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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches
Artikel
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Menke fascinirt.
Ist Befreiung Faszination?
Menke fascinirt.
Ist Befreiung Faszination?
In seiner jüngst erschienenen Studie Theorie der Befreiung fasst der Frankfurter Philosoph Christoph Menke Befreiung als „Faszination“, als lustvolle Desubjektivierung und Hingabe. Er bezieht sich dabei an entscheidender Stelle auf Nietzsche – doch für den bedeutet „Faszination“ gerade Verhexung, die Verstrickung in Unfreiheit und Ressentiment. Kann uns die mystische Kraft der Faszination wirklich befreien – oder ist nicht eher Nietzsche Recht zu geben und Befreiung bedeutet vor allem Selbstermächtigung und Autonomie, die faszinierte Aufopferung hingegen Unterwerfung, nicht zuletzt unter einen faschistischen Führer?
I. Freiheit = Faszination
Über Christoph Menke, Professor für Praktische Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, kann man auf Wikipedia lesen: „Er gilt als wichtiger Vertreter der ‚dritten Generation‘ der Frankfurter Schule.“ In seiner 2022 bei Suhrkamp erschienenen Studie Theorie der Befreiung plädiert er für einen seinem Anspruch nach „radikalen“, neuen Begriff von Befreiung. Neben den Surrealisten, dem biblischen Moses, der Fernsehserie Breaking Bad und einer ganzen Reihe von philosophischen ‚Gewährsmännern‘ von Walter Benjamin über Theodor W. Adorno bis Martin Heidegger, ist einer seiner wichtigen Bezugspunkte Nietzsche, den er in dem Buch immer wieder zitiert und es sogar mit einem Zitat aus Schopenhauer als Erzieher beendet.
Die Kernthese dieser, so die Eigenwerbung auf dem Umschlagstext, „bahnbrechende[n] Theorie“, lautet, dass die gesamte abendländische philosophische Tradition Freiheit fälschlicherweise als Autonomie, als Befähigung, missverstand. Versteht man Freiheit so, koppele man sie an Herrschaft, Ausbeutung und die Macht der Gewohnheit. In den Bereichen der Kunst, der Religion und – überraschenderweise – ausgerechnet der Ökonomie erblickt Menke ein davon abweichendes Paradigma der Befreiung: Befreiung als Bruch mit der Gewohnheit in der Faszination, der begeisterten Hingabe, für das Erhabene, das Göttliche, aber auch das Geld.
Da Menke zugleich immer wieder das Scheitern auch dieser Formen der Befreiung aufzeigt, lässt er den Leser am Ende ein wenig ratlos zurück. Sein Grundgedanke fasziniert jedoch ohne Zweifel. Wurde im philosophischen Nachdenken über Freiheit nicht genau dieser Aspekt bislang übersehen? Liegt Freiheit eigentlich in etwas vollkommen anderem als dem vernünftigen Handeln, der politischen Emanzipation oder der durch Selbstdisziplinierung gewonnen Macht? Gerade in Momenten der Begeisterung, der Spontanität, des Bruchs und der Desubjektivierung? Für Menke ist Befreiung kein heroischer aktiver Akt der Selbstermächtigung, sondern das passive Angesprochenwerden von etwas Äußerem, Höherem, das uns fasziniert und aus dem Alltag, aus der Gewohnheit, aus unserer Identität herausreißt.
II. Eine faszinierende Etymologie
Menke, der sich in seinem Buch etwa sehr ausführlich mit der Etymologie des griechischen Wortes für „Freiheit“, eleuthería, befasst, spricht dort leider so gut wie nicht über die Geschichte seines positiven Gegenbegriffs, obwohl auch diese sehr alt ist. Das lateinische Verb fascinare bedeutet ‚verhexen‘. Die Römer bezeichneten damit eine alles andere als befreiende Macht, nämlich diejenige des fascinus oder fascinum, des Schadenszaubers, der meist mit dem „bösen Blick“ des Neidischen assoziiert wurde, von dem eine für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft schädliche Kraft ausgehe, die es unbedingt zu bändigen gelte, um die jeweilige Integrität zu gewährleisten. Der Zauber kann jedoch nur durch einen entsprechenden Gegenzauber bekämpft werden, so dass fascinum schließlich vor allem die Mittel gegen den Schadenszauber bezeichnet, allen voran die in der römischen Welt ubiquitären Phallus-Amulette, die getragen wurden, um ihn abzuwehren.1 Dies widerspricht Menkes Theorie jedoch nicht, sondern bestärkt sie eher. Die römisch-griechische Welt sieht er nämlich als Ursprung des bis heute gültigen falschen Verständnisses von Befreiung an – und es verwundert aus seiner Sicht nicht, dass es genau jene Welt ist, die geradezu besessen davon ist, die dunkle Macht der Faszination zu bändigen; allerdings, indem sie sich dieselbe Macht zu Nutze macht.
III. Böse Blicke
Nietzsche kannte diesen Aspekt der antiken Kultur zweifellos. Der „böse Blick“ ist eine von ihm an zahllosen Stellen verwandte Metapher, geradezu ein, schnell zu übersehenes, Leitmotiv seines Denkens. Freilich bezieht er dabei den Standpunkt der von ihm bewunderten Antike: Der „böse Blick“ ist für ihn genau der missgünstige Blick des ressentimentgeladenen, unfreien Sklaven auf die Freiheit der Herren, der später im christlichen Welthass seine Ideologie findet, und der darum so gefährlich ist, weil er die Seele der Herren vergiftet und sie selbst ein schlechtes Gewissen entwickeln lässt. Er spricht von einer „Pessimisten-Optik“2 , die sich gegen „die Leidenschaften“3 richte, dem „bösen Blick“4 des Staates auf die ursprünglichen Völker und des „Pöbels“5 auf die gesamte Erde, vom „müde[n] pessimistische[n] Blick, d[em] Misstrauen zum Räthsel des Lebens, d[em] eisige[n] Nein des Ekels am Leben“6, dem „hypnotische[n] Blick des Sünders“7. Besonders gefährlich ist dieser Blick, wenn man ihn auf das eigene Leben richtet, der „zurückgewendete[] Blick des Missgebornen von Anbeginn“8: „[E]in Gewissensbiss scheint mir eine Art ‚böser Blick‘“9, „Der Mensch hat allzulange seine natürlichen Hänge mit ‚bösem Blick‘ betrachtet, so dass sie sich in ihm schliesslich mit dem ‚schlechten Gewissen‘ verschwistert haben.“10
Kurz: Moral ist für Nietzsche eine „grundsätzliche Verschlechterung der Phantasie, als ‚böser Blick‘ für alle Dinge“11. Es ist der neidische Blick desjenigen, „der das Hohe an den Menschen nicht sehen kann“12, des Zynikers, des „Spielverderber[s]“13. Er ist eine permanente Bedrohung der „höhere[n] Menschen“14, die sich gegen ihn zu sichern haben, indem sie nicht aufhören, an sich selbst zu glauben. – Dies entspricht alles sichtlich der antiken Sicht auf die Dinge und es ist sicher kein Zufall, dass Nietzsche den Begriff so oft in Anführungszeichen setzt, um kenntlich zu machen, dass er an diesen Stellen genau jene uralte Tradition herbeizitiert. Dementsprechend weiß Nietzsche darum, dass es selbst eines bösen Blicks bedarf, um die Moral des Ressentiments bekämpfen zu können.15
Dem Gebrauch seiner Zeit entsprechend verwendet Nietzsche das Wort ‚Faszination‘ spärlich und wenn, dann nahezu ausschließlich in seinem pejorativen, antiken Sinn. Er ist überhaupt einer der ersten, die es im deutschen Sprachraum häufiger verwenden. Zur häufig gebrauchten und neutral bzw. sogar positiv besetzten Vokabel wurde es erst im Laufe des 20. Jahrhunderts.16 Ob Wagner und Schopenhauer,17 die Sozialisten,18 die ersten Christen,19 die rousseauistischen Romantiker,20 die mystischen Untergrundreligionen der Antike,21 die Märtyrer,22 die „Heiligen“ allgemein23: Die Faszination ist eine, wenn nicht die, entscheidende Waffe der „Schwachen“ im Kampf gegen die „Wohlgeratenen“ und „Starken“, mit der es ihnen gelingt, sie aus ihrer Selbstbejahung herauszureißen und für sich einzunehmen. Indem sie die Starken faszinieren, werden die Schwachen stark: „[D]ie Kranken und Schwachen haben die Fascination für sich gehabt, sie sind interessanter als die Gesunden“24. In dieser „Fascinations-Kraft der Tugend“25 erblickt Nietzsche eine der größten Gefahren für die Freiheit. Neben Paulus26 und Platon27 ist für Nietzsche Sokrates ein Meister der Faszination: „Sokrates fascinirte“28, gerade durch „seine furchteinflössende Hässlichkeit“29 und Widersprüchlichkeit und rächte sich damit an den vornehmen Athenern, wurde zum philosophischen Vertreter der Revolte und des „Pöbel-Ressentiment“30.
Menke geht auf diesen Aspekt Nietzsches in seinem Buch nicht ein, doch es ist klar, wie er ihn in seine Theorie integrieren würde: Er liest Nietzsches Erzählung vom „Sklavenaufstand“ nämlich affirmativ, er interpretiert sie unter umgekehrten Wertungszeichen, und insofern bestätigen diese Passagen nur seine Gleichsetzung von Befreiung und Faszination. Faszination ließe sich als Kraft verstehen, die die Herrscher aus ihrer Identität als Herrscher und die Beherrschten gleichermaßen aus ihrer Identität als Beherrschte befreit.
Freilich liegt für Nietzsche ironischerweise dieses Verständnis von Befreiung ja gerade am Anfang der abendländischen Zivilisation und nicht das ihm entgegengesetzte griechisch-römische. Für Nietzsche ist die abendländische Kultur gerade von Beginn an eine Kultur, die auf einem falschen Freiheitsverständnis basiert, nämlich von Befreiung als Fasziniert-Werden, nicht von Befreiung als Autonomie und Selbstermächtigung.
So heißt es gleich zu Beginn der Fröhlichen Wissenschaft:
Ich fand bei gewissen Frommen einen Hass gegen die Vernunft vor und war ihnen gut dafür: so verrieth sich doch wenigstens noch das böse intellectuale Gewissen! Aber inmitten dieser rerum concordia discors [zwieträchtige Eintracht der Dinge; PS] und der ganzen wundervollen Ungewissheit und Vieldeutigkeit des Daseins stehen und nicht fragen, nicht zittern vor Begierde und Lust des Fragens, nicht einmal den Fragenden hassen, vielleicht gar noch an ihm sich matt ergötzen – das ist es, was ich als verächtlich empfinde, und diese Empfindung ist es, nach der ich zuerst bei Jedermann suche[.]31
Und noch am Ende des Buches knüpft er an diesen Gedanken an:
Eine Art von Redlichkeit ist allen Religionsstiftern und Ihresgleichen fremd gewesen: – sie haben nie sich aus ihren Erlebnissen eine Gewissenssache der Erkenntniss gemacht. „Was habe ich eigentlich erlebt? Was gieng damals in mir und um mich vor? War meine Vernunft hell genug? War mein Wille gegen alle Betrügereien der Sinne gewendet und tapfer in seiner Abwehr des Phantastischen?“ – so hat Keiner von ihnen gefragt, so fragen alle die lieben Religiösen auch jetzt noch nicht: sie haben vielmehr einen Durst nach Dingen, welche wider die Vernunft sind, und wollen es sich nicht zu schwer machen, ihn zu befriedigen, – so erleben sie denn „Wunder“ und „Wiedergeburten“ und hören die Stimmen der Englein! Aber wir, wir Anderen, Vernunft-Durstigen, wollen unseren Erlebnissen so streng in’s Auge sehen, wie einem wissenschaftlichen Versuche, Stunde für Stunde, Tag um Tag! Wir selber wollen unsere Experimente und Versuchs-Thiere sein.32
Nietzsche plädiert – jedenfalls in seiner mittleren und späten Periode – also für Kritik und Skepsis angesichts „faszinierender“ Erfahrungen, gegen die Hingabe an mystische Erfahrungen; für die Reflexion und gegen die Macht des Unmittelbaren und Präsentischen, die Menke in seiner Theorie der Befreiung beschwört. Befreiung im Sinne des Ideals des „freien Geistes“ bedeutet für ihn gerade, nicht auf charismatische Figuren wie Paulus, Sokrates oder Rousseau hereinzufallen, nicht auf die allgegenwärtigen „Zukunfts-Sirenen des Marktes“33 und die hohlen Ideale, die sie propagieren.
IV. Kritik der Faszination
Welcher Freiheitsbegriff und welche Lesart der westlichen Geschichte ist nun die plausiblere? Der erwähnte Bedeutungswandel des Wortes „Faszination“ legt nahe, dass wir es in der Moderne tatsächlich mit einem Anwachsen von Faszination zu tun haben, mit ihrer Banalisierung und Profanisierung. Sie ist nichts mehr, was wir fürchten und meiden, sondern eher etwas, das wir suchen, egal, ob wir im Internet nach neuen Memes suchen, ins Museum gehen oder uns von politischen Massenbewegungen mitreißen lassen. Menke reflektiert die manipulative Gewalt der modernen Bildwelten in seiner Studie genauso wie die mitreißende Kraft der modernen Ökonomie – das entsprechende Kapitel ist das wohl stärkste des Buches – und versucht, zwischen genuinen und künstlich-manipulativen Formen der Faszination zu unterscheiden. Doch wozu diese aufwändige, am Ende nicht wirklich überzeugende Differenzierungsarbeit? Ist die Faszination so, wie wir sie heute erleben, nicht eher, wie es schon Nietzsche beschreibt, eine versklavende Macht, die uns nur noch fester an die bestehende Gewohnheit bindet, als eine in irgendeiner Form befreiende, wenn man den Freiheitsbegriff nicht vollkommen von Ideen wie „Autonomie“ und „Selbstbestimmung“ ablösen möchte?
Die Sache gewinnt an Brisanz, wenn man einen anderen von Menke ebenfalls nicht thematisierten Bedeutungsaspekt von „Faszination“ in Betracht zieht. Auch wenn etymologisch faktisch nicht verwandt, fällt es heute schwer, beim Wort fascinum nicht an den fasces zu denken, das Rutenbündel der römischen Republik, das zum Namensgeber des Faschismus wurde. So, wie der alte fasces als eine Art sublimiertes fascinum diente, ein Phallussymbol, um das sich die Gemeinschaft scharte, um die Macht des „bösen Blicks“ abzuwenden, besteht der Faschismus in der mythischen Beschwörung irrationaler Kräfte, um die das Gemeinwesen bedrohenden dunklen Energien der Auflösung zu bannen. Faschistische Politik ist geradezu per definitionem eine Politik der Faszination, die auf Begeisterung, Überwältigung, Hingabe, Desubjektivierung und die charismatische Aura einer Führerfigur setzt, um „die Ordnung“ zu retten.34 Es ist nicht so, dass Menke dieses Problem in seiner Studie vollkommen ausblendet, doch es spielt für ihn – für einen vermeintlichen Nachfolger der Frankfurter Schule überraschend – nur eine Nebenrolle. Wie lässt sich Befreiung sinnvoll wesentlich und primär als Fasziniertwerden – also Desubjektivierung, Aufopferung, Unterwerfung etc. – verstehen und sich dieser Freiheitsbegriff zugleich scharf von einem faschistischen, irrationalistischen trennen? Eine Quadratur des Kreises, die auch Menke nicht gelingt.
Nietzsche geht den umgekehrten Weg. Er geht – auch schon und gerade in Schopenhauer als Erzieher, auf das sich Menke in seiner Studie vollkommen zu Unrecht beruft – von einem individualistischen, aufklärerischen Verständnis von Befreiung aus, doch gesteht zu, dass es Momente der Faszination (der Ekstase, der Entgrenzung, der Passivität …) braucht, um eine vollständige Freiheit zu realisieren. Nietzsche beschreibt diese Inspiration etwa in einem Gedicht:
Meine Wahrheit ists!
Aus zögernden Augen,
aus sammtenen Schaudern
trifft mich ihr Blick,
lieblich, bös, ein Mädchenblick…35
Der Blick der – je eigenen– Wahrheit fasziniert gerade, weil er zweideutig ist, weil er „lieblich“ und „bös“ zugleich ist in untrennbarer Identität. Erst die Konfrontation mit diesem Blick ermöglicht es Zarathustra in diesem Gedicht, die nächste Stufe der Selbstwerdung zu erklimmen.36
In der frühen Schrift Die dionysische Weltanschaung feiert Nietzsche in ganz ähnlichen Begriffen wie Menke die desubjektivierende, entgrenzende Macht des „dämonisch fascinirende[n] Volksgesang[s]“37 der Bacchanten, doch erblickt in ihr ebenso eine zu bändigende Gefahr für das Gemeinwesen, der es nur durch ihre apollinische Einhegung zu begegnen gelte; nur aufgrund dieser Vereinigung von Subjektivierung und Desubjektivierung, Freiheit und Faszination, habe sich eine hohe Kultur wie die griechische entwickeln können. In diesem Sinne preist er auch noch in seinem Spätwerk die Faszinationskraft der Wagner’schen Opern.38 Und Nietzsche schreibt sich selbst39 und seinen Schriften40 eine ähnliche Faszinationskraft zu. Es gibt für Nietzsche eben auch eine „Fascination der Stärke“41. Die – temporäre und gebändigte – Hingabe ist notwendig, um Freiheit und Stärke zu bewahren und zu vergrößern; doch ähnlich, wie sich Nietzsche von seinen zeitweiligen Idolen Schopenhauer und Wagner distanzierte und distanzieren musste, um er selbst zu werden, darf diese Hingabe eben nicht absolut sein, muss eine in einem gewissen Sinne ‚ironische‘, vorbehaltliche bleiben, um nicht zur Selbstauflösung und mithin zum Freiheitsverlust zu führen.
Menke kann mit diesem Individualismus sichtlich nichts anfangen. Im erwähnten Kapitel über ökonomische Faszination versteigt er sich gar zu der Behauptung, das moderne individualistische Verständnis von Selbstverwirklichung verwirkliche sich im neoliberalen Modell ökonomischer Selbstbehauptung; gerade so, als hätte es Werke wie Quellen des Selbst von Charles Taylor nicht gegeben, die detailliert zeigen, dass Selbstverwirklichung im modernen Sinne wesentlich eine ethische Idee ist, die den Einzelnen dazu aufruft, wie es Nietzsche in Schopenhauer als Erzieher schreibt, sein „höheres Selbst“ zu realisieren, gerade nicht, sich unter die „Fliegen des Marktes“42 zu mischen. Menkes positive Bezugnahme auf diese Schrift, in welcher er vielleicht am dezidiertesten eine Ethik individueller Selbstverwirklichung vertritt, will dazu nicht recht passen. Es ist ähnlich wie mit Menkes Rundumschlag gegen den vermeintlichen „abendländischen“ Freiheitsbegriff: Er liebt die Polemik, die sich bisweilen zu – stilistisch gehobener – Demagogie aufschwingt, doch dies auf Kosten der philosophischen Tiefenschärfe dieses Buches, das in seiner in ihm zum Ausdruck kommenden abgrundtiefen Verachtung für Individualismus, Aufklärung und Emanzipation dem Geiste nach weitaus eher im Lager Konservativen Revolution als demjenigen ihrer Gegner zu verorten ist.
V. Freiheit in Faszination, Faszination in Freiheit
Es käme auf die Entwicklung eines umfassenden Freiheitsverständnisses an, dass alle in Frage stehenden Momente – individuelle Selbstverwirklichung, politische Selbstbestimmung, pragmatische Selbstermächtigung, moralische Selbstbestimmung – zusammendenkt und zugleich die von Menke verabsolutierten Momente der ästhetischen Faszination, der religiösen Hingabe etc. – sicher auch das von Menke weitgehend ausgesparte, bei Nietzsche anklingende Moment der erotischen Faszination – zu integrieren weiß. Nietzsches Nachdenken über die Freiheit gefährdende und zugleich ermöglichende Macht der Faszination ist dafür zielführender als die neuste „bahnbrechende“ Relektüre von Heideggers Sein und Zeit, in der sich der „Meister aus Deutschland“ bereits eine ganz ähnliche Umdeutung des Freiheitsbegriffs im Sinne einer desubjektivierenden Aufopferung für das „Volk“ propagiert, seine spätere Faszination für die „Volksgemeinschaft“ denkerisch antizipierend.43
Es mag sein, dass Nietzsche sich in seiner mittleren und späten Schaffensphase zu sehr auf das Moment der individuellen Selbstermächtigung versteift. Der politisch reaktionäre Impetus seiner Überlegungen zum „bösen Blick“ ist unübersehbar. Doch ausgerechnet in einer Zeit wachsender Entmächtigung der Einzelnen und des Erstarkens freiheitsfeindlicher faszinierter politischer und religiöser Bewegungen das Hohelied der „Lust der Desubjektivierung“ (Menke, S. 128) anzustimmen, gleicht einer gegenwartsdiagnostischen Bankrotterklärung. Freigeistigkeit und Leidenschaftlichkeit in jeglicher Hinsicht – politisch, spirituell, ästhetisch, erotisch … – müssen Hand in Hand gehen, um den weiteren Fortschritt der allgegenwärtigen Desubjektivierung zu verhindern und die Freiheit im ganz schnöden Sinne der Ideen von 1789, die auszumerzen sich Menke ebenso wie seine Vordenker anschickt,44 wiederherzustellen, zu vertiefen und zu verbreitern.45
Der „böse Blick“ des Faszinierten verhindert bei Nietzsche gerade die Entwicklung einer genuinen, authentischen Leidenschaftlichkeit, insofern er die unmittelbaren Emotionen verteufelt und an ihre Stelle einen sie übertünchenden hohlen Pathos setzt. Vielleicht wäre es ein erster Schritt, um sich der Gewalt der schlechten Faszination für die „Götzen“ der Gegenwart (Gott, Geld, ‚große Kunst‘ etc.) zu entziehen, wieder eine weniger aufgeladene, dafür jedoch beglückendere und befreiendere Sensibilität wiederzuentdecken. Carmen statt Parsifal, Ostsee statt Süden, gelebte Solidarität statt Aufrufen zur Weltrevolution vom Katheder, sich in einem Boot auf einem Schweizer Bergsee Träumereien hingeben, die Stille einer Kathedrale … Begriffe statt Jargon, Authentizität statt Eigentlichkeit. Man mag über derlei Ethik im Messeturm die Nase rümpfen, doch vielleicht ist heute das Kleinste und Bescheidenste – die Sorge um die „kleinen Dinge“46 statt die Aufopferung für die „Götzen“ der „grosse[n] Politik“47 – radikaler als die große Geste der Weltzertrümmerung und des modischen „Abendland“-bashings, die auch durch ihre hundertste Wiederholung nicht an Kraft gewinnt.
Sekundärquellen
Confino, Alon: Foundational Pasts. The Holocaust as Historical Understanding. Cambridge 2012.
Hahnemann, Andy & Björn Weyand: Faszination. Zur Anziehungskraft eines Begriffs. In: Dies. (Hg.): Faszination. Historische Konjunkturen und heuristische Tragweite eines Begriffs. Berlin e. a. 2009, S. 7–32.
Stephan, Paul: Wahrheit als Geschichte und Augenblick. Die Kritik der Wahrheit im Werk Friedrich Nietzsches im Lichte des Abschnitts Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde. Nordhausen 2018.
Ders.: Zarathustras „Augen-Blick“. Nietzsches Lehre von der Konfrontation mit der Wirklichkeit. In: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft Bd. 24. Berlin & Boston 2017, S. 315–327.
Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Übers. v. Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 1996.
Fußnoten
1: Vgl.etwa für einen ersten Überblick den entsprechenden Eintrag in Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft.
2: Götzen-Dämmerung, Streifzüge, 24.
3: Die fröhliche Wissenschaft, 139.
4: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.
5: Also sprach Zarathustra, Vom höheren Menschen, 16.
6: Zur Genealogie der Moral, II, 7.
7: Zur Genealogie der Moral, III, 20.
8: Zur Genealogie der Moral, III, 14.
9: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 1.
10: Zur Genealogie der Moral, III, 24.
11: Der Antichrist, 25.
12: Also sprach Zarathustra, Von den Tugendhaften.
13: Also sprach Zarathustra, Das Tanzlied.
14: Menschliches, Allzumenschliches I, 480.
15: Vgl. Götzen-Dämmerung, Vorwort.
16: Vgl. Hahnemann& Weyand, Faszination.
17: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, 99.
18: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 10[82].
19: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 10[157].
20: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 9[184].
21: Vgl. Der Antichrist, 58.
22: Vgl. Der Antichrist, 53.
23: Vgl. Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 8.
24: Nachgelassene Fragmente 1888, Nr. 14[182].
25: Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 10[184].
26: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 10[189].
27: Vgl. Götzen-Dämmerung, Was ich den Alten verdanke, 2.
28: Götzen-Dämmerung, Das Problem des Sokrates, 11.
29: Ebd., 9.
30: Ebd., 7.
31: Die fröhliche Wissenschaft, 2.
32: Ebd., 319.
33: Ebd., 377.
34: Man denke nur an Thomas Manns berühmte Erzählung Mario und der Zauberer. Vgl. auch den erwähnten Aufsatz von Hahnemann und Weyand.
35: Dionysos-Dithyramben,Von der Armut der Reichsten.
36: Für eine vertiefte Interpretation dieser für Nietzsche zentralen Konstellation vgl.meine Studie Wahrheit als Geschichte und Augenblick sowie den sie resümierenden Aufsatz Zarathustras „Augen-Blick“.
37: Die dionysische Weltanschauung, 2.
38: Vgl. Ecce homo, Warum ich so klug bin, 6 und Brief an Carl Fuchs vom 27. 12. 1888.
39: Vgl. Brief an Franz Overbeck von Weihnachten 1888 und Brief an Meta von Salis vom 29. 12. 1888.
40: Vgl. Ecce homo, Die Geburt der Tragödie, 1.
41: Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 9[185].
42: Also sprach Zarathustra, Von den Fliegen des Marktes.
43: Aus der Herleitung seines Freiheitsbegriffs aus Heideggers Ontologie macht Menke keinen Hehl (vgl. insb. S. 226–229). Er gehört zu den meistgenannten Philosophen der Studie. Die Nähe der Sprache Menkes zum „Jargon der Eigentlichkeit“ (Adorno über die Diktion Heideggers und seiner Adepten) ist unverkennbar.
44: Man denke etwa an die entsprechenden einschlägigen Äußerungen von Goebbels, Rosenberg oder Ernst Bertram (vgl. Alon Confino, Foundational Pasts, S. 6f.), die sich alle die Abschaffung des liberalen Subjektivismus zugunsten einer faszinierten Hingabe an die Gemeinschaft auf die (braunen) Fahnen geschrieben hatten.
45: Nietzsche spricht in diesem Sinne von „zwei Hirnkammern“, zwei Sensibilitäten – eine wissenschaftliche (kritische) und eine leidenschaftliche (religiöse, metaphysische und ästhetische) –, die jeder ausbilden müsse, der an der„höheren Cultur“ teilhaben möchte und die sich wechselseitig in Schach halten sollen, um ihre jeweiligen Einseitigkeiten zu korrigieren: „Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen,Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt werden“ (Menschliches,Allzumenschliches I, 251).
46: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 10.
47: Menschliches, Allzumenschliches I, 481.
Von Stalin zu Nietzsche oder Wie ich Nietzscheaner wurde (1970-1990)
Von Stalin zu Nietzsche oder Wie ich Nietzscheaner wurde (1970-1990)
Als Marxist war Nietzsche schon ein frühes Ärgernis. Doch mit der Nietzsche-Renaissance in den Achtzigern kam ich nicht mehr an ihm vorbei. Dann entdeckte ich Nietzsche als innovativen Denker. - Teil II der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“, in der sich unsere Stammautoren vorstellen.
I. Der wildgewordener Kleinbürger
Durch die Osterunruhen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke 1968 politisiert, dann durch Sartre philosophiert, war ich 1970 in einer Sympathisantengruppe der KPD/ML und somit Maoist. Die chinesischen Kommunisten waren Stalinisten, womit ich meinerseits doch haderte und was mich dort wieder aussteigen ließ. Dass 20 Millionen Menschen für die Revolution sterben dürfen, war ein nicht verdauliches Argument. Nur darf man en passant einwenden, dass Staaten ihre Menschen regelmäßig millionenfach in Kriegen opfern, ist Stalin nur einer unter ganz vielen, zu denen selbstredend auch Demokratien zählen. Und schuld sind immer die anderen. Trotzdem blieb ich noch ein paar Jahre revolutionärer Marxist.
1970, also noch als Maoist, sah ich mich zum ersten Mal mit Nietzsche konfrontiert. In der 12. Gymnasiumklasse wurde ein Philosophiekurs angeboten, an dem meine linksradikalen Klassenkameraden und ich begeistert teilnahmen. Wermutstropfen war der an sich sehr sympathische Lehrer, der sich als von Hermann Hesse inspirierter Nietzscheaner outete – ein damals verbreiteter Werdegang von Unpolitischen – und mit uns den Zarathustra las, den zu verstehen ich mich als Leninist freilich weigerte.
Den ersten Zusammenstoß über Nietzsche hatte ich um diese Zeit mit einer Teilnehmerin dieses Kurses, die im Raucherzimmer des Gymnasiums im Militärparka auf der Fensterbank sitzend und rauchend – versteht sich – den Zarathustra las. Ein Ärgernis für mich und ich fauchte: „Nietzsche – ein wildgewordener Kleinbürger!“ Sie fauchte zurück: „Marx ist ein vielschlimmerer wildgewordener Kleinbürger.“ Es dauerte noch ca. zehn Jahre, bis Dagmar Allendorf mich in die freie Liebe einführte, genauer mich zur offenen Beziehung zwang. Danach wurde sie zu einer jahrzehntelangen guten Freundin und ich hatte von ihr die Vorzüge offener Beziehungen gelernt, wozu Nietzsche sicher nur von ferne beigetragen hatte und wenn, dann vom Individualismus zum Feminismus.
II. Der leidende Nietzscheaner
Während ich zwischen 1979 und 1982 über praktische Philosophie bei Kant und Hegel promovierte, schrieb ein anderer Weggefährte – ebenfalls bei jenen Maoisten und in besagtem Philosophiekurs gewesen – auch bei Manfred Riedel über Nietzsche seine Dissertation. Damit konnte ich einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Nietzsche nicht mehr entgehen.
Reinhard Knodt war denn auch mit seiner Nietzsche-Dissertation dem Zeitgeist der frühen achtziger Jahre näher als ich mit Kant und Hegel als Background für Marx. Denn seit der Colli-Montinari-Ausgabe erlebte Nietzsche eine Renaissance, nicht nur in Frankreich und Italien, wo der Poststrukturalismus sich schon seit den sechziger Jahren verbreitet und die Postmoderne-Diskussion gerade begonnen hatte.
Als zwischenzeitlich gemäßigter Marxist schrieb ich meinen allerersten Aufsatz nach der Promotion gegen diese Nietzsche-Renaissance, der freilich nie veröffentlicht wurde. Viele Linke interessierten sich plötzlich für Nietzsche, was ich als frustrierte Fluchtlinie verstand, nachdem der Stern von Marx während der späten siebziger Jahre verblasste. Wie konnten Linke nur in den siebziger Jahren gegen die Atomkraft sein, geht es Marx doch um den Fortschritt der Produktivkräfte! Bis Harrisburg 1979 war ich Befürworter der Atomenergie.
Wie konnten sich linke Intellektuelle mit einer solchen schillernden Figur wie Nietzsche beschäftigen, der das wissenschaftliche Wissen in Frage stellt, auf dem schließlich die Produktivkraftentwicklung beruht! Reinhard Knodt hatte über Die ewige Wiederkehr des Leidens promoviert. Anstatt gegen das Leiden etwas zu tun, stellt man es als unvermeidbar dar, gibt sich ihm hin und leidet aufmerksamkeitsheischend wie Nietzsche. Damit verbunden ist das verbreitete Lamento von Intellektuellen über mangelnde Resonanz in Politik und Gesellschaft wie bei Nietzsche, obwohl man doch so klug ist, wie man es im Ecce Homo lesen kann.
III. Zu Nietzsche durch schwaches Denken
Anfang der achtziger Jahre erschien es mir langsam unabdingbar, das Problem der Naturzerstörung philosophisch auf den Begriff zu bringen. Im Anschluss an meine Dissertation entwickelte ich dazu ein Fortschrittskonzept der Rationalisierung: Im 18. Jahrhundert beginnt die Rationalisierung des Staates, im 19. die der Ökonomie und im 20. die des Naturverhältnisses – Rechtstaat, Sozialstaat, Naturstaat.
Der Düsseldorfer Philosoph Rudolf Heinz, bei dem ich Mitte der siebziger Jahre drei Semester studiert hatte, brachte mich vom Rationalisierungskonzept ab, indem er mich auf die französische Philosophie rings um die Poststrukturalismus hinwies. Wiewohles dabei zunächst noch nicht um Nietzsche ging, begann ich für das Problem der Naturzerstörung einen vernunftkritischen Ansatz zu entwickeln. Durch Vermittlung von Rudolf Heinz veröffentlichte ich 1985 mein erstes Buch nach der Doktorarbeit, Philosophie und Ökologie. Philosophische und politische Essays, in dem Nietzsche noch kaum vorkommt und im Literaturverzeichnis nur auf die Schlechta-Ausgabe verwiesen wird.
Der Blick auf Nietzsche intensivierte sich in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts, als ich Gianni Vattimo kennenlernte, den italienischen Hauptvertreter der postmodernen Philosophie, dessen hermeneutischer Ansatz mir damals näher lag als die poststrukturalistischen Konzeptionen von Foucault, Derrida und Lyotard. Er hatte bereits 1974 das Problem der Befreiung mit Nietzsche verbunden: Il Soggetto e la Maschera. Nietzsche e il Problema della Liberazione („Das Subjekt und die Maske. Nietzsche und dasProblem der Befreiung“). Just diese Verbindung hatte ich noch wenige Jahre zuvor kritisiert.
Zwischenzeitlich aber verließ ich langsam die kommunitarischen Pfade des Marxismus und kehrte zuden Anfängen vor dem Maoismus zurück, wurde schließlich die Außerparlamentarische Opposition der Achtundsechziger-Zeit auch antiautoritäre Bewegung genannt und hatte ich mit Sartres Individualismus damals das Philosophieren begonnen. Doch zu einer Rückkehr zu Sartres Existentialismus war die Zeit noch nicht reif. Das wird erst gegen Ende des Jahrtausends der Fall sein.
Zunächst lernte ich bei Vattimo Nietzsches Hermeneutik als Kritik an den Wissenschaften und der modernen Technik zu verstehen, er hatte 1984 das Buch Jenseits vom Subjekt. Nietzsche, Heidegger und die Hermeneutik publiziert. Und just Naturwissenschaften und Technik erschienen mir damals und heute immer noch als der eigentliche Hintergrund der Naturzerstörung, weniger der Kapitalismus. Heute glauben dagegen die Klimaradikalen mit den Naturwissenschaften und den Technologien das Naturverhältnis ins Lot bringen zukönnen. Für mich waren und sind diese indes nicht die Lösung, sondern das Problem, heute umso mehr, wenn sie unverfroren propagieren, die Welt richtig zuerfassen – ein religiöser Habitus.
Hierzu war die Wissenschafts- und Technikkritik Nietzsches an der Mathematik, die Edmund Husserl 1936 in seiner Krisis der europäischen Wissenschaften wiederholen wird, an der Kausalität, die beim späten Wittgenstein wiederkehren wird, und am Handlungsbegriff, die Hannah Arendt ausbuchstabieren wird, hilfreich. Naturwissenschaften und Technik erfassen die Natur nicht, wie sie wirklich ist, sondern interpretieren sie undentfalten dadurch ihren Willen zur Macht, den heute die Experten repräsentieren.
In diesem Sinne hatte Vattimo die Geschichte des Denken nicht als einen Prozess der immer besseren und adäquateren Erfassung der Welt interpretiert, der die Welt immer präziser beherrscht, sondern als eine Geschichte der zunehmenden Einsicht darein, diesen Prozess als einen der Schwächungen der Erkenntnis wie der Ethik zubegreifen – en passant darf man neben Husserl auf Einsteins Relativitätstheorie, die Grundlagenkrise der Mathematik, Heisenbergs Unschärferelation und das Scheitern der Begründung einer gegenstandsadäquaten Wissenschaftssprache im logischen Konstruktivismus der Erlanger Schule verweisen.Von all dem will man in den Wissenschaften gar nichts mehr wissen.
So entwickelte Vattimo daraus 1983 die Theorie des „schwachen Denkens“ – Il pensiero debole –, an das ich in meinem zweiten Buch zur Naturzerstörung 1989 anschloss: Die Technik und die Schwäche. Ökologie nach Nietzsche, Heidegger und dem ‚schwachen Denken‘. Damit war ich definitiv Nietzscheaner geworden. Vattimos programmatischen Aufsatz Dialektik, Differenz, schwaches Denken übersetzte ich und publizierte ihn in dem von mir 2000 herausgegebenen Sammelband Ethik des Denkens.
IV. Von der negativen Ökologie zur Lebenskunst
Im gleichen Jahrbrachte ich das noch auf einen Begriff, der sich mehr an Adornos negativer Dialektik als an Nietzsches Nihilismus anlehnte, aber von letzterem umso stärker beseelt wurde. Ich veröffentlichte zunächst ein kleines programmatisches Buch unter dem Titel Von der Schwierigkeit Natur zu verstehen. Entwurf einer negativen Ökologie. Die Quintessenz lautet: Zwischen Wissenschaften und Natur besteht eine Differenz, die sich nicht überbrücken lässt. Just deswegen ist im Umgang mit Natur Vorsicht geboten.
1990 habe ich das Konzept ausgearbeitet und es durch Lyotards Widerstreit erweitert: D. h., dass sich das Problem auch nicht politisch lösen lässt,weil Politik der Ort des Widerstreits der Diskursarten ist. Der Titel lautet Negative Ökologie. Politische Philosophie im technischen Zeitalter. Das sollte meine Habilitationsschrift werden. Sie blieb liegen und als ich es in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zur Grundlage einer Vorlesung machen wollte, musste ich entdecken, dass mich das besorgte Pathos um die zerstörte Natur verlassen hatte, so dass ich das Manuskript seither auch nicht mehr veröffentlichen wollte.
So war Nietzsche anfänglich ein Ärgernis, gegen das ich mich zur Wehr setzte, bis ich begriff, dass seine Philosophie viel innovativer und inspirierender war als das, was die Philosophie meiner akademischen Lehrer zu bieten hatte. Und erkenntnistheoretisch kann man von Nietzsche etwa so viel lernen wie von Wittgenstein: Der heute vorherrschende Szientismus ist eine Ideologie, der man so wenig glauben muss wie Religionen.
Heute will das niemand hören. So bleibt man mit Nietzsche Außenseiterin, Bohémienne, Intellektuelle, Lebenskünstlerin gemäß meinem Buch Der Übermensch als Lebenskünstlerin. Nietzsche, Foucault und die Ethik (2009). Wenn man mit Nietzsche dagegen in den Mainstream gerät, hat man ihm diebösen Zähne gezogen, was Arthur C. Danto empfiehlt, um Nietzsche demokratiekonform zu machen.
Obendrein lernte ich von Nietzsche vieles über den Individualismus, wiewohl er den auf das Genie beschränkt. Man kann und muss sein Leben selber gestalten und sich gegen alle Versuche wehren, sich dergleichen von den „letzten Menschen“ vorschreiben zu lassen. Derart hat Nietzsche eine Ethik des Individuums entworfen, die mich zumeinen antiautoritären Anfängen bei Sartre zurückbrachte. Also sprach Zarathustra:
Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise. Dort wo der Staat aufhört, – so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen?1
Fußnoten
1: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.
Vom Verlangen nach Verschwendung
Vom Verlangen nach Verschwendung
Welchen Stellenwert kann in der heutigen Zeit fortgeschrittener Rationalisierung eine Praxis der Verschwendung haben? Müssten wir nicht vielmehr alles tun, um unsere Effizienz und Produktivität zu steigern, wenn wir den Herausforderungen dieser krisengeschüttelten Zeit begegnen wollen? Aber wenn wir uns dem Denken Friedrich Nietzsches und seines glühenden Verehrers Georges Bataille zuwenden, werden wir mitunter einer Verschwendungsemphase ausgesetzt, die unsere moralischen Grundsätze erschüttert und uns vielleicht auf eine neue und andersartige Politik hin öffnet, als diejenige, die sich uns heute als alternativlos aufzudrängen scheint.
I. Kritik an einer mangelhaften Ökonomietheorie
Bürgerliche wie marxistische Ökonomietheorien gehen stets vom Mangel aus, moniert der französische Schriftsteller, Soziologe, Philosoph und Nietzscheaner Georges Bataille (1897–1962). Den Ausgangspunkt bildet immer das Manko, ein Zuwenig, das kompensiert werden muss, um das Überleben des Individuums, der Gattung, der Gesellschaft zu sichern. Der homo oeconomicus ist ein durch und durch reaktives Wesen, das nichts als Anpassungsleistungen gegenüber einer feindlichen Umwelt, nichts als die Not kennt; er ist stets bedürftig, stets zu kurz gekommen. Daher neigt er zum Ressentiment – zu konkurrierendem Neid, ichbezogener Klugheit und chauvinistischem Geiz. Es ist genau dieses armselige, nur am Nutzen und an der eigenen Bequemlichkeit interessierte menschliche Wesen, dessen Abschaffung Zarathustra mit dem Bild des Übermenschen heraufzubeschwören sucht. Für Bataille ist Nietzsche selbst in der Tat kein aneignender, akkumulierender, sondern ein gebender Denker.
Nietzsches Zarathustra tritt zu Beginn seiner Geschichte vor die Sonne hin und spricht:
Du grosses Gestirn! […] [W]ir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir deinen Überfluss ab und segneten dich dafür. Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, […] ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken. Ich möchte verschenken und austheilen […]. Dazu muss ich in die Tiefe steigen: wie du es des Abends thust, […] du überreiches Gestirn!“1
Den Ausgang der Zarathustra-Geschichte Nietzsches bilden damit nicht Not und Mangel, sondern Reichtum und Überfluss. Das Verlangen nach einer verschwenderischen Verausgabung, wie sie der strahlend selbstlos sich verzehrenden Sonne wesentlich ist, treibt Zarathustra von seinem Berg hinab, hinein in seine Reise voller Irr- und Umwege, voller Überschwang, voller Tragik. Indessen geht der Entwurf einer „allgemeinen Ökonomie“, den Bataille in seinem 1949 erschienen Werk Der verfemte Teil vorstellt, ebenso wie Also sprach Zarathustra, von der Sonne aus, sofern er ihren übertrieben verschwenderischen Charakter zum systematischen Ausgangspunkt seiner Ökonomietheorie macht. Denn es ist die Sonnenenergie, die überall auf der Erde einen „Druck des Lebens“2 bewirkt, der sich in der „Erzeugung immer kostspieligerer Lebensformen“3 äußert. Es gibt dabei immer ein Zuviel an Energie, einen Überschuss, der vom Wachstum nicht absorbiert werden kann. Was sich nicht restlos reinvestieren lässt, muss am Ende sinnlos verausgabt werden. Dies zeigt sich im Luxus der Natur, dessen auffälligste Form der Tod ist. Die gewaltsamen Exzesse der Natur kehren auf soziologischer Ebene wieder: Auch eine Gesellschaft verfügt Bataille zufolge immer über mehr Ressourcen, als zu ihrem schieren Erhalt nötig sind: Existenz ist stets mehr als Subsistenz. Bataille insistiert darauf, dass es gerade die spezifischen Formen der Verschwendung der Überschüsse sind, die eine konkrete Gesellschaft zu einer bestimmten Gesellschaft machen. Denn die Überschüsse müssen auf jeden Fall verausgabt werden – es fragt sich nur, ob dies in katastrophischer Form erlitten, oder in einer Weise, die sogar Freude bereitet, gewählt wird. Bei dem, was über die bloße Subsistenz einer Gesellschaft hinausgeht, handelt es sich mit Nietzsches Wort um deren Kultur.
„Müßiggang, Pyramidenbau und Alkoholgenuß haben gegenüber der produktiven Tätigkeit, der Werkstatt oder dem Brot den Vorzug, daß die Ressourcen, die sie verbrauchen, ohne Gegenwert, ohne Profit verzehrt werden“, schreibt Bataille im Verfemten Teil, „sie gefallen uns einfach, sie entsprechen der Wahl ohne Not, die wir hier treffen.“4 Die in Nietzsches Sinn radikale Wertumkehrung, die Bataille in ökonomietheoretischer Hinsicht vornimmt, liegt in der prinzipiellen Vorrangstellung, die er dem Problem der Verausgabung von Überschüssen gegenüber der Notwendigkeit der Steigerung der Produktivkräfte einräumt, was ihm zufolge auch eine völlige Umkehrung der Moral mit sich bringt. Denn in dieser Perspektive wandeln sich die Begriffe dessen, was als ‚gut‘ und ‚nützlich‘ gilt: Dem Nutzlosen kommt plötzlich ein positiver Wert zu. In dieser Ökonomietheorie liegt die Emphase nicht auf Effizienz, sondern auf Verschwendung. Erst da, wo wir uns sinnlos verausgaben, beginnt das Leben, das nicht bloß reaktiv, bloß Anpassung, bloß Knechtschaft ist, sondern das sich exzessiv und schöpferisch entfaltet, wo alle Singularitäten sich ausrollen dürfen und nicht länger dem Zwang unterliegen, einer möglichst sparsamen Form des Überlebens zu dienen. Batailles „allgemeine Ökonomie“ erweist ihre nietzscheanische Inspiration: in formaler Hinsicht als Wertumkehrung sowie auf inhaltlicher Ebene als affirmative Betonung exzessiver Verschwendungsprozesse.
II. Nietzsches Verachtung des Geizes, Emphase der Großzügigkeit
So ist Nietzsches Werk von seinen frühesten bis zu seinen spätesten Schriften vom verächtlichen Spott gegenüber der Bedürftigkeit und der Kleinlichkeit, zugleich von einer glorifizierenden Betonung der überfließenden Großzügigkeit und des verschwenderischen Schöpfertums durchzogen. Hier einige Beispiele:
Im Versuch einer Selbstkritik, den Nietzsche 1886 seinem Erstlingswerk, der Geburt der Tragödie, voranstellt, fragt der Autor bissig:
[D]as, woran die Tragödie starb, der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit des theoretischen Menschen – wie? könnte nicht gerade dieser Sokratismus ein Zeichen des Niedergangs […] sein?5
In der zu Lebzeiten unveröffentlichten Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne stellt Nietzsche einen rationalen, aus Not handelnden wissenschaftlichen Menschentypus einem künstlerischen und verschwenderischen intuitiven Typus gegenüber:
Wo einmal der intuitive Mensch, etwa wie im älteren Griechenland, seine Waffen gewaltiger und siegreicher führt, als sein Widerspiel, kann sich günstigen Falls eine Kulturgestalten, und die Herrschaft der Kunst über das Leben sich gründen […]. Weder das Haus, noch der Schritt, noch die Kleidung, noch der thönerne Krug verrathen, dass die Nothdurft sie erfand […]. Während der von Abstractionen geleitete Mensch durch diese das Unglück nur abwehrt, ohne selbst aus den Abstractionen sich Glück zu erzwingen, während er nach möglichster Freiheit von Schmerzen trachtet, erntet der intuitive Mensch, inmitten einer Kultur stehend, bereits von seinen Intuitionen, ausser der Abwehr des Uebels eine fortwährendeinströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung.6
Gegen die Aufwertung der Arbeit und die Abwertung überschwänglicher Freuden wettert Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft: „Oh über diese Genügsamkeit der ‚Freude‘ bei unsern Gebildeten und Ungebildeten! Oh über die zunehmende Verdächtigung aller Freude! Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits ‚Bedrüfniss der Erholung‘ und fängt an, sich vor sich selber zu schämen.“7
Zarathustra macht es sonnenklar: „Nicht eure Sünde – eure Genügsamkeit schreit gen Himmel, euer Geiz selbst in eurer Sünde schreit gen Himmel!“8 „Ich liebe Den, dessen Seele sich verschwendet, der nicht Dank haben will und nicht zurückgiebt: denn er schenkt immer und will sich nicht bewahren.“9 „Und auf Entartung rathen wir immer, wo die schenkende Seele fehlt. Aufwärts geht unser Weg, von der Art zur Über-Art. Aber ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: ‚Alles für mich.‘“10
Nietzsches unerbittliche Analyse des lebensfeindlichen „asketischen Ideals“ in Zur Genealogie der Moral, das den Nihilismus der Moderne begründet, ist weithin bekannt.11 Auch die im Spätwerk präsenten moralkritischen Begriffe des „Vornehmen“ oder „Aristokratischen“ die Nietzsche vordergründig in die Nähe einer reaktionären, chauvinistischen Position zu rücken scheinen, erweisen sich vor allem anderen als Affirmation einer großzügigen Selbstverschwendung: Die Vornehmen behaupten sich gerade dadurch, dass sie nicht auf den eigenen Vorteil bedacht sind. Paradoxerweise begründet dies zugleich ihr historisches Unterliegen gegenüber dem, was Nietzsche als „Sklavenmoral“ bezeichnet.
III. Ethik und Politik der Verschwendung?
Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um Nietzsches Hass auf Not, Zurückhaltung und Kleinlichkeit und seine Emphase verschwenderischer Generosität zu dokumentieren. Doch spricht Nietzsche, ähnlich wie Bataille, dieser eigenwilligen ethischen Wertsetzung auch eine politische Bedeutung zu? Nietzsche hat nie eine ausgearbeitete politische Theorie vorgelegt und an dem Versuch, eine seinen Schriften implizite politische Positionierung zu entnehmen, beißen sich die Interpret*innen seit Beginn der Nietzsche-Rezeptionsgeschichte die linken wie die rechten Backenzähne aus. Und doch finden sich kleine unscheinbare Stellen in Nietzsches Werk, die eine gesellschaftspolitische Interpretation seiner Ethik der Fülle und des sorglosen Überschwangs nahelegen. So wendet er seinen Aristokratiebegriff in Zur Genealogie der Moral in der Tat auch soziologisch und suggeriert die Möglichkeit einer Gesellschaft, die gerade als ‚aristokratische‘ kommunistische Züge trüge: „Es wäre ein Machtbewusstsein der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie giebt, – ihren Schädiger straflos zu lassen. ‚Was gehen mich eigentlich meine Schmarotzer an? dürfte sie dann sprechen. Mögen sie leben und gedeihen: dazu bin ich noch stark genug!‘“12
Diese Vorstellung eines starken und glücklichen Gemeinwesens widerspricht nicht nur dem politischen Geist von Nietzsches Zeitgenossen, sondern auch allem, was in heutigen politischen und gesellschaftlichen Debatten um innen- wie außenpolitische Fragen opportun ist: Allem voran steht ein allgemeines Sicherheitsbedürfnis. Der Staat hat sich mit aufwendigen Mitteln der Kontrolle vor äußeren wie inneren Gefahren zu schützen. Die Kassen scheinen notorisch leer zu sein, der Haushalt weist beängstigend große Löcher auf. Ehe jemand sich schmarotzerisch auch nur am winzigsten Teil des gesellschaftlichen Reichtums gütlich tun kann, hat er einen langwierigen, komplizierten, nicht selten mit Demütigungen einhergehenden bürokratischen Hürdenlauf zu meistern. Ob wir auf (vermeintliche) Bedrohungen von außen oder von innen schauen, ob es um Terror und Extremismus, um feindlich gesinnte Staaten, um die Konkurrenz auf dem Weltmarkt, um die Verwüstungen der Umwelt oder um unsere Gesundheit geht: Alle Zeichen stehen auf Prävention, Kontrolle, Vorsicht (sie ist angeblich besser als Nachsicht) – und unbedingt: auf Sparsamkeit. Jedenfalls gilt dies auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Die luxuriösen Exzesse der Reichen und Superreichen zeugen indessen weiterhin, ebenso wie die Vernichtung von zahllosen Menschenleben in kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem gesamten Erdball, von der Notwendigkeit der sinnlosen Verausgabung von Überschüssen, auf die Batailles ökonomietheoretische Perspektive uns stößt. Sie werfen außerdem die Frage auf, ob wir nicht andere Formen der zwecklosen Verausgabung finden und bewusst wählen sollten, die uns allen gefallen könnten, anstatt in einer Spirale aus immer mehr Angst vor der eigenen Vernichtung und immer größeren Sicherheitsmaßnahmen als Reaktion darauf, unbewusst immer katastrophalere Verausgabungsformen hervorzubringen.
IV. Wie wir leben wollen
Doch folgt man Bataille, besteht unser größtes Problem darin, dass wir nicht einmal mehr wissen, „was die Wörter nutzlos, souverän, heilig bedeuten“13, dermaßen sind wir in einen rationalen Diskurs verstrickt, der nur unsere reaktive Seite bedient, nur unserer Bedürftigkeit geschuldet ist. Ich spreche von einem Wir – und jetzt auch noch von einem Ich – ganz so, als ob klar wäre, wer hier spricht und wer angesprochen werden soll. Aber das ist keinesfalls klar. Uns ist „niemals etwas anders als auf missverständliche Weise gegeben“14. So konstituiert sich ein Wir vielleicht überhaupt erst in dieser Unklarheit und in der Frage nach der nutzlosen Verschwendung, nach der es uns immer verlangt, wie laut und nachdrücklich auch immer wir nach dem Nützlichen schreien, wenn wir dastehen wie der letzte Mensch Zarathustras und blinzeln. Vielleicht kennen wir die Bedeutung des Nutzlosen und Heiligen tatsächlich nicht mehr, wie Bataille behauptet. Dennoch mag es Anlässe geben, es zu bedenken.
Ein Theaterregisseur, der zu wenig Zeit zum Proben bis zur Premiere hatte, sagte einmal zu seinem Schauspielensemble: „Wenn man viel zu wenig Zeit hat, muss man sich besonders viel Zeit nehmen. Darum beginnen wir mit den Proben erst in ein paar Tagen, obwohl wir heute schon loslegen könnten und eigentlich müssten.“ Aus dieser paradoxen Anweisung spricht die souveräne Weigerung, sich den objektiven Verhältnissen von Enge und Knappheit zu unterwerfen. Gerade unter den Bedingungen von Druck und Zwang bedarf es eines besonders verschwenderischen Umgangs mit den spärlich vorhandenen Ressourcen. Je größer die Armut, desto großzügiger die Gastfreundschaft; je größer hingegen der Reichtum, desto peinlicher die Maßnahmen, um ihn zu sichern und weiter zu mehren. Sich verschwenden können heißt nicht, über genügend Ressourcen zu verfügen, es heißt vielmehr, der eigenen Sicherheit und Selbsterhaltung nicht den allergrößten, nicht den einzigen Wert beizumessen. Vielleicht ist die Gastfreundschaft wichtiger, als das Bedürfnis, den eigenen Hunger zu stillen. Vielleicht ist die souveräne Verfügung über die eigene Zeit wichtiger, als die erfolgreiche Verwirklichung eines Projekts. Vielleicht gehen wir doch noch eines Tages, Zarathustra folgend, „gerne über die Brücke“15, indem wir unseren eigenen Untergang endlich bejahen. Und vielleicht beginnt genau da erst ein Wir, das es wert ist, gelebt zu werden.
Quellen
Bataille, Georges: Der verfemte Teil. In: Ders.: Die Aufhebung der Ökonomie, hrsg. v. Gerd Bergfleth. München 1985.
Ders.: Hegel, der Tod und das Opfer. In: Ders.: Hegel, der Mensch und die Geschichte, hrsg. v. Rita Bischof. Berlin, 2018.
Ders.: Nietzsche im Lichte des Marxismus. In: Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich. Berlin & Wien, 2003, S. 19–26.
Jenny Kellner (geb. 1984) hat Schauspiel, Philosophie und Soziologie in Hamburg studiert und wurde mit der Arbeit Anti-ökonomischer Kommunismus. Batailles philosophische Herausforderung an der Universität der Künste Berlin promoviert. In ihrer Dissertation geht es zentral um die Nietzschelektüren Batailles. Zur Frage nach den politischen Implikationen des Denkens Nietzsches und Batailles hat sie zahlreiche Artikel publiziert, zuletzt den Beitrag Was heißt Anti-Politik bei Nietzsche? im Tagungsband Nietzsches Perspektiven des Politischen (2023).
Fußnoten
1 Also sprach Zarathustra, Vorrede, 1.
2 Bataille, Der verfemte Teil, S. 55.
3 Ebd., S. 59.
4 Ebd., S. 153.
5 Die Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik, 1.
6 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralische Sinne, 2.
7 Die fröhliche Wissenschaft, 329.
8 Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3.
9 Also sprach Zarathustra, Vorrede, 4.
10 Also sprach Zarathustra, Von der schenkenden Tugend, 1.
11 Vgl. die dritte Abhandlung der Genealogie der Moral.
12 Zur Genealogie der Moral, II, 10.
13 Bataille, Nietzsche/Marxismus, S. 26.
14 Bataille, Hegel, Tod, Opfer, S. 67.
15 Also sprach Zarathustra, Vorrede, 4.
Was bedeutet Nietzsche für mich?
Was bedeutet Nietzsche für mich?
In der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ werden unsere Stammautoren in den nächsten Wochen ihren je persönlichen Zugang zu Nietzsche und seinem Denken vorstellen. Unser leitender Redakteur Paul Stephan macht den Anfang und berichtet darüber, wie er als Jugendlicher Nietzsche entdeckte – und sich heute nicht mehr unbedingt als „Nietzscheaner“ versteht.
Wie wahrscheinlich für viele war Nietzsche auch für mich einer der ersten Philosophen, den ich gelesen habe. Mit etwa 14 Jahren begann ich mich für die Bücher zu interessieren, die bei meinen Eltern im Regal standen und die einen Hauch des Subversiven versprühten. Das waren so gut wie keine philosophischen Werke, die interessierten meine Eltern eher weniger. Das einzige eigentlich philosophische Werk, das bei uns im Bücherregal stand – wenn auch ungelesen – war Kants Kritik der reinen Vernunft, die mich allerdings in jenem Alter nur bedingt interessierte. (Nur seine Widerlegungen der Gottesbeweise las ich mir als Schüler einmal durch und sie bestärkten mich in meinem Atheismus.) Und es gab dort sogar eine Freud-Ausgabe, in der ich als Pubertierender hin und wieder neugierig blätterte.
Mit etwa 12 Jahren allerdings hatte ich bereits, ich weiß nicht mehr wie, Sofies Welt von Jostein Gaarder in die Hände bekommen. Über diese Lektüre hatte sich bei mir ein gewisses Interesse für Philosophie entwickelt und ich war zum ersten Mal mit Nietzsches Ideen in Berührung gekommen und fasziniert von ihnen gewesen. Es war eine fundamentale Alternative zu der mir vertrauten Sichtweise, vor allem zum Christentum meiner Eltern. Das war in jener Zeit eigentlich mein Hauptthema: Die kritische Auseinandersetzung mit der damaligen christlich-konservativen Ideologie meiner Eltern und die Suche nach Alternativen zu ihr. Ich interessierte mich eigentlich für alles, was davon abwich. Ich las etwa begeistert Feuerbachs Das Wesen des Christentums, Schriften von und über Marx, zum Buddhismus. Meine literarischen Helden wurden schnell – nachdem ich Tolkiens und Rowlings Welten durchquert hatte – Kafka und Hesse. Hesse sogar noch eher als Kafka. Die Anspielungen auf Nietzsche in seinen Werken und die Lektüre einer Hesse-Biographie, in der Nietzsches Einfluss auf ihn hervorgehoben wurde, nahmen mich endgültig für Nietzsche ein.
Mein erstes Buch war, soweit ich mich entsinne, Also sprach Zarathustra. Auch die Geburt der Tragödie las ich früh, weil ich mich auch sehr für die griechische Antike interessierte. Heute kaum zu wiederholende Lektüreerfahrungen, alles war aufregend und neu. Ich verstand mich als Freigeist im Sinne Nietzsches, als nietzscheanischer Marxist oder marxistischer Nietzscheaner. Viele meiner damaligen Freunde hatten eine ähnliche Sicht auf die Welt. Ich erinnere mich, dass einer von ihnen, dem ein Freund seinen Liebeskummer klagte, diesem lakonisch empfahl, doch einfach den Zarathustra zu lesen, dann würde er schon darüber hinwegkommen.
Ich denke im Nachhinein, doch schon einige Jahre älter, dass meine Freunde und ich ein Stück weit zum Opfer von Nietzsches manipulativer Rhetorik wurden. Nietzsche – vor allem in der Rolle seines Propheten – suggeriert dem Leser, schon qua Lektüre seiner Schriften „etwas Besonderes“ zu sein, aus der „Herde“, der „tumben Masse“ herauszustechen. Er appelliert an seinen Narzissmus. Ich denke, dieser Aspekt seiner Schriften ist einer der Hauptgründe für ihren Erfolg und das, was Nietzsche in gewisser Hinsicht wirklich „gefährlich“ macht. Nicht unbedingt politisch, sondern psychologisch: Er liefert eine Ideologie, die es einem ermöglicht, sich im eigenen Narzissmus zu vergraben und verstärkt ihn dadurch. Man wird Teil einer Art, paradoxen, Gemeinde von „freien Geistern“ – um nicht zu sagen: „Genies“ –, die einzig der Name „Nietzsche“ eint, wie es vielleicht in unschuldigeren Zeiten derjenige Klopstocks tat. Man bewundert Nietzsche, doch in Wahrheit nur sich selbst und die eigene „Individualität“, „Kreativität“, „Originalität“. Man versteht Nietzsches Texte eigentlich nicht – man geht in ihnen auf, lebt mit ihnen.
Diese Phase bzw. diese Stimmung kommt mir im Nachhinein sehr unangenehm, sogar ein wenig peinlich vor, doch ich denke, es war eine wichtige Durchgangsphase und Nietzsche kann gerade durch diesen Aspekt seiner Schriften enorme kreative und intellektuelle Potentiale in seinen Lesern entfesseln. Sie ermutigen dazu, „anders“ zu sein, Dinge zu denken und zu tun, die man sich vorher nicht getraut hätte, sie führen zu einer bisweilen rauschartigen Enthemmung des eigenen Gefühls von Größe. Und sollte dieses Gefühl von der Mitwelt nicht bestätigt werden, sollte man im Gegenteil gekränkt werden, bietet Nietzsche sofort das passende Heilmittel: „Was scheren dich diese Marktplatzmenschen – du weiß doch, dass du besser als sie bist?“ Es war nicht zufällig Nietzsches Freundin und, womöglich, Geliebte Lou Andreas-Salomé, die 1921 die wegweisende psychoanalytische Studie Narzißmus als Doppelrichtung veröffentlichte und darin die produktive Funktion des Narzissmus für Künstler und Denker – „Schaffende“ – aufdeckte. Ja: Man muss wohl, frei nach Nietzsche, einen Hauch Narzissmus in sich tragen, um etwas Bedeutendes in Kunst oder Philosophie hervorbringen zu können; vielleicht sogar in allen anderen Lebensbereichen.
Doch mittlerweile bin ich, wie man so sagt, „reifer“ geworden und diese ganze Denkweise stößt mich ab. Nietzsche heilt den Narzissmus seiner Leser nicht, sondern bekräftigt ihn und bietet allenfalls eine „Schiefheilung“ an, indem er ihn immer tiefer in eine narzisstische Denkstruktur verwickelt. Ich bin jedoch mittlerweile fest davon überzeugt, dass wahre künstlerische, philosophische und vor allem menschliche Größe aus einer ganz anderen Richtung kommt. Rousseau schätze ich mittlerweile höher als Nietzsche, sogar Christus höher als Dionysos. Ein Christ könnte an Nietzsche leicht vorbeigehen und sich mitleidig denken: „Dieser arme verwirrte Mensch; hat er noch nichts davon gehört, dass Christus vor 2.000 Jahren auferstanden ist? Er ist wahrhaftig auferstanden!“ – Die großen Künstler, Heiligen, Denker – wenn „Größe“ überhaupt ein Wert an sich ist, auch das bezweifle ich mittlerweile – waren vielleicht auch selbstbezogene Egoisten, doch in ihrem Egoismus öffneten sie sich zugleich für etwas Höheres, das aus ihren Werken zu uns spricht; egal, ob man das nun „Gott“ oder anders nennen möchte. Sie sprechen nicht als Einzelne, sondern als Gattungsmenschen. Sie meinen nicht, sie denken.
Doch mit all dem treffe ich Nietzsche selbst nicht. Denn sobald man einmal den eigenen Narzissmus in Frage gestellt hat und in Nietzsches Texten nicht mehr nur eine Quelle der Selbstbestätigung findet, kann man seine Philosophie wirklich entdecken und wird feststellen, dass sie noch viel mehr und Anderes zu bieten hat. Dass man Nietzsche zuvor eben nicht verstanden hatte. Das narzisstische Potential ist in seinen Texten ebenso verborgen wie das Gegenteil, wenn man sie nur genau liest. Nietzsche wäre seinerseits allenfalls ein mediokrer Sonderling wie Max Stirner oder Arthur Schopenhauer – deren Fans mir diese Bemerkung verzeihen mögen (ich schätze beide Autoren sehr, doch messe sie eben an dem höchsten Maß) – geblieben, wenn er diesen Schritt nicht selbst gegangen wäre, wenn er nicht den Schritt ins Offene, hinein in die Selbstüberwindung gewagt hätte.
Es blieb für Nietzsche jedoch beim Traum vom Übermenschen. Er konnte den Schritt nicht endgültig gehen. Doch genau das macht ihn uns so nah und sein Denken so vertraut, wenn wir es recht verstehen: Diese Zerrissenheit zwischen Selbstbezug und Öffnung, zwischen Niedrigkeit und Höhe, zwischen „letztem Menschen“ und „Übermensch“, die in seinen Texten selbst so wortreich und schroff immer wieder ausgetragen wird. Wir werden bei ihrer Lektüre die Zeugen eines inneren Kampfes, der in der Weltliteratur seinesgleichen sucht – und der eben, so möchte ich behaupten, auch unser Kampf ist oder zumindest eine bestimmte Stufe der intellektuellen Reife markiert, durch die wir alle hindurchgehen müssen.
Es gibt für mich daher auch keinen Anlass, Nietzsche zu verwerfen oder mich von ihm loszusagen. Nachdem Nietzsche kein „Götze“ mehr für mich ist, ist er nun einfach ein Mensch und wird dadurch erst als Denker und Schriftsteller interessant. Unter diesen steht er für mich noch immer in der vordersten Reihe, auch wenn ich mich manchmal frage, ob Hegel nicht eigentlich subversiver als Nietzsche ist, in einer Zeit, in der „Gott ist todt“1 und „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“2 schon längst als Kalendersprüche – oder eben Instagram-Memes – taugen. Doch selbst, wenn man in Hegels Systemidee unser Ideal sehen wollte, muss man doch anerkennen, dass Nietzsche unsere Realität ist. Ihn zu verdammen, wäre Selbstverleugnung; ihn zu heiligen wäre Selbstverdummung.
Wenn ich etwa Rousseau lese, bin ich bisweilen gerührt, geradezu mitgerissen von dem reinen Pathos seiner Schriften, seinem tiefen Glauben an das Gute, an die Menschheit, an die „Natur“. Doch ich weiß, dass man heute nicht mehr so denken, nicht mehr so schreiben könnte. Manche Texte Nietzsches hingegen wirken so, als wären sie erst gestern verfasst worden. Sein „Wahn“ ist der Wahn einer Epoche, die noch nicht beendet ist. Er vermag es nicht, eine Heilung anzubieten, doch er ist der erste aufrichtige Chronist, Zeuge und Seher dieses Wahns. Wir, die wir auf der Suche nach Heilung sind, individuell wie kollektiv, müssen uns immer wieder in diesen Strudel stürzen getreu seiner eigenen Maxime „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“3. Wir dürfen nur nicht darin ertrinken.
Ideen wie der „Übermensch“, die „schenkende Tugend“, die „ewige Wiederkunft“, der „letzte Mensch“, der „Nihilismus“ … Die Vision einer Welt ohne Gott und ohne Wahrheit. Die Geschichte als ewiger Kampf zwischen Dionysos und Apoll, Herren und Sklaven, Ressentiment und Herrlichkeit, Mann und „Weib“ – all das sind vielleicht unwahre Ideen, doch darum noch lange keine toten, keine widerlegten. Man muss sie immer wieder durchdenken, immer wieder neu nach Auswegen und Schlupfwinkeln suchen, sich immer wieder neu von ihnen faszinieren lassen.
Insofern kann ich durchaus die Polemik von Denkern wie Georg Lukács und Wolfgang Harich gegen Nietzsche teilen. Ja, in Nietzsche steckt viel „Böses“, viel geradezu Lächerliches, er ist ein philosophischer Feind der Vernunft. Doch ich bin ebenso von Carl Schmitt belehrt – und dieser Satz könnte auch von Nietzsche selbst stammen: „Der Feind ist unsere eigne Frage als Gestalt.“ – Und ich füge dem mit Nietzsche selbst seine vielleicht weisesten Worte hinzu:
„Freunde, es giebt keine Freunde!“ so rief der sterbende Weise;
„Feinde, es giebt keinen Feind!“ – ruf’ ich, der lebende Thor.4
Fußnoten
1 Die fröhliche Wissenschaft, 125.
2 Zur Genealogie der Moral, III, 24.
Der umkämpfte Nietzsche
Bericht zur Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft 2023
Der umkämpfte Nietzsche
Bericht zur Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft 2023
Vom 12. bis 15. Oktober fand in Naumburg die jährliche Jahrestagung der Friedrich-Nietzsche-Gesellschaft statt. Zahlreiche Experten aus aller Welt kamen zusammen, um den vielfältigen Wegen von Nietzsches Wirkung in den ersten Jahrzehnten nach seinem geistigen Zusammenbruch nachzugehen. Die geistigen Kämpfe um Nietzsche verwiesen dabei immer wieder auf die realen Kämpfe der Vergangenheit – und diejenigen unserer Gegenwart.
I. Alle Jahre wieder: Nietzsche in Naumburg
Jedes Jahr wird das beschauliche Kleinstädtchen Naumburg einmal von sonderbaren Gästen heimgesucht, die sich nicht so recht in die Idylle von Dom und Fachwerk fügen wollen: Nietzsche-Forscher aus der ganzen Welt kommen hier zusammen, um ihre Forschungsergebnisse zur Diskussion zu stellen und sich, wie man sagt, zu ‚vernetzen‘. Der Termin ist traditionell um Nietzsches Geburtstag am 15. Oktober herum gelegen, in diesem Jahr vom 12. bis 15. Oktober. Um „Kämpfe um Nietzsche“ sollte es gehen, um ihn, so erklärte der Untertitel der von Carlotta Santini und Hans Ruin organisierten Veranstaltung, „als Protagonist der europäischen und globalen Kultur bis zur ersten Nachkriegszeit“.
Das vom Künstler Michael Girod gestaltete Tagungsplakat zeigt eine der berühmtesten Nietzsche-Büsten von Max Klinger, wie sie von kleinen schwarzen Schattenwesen malträtiert, geküsst, erklommen wird. Was es mit der Wahl dieser graphischen Gestaltung auf sich hat, explizierte bereits der Call zur Tagung, der zu Einreichungen aufrief (vgl.). Dort ist davon die Rede, dass „Werk und Person […] Nietzsches“ „[b]is zumAusbruch des Zweiten Weltkriegs“ „Gegenstand leidenschaftlicher Debatten“ waren, „die alle Bereiche der Kultur beeinflussten“. Diese wilde Periode der„Nietzscheanismen“, in der Nietzsches Philosophie als „Laboratorium von Denkmodellen“ gedient habe, sei allerdings „nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Etablierung wissenschaftlicher und philologischer Standards“ glücklicherweise beendet worden. Leider sei bis dahin jedoch ein „Mythos“ Nietzsche entstanden, sich auf ihn beziehende „idiosynkratische Entstellungen seines Denkens […], gegen die die Forschung bis heute ankämpft“. Die Schattengestalten sollen also wohl jene ersten Rezipienten sein, die das wahre Bild Nietzsches nach wie vor verdunkeln und die „die akademische Forschung“ auch weiterhin zu verscheuchen habe. Die erklärte Zielsetzung der Tagung war dementsprechend zwar durchaus auch die Anerkennung dessen, was an den „Kämpfen um Nietzsche“ „originell, gültig und produktiv war“, aber vor allem ging es darum „[d]ie Quellen der bis heute andauernden Vorurteile […] zu identifizieren und womöglich zu falsifizieren“. Die ‚seriöse Forschung‘ und der ‚echte Nietzsche‘ da – der von Feinden wie Bewunderern entstellte ‚verfälschte Nietzsche‘ der frühen Rezeption dort. – Ist das wirklich so einfach zu scheiden, wie es Nietzsche zufolge „Wahrheit“ und „Schein“ nicht sind?
Die Tagung begann am Donnerstagnachmittag wie gewohnt im großen Saal des Nietzsche-Dokumentationszentrums, eines schicken Gebäudes im postmodernen Stil, das vor mehreren Jahren neben dem eigentlichen Nietzsche-Haus (vgl. Abb. 1) errichtet wurde, im düsteren Zwielicht eines durchwachsenen Herbsttags. In diesem Haus wuchs Nietzsche ab 1858 auf und lebte dort noch einmal nach seiner geistigen Umnachtung mehrere Jahre lang in der Obhut seiner Mutter und seiner Schwester. Im Laufe des Abends wuchs die Teilnehmerzahl nach und nach auf etwa 100 Personen an; mehr hätte der Saal auch nicht aufgenommen. Dies gilt wohl auch für die Stadt. „Naumburg ist nie so voll wie an diesem Wochenende“, meinte der Oberbürgermeister Armin Müller in seinem Grußwort. Laut Programm umfasste die Tagung etwas mehr als 50 Vorträge.
In ihren Eingangsstatements nahmen die Organisatoren die Dichotomie zwischen Rezeption und ‚Stand der Forschung‘, die man dem Call entnehmen konnte, wieder etwas zurück. Insbesondere Santini betonte die ungebrochene Faszinationskraft jener ‚wilden Jahre‘ der Nietzsche-Aneignung. „Die Geschichte der Nietzsche-Rezeption ist unsere Geschichte“, meinte sie und sprach von einer Rückkehr zur „Urquelle, als die Wiese noch intakt war“. Die „Naivität“ der frühen Rezeption sei nur „angeblich“ und es gebe keinen gradlinigen Fortschritt hin zu einem ‚wahren Nietzsche‘. Ruin fügte dem hinzu, dass das Studium der frühen Rezeption kein Selbstzweck sein dürfe, sondern dazu dienen solle, die Gegenwart besser zu verstehen. Als entscheidendes Merkmal dieser „Gegenwart“ wiesen dabei alle Eingangsredner, zu denen neben den genannten noch der Leiter des Dokumentationszentrums, Ralf Eichberg, sowie Marco Brusotti, der Vorsitzende der Nietzsche-Gesellschaft, zählten, auf die Kriege – sei es in der Ukraine, in Armenien oder jüngst in Israel – hin; also „Kämpfe“ in einem sehr wörtlichen Sinne.
II. Vom Übermenschen zum „neuen Juden“
Die beiden inhaltlichen Vorträge jenes Auftakts von Katharina Grätz und Hans Gerald Hödl klammerten entsprechend die Frage nach dem ‚echten Nietzsche‘ weitgehend aus. Grätz sprach über die Deutungskämpfe um den Übermenschen im deutschsprachigen Raum zwischen 1890 und 1905, Hödl stellte vor allem die Nietzsche-Rezeption des weitgehend unbekannten österreichischen Schriftstellers Anton Kuh (1890–1941) vor. In beiden Vorträgen wurde sehr schnell die große Spannbreite und Kreativität der verschiedenen Deutungen deutlich. Die einen erblickten in Nietzsches Philosophie des „Übermenschen“ den Aufruf zu einem darwinistischen Züchtungsprogramm, die anderen zu einem radikalen Individualismus, wieder andere verbanden damit kollektive Vorstellungen von Emanzipation oder einer neuen Religion. Grätz betonte dabei, dass diese Vielfalt nicht an einem ‚zu wenig‘ sondern eher an einem ‚zu viel‘ an Bedeutung in Nietzsches Texten liege. Die unterschiedlichen Interpreten pickten sich insofern zu Recht einzelne Versatzstücke aus ihnen heraus. Bildlich gesprochen gleicht Nietzsches Philosophie also einem gut gefüllten Bonbonglas, das weder leer ist noch jede beliebige Süßigkeit enthält, das aber sehr viele unterschiedliche Schleckereien umfasst, die nicht unbedingt zueinander passen. Während Nietzsche erste Wiener Leser, so Hödl, deutschnationale Juden gewesen seien, verstand Kuh ihn als Kritiker jedes Nationalismus im Sinne des Ideals des „guten Europäers“.
Der zweite Tag war ein lichterer Herbsttag, den man fast als ‚golden‘, vielleicht ‚mattgold‘ bezeichnen könnte. Auch heute war der Saal wieder voll, etwa 100 Personen dort versammelt, einige Zuschauer mussten sogar stehen. Die renommierte italienische Germanistin Vivetta Vivarelli eröffnete den Tag mit einem Vortrag, in dem sie auf die jeweiligen Briefwechsel zwischen Nietzsche und seinen engen Freunden Erwin Rohde sowie Franz Overbeck einging, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts publiziert wurden und nach dem Urteil zahlreicher zeitgenössischer Rezipienten – Vivarelli nannte etwa Stefan Zweig, Walter Benjamin und Thomas Mann – einen ganz anderen Nietzsche zeigten als die veröffentlichen Schriften und die von Nietzsches Schwester herausgegebenen Nachlassfragmente; man glaubte dort, den ‚echten Nietzsche‘, den „Menschen“ hinter seinen Texten zu sehen. Neben die – unheilvolle, mystifizierende – Weimarer sei nicht zuletzt durch das Erscheinen dieser Briefwechsel eine davon abweichende Basler Tradition getreten, die eher die aufklärerischen und brüchigen Elemente von Nietzsches Denken betone. In der Diskussion erhielt Vivarelli für diese Gedanken viel Zuspruch – nicht zuletzt durch Eichberg, der davon sprach, dass sich das Naumburger Forschungszentrum auch in dieser letzteren Tradition sehe –,es wurde allerdings auch die Frage aufgeworfen, ob die Briefe wirklich einen ‚unmittelbaren‘, ‚reinen‘ Nietzsche zeigten oder nicht nur eine neue Schicht von Maskierungen.
In seinem folgenden Vortrag ging Christian Benne vor allem auf die Nietzsche-Rezeption Georg Brandes’ (1842–1927) ein, der vielfach als Entdecker Nietzsches gilt, da er schon 1888 Vorlesungen zu Nietzsches Philosophie an der Universität von Kopenhagen hielt, die dann auch wenig später als Buch erschienen. Detailreich wies Benne nach, aus welchem historischen Kontext heraus Brandes Nietzsche entdeckte und wie er ihn ins Spiel brachte, um in die damaligen skandinavischen kulturellen Konflikte zu intervenieren, die insbesondere um die Frage kreisten, ob die Frauenemanzipation nicht eine strikte Enthaltsamkeit vor der Ehe auch seitens der Männer erfordere – eine damals populäre Forderung, die Brandes ausgehend von Nietzsches Kritik der asketischen Moral damit konterte, dass im Gegenteil nun auch die Frauen vorehelichen Sex haben sollten. Brandes habe durch seine Begegnung mit Nietzsches mithin keineswegs seine früheren emanzipatorischen Ideale aufgegeben, wie oft behauptet werde, sondern Nietzsches „aristokratischen Radikalismus“ (Brandes) im Sinne einer radikalliberalen Kritik an einer populistischen Diktatur der Mehrheit verstanden und dabei stets eine gewisse Distanz zu Nietzsche gewahrt. Benne betonte, dass sich in jener Zeit nicht zuletzt junge jüdische Frauen in Skandinavien von Nietzsche angezogen gefühlt und ihn als einen Denker ihrer individuellen Emanzipation gelesen hätten.
Einen ganz anderen Aspekt von Nietzsches Rezeptionsgeschichte sprach im Anschluss Antje Wessels an, die, ihrerseits Altphilologin, anhand des Beispiels von Walter Friedrich Otto (1874–1958) über Nietzsches Wirkung auf die klassische Philologie sprach. Nietzsche, vor allem sein Frühwerk Die Geburt der Tragödie, sei für Otto eine der wichtigsten Inspirationsquellen und auch Autoritäten für die Entwicklung eines ganz neuen Zugangs zum Altertum gewesen, in dem es nicht mehr darum gegangen sei, die Texte durch ein möglichst genaues Quellenstudium wissenschaftlich zu erschließen, sondern sich in sie hineinzufühlen,um wirklich das Wesen der antiken Denkweise zu verstehen. Otto, ein enger Weggefährte Martin Heideggers, habe dabei dabei den antiken Mythos nicht als Meinung oder Vorstellung verstanden, sondern als unmittelbare Offenbarung des Seins der Dinge, das vom christlichen bzw. wissenschaftlichen Blick auf die Welt verstellt worden sei. In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob dieser glorifizierende, ahistorische Blick auf die Antike nicht zumindestmit dem späten Nietzsche – demjenigen der Genealogie der Moral – unvereinbar sei. Weder im Vortrag noch in der Diskussion wurde leider der – angesichts der Lebensdaten von Otto nur allzu naheliegenden – Frage nachgegangen, inwiefern Ottos Verklärung des antiken Mythos nicht Affinitäten zum Nationalsozialismus aufweise. In einem privaten Gespräch erklärte mir Wessels diesbezüglich,dass Otto ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zum NS wie Heidegger und andere Figuren der ‚Konservativen Revolution‘ aufgewiesen habe: Er habe den NS einerseits begrüßt und in dieser Zeit wichtige kulturelle Funktionen ausgeübt – insbesondere war er von 1935 bis 1945 Leiter des „Wissenschaftlichen Ausschusses“ des Weimarer Nietzsche-Archivs –, doch habe ihn andererseits aus seiner radikal antimodernen Haltung heraus als zu modernistisch kritisiert und sei darum mit dem Regime in Konflikte geraten.
Auch die folgenden kurzen Sektionsvorträge – von denen je vier parallel stattfanden, so dass ich sie naturgemäß nur sehr ausschnitthaft verfolgen konnte – wiesen auf interessante Aspekte von Nietzsches früher Rezeption hin. So zeigte etwa der Musikwissenschaftler Tilman Williams, wie sehr Alma Mahler-Werfel (1879–1964), Gattin und Geliebte zahlreicher bedeutsamer Kulturschaffender ihrer Zeit (neben Franz Werfel und Gustav Mahler etwa Walter Gropius, Gustav Klimt und Alexander von Zemlinsky – vergleichbar ist in dieser Hinsicht wohl nur Lou Andreas-Salomé), in ihrem Denken von Nietzsche geprägt und in ihrer emanzipierten, allerdings, wie Williams betonte, teilweise auch sehr egoistischen, Lebensweise bestärkt wurde. Der ukrainische Forscher Vitalii Mudrakov stellte den satirischen Text Er und sie seiner ‚Landsfrau‘ Olha Kobylianska (1863–1942) vor, der um 1900 entstand und zahlreiche Nietzsche-Zitate beinhaltet und unterstrich damit die internationale Ausstrahlungskraft, die der Philosoph schon früh ausübte.
Der Höhepunkt des Tages war dann zweifellos der Auftritt von Steven Aschheim, Autor des Standardwerks Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, in dem die deutschsprachige Nietzsche-Rezeption bis 1945 umfassend dargelegt wird. Aufgrund der aktuellen Geschehnisse in seiner Heimat Israel konnte Aschheim leider nicht persönlich anreisen, doch er wurde per Zoom zugeschaltet. Er hielt keinen eigentlichen Vortrag, sondern antwortete ausführlich auf Fragen aus dem Publikum (vgl. Abb. 2). Er betonte insbesondere, dass er als Kulturhistoriker notwendig anders auf Nietzsches Rezeptionsgeschichte blicke als ein Philosoph: Er müsse sein eigenes Bild von Nietzsche einklammern und einfach wertungsfrei darlegen, wie sich bestimmte Akteure bestimmte Aspekte von Nietzsches Schaffen angeeignet hätten. Allerdings gab erzu, dass es einen solchen ‚Aschheim’schen Nietzsche‘ durchausgebe und dass er in seinem Buch auch hin und wieder durchscheine. Er sprach viel über die jüdische Rezeption Nietzsches – sowohl dieeher religiöse als auch die zionistische –, aber auch seine nationalsozialistische und ließ durchblicken, dass er diese Interpretation für durchaus plausibel im Sinne einer, wenn auch selektiven, textbasierten Aneignung halte. Nietzsche habe sich etwa immer wieder für eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft im Sinne biologistischer Vorstellungen – die Ausrottung „dekadenter“ und „schwacher“ Elemente – ausgesprochen und sich trotz seinerKritik an allzu niveaulosen Formen des Antisemitismus auch wiederholtin einer Weise geäußert, die man als ‚tieferen‘, geistigen Antisemitismus verstehen könne, wie ihn dann später etwa auch Heidegger vertreten habe. Diese Sichtweise wirkte auf manche Zuhörer sichtlich provokant, wobei man es bei vereinzelten Blicken, Gestenund leisen Unmutsäußerungen beließ und in dieser Hinsicht keine kontroverse Diskussion begann. Aschheim überzeugte vor allem durch seine authentische, humorvolle Art und wirkte wie ein Gelehrter, der sich seinen Forschungsgegenstand wahrlich im Sinne Nietzsches „einverleibt“1 hat.
III. Vieldeutige Schatten
Leider konnte ich aus persönlichen Gründen nur diesen ersten beiden Tagen der Konferenz beiwohnen. Sie beinhaltete wie gewohnt zahlreiche äußerst spannende und niveauvolle Vorträge, die so gut wie das gesamte Spektrum des riesigen Themas von Nietzsches früher Rezeption abdeckten; sowohl die Haupt- als auch eher abseitige Nebenlinien. Eine etwas überproportionale Berücksichtigung fand dabei vielleicht die skandinavische Rezeption – was, wie er selbst in seinem Eingangsstatement zugab, der schwedischen Herkunft Hans Ruins geschuldet sein dürfte – sowie die Nietzsche-Rezeption Andreas-Salomés, der ganze fünf Vorträge gewidmet waren. Es wurde jedenfalls gezeigt, dass die Erforschung von Nietzsches Wirkungsgeschichte keine bloße akademische Fingerübung, sondern ein durchaus lebendiger Forschungsgegenstand ist, den es weiter zuverfolgen gilt. Wie Eichberg in seiner Begrüßung betonte, steckt das Dokumentationszentrum in Naumburg in dieser Hinsicht noch voller „ungehobener Schätze“.
Es wurde vor allem deutlich, welch unterschiedliche Anschlüsse Nietzsches so heterogenes Œuvre zulässt: Er kann gleichermaßen als kollektivistischer Biologist wie radikaler Individualist, als Aufklärer wie als Irrationalist, als Antisemit wie als Antiantisemit gelesen werden und man wird immer einzelne Texte finden, die diese Interpretationen stützen. – Wie mit dieser Vielfalt interpretatorisch umgehen? Das beschriebene Eingangsproblem der Entgegensetzung von ‚echtem Nietzsche‘ und ‚Mythen‘ suchtedie Tagung immer wieder heim. Mal dominierte die sich des Urteils enthaltende Darlegung einzelner Interpretationen, mal die Kritik an ihnen im Sinne eines ‚echten Nietzsche‘ – und zugleich wurde deutlich, dass es auch den um völlige Einklammerung bemühten Interpreten sehr schwer fällt, ihre je eigenen Nietzsche-Deutungen vollkommen aus dem Spiel zu lassen; dies wohl nicht zuletzt, weil es bei diesen Deutungen ja um bis heute umkämpfte Themen geht. Nietzsche ist vielleicht der erste Interpret seiner eigenen Schriften, der zwischen beiden Polen schwankt: Als Perspektivist leugnet er die Möglichkeit einer objektiven Interpretation und betont die notwendige Vielheit der Standpunkte, als Selbstinterpret bemüht er sich in seinen letzten Schriften sichtlich darum, mögliche ‚Missverständnisse‘ auszuräumen – produziert dabei freilich nur neue Vieldeutigkeiten.
Alles steht und fällt wohl mit der Frage, ob man die faschistische Nietzsche-Deutung als „Mythos“ abtun oder sie als plausible Interpretation anerkennen möchte – was dann natürlich Nietzsches Schriften selbst ins Fahrwasser des ‚Braunen‘ zieht. Dass diese Deutung wiederum nicht die einzige legitime sein kann, wurde bei der Tagung ebenfalls deutlich. Immer wieder wurde gezeigt, dass Nietzsche insbesondere für Außenseiterfiguren attraktiv war, die seinen Schriften eine radikale Infragestellung der herrschenden gesellschaftlichen Normen entnahmen und den Aufruf zu einem Umsturz, sei es im Sinne einer individuellen oder einer kollektiven Veränderung. Hierin liegt bis heute ihr Potential. Was die faschistische Deutung angeht, müssen sich angesichts ihrer unbestreitbaren Virulenz während der ersten Dekaden der Nietzsche-Rezeption auch philosophische Deuter fragen lassen, wie sie mit ihr umgehen können, ohne sie einfach zu verdrängen oder als simplen Irrweg abzutun. Dies versperrt den Weg einer einfachen Identifikation mit Nietzsche, doch dürfte gerade darum genau in seinem Sinne sein.
Die „Kämpfe um Nietzsche“ waren jedenfalls nicht bloß metaphorische„Geisterkriege“, sondern an den großen Fronten der Kriege des frühen 20. Jahrhunderts standen sich nicht zuletzt Nietzscheaner gegenüber – sei es in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs,in den revolutionären Kämpfen der Zwischenkriegszeit oder dann während des Zweiten. Wie Aschheim betonte, wurde Nietzsches Lob des „Kriegers“ oft sehr wörtlich verstanden. Dies verleiht dem Thema der Konferenz seinen Zündstoff. Zieht man den im Laufe der Tagung ja oft erwähnten gewaltigen Einfluss Nietzsches auf jüdische, nicht zuletzt zionistische, Intellektuelle in Betracht sowie auf die Ideologie des heutigen Russlands – verkörpert etwa in Alexandr Dugin, einem der führenden Propagandisten dieses ‚Neuen Russland‘ –, dann kommt man kaum umhin, diese Brisanz auch in unserer Gegenwart zu erblicken. Aschheim zitierte in seinem Vortrag einen frühen Zionisten mit der Aussage, die Juden könnten von Nietzsche lernen, nicht, wenn sie geschlagen werden, fromm die andere Wange hinzuhalten, sondern zurückzuschlagen. Der ungehemmte Kampf um Selbstermächtigung, den Nietzsche – scheinbar – verkündet, lässt aber, wie ein anderes Sprichwort lehrt, die Welt oft genug blind zurück. Was ließe sich, mit und gegen Nietzsche, dem Krieg in seiner unmetaphorischen Brutalität intellektuell entgegensetzen? Das wäre wohl die große Frage der Zeit, auf die der Konferenz sicherlich keine Antworten, aber doch Anregungen zu entnehmen waren.
Fußnoten
1 Vgl. etwa Die fröhliche Wissenschaft, 110.