn dies stimmte, steht eine Philosophie erst einmal für sich selbst, und wir Interpreten studieren die Perspektiven, die sich aus ihr ergeben, und nicht Nietzsches wie auch immer geartete Psyche. Die Psychologisierung, die als Strategie zunächst dazu diente, sich einen gefälligeren und runderen Nietzsche zu erschaffen, führt, konsequent angewendet, zur Nivellierung seiner Philosophie, da praktisch jede Aussage biographisch und psychologisch gedeutet werden kann. Dann allerdings muss man schließlich zur Einschätzung gelangen, dass sein gesamtes Werk nur als Denkbiographie zu würdigen ist, die philosophisch irrelevant ist, weil sie für niemanden gilt, außer für die Einzelperson, die sie verfasste.

Der philosophische Sprecher lässt sich in unzählige Experimentalfiguren zerlegen. Ausgehend vom berechtigten Einwand gegen voreilige Deutungen die Zarathustra schlicht mit Nietzsche gleichsetzten, und der Erkenntnis, dass nicht ohne Weiteres Experimentalfiguren wie der „tolle Mensch“ mit Nietzsche identifiziert werden können, hat sich die Praxis etabliert, einem kohärenten „Sprecher-Ich“ ganz den Boden zu entziehen. Ist dieses „Ich” tatsächlich der Philosoph Friedrich Nietzsche oder spricht da ein philosophischer Typus, eine Versuchsfigur oder gar ein Zerrbild? Gibt es vielleicht gar so viele Nietzsche wie Ichs in seinen Texten? Nun, dann können wir jeden Versuch einer auch nur halbwegs kohärenten Nietzschedeutung den Rücken kehren, weil es eine nietzschesche Philosophie, die sich anhand von Inhalten charakterisieren ließe, schlicht nicht gibt. Dieser Strategie kann man durchaus Beifall zollen, sie ist filigran und schlau. Jede Vereinnahmung von Nietzsche lässt sich damit zerschlagen, da man seiner so kaum habhaft werden kann. Warum aber sollten wir die Zeit einem Philosophen widmen, der nur Positionen ausprobiert hat, ohne ihren Wahrheitsgehalt zu bedenken? Ausgehend von einer spannend schillernden Ambiguität rutscht Nietzsches Philosophie in eine Beliebigkeit, an der man achselzuckend vorbei gehen kann.

Gewisse Aussagen sind ironisch gemeint. Das ist durchaus naheliegend, bedarf allerdings auch einer interpretatorischen Begründung wie dem Aufzeigen mehrerer Indizien. Und wenn sie diese erhält, muss nicht zwangsläufig ein unüberbrückbarer Widerspruch entstehen. Nietzsche könnte beispielsweise die Würdigung des „souverainen Individuums“2 ironisch gemeint haben, weil er es nur mit einer einzigen Fähigkeit ausstattete, nämlich versprechen zu können. Diese „Freiheit“, sich selbst auf etwas festzulegen, ging allerdings aus dem schlimmsten Zwangssystem – der harten körperlichen Bestrafung desjenigen, der seine Versprechen bricht – hervor. Ja, die Ironie besteht darin, dass das souveräne Individuum, das sich seiner Freiheit brüstet, vergessen hat, aus welch dunkler, barbarischer Zeit sie geborgen wurde. Und doch ist es eine Freiheit, die für Nietzsche ganz unironisch einen neuen Entwicklungsschritt des Menschen markiert. Die Ironie erweist sich hier also nicht als unauflöslicher Gegensatz, sondern als Metaperspektive desjenigen, der beides sieht – ihren dunklen Grund und ihr stolzes Angesicht.

Und zuletzt haben wir noch die feinsinnige Interpretation, welche auf Begriffe, die Nietzsche scheinbar natürlich, alltagsverständlich benutzt, seine eigene Kritik anwendet. Dies hier behauptet er als Wahrheit? Aber hat er nicht dem Wahrheitsbegriff selbst die Grundlage entzogen? Er spricht von einer Rangordnung der Perspektiven, aber wer ordnet ihren Rang? Er sagt, die Natur, die Welt sei an sich unmoralisch – wo er doch alle Aussagen „an sich“ bereits über den Haufen geworfen hat?  

Integrative Kraft

Und genau hier sollten wir eben nicht Halt machen und lediglich lapidar feststellen, dass ein gewisser widersprüchlicher Charakter integraler Bestandteil von Nietzsches Philosophie sei, sondern versuchen, die scheinbaren und die tatsächlichen Widersprüche, die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten zueinander in Beziehung zu setzen und sie zu gewichten. Wie viel kann unsere Deutung von Nietzsches Philosophie integrieren, dies könnte ein Maßstab zu ihrer Beurteilung werden. Vorsichtig und misstrauisch gegen uns selbst sollten wir allerdings werden, wenn tatsächlich eine runde, in sich geschlossene Philosophie dabei entsteht, in der man plötzlich und in guter alter Tradition behauptet, dass sich alle Widersprüche als nur scheinbar erweisen, wenn  man nur eben jenen einen Schlüssel zu ihrer Interpretation benutzt. Irgendwann endet die bloße Nietzscheinterpretation und es sind unsere eigenen Argumente, die mit gewissen Aphorismen ringen. Es sind unsere eigenen Positionen, Geschmäcker, Perspektiven und Wertschätzungen, die wir durch ihn angegriffen sehen und die wir versuchen zu verteidigen, nicht zuletzt mit den von ihm gelernten Strategien. Wir sind im Dickicht einer Philosophie angekommen, mit der wir, wenn wir es wagen, ringen können und vielleicht sogar einen Ausgang finden. Dass dieser Ausgang uns hinaus in unsere Freiheit führt und nicht zu Herz und Hirn des Philosophen, macht das Denken erst zu dem Abenteuer, das es in Nietzsches Sinne „eigentlich“ ist.

Literatur

Tucholsky, Kurt: Fräulein Nietzsche (1932). In: Mary Gerold-Tucholsky & Fritz J. Raddatz (Hg.): Gesammelte Werke, Bd. 3. Frankfurt am Main 2005, S. 994.

Fußnoten

1: Tucholsky, Fräulein Nietzsche, S. 994.

2: Vgl. Zur Genealogie der Moral, II, 1–3.

Darts & Donuts
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Ich empfinde alle Menschen als schädlich, welche dem, was sie lieben, nicht mehr Gegner sein können: sie verderben damit die besten Dinge und Personen.

(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

Nietzsche sagt: „ChatGPT ist dumm.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

Nietzsche sagt: „Man soll den Computern misstrauen, sie haben ein Hirn, eine Hand, einen Fuß und ein Auge, aber kein Herz.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.

(ChatGPT auf die Bitte hin, einen Aphorismus im Stile Nietzsches zu verfassen)

Werk. – Es gibt keine irreführendere und falschere Ansicht als die, dass das Schreiben oder das Werk lustvolle Angelegenheiten seien. Es ist ganz das Gegenteil! Das Werk ist einer der größten Gegner und schlimmsten Feinde. Und wer aus Freiheit und nicht aus Gewohnheit schreibt, vermisst an ihm Umgangsformen und Gewissen – der ist ein Schwein!

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Gefährliche Wahrheit. – Viele psychische Pathologien machen ihren Wirt ultrasensibel. Sie bekomme Antennen für die kleinsten seelischen Regungen ihres Gegenübers, sehen den kleinsten Verrat, die kleinste Inkongruenz, den kleinsten Reißzahn, den hässlichsten Hund im Menschen. Als Feind des Menschengeschlechts zückt der Arzt seinen Notizblock und ruft also „die Pfleger“ herein.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Glück: Keinen mehr nötig zu haben und so rückhaltlose Zuwendung sein können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 44)

Dein Rechthaben nicht offen zur Schau stellen. Nie der Weg sein. Dem, der Recht hat, will man leicht Unrechttun und man fühlt sich gemeinsam im Recht dabei, weil das Gefühl für Gleichheit ständig trainiert wird und die Übung der Freiheit eine Seltenheit geworden ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 43)

Wahre Liebe: Durch den Anderen hindurch lieben.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 42)

Zusammensein wollen: Weil es leichter ist? Weil es bereichert? Weil man keinen Willen kennt, der lange Wege allein gehen kann?

(Neue Sprüche und Pfeile, 41)

Helfen wollen: Weil es sichgehört? Weil einem Gleiches widerfahren kann? Weil man hat und gerne gibt? Weil einem nicht die aktuelle Armut betroffen macht, sondern die Schande, dass Chancen ungenutzt bleiben müssen?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 40)

Keine Größe ohne ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten. Aus dem Schein zu einem Mehr an Sein. Aus den Erfolgen der Sprünge in eine Rolle, in der man sich nicht kannte, entsteht der Glaube anein Können, das mehr aus einem machen kann.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 39)

Wem die Stunde schlägt. – Wer sich einen Termin macht, etwa ein Date in zwei Wochen, freut sich, trifft allerlei Vorbereitungen, fiebert darauf hin, hält durch und überlegt, was er sagen soll und so weiter. – Dann ist der Tag da. In der Zukunft glänzte alles noch, fühlte sich anders an. Man denkt sich: Es ist alles ganz wie vorher. Alles, was ich getan habe, war nur Selbstzweck, man erwartete das Warten und Vorstellen und nicht die Sache selbst, nicht den Kairos, den man nicht erwarten kann.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Niederes und höheres Bewusstsein. – Bin ich vor die Wahl gestellt, entweder erdrückt zu werden, tot zu sein und zu schweigen oder zu lästern und ungläubig zu sein – Gift in meinen Drüsen mir zu sammeln, wie mir angeboren, Reptil, das ich bin –, ich würde immer das Zweite wählen und mich niedrig, schlecht, negativ und ungebildet nennen lassen. Lieber will ich mich von meinem Gift befreien als es mir zu Kopf steigen zu lassen. Tritt einer dann in meine Pfützen, sei’s so – gebeten hat man ihn nicht!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Schwere und die Sinnlosigkeitder Dinge. – Wer einmal den unbegründeten Wunsch verspüren sollte, sich über die wesentlichen Dinge Gedanken zu machen, das Sein der Dinge und die Zeit, der ist besser beraten, es zu unterlassen. Der Verstand tendiert dazu, solche Dinge zäh und schwer zu machen. Am Ende findet man sich beim Denken und Überlegen dabei wieder, das Ding selbst nachzuahmen und denkt den Stein, das Stein-Seins, verfällt in gedachte Inaktivität.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Nichts. – In der Indifferenz ist noch alles und jedes zu ersaufen. Der größte Mut, der Hass, die Heldentaten, die Langeweile selbst verschlingt sich und die große Dummheit, Eitelkeit.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Für Franz Werfel. – Ein Autor, der dir sagt: „Ach, meine Bücher…, lass dir Zeit, lies erst dies ein oder andere. Das kann ich dir empfehlen: Ich liebe Dostojewski.“ – Das ist Größe und nicht die eitle Schwatzerei derjenigen, die ihre eigene Person und die Dringlichkeit der eigenen Ansichten vor sich hertragen.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Illusions perdues. – Wieso ist es so,dass das schönste, romantischste, bewegendste, rührendste, herzaufwühlenste Buch gegen die blasseste Schönheit von zweifellos hässlichem Charakter keine Chance hat und so attraktiv wie eine uralte Frau wirkt?

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Wider einfache Weltbilder. – Wir sind ein krankendes Geschlecht; schwitzend, von Bakterien übersät. Wir haben Bedürfnisse, geheimen Groll, Neid; die Haare fallen uns aus, die Haut geht auf mit Furunkeln; wir vertrauen, langweilen uns, sind vorlaut; pöbeln, sind übertrieben schüchtern, schwätzen Unsinn, konspirieren, sind erleuchtet, sind verblendet, eitel, machthungrig, einschmeichelnd, kriecherisch – jenseits von Gut und Böse.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vom Unglauben getragen. – Wie könnte man es nicht anbeten, das großartige formlose Unding, welches das Sein ist? Monströs wie allerfüllend. Das große Nichts, das die Alten die Hölle nannten, qualmt und beschenkt uns mit den schönsten Schatten.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Das herzliche Lachen der Literatur. – Hat jemals ein Mensch, der vor einem Buch saß, sich den Bauch und die Tränen vor Lachen halten müssen? Ich schon; aber nur in der Vorstellung – und aus Schadenfreude über solche Idiotie.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Ananke. – Weil die Literatur, obzwar sie die dümmste, platteste, schlechteste Grimasse der Zeit darstellt, doch von ihr den kleinsten Kristallsplitter Reinheit enthält, ist sie unerbittlich erbarmungslos und erschreckend in ihrer Folge. Wir wissen nur eins: Sie wird kommen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Kind in der Bibliothek. – Die Mutter muss dem Kind verbieten: „Nein, wir gehen nicht da rein!“ Das Kind sagt: „Da!“, und will ein Regal hochklettern. Bücherregale sind Klettergerüste. Weil es das nochnicht gelernt hat, läuft es wie ein Betrunkener nach seiner Mutter.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Authentisch sein wollen: Weil es sich schickt? Weil man die Halbwahrheiten satt hat? Weil man einsah, dass nur ein Eingestehen zu tieferen und offeneren Bindungen führt?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 38)

Herausragend sein wollen: Weil man Bewunderer will? Weil man es den Mittelmäßigen zeigen möchte? Weil man das Banale nicht mehr aushält?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 37)

Weil die Kritik zunehmend nicht widerlegen, sondern vernichten will, ist die gute Moral der Moderne die kategorische Revisionierbarkeit. Sein ist Versuch zum Sein. Daher bemisst sich kompetente Urteilskraft an der Distanz zum guillotinenhaften Verurteilen. Korrekte Korrektheit ist selbstironisch.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 36)

Wer nicht von sich auf Andere schließt, verpasst die Chance zu einer Welt genauso wie jemand, der von Anderen nicht auf sich schließt. Im revidierbaren Mutmaßen lichtet sich das Zwielicht des Miteinanders ein wenig und es erhöht sich die Möglichkeit zu einem halbwegs zuverlässigen Versprechen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 35)

Im Gehen wird das Denken weich und weit. Wer die Welt um sich hat, für den wird das Rechthaben zu einer unschönen Angewohnheit. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, laufen einem die Sätze wie angenehme Begegnungen über den Weg, die einen überraschen mit der Botschaft, wie wunderbar egal man doch ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 34)

Ohne Erfolge wäre das Leben ein Irrtum. Die Karriere ist die Musik des Lebens, auch für die, die sich für thymotisch unmusikalisch halten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 33)

Schonungslose Ehrlichkeit belügt sich selbst, weil es ihr nicht um Wahrheit geht, sondern um den Effekt des Entblößens als bloße Intensität des Auftrumpfens. Sie will nicht aufzeigen, sie will es den Anderen zeigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 32)

Abhängigkeit macht angriffslustig. Man will sich selber beweisen, dass man etwas ist und attackiert die lebenswichtigen Helfer, als wären sie Meuterer. Dabei ist man selbst derjenige, der meutert. Für das klassikerlose Tier gilt: Es gibt ein falsches Leben im richtigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 31)

Sich Zeit lassen, wenn die Zeit drängt. Panik macht ungenau. Fünf vor zwölf ist es immer schon für diejenigen, die überzeugt sind, genau zu wissen, was zu tun ist, ohne dass sie die Komplexität der Lage je verstanden hätten. Es ist die Tragödie des Weltgeistes, dass seine selbsternannten Apostel erst einen überwältigenden Eindruck mit ihrer Entschiedenheit machen und dann einen schockierenden Eindruck mit den Wirkungen ihrer Entscheidungen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 30)

Ein Schreibfehler. – Was heißt erwachsen werden? – ...die kindlichen Züge anlegen ...!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Geschlechterkampf. – Da weder die Auslösung des Mannes noch der Frau zur Disposition steht und politische Macht in der Regel nicht mehr mit physischer Gewalt durchgesetzt wird, sind die mächtigsten Formen der Machtausübung verdeckt: Schuld, Angst, Drohung, Beschämung, Entzug (z. B. von Liebe und Solidarität), Zurschaustellung. Sie alle operieren mit Latenzen und unsichtbaren Scheingebilden, entfesseln dieFantasie.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Gewissensqual über das Gewissen: Das Gewissen, das sich nicht selber beißen lernt, wird zum Mithelfer der Gewissenlosigkeit. Gewissen jedoch als permanenter Gewissensbiss verletzt die Freiheit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 29)

Die erzwungene Höflichkeit provoziert die Lust zur Unhöflichkeit. Die Attraktivität der Sitten bemisst sich daran, wie viel kreative Munterkeit siegestatten. Sitten, die Recht haben wollen, werden unweigerlich zu Unsitten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 28)

Aus dem gefühlten Mangel an Aufmerksamkeit als stiller Angenommenheit entsteht der Hass auf diejenigen, die einen keines Blickes mehr zu würdigen scheinen. Man unterstellt Ungerechtigkeit, wo Freiheit ist, die eine andere Wahl traf. Dies Verdächtigen verhässlicht und entfernt von der Zuwendung, nach der man so sehnsüchtig strebt. Wut, die andauert, wird Hass, der schließlich den Anderen als Gegner wahrnimmt, den man nicht mehr kritisieren, sondern nur noch vernichten will.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 27)

Schatten über der rechten Hand. – Ist der Todesengel derselbe wie der der Liebe? – Erkennen wir nicht den Schatten aneinander, überall?

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Die Freiheit in der Literatur. – Kein Mensch wird geboren und liest „die Klassiker“.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Immerhin. – Man hat als Mensch genug Zeit bekommen, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Respekt. – Da duzt man die Leute undschon verlieren die allen Respekt – Demokratie!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vorsicht. – Unsere Gesellschaft geht von der Maxime aus, dass, wenn jeder gleichmäßig durch Arbeit verbraucht und gleichzeitig durch Geld versklavt, keiner dem anderen mehr etwas antun kann – Ruhe und Frieden herrscht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

 2023. – Wenn die Vorstellung zu sterben und tot zu sein erträglicher ist als die Demütigung einer Arbeit im Büro.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Dada. – Das Heute schafft noch aus dem unsinnigsten Blödsinn eine Ideologie zu machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Das Beständige. – Wenig auf dieser Erde ist ewig und bleibt über die Zeit hinweg erhalten. Bildung nicht, Geschichte nicht, Bräuche nicht, Sitten nicht. Ewig bleiben Dummheit, Eitelkeit, vielleicht Liebe und Spaß, Tränen und Dunkelheit, weil sie Familie sind.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Theater. – Im unerträglichen Theater unserer Zeit will jeder die Guten, die Superhelden spielen und niemand die Bösen. Ihre Zahl ist deswegen zu klein und die der Guten zu hoch. Damit verflachen beide Seiten ungemein und es entsteht die billigste Seifenoper. Wären wir nicht musikalisch begleitet, wir wollten nach Hause gehen, an den Schreibtisch und unsere Charaktere nochmal gründlich überdenken und -arbeiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Mädchen mit einem Korb Erdbeeren. – Das Wetter ist schön. Ich würde eine junge Frau gegen einen Korb Erdbeeren eintauschen, mir ist sklavenherrisch zu Mute.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Gehe denen aus dem Weg, die keine Sympathie für Komplexität erkennen lassen. Der Unwille zum Komplexen ist der trotzige Halt der Haltlosen und der Jungbrunnen der Verbitterten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 26)

Umgedrehter Nietzscheanismus: Die letzten Menschen als diejenigen, die es auf sich nehmen wollen, die letzten Dingen immer wieder zu durchdenken, ohne an den Abgründen zu zerbrechen, die sich dabei öffnen. Ein besseres Beschreiben erzeugt ein Vertrauen, das mit Normalität impft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 25)

Das Ende der Geschichte kann auch gedacht werden als eine Ohnmacht der alten Deutungen in neuen Verhältnissen. Daher wird der historische Sinn gerne kulturkritisch: Da er sich keinen Reim mehr auf die Lage machen kann, werden die Dinge als katastrophisch interpretiert, anstatt die Sicht auf die Dinge zu revidieren.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 24)

Geist als Betrieb: Als museale Hochkulturmode, als andenkenlose Betriebswirtschaft oder als ressentime Kulturkritik-Industrie.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 23)

Wenn man wieder kreativ sein muss. – Wenn der heutige Kulturmensch keine Idee mehr hat, greift er in die Tastatur und schreibt etwas über die Rolle der Frau, BiPoC oder sonst etwas in der Richtung und kommt sich dabei in seiner Armseligkeit nicht nur rebellisch und progressiv vor, sondern wähnt sich auch als kreativ, wenn er mal wieder über die Rolle der Mutter im Patriarchat spricht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fitness. – Ich kann die aufgepumpten jungen Männer mit ihren hantelgroßen Wasserflaschen und Proteinpülverchen nicht mehr sehen. Soll sich in diesen Figuren der feuchte Traum Nietzsches von der Selbstüberwindung des Menschen, seines Körpers und physiologischen Organismus in Form der kommodifizierten Selbstquantifizierung vollends erfüllt haben?

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Sichtbar durch Agitation. – Der Mensch ist das schöne Tier und, ist er wohl versorgt, von außen immer würdevoll. Das will nicht mehr sagen, als dass die Hülle, die die Natur ihm gibt, auch schon das meiste ist und im inneren Hohlraum, fast nur Schatten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Wissenschaftliche Erlösung: Nach einer neuen Erkenntnis der Gehirnforschung ist es unmöglich, zugleich Angst zu haben und zu singen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 22)

Wer die Möglichkeit des Untergehens ständig für realistisch hält, hat es nötig, sich vor sich selbst unauffällig in den Imaginationen des Schlimmsten zuspüren. Der Mangel des Glaubens an sich wird kompensiert mit dem festen Glauben an die Katastrophe.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 21)

Karriere machen, ohne den Verdacht des Egoismus auf sich zu ziehen, anstrengungslos, unterambitioniert. Aber doch das Verlangen, gesehen zu werden in der bemühten Mühelosigkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 20)

Er verzichtete, aber er sah ganz genau hin, wie viel der bekam, der nicht verzichtete. Der schielende Verzicht hat die schärfsten Augen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 19)

Sinn ist der Ersatz für fehlende Initiative. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, wird offen für die Erfindung von Gründen, wer an seinem Zustand schuld sein soll. Die Langeweile der Haltlosen wird zum Verbrechen der Vitalen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 18)

Philologe sein. – Permanentes Standgericht.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Weil es Mut braucht, sich Künstler zu nennen. –  Kunst ist das Gegenteil von Angst.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Leipzig. – Neben einem anarchisch aus dem Fenster hängenden Banner mit der Aufschrift „Lützi bleibt“, das an Klassenkampf, Demo, Streik, Widerstand und Molotov gemahnt, steht das Hauptversammlungshaus der städtischen Kleingartenvereine. Noch zwei Häuserblöcke weiter, ein Yoga-Studio.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Kreative ist nicht apolitisch. Er interessiert sich nicht einmal für Politik. Erst wenn die Räume enger werden, die ihn animieren, beginnt er sich politisch zu engagieren aus apolitischen Motiven.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 17)

Der Verlierer denkt: „Die Wahrheit, die meinen Sieg verhindert, muss Lüge sein!“ Der Sieger denkt: „Solange ich den Sieg nötig habe, habe ich noch nicht gewonnen.“

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 16)

Wer lange genug allein ist, will sich selber nicht mehr verstehen. Darin liegt die Möglichkeit einer reifen Gedankenlosigkeit. Man treibt dann noch Philosophie wie man Jahreszeiten erlebt. Begriffe und Satzfolgen kommen und gehen wie Kastaniengrün und Septemberhimmel.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 15)

Im gelingenden Bewundern überwindet man sich zu sich. Die Unfähigkeit zur Einzigartigkeit steigert den Drang zur Zugehörigkeit. Wenn Konsens zum Kommando wird, wird Freiheit zur Ungerechtigkeit. Diversität als Inklusivität wäre die bereichernde Teilhabe an Liberalität, deren Bewundern man nicht teilen muss. Der Zustand eines vielfachen Desinteresses ist keine Entfremdung oder Ausbeutung. Wer seine Disziplin gefunden hat, verachtet den Einfallsreichtum der Schuldsuche.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 14)

Früher entsprach der Wahrnehmung der Schönheit das Kompliment. Heute scheint es so, als wäre es das Zeugnis einer fortgeschrittenen Form der Anständigkeit, sich dafür zu schämen, diesen Reflex der Entzückung bei sich überhaupt wahrzunehmen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 13)

Die Freudlosen werden leicht die strengen Apostel eines Sinns des Lebens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 12)

Das Gewissen wächst im Horchen auf das Bewirkte. Es formt sich als Ohr der Reue.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 11)

Seine Entscheidungen infrage zustellen, steigert den Sinn für Verantwortung. Man weiß nie, was man alles getan hat. Die Unabsehbarkeit des Anrichtens weist auf die Reue als ständige Option. Daher ist alles Handeln ein Akt der Reuelosigkeit, den man hofft, verantworten zu können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 10)

Hilflosigkeit: Der letzte Stolz.

(Michael Meyer-Albert, Neue Pfeile und Sprüche, 9)

Die Krise lehrt weite Gedanken oder sie verleiht die zweifelhafte Stärke zu einer unschönen Exzentrik.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 8)

Im fehlerhaften Menschen genießt Gott seine Unfehlbarkeit. Im unfehlbaren Gott erträgt der Mensch seine Fehlbarkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 7)

Wer das wilde Leben nötig hat, denkt nicht wild genug. Golden, treuer Freund, ist alle Theorie. Und fahl des Lebens grauer Baum.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 6)

Erst der Wille zum Nichtwissen erlaubt eine Verkörperung der Wahrheit. Das Wort darf nicht ganz Fleisch werden.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 5)

Poesie. –  Eine Definition: Die Summe all’ dessen, was keine öffentliche Redaktion, die auf ihren Ruf, ihr Image und Inserate achten will, veröffentlichen würde.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Fortschritt. – Wenn die Städter auf das Land und seine der Vergangenheit Zeit entstammenden primitiven Sitten süffisant herabblicken, blickt die Zukunft gehässig auf sie, die Idioten, herab.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Glaube daran, dass es keine Wahrheit gäbe, ist selbst wieder eine Wahrheit, die es auf Dauer nicht mit sich aushält. Zweifel wird dogmatisch, depressiv oder paranoid.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 4)

Die Einsamkeit des Philosophen ist seine gute Gesellschaft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 3)

Wissen ist Ohnmacht. Die Mutigsten beherrschen die Kunst des Vergessens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 2)

Von nichts kommt nichts? Wäre dann der, der nichts tut, schuldloser?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 1)

Nietzsche. – Es geht darum Zündkerzen in den Zeitgeist zu setzen. Entzünden sollen sie andere! Wie im menschlichen Körper ein winziger, brennender, strahlender, leuchtender Kristallsplitter Wahrheit in ein System eingesenkt reicht, um ein Gerinnsel und einen Schlaganfall auszulösen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Rotten, Tribalismus. – Der*Die Deutsche ist Neurotiker*In und chronifiziert, staatlich anerkannt feige. Talent ist in Deutschland rar gesät.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Ablehnung. – Man darf nicht vergessen, dass selbst in dem „je te déteste“ oder „tu me détestes“ eine Form von Beziehung steckt. Sie ist nicht Indifferenz, sondern eine Form von Wille, Wunsch oder Velleität des Dialogs.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Schlagfertigkeit. – Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welche geringen Anlässe die Menschen benutzen, um einer den anderen zu demütigen oder auch nur sein kleines Mütchen am anderen abzukühlen. Dennoch: Auch aus der Ablehnung kann noch eine Lust über das eigene Wachstum, eine Lust an der Ablehnung entspringen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Smalltalk. – Aus oberflächlich und anfänglichen Gesprächen lernt man manchmal Leute kennen (oder erzeugen diese Gespräche ihre Menschen?), die, wenn man ihnen zuhört, genau demjenigen Menschenbild der Konkurrenz entsprechen, von dem die Lehrbücher der Ökonomie scheiben, und es gruselt einen. – Ein Scherz, bitte ein Scherz, nur einen, fleht man innerlich! Und zeig mir, dass es ein Mensch ist! – Man einigt sich auf einige Statusmodalitäten der Berufswahl und stellt einige politische Ansichten zur Schau.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Im Dreck spielen. – Im menschlichen Verkehr liegt doch etwas Dreckiges. Die ganze Summe aus Verlogenheit, Untreue, Illoyalität und Machtspielen, die ihn so unappetitlich, aber gleichzeitig schmerzlich wie unerlässlich machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Kleinlichkeit. – Am Ende des Tages – und man glaubt es kaum – kommt es genau auf die Frage an: Willst du Kaffee oder Tee trinken? – Daran entscheidet sich alles! Ich habe mal eine Frau kennengelernt,die nicht mit der Gewohnheit vertraut war, morgens einen Tee oder Kaffee zu trinken. Sie machte sich schlicht keine Gedanken darum, trank vielleicht mal ein lauwarmes Glas Wasser. Sie ist mir dadurch unheimlich und suspekt geworden. – Einen Tag nachdem ich das geschrieben hatte ging mir mein Wasserkocher kaputt. (Höchste göttliche Ahnung!)

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fähigkeit der Vision. — Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man der Vision — das heisst einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen“ — gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

(Nietzsche, Morgenröthe, 66)

„Alle Wahrheit ist einfach.“ — Ist das nicht zwiefach eine Lüge? —

(Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 4)

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