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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches

Eine philosophische Serenade über das Grau

Ein Sommerabend mit Sloterdijk im Gütchenpark zu Halle

Eine philosophische Serenade über das Grau

Ein Sommerabend mit Sloterdijk im Gütchenpark zu Halle

28.10.24
Michael Meyer-Albert

Einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart, Peter Sloterdijk (Jahrgang 1947), war Anfang Juli zu Gast in Halle. Der stark von Nietzsche beeinflusste Denker gab dort einen Abend lang seine Gedanken zum „Grau“ zum Besten und zeigte eindrucksvoll, auf welche Höhen sich die Philosophie aufschwingen kann.

Einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart, Peter Sloterdijk (Jahrgang 1947), war Anfang Juli zu Gast in Halle. Der stark von Nietzsche beeinflusste Denker gab dort einen Abend lang seine Gedanken zum „Grau“ zum Besten und zeigte eindrucksvoll, auf welche Höhen sich die Philosophie aufschwingen kann.

I. Sommerabendphilosophie

Müßiggang ist aller Philosophie Anfang. Keine Anstrengung der Argumente und kein analytisches Kopfzerbrechen zeichnet relevantes Denken aus. Zu Beginn von einem der klassischen Texte der Philosophie wird daher für die Rast im Schatten unter einer Platane geworben, um sich den großen Themen angemessen widmen zu können:

PHAIDROS: Nun, siehst du dort jene höchste Platane?
SOKRATES: Wie sollte ich nicht?
PHAIDROS: Dort ist sowohl Schatten als auch ein mäßiger Luftzug, auch Rasen, um uns niederzusetzen oder, wenn wir lieber wollen, uns niederzulegen!
SOKRATES: So magst du nur zugehen!1

Dieses Motiv der Philosophie als Kunst der Pause hat sich auch in der Moderne erhalten. So votiert Nietzsche in scherzhaften Versen für eine Outdoor-Philosophie, die von gegenseitiger Sympathie getragen ist:

Schön ist’s, mit einander schweigen,
Schöner, mit einander lachen, —
Unter seidenem Himmels-Tuche
Hingelehnt zu Moos und Buche
Lieblich laut mit Freunden lachen
Und sich weisse Zähne zeigen.2

Das Philosophieren im schützenden Grau des Schattens als der Ort, an dem die Zeit in Gedanken gefasst werden kann, widerspricht der von Hegel in Umlauf gebrachten Haltung der Philosophie als einer Arbeit des Begriffs. Dennoch ließe sich auch eine Textstelle bei dem Meisterdenker des 19. Jahrhunderts finden, die einen Einspruch gegen das brütende Reflektieren andeutet. So endet die berühmte Vorrede zu seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1821 mit den Worten: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“3

Es sind diese Gedanken, mit denen im Juli 2024 eine philosophische Serenade im Gütchenpark zu Halle zwischen Peter Sloterdijk und Stefano Vastano – organisiert vom Literaturhaus Halle – ihren Anfang nahm. Sie spielen auf ein Thema an, dass Sloterdijk, der in seinem Schaffen immer wieder darauf hinwies, dass er maßgeblich von Nietzsches Denken beeinflusst ist, in seinem vor zwei Jahren erschienenen Buch Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre ausführlich entfaltete. Während am bedenklich grauen Sommerabendhimmel die Schwalben ihre jahreszeitlichen Kapriolen vollführten und von Zeit zu Zeit ein dumpfes Geraune aus der Stadt hörbar wurde, das von der gleichzeitig stattfindenden Europameisterschaft im Fußball herrührte, lauschten die rund 80 überwiegend rentierhaft ergrauten Teilnehmer dem etwa 90-minütigen Gespräch. Interessant zu beobachten war das Zusammenspiel von Vastano und Sloterdijk. Ersterer unterbreitete in stark italienischem Akzent dem am 26. Juni 77 Jahre alt gewordenen, hünenhaft gebeugten Philosophen Sätze wie Melodievorschläge, woraufhin Sloterdijk wie ein selbstspielendes Klavier in freier Fortführung improvisierte und in himmlischen Längen weite Kontexte vergegenwärtigte, während der Tag zur Neige ging.

II. Graue Theorie

Sloterdijk erläuterte, dass das Grau eigentlich die basale Farbe der westlichen Philosophie sei. Gleich zu Beginn der Philosophie bei Platon nämlich komme es im Höhlengleichnis zu der einflussreichen Unterscheidung von wirklichem Wesen und vordergründigem Erscheinen, was durch eine Art cineastische Betrugstheorie geschildert wird. Im siebten Buch der Politeia lässt Platon Sokrates philosophisch die Wirklichkeit als eine Art unfreiwillige Kinoveranstaltung konstruieren. Demnach sei die Masse der Menschen innerhalb einer dunklen Höhle gefesselt, in der sie befangen sind von einem Schattenspiel, das durch ein Kerzenlicht hinter ihnen, vor dem unerkennbare Träger Dinge entlangführen, auf die Höhlenwand vor ihnen projiziert wird. Das, was die meisten für die eigentliche Realität halten und das, was sie demnach in Atem versetzt, sind so gesehen nur Illusionen. Für Platon besteht die Wahrheit darin, aus der Höhle zu klettern und das Licht der Wirklichkeit zu schauen. Der Unterschied von Platon und Sloterdijk liegt nun darin, dass Sloterdijk bei seinem Referat auf die Unterscheidungen aufmerksam macht, die durch die grauen Schatten auf der grauen Höhlenwand entstehen. Es gäbe Differenzen im Grau in Grau. So entsteht die Welt der Erscheinungen aus den Graunuancen zwischen Schatten und Wand. Für diese Wahrheit ist kein Ausbrechen nötig.

Insofern, so ließe sich spekulieren, folgt Sloterdijk hier Nietzsches Projekt, den Platonismus umzudrehen. Anstatt für einen Exodus aus der Höhle ans Licht zu werben und sich für den Schwarz-Weiß-Unterschied stark zu machen, thematisiert postplatonische Philosophie die Dämmerung. Darin steckt die Umkehrung des mächtigsten abendländischen Vorurteils. Es ist nicht alles nicht Gold, was nicht glänzt. Würde nicht ein ganz anderes Licht auf die Wirklichkeit fallen, wenn das Wesen der Ontologie darin läge, dass die Essenz des Seins seine Erscheinung wäre? Weniger die Reflexion und die Idee als die Aufmerksamkeit für die Objekte und die Atmosphären, in denen sie sich zeigten, würde so zentral werden. Das Licht der Aufklärung, die die Idee über ihr Ideenmachen aufgab und die Höhlen nicht mehr als Scheinwelten diffamiert, leistet keine klare und deutliche Definition der glasklaren Tatsachen mehr. Was sie allenfalls leisten kann, ist eine bessere Beschreibung des Graus, der Uneindeutigkeit, des Ambivalenten, der komplexen Mischungen des Möglichen. Kein „Lichtzwang“ (Celan) verlangt eine schattenlose Ausleuchtung von allem und jedem als massiv vorhandenes Objekt. Das Explizieren wird vorsichtiger. So steht die postplatonische Theorie als ein gutes Erwachen der Aufklärung zu sich selbst in dem Zwielicht einer Utopie: Zwischen dem Hellen und dem Dunklen öffnet sich die Vielfalt des Grauen als die wahre Buntheit des Lebens. Im Grau lassen sich noch Welten genug entdecken. Damit werden Platons und Hegels Gedanke als konzeptionelle Höhlen denkbar, aus denen das Denken sich zu befreien hat: Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann lässt sich mitunter das Leben wieder in einer neuen Gestalt erkennen und verstehen, die es verjüngen kann.

III. Spannende Langweile

Wenn die vollends aufgeklärte Welt nicht mehr, wie es die kritische, allzuselbstunkritische Theorie zu Beginn der Dialektik der Aufklärung gegen die Vernunftkultur der Moderne gewendet dozierte, im Zeichen triumphalen Unheils erstrahlen muss, öffnet sich die Chance, den Strukturwandel der modernen Lebensgefühle genauer zu analysieren. Folgerichtig zeigte Sloterdijk dann an Heideggers Meditationen zur Langweile aus seiner Wintersemestervorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik – vielleicht die beste Vorlesung des, wie Emmanuel Levinas einmal sagte, „leider größten Denkers des 20. Jahrhunderts“ – aus dem Jahren 1929/30 die Grundstimmung des Graus genau auf. Nur der Mensch kann ein Tier sein, das sich langweilt, weil er offen ist zu einer Welt, die einen angehen kann. Der Stein ist „weltlos“, das Tier ist „weltarm“. Erst durch die Wahrnehmung und Teilnahme am Weltreichtum entsteht das Wesen, das, erstaunlich aktivistisch konnotiert für Heidegger, „weltbildend“ sein kann. Fällt diese Weltbildung aus, so fällt das Selbst aus, das dafür offen steht und so fällt man sich selbst auf als ein penetrantes Fehlen. Langweile ist die ernüchternde Selbsterkenntnis als Emotion: Ich bin Nebel, also bin ich. Aber auch hier versucht Sloterdijk, wiederum Nietzsches Projekt folgend, eine Umwertung der Schwere. Wo Heidegger suggeriert, dass „eine tiefe Langweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender  Nebeln hin und herzieht“4 und den klaren Willen des Erzkonservativen erkennen lässt, aus diesem Phänomen einen neuen Notstand herbeizuphilosophieren, bemüht sich Sloterdijk in dem Fehlen der intrinsischen Initiative eine vorfunkelnde Freiheit zu erkennen. Wen nichts angeht, wer sich selbst in der Langeweile verliert, der ist radikal dispositionierbar für alles Mögliche. In der grauen Muße wächst die Fähigkeit „unalarmiert aufmerksam“ (Sloterdijk) die Welt an sich herankommen zu lassen. Und es wächst darin die Fähigkeit, die Appelle des Dringlichen an sich abperlen zu lassen. Sloterdijk wies hierbei auf Melvilles Figur Bartleby hin, der seine Umwelt damit zur Weißglut brachte, dass er sich mit einem notorischen „I would prefer not to“ – Sloterdijk übersetzte ad hoc mit „Lieber nicht“ – den Zumutungen entzog, mit dem man ihm konfrontierte. (Der Verfasser kann allerdings die Anwendung dieses Spruches nur bedingt empfehlen, angesichts der unmittelbaren und für den Verlauf des Abends nachhaltig negativen Wirkung, die sie machte, als seine Begleiterin bei der Veranstaltung den Wunsch äußerte, ob er so freundlich wäre, ihr noch ein Glas Wein zu holen.)

IV. Politik des Grau

Über eine Anspielung auf die Figur der „grauen Eminenz“ machte Sloterdijk zuletzt auf die politischen Implikationen aufmerksam, die seine Gedanken berühren. Dazu schreibt er in seinem Buch: „[D]ie zur Durchmischung einladende Liberalität der Moderne kann die erwünschte Regenbogengesellschaft nicht erzwingen. Zugleich ist es für Entmischung und reinfarbige Identitäten zu spät.“5  Daraus folgert Sloterdijk, dass das Grau die politisch rationalste Farbe der Zeit sei. Das Grau ist das Schicksal. Die toxischen Dualismen von wahr und falsch, gut und böse lösen sich in ihrer Unbedingtheit auf. Aus dem epochalen, utopischen Aufbruch in bessere Welten durch die rotbraunen oder die braunroten Mobilisierungen taucht der Horizont auf, der ein besseres Wohnen in dem nunmehr interessanteren Grau des Alltags in Aussicht stellt. Grau ist die Vermittlung der Extreme, das Zwielicht des Konsenses, die wunderbar unaufdringliche Langweile der Mitte, deren Lebensdramatiken nicht mehr den Kampf auf Leben und Tod brauchen, um etwas zu fühlen. Damit unterstützt Sloterdijk durch seine chromatischen Spekulationen die These von Francis Fukuyama, dass die Geschichte des Geschichtemachens an ein Ende gekommen sei. Nach der Geschichte, das heißt nach dem archaischen Heroismus, der immer den starken Kontrast eines Schwarz-Weiß-Denkens brauchte, um seine Intensitäten zu legitimieren. Viel Feind, viel Ehr’, viel unnötiges Blutvergießen.

Dennoch bleibt die Dimension des Thymos – das „Muthafte“ –, so Sloterdijk, weiterhin bedeutungsvoll als der Seelenteil, der laut Platon für die Regungen der Kränkung, Anerkennung und des Stolzes zentral ist. In der grauen Geschichte seien es nicht mehr die Heldenepen der Krieger und die Missionsprojekte der Priester, die die Epoche färbten. Ein postheroischer Heroismus gehe in der Moderne von den Unternehmern, Künstlern und Sportlern aus. Sie sind es, die nach dem Tod Gottes die heiligen Spiele erfinden, die einerseits einen neuen Trost geben können, die andererseits aber auch die thymotischen Energien neu ritualisieren. Weniger die unsichtbare Hand des Marktes, als die unsichtbaren Hände einer neuthymotischen Sittlichkeit regeln wie erweiterte checks and balances das Gemeinwesen. Die Prestigekämpfe um das profitablere Geschäft, das erfolgreichere Werk, die neue Rekordmarke domestizieren den Überschuss des strebenden Seelenteils, der das, was ist, übersteigen will, ohne das, was ist oder ihn daran hindert, vernichten zu müssen. Aus Feinden müssen keine Freunde werde. Es reicht, wenn sie sich als Gegner, Mitbewerber, Kontrahenten gegenübertreten. Das immer wieder anschwellende diffuse Gejubel aus der Stadt, das während des Gesprächs anbrandete und dem zeitgleich stattfindenden Spiel der deutschen Nationalmannschaft galt, wies eindrücklich auf den etablierten Strukturwandel des Heroischen in der modernen Welt hin.

Gelingt eine zivile Integration des Thymotischen nicht, etwa indem das Thymotische zu unterkomplex gleichgesetzt wird mit dem Kriegerischen und als toxische Männlichkeit weggecancelt werden soll, so gewinnt das Phänomen des Zynismus ein neues Charisma. Sloterdijk zitiert hier ein Bonmot von Rochefoucauld, wonach die Heuchelei eine Verbeugung des Lasters vor der Tugend sei. Zynismus mache sich diese Mühe nicht mehr. Er imponiere, indem er seine amoralische Enthemmung offen zur Schau stelle. Die paradigmatische Szene dafür liefere Napoleon, der sich 1804 selbst zum Kaiser krönte. Dieser Rückfall in die Monarchie geschah in Frankreich, der Zweitheimat von Sloterdijk, seit 1789 immerhin vier Mal. Die bedenklichen Entwicklungen in den USA weisen aktuell auf die virulente Dimension des wilden Thymos als Trumpismus hin, der sich in seinem Zynismus selbst feiert und die rechtlichen Graubereiche unverschämt zu seinen Gunsten ausnutzt.

Den Abend beendete Sloterdijk in einer Mischung von Heiterkeit und Sorge mit den Worten, man hoffe doch, man habe sein Pensum erfüllt. Die Schwalben schwiegen, der Tag ergraute und der letzte Meisterdenker fuhr, nachdem rasch noch ein paar Bücher signiert waren, mit dem Wagen zum Zug nach Berlin.

Quellen

Adorno, Theodor W. & Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 2022.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Grundlinien einer Philosophie des Rechts. Frankfurt a. M. 2002.

Heidegger, Martin: Grundbegriffe der Metaphysik. Frankfurt a. M. 2001.

Platon: Phaidros. Hamburg 2005.

Sloterdijk, Peter: Wer noch kein Grau gedacht. Eine Farbenlehre. Frankfurt a. M. 2022.

Vorlage für das Artikelbild

https://www.wikiwand.com/de/Peter_Sloterdijk#Media/Datei:Peter_Sloterdijk,_Karlsruhe_07-2009,_IMGP3019.jpg

Fußnoten

1: Platon, Phaidros, 229 3a.

2: Menschliches, Allzumenschliches I, Nachspiel 1.

3: Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 28.

4: Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, S. 119.

5: Sloterdijk, Wer noch kein Grau gedacht, S. 18.

Seht, ich lehre euch den Transhumanisten

Friedrich Nietzsche als Personal Trainer des Extropianismus

Seht, ich lehre euch den Transhumanisten

Friedrich Nietzsche als Personal Trainer des Extropianismus

23.10.24
Jörg Scheller

Nachdem Natalie Schulte in der vergangenen Woche über den Widerhall von Nietzsches „Übermenschen“-Idee in der Gründerszene berichtete (Link), widmet sich der Schweizer Kunstwissenschaftler Jörg Scheller in dieser Woche ihrem Fortleben im Extropianismus, einer Unterform des Transhumanismus, der es darum geht, die menschliche Evolution auf individueller wie auch auf Gattungsebene künstlich zu beschleunigen mit den Mitteln der modernen Technik. Dem physikalischen Gesetz der „Entropie“, wonach in geschlossenen Systemen die Tendenz besteht, alle Energiegefälle auszugleichen, bis sich ein Gleichgewichtszustand hergestellt hat – auf das Universum bezogen ein Zustand des völligen Erkaltens –, setzen die Verfechter dieser Strömung das Prinzip der „Extropie“, der zunehmenden Vitalität eines Systems, entgegen.

Nachdem Natalie Schulte in der vergangenen Woche über den Widerhall von Nietzsches „Übermenschen“-Idee in der Gründerszene berichtete (Link), widmet sich der Schweizer Kunstwissenschaftler Jörg Scheller in dieser Woche ihrem Fortleben im Extropianismus, einer Unterform des Transhumanismus, der es darum geht, die menschliche Evolution auf individueller wie auch auf Gattungsebene künstlich zu beschleunigen mit den Mitteln der modernen Technik. Dem physikalischen Gesetz der „Entropie“, wonach in geschlossenen Systemen die Tendenz besteht, alle Energiegefälle auszugleichen, bis sich ein Gleichgewichtszustand hergestellt hat – auf das Universum bezogen ein Zustand des völligen Erkaltens –, setzen die Verfechter dieser Strömung das Prinzip der „Extropie“, der zunehmenden Vitalität eines Systems, entgegen.

In den Schriften des Transhumanismus zählt Friedrich Nietzsche zu den meisterwähnten Philosophen.1 Diese Feststellung mag zunächst banal erscheinen. In welchem Bereich, so ließe sich etwas polemisch fragen, zählt Nietzsche denn nicht zu den meisterwähnten Philosophen? Ob in Texten zu Black Metal2 oder Bodybuilding, ob in den Songlyrics der Dandy Warhols, im Oi-Punk der Skinflicks oder in den die internationalen Bücherregale überwuchernden Bartratgebern – auf Nietzsche wird überall Bezug genommen, bietet sich sein vielstimmiges, eklektisches Werk doch als Kalendersprucharchiv für alle und keinen an.

Gerade für jene Menschen, die es mit Kontextsensibilität und Genealogien des Denkens nicht so genau nehmen, ist der aphoristische Stil Nietzsches, der den fiebrigen Salvensprech auf Twitter/X & Co. vorweg nahm und lange vor Pop schon Pop war, verführerisch. Dampfplauderer lechzen nach Hammerphilosophen. Mal kurz ein PDF der gesammelten Werke nach Schlagwörtern abgesucht, schon hat man einen knalligen Spruch, mit dem sich alles Mögliche philosophisch pimpen lässt. Da hat man’s mit Immanuel Kant oder Friedrich Wilhelm Joseph Schelling schwerer. Ob Manager oder Hausbesetzer – wenn es schnell gehen muss und ein bisschen nach Dynamit riechen soll, greift das Zitariat lieber zu Nietzsche.

Wenig verwunderlich also, dass es sich mit Transhumanisten nicht anders verhält. Und doch ist die ewige Wiederkehr Nietzsches im Transhumanismus alles andere als beliebig. Dass gerade jene, die den Menschen überwinden und seine profane Auffahrt in den Himmel des „Posthumanen“ beschleunigen wollen, eine besondere Affinität zum Begriff und Konzept des „Übermenschen“ haben, ist naheliegend. Ob ihr Verständnis des Übermenschen aber auch dem Verständnis Nietzsches entspricht, soll im vorliegenden Text mit Blick auf eine Unterform des Transhumanismus, den Extropianismus, untersucht werden.

I. Wider den entropischen „Religionismus“

In Max Mores Transhumanism. A Futurist Philosophy (1990), einem der prägenden Texte des Transhumanismus, spielt Nietzsche eine wichtige Rolle als Stichwortgeber. Der Autor, seines Zeichens Philosoph und CEO der Alcor Life Extension Foundation von 2010 bis 2020, versteht sich als „Extropianist“ und vertritt damit eine Strömung des Transhumanismus, die unmittelbar auf die (Lebens-)Praxis und die beschleunigte – grenzenlose, immerwährende – psychophysische Transformation des Menschen vermittels neuester Technologien abzielt (Kryonik, Biotechnologie, Künstliche Intelligenz, Nanotechnologie, etc.).

Extropianisten ist es darum zu tun, den Menschen, als Gattung wie auch als Individuum, schnell und effektiv über seinen aus ihrer Sicht deplorablen Ist-Zustand hinauszuführen. More kontrastiert den Typus des Extropianisten mit demjenigen des „Religionisten“, dessen Glauben hemmend wirke. Hier kommt Nietzsche ins Spiel: „Der Religionist hat keine Antwort auf die extropische Herausforderung, die uns Nietzsches Zarathustra stellt: ‚Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?‘“3. Und weiter heißt es bei More: „Ich stimme mit Nietzsche (in Der Wille zur Macht) überein, dass der Nihilismus nur ein Übergangsstadium ist, das aus dem Zusammenbruch einer falschen Interpretation der Welt resultiert. Wir verfügen heute über genügend Mittel, um den Nihilismus hinter uns zu lassen und eine positive (aber sich ständig weiterentwickelnde) Wertperspektive zu bejahen“.

Für Extropianisten gilt es, alle ethisch valablen (hier: die Menschenwürde des Individuums respektierenden) Ressourcen zur Optimierung zu nutzen, da ihnen die Akzeptanz des menschlichen Status Quo als Ausdruck von Defätismus erscheint. In der einen oder anderen Form zieht sich diese Prämisse durch die vielfältigen anderen, zwischen Liberalismus, Libertarismus, Sozialdemokratie, Sozialdarwinismus und weiteren Ismen oszillierenden Strömungen transhumanistischer Philosophie und Lebenspraxis, auch durch differenziertere und skeptischere Ansätze als den radikaloptimistischen von Max More, etwa den von Stefan Sorgner. Der deutsche Philosoph hält „die beständige Selbstüberwindung für zentral zur Förderung meiner eigenen Lebensqualität. Auch den Bereich der wissenschaftlichen und biotechnologischen Forschung erachte ich für enorm wichtig und plädiere dafür, ihn verstärkt zu fördern“4. Auch aus Sorgners Sicht ist Nietzsche elementar für den Transhumanismus: „Bei einer Auseinandersetzung mit dem Transhumanismus fällt sofort die Ähnlichkeit transhumanistischer Grundsätze mit denen von Nietzsches Philosophie auf“ (ebd., S. 111). In Sorgners Buch Transhumanismus. „Die gefährlichste Idee der Welt!?“ ist Nietzsche als einzigem Philosophen ein eigenes Kapitel gewidmet. An anderer Stelle plädiert er direkt „für einen Nietzscheanischen Transhumanismus“5.

Während Sorgner in Anlehnung an seinen Doktorvater Gianni Vattimo jedoch einen dezidiert „schwachen Transhumanismus“ verficht, positioniert sich More – auf nachgerade klischeehaft kalifornische Weise – als starker Transhumanist, der sich der radikalen Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten unter den Vorzeichen eines undialektischen, dogmatisch gesetzten „Positiven“ verschrieben hat. Extropianismus wird geboren als Tod der Tragödie, in deren Schatten Nietzsches Wille zur Bejahung doch unabweislich steht.

II. Transzendenz und neuer Glaube

Mores Beispiel macht auf überspitzte Weise deutlich, wie sehr der Transhumanismus in der anglo-amerikanischen Philosophie und Theorie verwurzelt ist; wie stark er mit Utilitarismus, Humanismus, Liberalismus, Individualismus und Aufklärung verbunden ist; wie sehr er auf dem typisch westlich-modernen, prometheischen Nexus von Wissenschaft, (Zweck-)Rationalität, Selbstvervollkommnung basiert – „vom Schicksal zum Machsal“, um ein Bonmot von Odo Marquard zu gebrauchen. Unsterblichkeit gilt als realistisches Ziel, Altern als heilbare Krankheit. Bezeichnend ist, dass die erste Konzeption des Transhumanismus auf den zukunftsfrohen atheistischen Eugeniker und ersten UNESCO-Generaldirektor Julian Huxley zurückgeht, der in seinem Artikel Transhumanism (1957) postulierte:

Die menschliche Spezies kann, wenn sie will, sich selbst transzendieren – nicht nur sporadisch, ein Individuum hier auf die eine, ein Individuum dort auf die andere Weise, sondern in ihrer Gesamtheit, als Menschheit. Wir brauchen einen Namen für diesen neuen Glauben. Vielleicht ist Transhumanismus der richtige Begriff: Der Mensch bleibt Mensch, aber er transzendiert sich selbst, indem er neue Möglichkeiten seiner menschlichen Natur und für seine menschliche Natur verwirklicht[.]6

Eine eigenständige Bewegung in Theorie und Praxis wurde Transhumanismus jedoch erst in den 1980er Jahren mit Vertretern wie FM 2030, Max More oder seiner Ehefrau Natasha Vita-More (die selbst gewählten Nachnamen sind buchstäblich zu verstehendes transhumanistisches Programm). Genau dann beginnen sich auch die Nietzsche-Bezugnahmen zu häufen, insbesondere auf den Übermenschen, der in den Rang des „Posthumanen“ befördert wird. Julian Huxleys schöne neue Welt (ja, es handelt sich um den Bruder des ungleich zukunftsskeptischeren und technologiekritischeren Autors Aldous Huxley…) kam noch ohne Nietzsches Beistand aus.

In ihrer Euphorie wandeln die Extropianisten nicht nur in die Offenheit der Zukunft, wo sie die frontier menschlicher Existenz immer weiter pushen, sondern auch in den alten Fußspuren des von sich selbst berauschten Bürgertums der Moderne, wie es Peter Sloterdijk in Erinnerung an die schöne Politik (2000) porträtiert: „Man ahnt, verwundert, vielleicht sogar neidisch, wie sehr die bürgerlichen Menschen jener Zeit noch geborgen waren in ihrem Vermögen, vor dem Realen ins Hymnische auszuweichen. Wie kurz waren damals die Wege vom Klavierduo zur Menschheit, wie schnell stieg man vom Punsch zur Gattung auf“7. Im Unterschied zum moderneskeptischen europäischen, insbesondere deutschen Bildungsbürgertum bejahen und nutzen Transhumanisten jedoch moderne Technologie und (Natur-)Wissenschaft auf enthusiastische Weise.

III. Der selektive Übermensch

Nietzsches Übermensch aus dem Zarathustra ist eine naheliegende Referenz, wenn es um Selbstüberschreitung und Ablösung von überkommener, mutmaßlich einengender Moral geht. Doch Extropianisten wie More und weitere Transhumanisten pflegen einen selektiven und tendenziösen Umgang mit Nietzsches wohl bekanntester Figur. Zwar ist unbestreitbar, dass man auf der inhaltlichen Ebene viele Parallelen zwischen Nietzsches Werk und Transhumanismus finden kann – die Kritik am Christentum (Stichwort „Sklavenmoral“), die Orientierung an (natur)wissenschaftlicher Forschung und Technik statt an religiöser Moral, die grundsätzliche Bejahung der Weiterentwicklung und der Selbstüberschreitung. Doch bei Nietzsche ist der Inhalt nicht ohne die Form und den Stil zu denken, ja Form und Stil sind, stärker als bei den meisten anderen Philosophen, selbst der Inhalt.

Während Transhumanisten ihre Texte meist in einem rationalen, durchaus voraussetzungsreichen, aber doch verständlichen, auch akademische Konventionen berücksichtigenden Duktus verfassen und technische Machbarkeit anstreben (Nick Bostrom hat ein nutzerfreundliches „Transhumanistisches FAQ“ verfasst8), grätschen beim Künstlerdenker Nietzsche der fiebrige Tonfall, die expressiven Formulierungen, die das eigene sprunghaft-essayistische Denken mimetisch nachvollziehende Dramaturgie der Sätze unablässig in die sich formierende ideologische Ordnung. So entsteht auf der Ebene von Nietzsches Stil selbst dort nicht der Eindruck, es handle sich um nüchterne Wissenschaft, wo nüchterne Wissenschaft gelobt wird. Und wenn sich banales Machbarkeitsdenken als Konsequenz des Ganges auf den letzten Gipfel zeichnet, leuchtet der Stil wie eine Warnlampe auf. Wer Nietzsche abzüglich des Stiles liest, liest nicht Nietzsche.

Ein weiteres Problem betrifft die Semantik. Was bei Nietzsche immer sowohl Problem als auch Potenzial ist, die schier unendlichen Entwicklungsmöglichkeiten nach dem Tod Gottes, gibt für Extropianisten wie Max More auf ziemlich undialektische Weise Anlass zur Hoffnung. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen optimistischer Affirmation und tragischer Bejahung. Für More gilt es, jenseits die Entwicklungsspielräume einengender Metaphysiken den Menschen vermittels Wissenschaft und diverser Techniken, von in Maschinen sich manifestierenden artes mechanicae bis hin zu handlungsorientierten Kultur- und Anthropotechniken, so lange zu optimieren, bis der alte Mensch überwunden ist und eine neue Ära der Evolution anbricht. Was der neue „posthumane“ Mensch (?) sein wird, wissen die Extropianisten zwar nicht so genau zu sagen, aber seltsamerweise nehmen sie an, dass er – oder es, oder sie – irgendwie besser sein wird. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der normativen Dimension des „Positiven“ dieser Optimierung unterlässt More wohlweislich – und weicht darin von seinem philosophischen personal trainer Nietzsche ab, dessen Werk doch auch als unablässiges Hadern, Hinterfragen, ja, als ein mitunter in paradoxe Bejahung umschlagendes Verzweifeln an den Möglichkeiten der Moderne verstanden werden kann.

IV. Extropianisten als letzte Menschen

Während sich Nietzsche dem Abgrund aussetzt und seine Kälte einatmet, schüttet More ihn mit neuen, wärmenden Gewissheiten zu. Dass „Wissen, Freiheit, Intelligenz, langes Leben und Weisheit“ inhärent gut sind, liegt seinem Konzept des Transhumanismus als dogmatische Setzung zugrunde. Warum aber etwa das von Extropianisten ersehnte lange Leben per se gut sein sollte, bleibt unklar. Zwar wird die verlängerte Lebensdauer stets an die Auflage gekoppelt, länger gesund zu bleiben. Doch artikuliert sich darin nicht eher die spießige Sehnsucht des „letzten Menschen“: möglichst alt werden, möglichst gesund bleiben, möglichst zufrieden sein? Dass menschliche Kulturleistungen auch aus Schwäche und Schmerz, aus Krankheit und Verlust, aus Scheitern und Verhängnis erwachsen, spielt für More eine untergeordnete Rolle. Diese Einsicht ist bei Nietzsche indes noch präsent, etwa im Ecce Homo: „Ich bin ein froher Botschafter, wie es keinen gab, ich kenne Aufgaben von einer Höhe, daß der Begriff dafür bisher gefehlt hat; erst von mir an gibt es wieder Hoffnungen. Mit alledem bin ich notwendig auch der Mensch des Verhängnisses“9.

Während More die Werte von Humanismus, Aufklärung und Moderne als konstruktive affirmiert, präsentiert sich die Stimme aus Ecce Homo auch als „Vernichter“, nämlich von Werten, und als „Immoralisten“, nicht zuletzt auch als „Hanswurst“: „Ich habe eine erschreckliche Angst davor, daß man mich eines Tags heilig spricht: man wird erraten, weshalb ich dies Buch vorher herausgebe, es soll verhüten, daß man Unfug mit mir treibt... Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst…“ (ebd.). Der Übermensch ist bei Nietzsche keine Lichtgestalt: „Des Übermenschen Schönheit kam zu mir als Schatten“10. Jene Extropianisten hingegen, die für ihr Übermenschenprojekt immer auch (überwiegend utilitaristische) Ethik, Werte, Moral in Anschlag bringen und letztlich das Gute versprechen (anders lässt sich auch kaum erfolgreich Fundraising für transhumanistische Experimente betreiben…), stehen damit eher in der Tradition jener, die im Ecce Homo als „die Guten, die Wohlwollenden, Wohltäthigen11 denunziert werden: als kryptoreligiöse Idealisten. Die vorgeblichen Religionskritiker des Extropianismus sind vielleicht auf ähnliche Weise religiös, wie die den Cäsar kritisierenden Christen cäsarisch waren – und bald ja auf dessen Thron saßen. Hatten Religionen, genauer gesagt: politische Theologien wie das Christentum das Leid instrumentalisiert, um Menschen klein zu halten (Stichwort Hiob) und ihnen den Übermenschen zu verwehren, so instrumentalisieren Extropianisten das Leid ex negativo. Sie heiligen die Optimierung des Machsals auf eine ähnliche Weise, wie die „Religionisten“ das Sich-ins-Schicksal-Fügen heiligen.

V. Transhumanismus vs. Posthumanimus

Im Unterschied zum moderneskeptischen Posthumanismus, der den Menschen nicht mehr als „Krone der Schöpfung“ (Wolfang Welsch) anerkennt, sondern ihn als Abgeordneten politischer Ökologie in das „Parlament der Dinge“ (Bruno Latour) schickt oder ihn im „heißen Komposthaufen“ (Donna Haraway) die Demut multispeziesistischer Kollaboration lehrt, knüpft der extropianistische Transhumanismus an den futurozentrischen und anthropozentrischen Exzeptionalismus der Moderne an, ironischerweise indem er den (bisherigen) Menschen überwinden möchte – das Menschlichste am Menschen ist eben der Versuch, den Menschen zu überwinden. Kein Eichhörnchen versucht, das Eichhörnchen zu überwinden. Kein Kaktus versucht, den Kaktus zu überwinden. Kein Kieselstein versucht, den Kieselstein zu überwinden. Nur der Mensch versucht, den Menschen zu überwinden – darin drückt sich seine Menschlichkeit am reinsten aus. Und nur dort, wo der Anthropozentrismus in voller Blüte steht, erscheint das diffuse „Posthumane“ als erstrebenswerter Zustand. Die eigene Stärke ist so sehr gewachsen, dass Schwächung attraktiv erscheint, vergleichbar mit materiell gesättigten Menschen, die „Minimalismus“ als erstrebenswertes Ziel ansehen.

In diesem Zusammenhang muss streng zwischen Trans- und Posthumanismus unterschieden werden. Bei den Posthumanisten ist das Posthumane paradoxerweise das, was bereits, ja immer schon der Fall ist, aber nicht anerkannt, ja verdrängt und ideologisch bekämpft wird, nämlich die existenzielle „Verwobenheit“ (Haraway), das irreduzible Angewiesensein von uns Menschen auf ein „Netzwerk“ (Latour) aus Anderen und Anderem, menschlichen wie auch nicht-menschlichen Wesen. Posthumanismus lässt sich dahingehend als Akt der Explikation verstehen. Man findet wieder, was implizit schon der Fall ist. Bei den Transhumanisten hingegen ist das Posthumane ein erst noch zu erreichender Zustand: Der Übermensch muss hergestellt werden. Die Dualismus-Kritik der Posthumanisten, die aus binären Schemata wie Natur/Kultur herausfinden möchte, ist für den Transhumanismus nicht entscheidend. Allein die viel zitierte Vision des „Mind-Uploading“, also des technologischen Outsorcings des eigenen Bewusstseins auf ein Trägermedium, zeugt davon, dass für Transhumanisten, trotz der naturalistisch-materialistischen Grundierung ihrer Philosophie, eine kategorielle Differenz zwischen Körper und Geist besteht. Das konkrete „Mind“ ist angeblich nicht an einen konkreten „Body“ gekoppelt. Doch ist es nicht ein konkreter Körper, der einen konkreten Geist überhaupt erst ermöglicht, und ist nicht der „Leib“ (Helmuth Plessner) die Einheit ihrer Differenz, die sich nicht aufspalten lässt? Ein Geist, der unabhängig von einem konkreten Körper existierte, wäre nicht der Geist eines Menschen, sondern spukte durch ein platonisches Wolkenkuckucksheim. In Nietzsches Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben hingegen ist die Kritik am humanistischen Körper-Geist-Dualismus entscheidend, geht es doch um die Anerkennung der eigenen, irreduziblen Körper- und Tierhaftigkeit – eine Tierhaftigkeit, die durch kein „Übertier“ überwunden werden muss. Die Geschichts- und Moralferne des Tieres soll dem Menschen vielmehr ein Korrektiv sein: „So lebt das Thier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne daß ein wunderlicher Bruch übrigbleibt, es weiß sich nicht zu verstellen, verbirgt nichts und erscheint in jedem Momente ganz und gar als das, was es ist, kann also gar nicht anders sein als ehrlich“12.

VI. Extropianismus ist Marx als Musk

Transhumanisten, und insbesondere die Extropianisten unter ihnen, leben weiterhin in Menschenmoral und Menschengeschichte, ja sie wollen das grandioseste Kapitel dieser Geschichte selbst schreiben, indem sie den Gipfel des Menschlichen besteigen, eben das – nur vordergründig paradoxe – Posthumane. Kompatibel ist der extropianistische Transhumanismus somit weniger mit Nietzsche in all seiner Tragik und Zerrissenheit als vielmehr mit der linkshegelianischen Tradition einerseits, deren revolutionäres Geschichtsverständnis von der Veränderbarkeit aller Verhältnisse durch menschliches Tun ausgeht, mit der liberalkapitalistischen Tradition andererseits, die sich ewigem Fortschritt, ewiger Optimierung, ewigem Wachstum verpflichtet sieht. Extropianismus ist Marx als Musk.

Bei More und anderen Extropianisten könnte man das Posthumane als Äquivalent des Hegel’schen Endes der Geschichte interpretieren. Doch weil die potenziell unendliche Perfektionierung des Menschen – oder des Postmenschen – kein Ende haben kann, kann sie auch keinen Anfang haben. In seinem Versuch, den Lauf der Geschichte zu bestimmen, prozessiert der Extropianismus selbstbezüglich, durchpulst von optimistischer Leere, außerhalb der Geschichte vor sich hin – und kippt so zurück in genau jene u–topische religiöse Metaphysik, die er doch eigentlich, schenkt man More Glauben, überwinden will:

Unsere Spezies verharrt in alten konzeptionellen Strukturen und Prozessen, die den Fortschritt behindern. Eine der schlimmsten ist das religiöse Denken. In diesem Aufsatz werde ich zeigen, wie die Religion als entropische Kraft wirkt, die unserem Fortschritt zur Transhumanität und unserer Zukunft als Posthumane entgegensteht[.]13

Mit der Zukunft ist das so eine Sache. Wie der durchschnittliche Messias neigt sie zu Verspätungen. Und kommt sie dann endlich an, wird sie nicht als solche erkannt, ja sie ist im Moment des Erscheinens schon veraltet. Der Messias der Zukunft verendet stets am Kreuz gestiegener Erwartungen an ihn. FM-2030, ein 1930 geborener iranisch-amerikanischer Autor, Dozent, Berater, olympischer Athlet und Wegbereiter des Transhumanismus, sagte für das Jahr 2030 eine „magische Zeit“14 voraus – alle Menschen würden dann alterslos sein und hätten eine exzellente Chance, für immer zu leben. Der transhumanistische Technologie-Enthusiast Ray Kurzweil sekundierte ihm im Jahre 2016 (Link). Evident ist der religiöse Subtext. Im Jahr 2000 starb FM-2030 an Krebs. Ob er 2024 noch immer so optimistisch gewesen wäre? Die sich verdüsternde Weltlage und ein merklich gealterter Kurzweil zeigen uns Heutigen, dass die neuen extropianistischen Propheten nicht zwingend zuverlässiger sind als ihre alten religionistischen Vorgänger mit ihren notorisch unzutreffenden Apokalypse-Vorhersagen. Und selbst wenn ihre Propheizungen eintreffen würden, wären die Nutznießer sofort unzufrieden mit ihnen: Wie bitte, man speist uns mit ein bisschen Unsterblichkeit und Alterslosigkeit ab!? Wir hätten mehr verdient! Das Posthumane wird wohl menschlich, allzu menschlich werden. Oder, in den Worten des Philosophen Leszek Kołakowski: „Im Punkte der Explosion, die das Erbe zu sprengen scheint, stammt der Sprengstoff immer schon aus ererbten Beständen“15.

Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und Gastprofessor an der Kunsthochschule Poznań, Polen. Er schreibt regelmäßig Beiträge unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung, DIE ZEIT, Artforum und ist Kolumnist der Stuttgarter Zeitung sowie von Psychologie Heute. Bereits als 14-Jähriger stand er mit einer Metalband auf der Bühne. Heute betreibt er einen Heavy Metal-Lieferservice mit dem Metal-Duo Malmzeit. Nebenbei ist Scheller zertifizierter Fitnesstrainer. 2015 organisierte er mit Martin Jaeggi die Konferenz Pop! Goes the Tragedy. The Eternal Return of Friedrich Nietzsche in Popular Culture an der ZHdK. Er twitterXt unter https://x.com/joergscheller1.

Bibliographie

Campa, Riccardo: Nietzsche and Transhumanism. A Meta-Analytical Perspective. In: Studia Humana, Bd. 8/4 (2019), S. 10–26.

Huxley, Julian: Transhumanism. In: Ders.: New Bottles for New Wine. London 1957, S. 13–17.

Kołakowski, Leszek: Die Gegenwärtigkeit des Mythos. München 1973.

Krüger, Oliver: Virtual Immortality. God, Evolution, and the Singularity in Post- and Transhumanism. Bielefeld 2021.

More, Max: Transhumanism. Towards a Futurist Philosophy, online abgerufen auf: https://www.ildodopensiero.it/wp-content/uploads/2019/03/max-more-transhumanism-towards-a-futurist-philosophy.pdf

Sloterdijk, Peter: Erinnerung an die schöne Politik. In: Ders.: Der ästhetische Imperativ. Hamburg 2007, S. 29–49.

Sorgner, Stefan: Transhumanismus. „Die gefährlichste Idee der Welt“!?. Freiburg, Basel & Wien 2016.

Ders.: (2019): Übermensch. Plädoyer für einen Nietzscheanischen Transhumanismus. Basel 2019.

Quellenangabe zum Artikelbild

Nietzsche von Luke Mack, 2010 (Link)

Fußnoten

1: Für eine quantitative Analyse vgl. Riccardo Campa, Nietzsche and Transhumanism.

2: Anm. der Redaktion: Vgl. den Artikel zu Nietzsche Rezeption im Heavy Metal von Christian Saehrendt auf diesem Blog (Link).

3: Vgl. Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3. Alle englischsprachigen Zitate in diesem Artikel wurden vom Autor ins Deutsche übersetzt.

4: Sorgner, Transhumanismus, S. 33.

5: So der Untertitel seines Buches Übermensch.

6: S. 17.

7: S. 39.

8: Vgl. https://nickbostrom.com/views/transhumanist.pdf.

9: Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 1.

10: Ecce homo, Also sprach Zarathustra, 8.

11: Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 4.

12: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Abs. 1.

13: Transhumanism.

14: Zit. n. Oliver Krüger, Virtual Immortality, S. 71.

15: Leszek Kołakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, S. 38.

„Ein Göttertisch für göttliche Würfel und Würfelspieler!“

Nietzsches Übermensch zu Besuch in der Gründerszene

„Ein Göttertisch für göttliche Würfel und Würfelspieler!“

Nietzsches Übermensch zu Besuch in der Gründerszene

15.10.24
Natalie Schulte

Nietzsches Übermensch ist tot. Kaum einer kann noch etwas mit dieser obskuren Idee anfangen. Möchte man meinen. Und doch begegnen einem im aktuellen Startup-Milieu zahlreiche Versatzstücke aus Zarathustras Verheißung. Was hat es damit auf sich? – Natalie Schulte widmet sich anlässlich von Nietzsches 180. Geburtstag diesem eigenartigen Fortleben einer der bekanntesten Konzepte des Philosophen. Ein Plädoyer dafür, sich Nietzsches Idee trotz ihrer vergangenen und gegenwärtigen Missdeutungen doch noch einmal genauer anzusehen.

Hinweis der Redaktion: Längere englische Zitate haben wir in den Fußnoten selbst ins Deutsche übersetzt.

Nietzsches Übermensch ist tot. Kaum einer kann noch etwas mit dieser obskuren Idee anfangen. Möchte man meinen. Und doch begegnen einem im aktuellen Startup-Milieu zahlreiche Versatzstücke aus Zarathustras Verheißung. Was hat es damit auf sich? – Natalie Schulte widmet sich anlässlich von Nietzsches 180. Geburtstag diesem eigenartigen Fortleben einer der bekanntesten Konzepte des Philosophen. Ein Plädoyer dafür, sich Nietzsches Idee trotz ihrer vergangenen und gegenwärtigen Missdeutungen doch noch einmal genauer anzusehen.

Nietzsches Übermensch kann einem wie ein Atavismus vorkommen. Wer würde heute noch ein derart verschrobenes, abgehobenes, inhumanes Überhöhungsprojekt ernst nehmen? Wen erschaudert es nicht bei der Proklamation, die Menschheit auf ein neues, sich selbst transzendierendes Niveau heben zu wollen? Wir haben, gerade in Deutschland, mehr als genug schlechte Erfahrungen gemacht mit übertriebenen und unrealistischen Ideen, die sehr realistische, furchtbare Folgen zeitigten. Der Übermensch gehörte den Nationalsozialisten, dem Rassenwahn und biologistischen Schicksalsglauben. Schlimm genug, dass Nietzsche auch für diese Apostel kommender Herrlichkeit als Stichwortgeber dienen konnte. Das haben wir hinter uns.

I. Über-uns-Hinaus

Aber haben wir das? Blättert man durch die Ratgeberliteratur dieser Tage, zeitgenössischer noch: klickt man sich durch die neueren Moneymaking-Videos auf YouTube, kommt dem Nietzsche-Leser unerwartet vieles seltsam vertraut vor. „The fastest route to success is to accept that you with your current sense of self and your current identity and how you perceive yourself and how the world presents itself to you through your lens and your Paradigm, you’re not capable of bringing about the future, that you want to bring about. [...] We don’t achieve goals, we achieve characters. We achieve identities“1, heißt es etwa bei Charlie Morgan, einem der bekanntesten Influencer und jungen Multimillionäre, die in den sozialen Medien ihrem Publikum die Geheimnisse des Reichtums enthüllen. „Es war ungemütlich, es war außerhalb der Komfortzone, aber es hat mich wachsen lassen; und ich glaube, es liegt in der Natur des Menschen, wachsen zu wollen“2, predigt Alexander Müller, Mitgründer und -inhaber von Greator, der mit allein über 800.000 Youtube-Abonnenten einflussreichsten Bühne für Speaker und Coaches in Deutschland, und kann mit diesen Worten an zarathustrische Weisheit rühren: „Steigen will das Leben und steigend sich überwinden“3. „Geh in deine Vision, auch wenn es manchmal wehtun wird. Am Ende aber wirst du gewachsen sein, für deinen nächsten Schritt. Hin zu einem glücklicheren, erfolgreicheren und erfüllteren Leben“4, fügt Müller an großartigen Versprechungen hinzu.

Das Über-sich-Hinauswachsen nicht als Teil eines umfassenderen Bildungsprozesses, als Begleiterfahrung einer sinnerfüllten, gesellschaftsrelevanten Tätigkeit mit zahlreichen Herausforderungen, und nicht als Selbstaufgabe und Ichüberschreitung hin zum Nächsten im Sinne christlicher Caritas. Nein, das Über-sich-Hinauswachsen als reiner Selbstzweck, als Sinnquelle schlechthin, als Prinzip und Meta-Programm, als Unterziele setzende höchste Instanz, schlicht als zarathustrisches Lebensprinzip. Diese radikale Kernannahme finden wir nicht mehr in der Politik. Aber sie hat es in das Entrepreneur-Milieu der 2020er geschafft und prägt in einem neuen, modernen Gewand mit spirituellem Flair eine ganze Generation von Unternehmern.

II. Die Häutung des Übermenschen

Dass der äußere Erfolg ein Spiegel des inneren Entwicklungsstandes sei, diese Überzeugung beobachtet man als eines der Basisaxiome in der Szene. Nur konsequent scheint es daher, dass mangelnder ökonomischer Erfolg ein sicherer Beweis für innere Zurückgebliebenheit darstellt. „Das Unternehmen ist der Spiegel der Unternehmerpersönlichkeit. Beide können sich nur gemeinsam entwickeln. Wenn Ihr Unternehmen wächst, haben Sie zwei Möglichkeiten. Entweder Sie wachsen mit und Sie haben Erfolg. Oder Ihr Unternehmen wächst Ihnen über den Kopf und Sie gehen unter.“5 Das wäre natürlich schlimm. Aber keine Sorge! Mit den Angeboten aus der Speaker- und Coachings-Szene wirst du dich selbst verwandeln, Seelentiefe, intensivstes Glück und selbstgewählten Sinn und – ganz nebenbei als dann schon unausweichliches Nebenprodukt – Reichtum erzeugen. Mit letzterem ist im Übrigen nichts Innerliches gemeint, sondern ganz profan: Dinge, Statussymbole, Komfort und Geld. Ein Geist ohne Wohlwollen könnte unterstellen, letzteres sei für viele noch immer der eigentliche Antrieb für ihre „innere Suche“. Aber selbst von solchen wird für das Erreichen ihrer Ziele mehr als bloßes Erlernen von Skillsets und fleißiges Üben gefordert. Ja, mehr sogar noch als eine organische Transformation.  

Notwendig ist die Hingabe an die Verwandlung selbst. Denn jeder ist so weit gekommen, wie es ihm seine aktuelle Persönlichkeit erlaubt. Jeder bekommt, was er verdient, ließe sich auch formulieren. Aber kann denn der wahre Entrepreneur jemals irgendwo sein Ende, seinen Hafen, seine finale Gestalt finden? Nein, denn sein Wesen liegt in der Wesensveränderung, im ständigen Abstoßen eines alten Ichs zugunsten einer neuen, fähigeren Version. „You must commit psychological suicide. You, the person you are right now, is not capable of this, because if you were, you would have it.“6 Das alte Ich muss untergehen, denn es war zu schwach, um mehr von der Welt zu bekommen, als es bekam. Kein Glück, kein Heil, kein Geld.

Nicht die Träume vom Eigenheim oder vom Vermächtnis treiben die Protagonisten dieser Ideologie an, wie das bei vorangegangen Generationen der Bourgeoisie zumindest proklamiert worden war, sondern das Innerste selbst wird Gegenstand der Bearbeitung, des Kampfes, wird zum Glutzentrum für das eigene Schicksal. Das sich selbst transzendierende, immer wieder in den Untergang führende, schickende, stoßende Ich, das die Selbsttötung in diesem Sinne bejaht, den Untergang bejaht, das Leben als Wachsen des Einen aus dem Anderen, Sterbenden hervor bejaht – was ist dies anderes als der Übermensch, der von sich fordert: „Verbrennen musst du dich wollen in deiner eignen Flamme: wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist.“7

Dürften wir die wagemutige These vorbringen: Über den Übermenschen muss nicht mehr gesprochen werden, weil er sich längst verwirklicht hat? Verwirklicht zwar nur in einer kleinen Klasse, aber doch gerade in derjenigen, die das größte gestalterische, wirklichkeitsformende Potential verkörpert. Denn was nicht systemisch ausgelagert ist an technische, juristische, institutionelle Strukturen und Entitäten, was überhaupt noch einzelnen Menschen an innovativer Macht gegeben ist, bei wem anderes ließe sich diese stärker konzentriert finden als bei Unternehmern?

III. Zeitgenössische Abenteurer

Keiner schreibt sich das Scheitern-Wollen so prominent auf die Fahnen, das Abenteurertum, das Ausprobieren und Spielen wie die Kaste der Entrepreneure. Und niemand ist so wenig gefangen in organisatorischen Strukturen und Mechanismen, ins Maschinelle großer Konzerne und politischer Betriebe wie sie. Nirgendwo sonst wird so viel ausprobiert, gewagt, verloren und gewonnen wie dort: „As entrepreneurs, we make bets everyday. We are gamblers – gambling our hard-earned money on labor, inventory, rent, marketing, etc., all with the hopes of a higher pay out. Oftentimes, we lose. But sometimes, we win and win BIG.“8 Auch Nietzsches Übermensch wagt alles und riskiert, zu Grunde zu gehen, wenn das Abbruchunternehmen alles in den Staub wälzt, was überkommen und überholt erscheint, und doch richtet sich sein Blick stets auf dasjenige, was neu errichtet werden kann: „[M]ag doch Alles zerbrechen, was an unseren Wahrheiten zerbrechen – kann! Manches Haus gibt es noch zu bauen!“9 Ja, je höher der Einsatz, desto größer und edler das Unternehmen, die Tat: „Das ist die Hingebung des Grössten, dass es Wagnis ist und Gefahr und um den Tod ein Würfelspielen“ (ebd.)

Nichts wird in der Startup-Szene so hoch geschätzt wie das Spagat aus Mut, Commitment und Gelassenheit. Der wahre Spieler geht hohe Risiken ein, „gibt alles“ für den Gewinn – und geht lachend vom Feld, wenn er bemerkt, dass er verloren hat. So skizziert man den idealen Unternehmer, mit solcher „Enthobenheit” wünscht sich Zarathustra den neuen Menschen: „[W]er von euch kann zugleich lachen und erhoben sein? Wer auf den höchsten Bergen steigt, der lacht über alle Trauer-Spiele und Trauer-Ernste. Muthig, unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig – so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann.“10

Das Ziel wird bloßes Mittel für den Entrepreneur, eine nahezu willkürliche Setzung, die im Grunde lediglich dazu dient, einen bestimmten Lebensstil zu verwirklichen, nämlich den des ständigen Über-Sich-Hinaus. Die persönliche „Mission“, von der in Manager-Seminaren oft genug die Rede ist, muss weder Weltfrieden noch der „Wohlstand der Nationen“ sein, von dem noch die Vordenker des Kapitalismus wie Immanuel Kant und Adam Smith träumten, sondern darf durchaus bewusst als nur temporäres Vehikel für eigene Transformationsschübe und Höchstleistungen postuliert und geglaubt werden. Man lässt sich darauf ein, wie man sich auf eine Partie Schach einlässt. Man muss das Gewinnen-Wollen ernst nehmen. Aber egal ob man am Ende als Sieger oder Verlierer aufsteht, darf man das Spiel doch nicht ernst genommen haben. Das Brett wird geräumt, die Figuren wieder aufgebaut, eine neue Runde, genauso ernst, genauso unernst.

Eine nahezu übermenschliche Autonomie-Erfahrung, darf man anmerken, geht damit einher. Prinzipien werden aufgestellt, das eigene Handeln mit einer Rigorosität an ihnen ausgerichtet, als seien sie auf Gesetzestafeln gemeißelt und vom Himmel diktiert, Hauptsache es ist das eigene Selbst, das sie zum Gesetz erhoben hat: „Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu? Kannst du dir selber dein Böses und Gutes geben und deinen Willen über dich aufhängen wie ein Gesetz! Kannst du dir selber Richter sein und Rächer deines Gesetzes?“11 Diese Gesetze gelten für den nietzscheschen Übermenschen wie für den Unternehmer nur so lange, als sie das Ego an seine Grenzen und über sie hinaus führen. Ist ein Plateau erreicht – und ja, das meint bei letzteren durchaus ein finanzielles Plateau –, wird es Zeit, die alten Steinklumpen zu zerbrechen. Sie engen nur ein und müssen durch aktualisierte Gravuren ersetzt werden, die ein neues Ich erfordern. Ein Ich, das ein höheres Dollar-pro-Monat-Level freischalten wird.

IV. Kampfgefährten statt Moral

Dabei bleibt, ganz gleich, wie viele Weiterbildungen über „ethisches Wirtschaften” die Protagonisten der Gründerszene auch besuchen mögen, Moral, wie sich leicht vermuten lässt, ein klar externes, fremdes Element. Zwar soll das eigene Produkt immer „ein Problem lösen” und könnte damit im aristotelischen Sinne „gut” genannt werden. Aber das Spektrum der „Probleme“, die der gewiefte Geschäftsmann zu lösen sich anschickt, reicht vom Bedarf an neuen Technologien für Herzklappen über eine schnellere, bargeldlose Zahlungsabwicklung bis hin zu „Bedürfnissen“ nach pornographischem Material. Die Grenzen des Machbaren legt das Gesetz fest, nicht die Moral. Zwar würden viele Jungunternehmer zweifellos auch keine Waffen, Sklaven oder Drogen handeln, wenn die juristischen Rahmenbedingungen legerer wären, aber diese persönliche moralische Einschränkung ist kaum eine, die von dem Überzeugungssystem ihrer Ideologie irgendeine nennenswerte Stütze erhält.

Als moralinfrei könnte man auch die Lehre des Übermenschen begreifen. Zwar soll die alte Moral mit ihren lebensverneinenden Idealen überwunden werden, wohin es aber gehen soll, bleibt zum größten Teil unbestimmt. Woran derjenige leidet, der zum neuen Ideal hinstrebt, ist nicht das Leiden an der Ungerechtigkeit oder am Bösen in der Welt, nein es ist der Ekel ob der Kleinheit des Menschen, „dass ihr Bestes so gar klein ist! Dass ihr Bösestes so gar klein ist!“12 Der Übermensch soll „der Erde treu“13 bleiben, nicht den Genuss abwerten, er kann sogar Selbstsucht, Herrschsucht und was sonst bisher unter negativen Zeichen stand aufwerten. Und um die Neuwertung dreht sich auch das Gesamtprojekt: „Schätzen ist Schaffen, hört es, ihr Schaffenden! Schätzen selber ist aller geschätzten Dinge Schatz und Kleinod. Durch das Schätzen erst gibt es Werth: und ohne das Schätzen wäre die Nuss des Daseins hohl. Hört es, ihr Schaffenden!“14. Wer aber ist besser dazu geeignet, den Dingen ihren Wert, ihren Preis zu verleihen, als der Kapitalist, der Börsenspieler, der Jungunternehmer? Die Preise werden nicht durch Ding, Welt oder Natur bestimmt, man erinnere sich, „die Natur ist immer werthlos“15, sondern der Wert wird von den Menschen in die Natur hineingelegt, man könnte auch sagen, er wird erfunden.

Analog zieht sich die Mitmenschlichkeit im Unternehmermilieu angesichts der abstrakten Forderungen der Moral auf einen reduzierten Modus Operandi zurück. Es gehört zu den zentralen, unendlich oft iterierten Mantras, dass der Einzelne den Menschen ähnelt, mit denen er am meisten Zeit verbringt: „Erfolg zu haben ist ganz einfach. Was wäre, wenn ich dir sage, dass du den Schlüssel dazu direkt vor Augen hast? Ja, ganz wortwörtlich! Schau dir einfach deine Umgebung näher an: Mit wem lebst du zusammen? Mit wem arbeitest du? Ist dein Umfeld voller positiver Energie? Mit wem verbringst du deine Freizeit?“16

Wie der Übermensch, so hat der Unternehmer nach solchen zu suchen, die gleichen Geistes Kinder sind. Wer auf demselben Weg von Verwandlung zu Verwandlung dahin galoppiert, der kann Freund und Bruder sein, denn dann kann man einander erkennen, kann sich befruchten und inspirieren, kann sich aufhellen in den dunklen Stunden des Zweifels, mehr aber noch: kann den anderen zu höheren, größeren Taten ermutigen. Freundschaft, das heißt, das Potential im anderen schlummern sehen, und es mit ihm zusammen erwecken. Dann wächst man gemeinsam, jeder für sich in seinem Abenteuer begriffen, und doch mit einer starken, wohlgesinnten Hand und Stimme in der Nähe. Was man möchte, sind  „Gefährten [...], die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen – und dorthin, wo ich will. [...] Gefährten sucht der Schaffende und nicht Leichname, und auch nicht Heerden und Gläubige. Die Mitschaffenden sucht der Schaffende, Die, welche neue Werthe auf neue Tafeln schreiben“17.  

Und was ist mit denen, die das nicht so sehen? Den Compagnons von früher, denjenigen, die nicht von derselben Ideologie des Geldverdienens durch spirituelle Erweckung überzeugt sind? Die vielleicht andere Lebenshaltungen verkörpern und anderes wertschätzen? Und die von Freundschaft etwas mehr erwarten als ein gegenseitiges Anfeuern beim Sprint auf dem Hamsterrad? Nun, auch hier soll man vorübergehen, nicht mit Missgunst, sondern einen Segen murmelnd und in Freiheit. Keinesfalls aber sollte man sich an diese Menschen ketten. Man hat sie hinter sich gelassen. Was gelten jetzt ihre Sorgen und Ratschläge, vielleicht gar ihre leeren Bemerkungen, man habe sich in eine oberflächliche Selbstoptimierungsmaschine verwandelt? Was wissen sie schon? Im Grunde sind sie schwach. Und den Schwachen soll man kein Arzt, keine Krücke sein. Sie werden es einem nicht danken. Kette dich nicht an die Lahmen, lass sie zurück, umgebe dich mit Personen auf deinem „Niveau“, das heißt im Unternehmermilieu: mit möglichst identischer Weltanschauung.

Wer, der schon mal durch Zarathustras Zeilen geschwommen ist, würde darin nicht des Meisters letzte Lektion erblicken, nämlich dem Mitleiden zu entsagen?18 Es gilt, nicht denjenigen ein Lehrer sein, die zu schwach sind, um die Lehren des Übermenschen zu verinnerlichen und zu verkörpern, sondern allein weiterzugehen und ernst zu machen mit dem Vorsatz: „Und wen ihr nicht fliegen lehrt, den lehrt mir – schneller fallen! –“19

V. „Price is what you pay, value is what you get“20 (Warren Buffett)

Aber, so dürfen wir annehmen, die meisten der Jungunternehmern, ja selbst der Coaches, Berater und Speaker haben Nietzsche doch nie gelesen, haben vom „Übermenschen“ kaum mehr als das Wort gehört. Wie kann es sein, dass so viele ihrer Überzeugungen und Phrasen exakt dem zarathustrischen Ideal zu entsprechen scheinen? Hat sein Konzept einen geheimen Weg ins kollektive Unterbewusste gefunden und sich seine eigene Nische, „seine“ Menschen gesucht, zu denen es reden kann? Ist, um die Frage vom Beginn zu wiederholen, vom Übermenschen kaum mehr die Rede, weil er sich verwirklicht hat?

Zugleich aber muss man doch zögern, beim Anblick der Prediger der Geld-durch-Glück-Botschaft nietzschesche Träume verwirklicht zu sehen. Ist das die Elite, die er erhoffte? Eine Gemeinschaft geldgieriger Glückssucher? Von der Bühne bellen im besten Scheinwerferlicht hochbezahlte Redner ihre Heilsversprechen. Auf Fuckup-Nights erzählen Unternehmer lachend von ihren schlimmsten Fehlversuchen, ihren übelsten Bankrotten. In Fitness-Centern brüllen Freunde einander motivierende Wahrheiten zu. Wenn du es hier schaffst, schaffst du’s überall.

Ist Zarathustra, der Künder des Übermenschen, nicht selbst – entgegen eigener Selbstbekundung – viel zu sehr Philosoph, um sich mit einem derart dürftigen Materialismus zufrieden zu geben? Und hat nicht der Übermensch als Idee einen ganz anderen, geistigen Kern als das bloße Sich-Überbieten? Wir wollen nicht nur lapidar einwenden, dass übermäßiger Besitz vom Proklamierer des Übermenschen als Fußfessel angesehen wird und das Ideal des Geldes von vornherein verpönt erscheint: „– wahrlich nicht zu einem Adel, den ihr kaufen könntet gleich den Krämern und mit Krämer-Golde: denn wenig Werth hat Alles, was seinen Preis hat“21, sondern vor allem betonen, dass dem Wertschätzen ein ganz anderer Gehalt zukommt, sowie der Sinn der Erde mitnichten materialistisch zu verstehen ist. Neue Werte sollen ins Leben gerufen werden, weil die bisherigen sich als nihilistisch erwiesen haben. Die sinnen- und leibfeindlichen Ideale des Christenthums sind überholt, weil die Gottesthese unglaubwürdig geworden ist, die Menschen, die Gott als Erfindung und Projektion enttarnten, haben aber noch die alten Werte in einer minderwertigen, mittelmäßigeren Version beibehalten. Nun, wo es keinen Gott mehr gibt, der noch glaubwürdig sein kann, wo das irdische Leben alles ist, versucht man es sich behaglich, sicher und gesund im Leben einzurichten. Gegen diese Behaglichkeit, Ideallosigkeit und Verkleinerung der Idee der Menschheit wendet sich das zarathustrische Ideal. Auch die Werte der Entrepreneure sind sicherlich keine der Genügsamkeit, daher könnte man sie gar mit dem zarathustrischen Ideal verwechseln, sofern man in diesem nur das „Über-sich-hinaus“ nur das schlichte Selbstgesetz erkennen will. Nichtsdestotrotz hat das „Immer weiter“ und „Immer mehr vom selben“ einen nihilistischen Kern. Dort, wo allem ein Zahlwert gegeben wird, wird Ungleiches gleich gemacht. Geld wird akkumuliert, ohne dass die Akteure noch sagen könnten, wozu dieses Geld gut wäre. Sie können es noch „setzen“ und „verspielen“, es in einem Leben einfach auszugeben, wäre schon eine Herausforderung. Die gestalterische Kraft kann ohne eine Antwort auf die Frage, wie die Welt gestaltet werden soll, nur nach einem „Mehr“ gieren, das alle anderen Bereiche des Lebens verkrüppeln lässt.22 Der Mensch braucht neue Werte und Sehnsüchte, an die er glauben kann, er braucht also eine Antwort auf die Frage „wozu?“. Diese Frage kann in einem säkularen Zeitalter nur der Mensch beantworten. Kann er dies aber als Einzelner, ist der Übermensch überhaupt ein Einzelner? Dies ist eine komplexe Frage. Häufig wird der Übermensch als Egomane begriffen, der in vollkommener Selbstherrlichkeit den Platz einnimmt, den vorher Gott innehatte. Keine Moral, kein übergeordnetes Gesetz kann ihm noch diktieren. Gibt es denn ein inneres Gesetz?

VI. Die Kannibalen des Kapitalismus

Kommen wir auf die Motivation zurück, die Zarathustra, den Verkünder des Übermenschen, zu den Menschen führt, so sehen wir ein Motiv, das wir keinesfalls unbeachtet lassen sollten. Als Zarathustra davon abgeraten wird, zu den Menschen zu gehen, sie würden ihm nicht zuhören und nicht verstehen, ihm vielleicht gar gefährlich werden, erwidert Zarathustra: „Ich liebe die Menschen.“23

Mag auch vieles vom Menschen wie reine Selbstermächtigung zu Gunsten eines reicheren, wohlgemerkt seelisch reicheren Ichs wirken, sollte man dennoch nicht außer Acht lassen, dass Zarathustra den Menschen ein Geschenk bringen will. Nur wenn man dies ignoriert, können die Worte, Mantras und Aphorismen in der vibrierenden Szene der jungen Entrepreneure frappierend ähnlich klingen wie die Tugenden des Übermenschen. Das Vernichten überkommener Ichs, das Erwachsen von Neuem als Prinzip, der frische Wagemut, das spielerische Gemüt, das sich einlässt, aber auch wieder entlässt, das in höchster Autonomie ohne Moral eigene Gesetze entwirft, die ihm dienen, nicht denen es selbst dient. Der Übermensch, der nie in festen Formen stecken bleibt, genauso wenig, wie er an geliebten Menschen festhält, wo er ihnen entwachsen ist. Der, wo ihm Übel geschieht, ohne Missgunst dem Leben oder den Menschen gegenüber jede Schwierigkeit als eine Herausforderung bejaht, als Chance zu wachsen, als ein Sprungbrett für die nächste Ebene. Der Dankbarkeit empfindet. Der, zuletzt, ohne Scham und Schuld genießt, weil er weiß, dass kein Gott und kein Gericht auf ihn wartet.

Und doch muss man bei genauerem Hinsehen erkennen, dass Nietzsche selbst dort missverstanden wird, wo er nicht zitiert wird. Der Übermensch wird in der Avantgarde der jungen Kapitalisten nicht ausdrücklich erwähnt. Aber viele Versatzstücke ihrer Ideologie sind aus dem geistigen Inventar von Nietzsches Philosophie entnommen. Doch nur in einer reduzierten, angepassten, verformten Version. Das wahre und einzige Ziel der Ökonomie unserer Tage – daran hat sich seit Marx wenig geändert – bleibt die Kapitalakkumulation. Sie mag sich immer wieder neue, zeitgemäße Gewänder anlegen, mag neue Moden erfinden und kulturelle Strömungen aufnehmen und allerlei unterschiedliches Vokabular integrieren, ihr Wesen bleibt sich doch stets gleich. Und ihre Subjekte, die Exekutanten ihrer Mechanismen, passen ihr eigenes Innenleben zur bestmöglichen Verwendbarkeit – aus ihrer Sicht für den „Erfolg“ – um jeden Preis an die Erfordernisse des Systems an.

Nietzsches Übermensch aber trägt ein anderes Versprechen in sich. Eine Vorstellung von Menschheit und menschlicher Entwicklung, die mit den Missständen und Missverständnissen einer mehrfach verknoteten geistigen Tradition aufgeräumt hat und mit Freiheit eine eigene, gottlose Zukunft zu beginnen imstande ist. Um diese zu beschreiten, wäre es aber vielleicht eine gute Idee, doch noch einmal über den Übermenschen zu sprechen.

Literatur

Beck, Tobias: Unbox your life! Bewohnerfrei: Das Geheimnis für deinen Erfolg. Offenbach 2018. 7. Auflage 2022.

Hormozi, Alex: $100M Offers. How To Make Offers So Good, People Feel Stupid Saying No. Ebook, Aquisition.com 2021.

Merath, Stefan: Der Weg zum erfolgreichen Unternehmer. Wie Sie und Ihr Unternehmen neue Dynamik gewinnen. Offenbach 2008. 21. Auflage 2021.

Morgan, Charlie: I told myself I was rich until it came true. Online: https://youtu.be/IUxn7vT104Y (veröffentlicht am 19.03.2023, abgerufen am 26.5.2024).

Müller, Alexander: It’s In You. Visionen, Erfolg, erfülltes Leben. Ebook, München 2024.

Fußnoten

1: Morgan, I told myself I was rich until It came true, Minute 21:16 & 22:14. Übersetzung: „Der schnellste Weg zum Erfolg ist es zu akzeptieren, dass du mit deinem gegenwärtigen Selbstverständnis und deiner gegenwärtigen Identität und wie du dich wahrnimmst und wie sich die Welt dir durch deine Linsen präsentiert und deinem Paradigma, dass du nicht in der Lage dazu bist, die Zukunft herbeizuführen, die du herbeiführen willst. [...] Wir verwirklichen keine Ziele, wir verwirklichen Persönlichkeiten. Wir verwirklichen Identitäten.“

2: Müller, It’s In You, Position 198.

3: Also sprach Zarathustra, Von den Taranteln.

4: Müller, It’s In You, Position 215.

5: Merath, Der Weg zum erfolgreichen Unternehmer, S. 59.

6: Morgan, I told myself I was rich until It came true, Minute 20:58. Übersetzung: „Du musst psychologischen Selbstmord begehen. Du, die Person, die du jetzt bist, ist dazu nicht in der Lage, denn wenn du es wärst, dann hättest du es schon.“

7: Also sprach Zarathustra, Vom Wege des Schaffenden.

8: Hormozi, $100M Offers, S. 11. Übersetzung: „Als Unternehmer schließen wir jeden Tag Wettten ab. Wir sind Spieler – wir setzen unser hartverdientes Geld auf Arbeitskraft, Inventar, Miete, Marketing etc., alles in der Hoffnung, dass es sich auszahlen wird. Oft verlieren wird. Aber manchmal gewinnen wir und gewinnen VIEL.“

9: Also sprach Zarathustra, Von der Selbst-Ueberwindung.

10: Also sprach Zarathustra, Vom Lesen und Schreiben.

11: Also sprach Zarathustra, Vom Wege des Schaffenden.

12: Also sprach Zarathustra, Von den alten und neuen Tafeln, 2.

13: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3.

14: Also sprach Zarathustra, Von tausend und Einem Ziele.

15: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 301.

16: Beck, Unbox your life!, Position 102.

17: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 9.

18: Vgl. Also sprach Zarathustra, Das Zeichen.

19: Also sprach Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 20.

20: Übersetzung: „Preis ist, was man bezahlt; Wert ist, was man erhält.“

21: Also sprach Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 12.

22: Vgl. Also sprach Zarathustra, Von der Erlösung.

23: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 2.

Nietzsche und die Ukraine

Ein Gespräch mit Vitalii Mudrakov

Nietzsche und die Ukraine

Ein Gespräch mit Vitalii Mudrakov

7.10.24
Vitalii Mudrakov & Paul Stephan

Vitalii Mudrakov ist einer der führenden Nietzsche-Experten der Ukraine. Aufgrund des Krieges lebt er mit seiner Familie derzeit in Deutschland. Paul Stephan unterhielt sich mit ihm ausführlich über einige Aspekte der reichhaltigen ukrainischen Nietzsche-Rezeption im Kontext der vielfach ignorierten eigenständigen Kulturgeschichte des Landes. Sie zeigt, dass Nietzsches freiheitliches Denken immer wieder zentrale Protagonisten der ukrainischen Kultur in ihrem Ringen um eine unabhängige Nation frei von habsburgischer, zaristischer oder sowjetischer Fremdherrschaft inspirierte – und heute wieder den Kampf um die eigene Selbstbehauptung angesichts der russischen Invasion.

Vitalii Mudrakov ist einer der führenden Nietzsche-Experten der Ukraine. Aufgrund des Krieges lebt er mit seiner Familie derzeit in Deutschland. Paul Stephan unterhielt sich mit ihm ausführlich über einige Aspekte der reichhaltigen ukrainischen Nietzsche-Rezeption im Kontext der vielfach ignorierten eigenständigen Kulturgeschichte des Landes. Sie zeigt, dass Nietzsches freiheitliches Denken immer wieder zentrale Protagonisten der ukrainischen Kultur in ihrem Ringen um eine unabhängige Nation frei von habsburgischer, zaristischer oder sowjetischer Fremdherrschaft inspirierte – und heute wieder den Kampf um die eigene Selbstbehauptung angesichts der russischen Invasion.

I. Nietzsche in der Ukraine – Eine grobe Übersicht

Paul Stephan: Lieber Herr Dr. Mudrakov, haben Sie vielen herzlichen Dank, dass Sie sich zu diesem Gespräch zu Nietzsche in der ukrainischen Kultur bereiterklärt haben. Vielleicht ist es am besten, es mit einer ganz allgemeinen Frage zu beginnen: Welche Rolle spielt Nietzsche denn in Ihrem Land? Gibt und gab es dort eine starke Beschäftigung mit dem deutschen Philosophen, die sich wesentlich auf die ukrainische Kultur auswirkte? Oder handelt es sich eher um eine exotische Randfigur? Bei der vergangenen Nietzsche-Tagung kamen Sie ja in dieser Hinsicht bereits auf die Schriftstellerin Olha Kobylianska zu sprechen, wir berichteten, die in zumindest einem Text Nietzsche stark rezipiert. War sie damit eher eine Ausnahme – oder gibt es weitere solcher Beispiele?

Vitalii Mudrakov: In der Tat ist es eine große Ehre und Freude für mich, über eine solche Verbindung wie „Nietzsche und die Ukraine“ zu sprechen, denn die Ukraine ist sozusagen mein ontologischer Wachstumskontext, sie ist mein Heimatland, und Nietzsche ist eines der wichtigsten intellektuellen ‚Düngemittel‘ für dieses Wachstum. Da wir also über so wichtige Dinge sprechen, fühle ich eine große Verantwortung. Deshalb danke ich Ihnen für die Gelegenheit eines solchen Gesprächs. Ich hoffe auch, dass diese Diskussion nicht nur erkenntnisreich sein wird, sondern auch in gewisser Weise meine inneren Gefühle widerspiegelt.

Um Ihre Frage ganz allgemein zu beantworten, können wir mit den vorgeschlagenen Formulierungen sagen, dass es sich um eine „exotische Randfigur“ handelt – aber dieser Exotismus hat deutliche Spuren hinterlassen. In dieser Hinsicht würde ich Ihre Frage noch etwas vertiefen, indem ich darlege, wann genau Nietzsche in meinem Land eine Bedeutung hatte.

Seine Rolle für das ukrainische Geistesleben sollte also nicht unterschätzt werden, aber sie war in den verschiedenen Zeiträumen sehr unterschiedlich! Daher würde ich unseren Austausch gerne mit einer Periodisierung der ukrainischen Rezeptionen beginnen. Und da Teile der ukrainischen Gebiete in den unterschiedlichen Perioden zu verschiedenen Staatsgebilden gehörten (das Österreichisch-Ungarische und das Russische Reich, die Sowjetunion und die unabhängige Ukraine), ist es zugleich unerlässlich, über die Geographie der ukrainischen Rezeptionen zu sprechen. Um uns also besser orientieren zu können, schlage ich die folgende vorläufige, vielleicht etwas politische, Periodisierung vor:

(1) Die erste Periode würde ich als „imperial“ bezeichnen, zeitlich umfasst sie das Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Untergang der Reiche. Zu diesem Zeitpunkt betritt Nietzsche sozusagen das Gebiet der ukrainischen Länder, die zu verschiedenen Reichen gehörten und denen sehr unterschiedliche kulturelle und politische Rechte gewährt wurden. Und hier tritt die Schriftstellerin Olha Kobyljanska (1863-1942) in den Vordergrund. Schließlich ist sie unter anderem diejenige, die sehr aktiv Nietzsche’sche Ideen in die ukrainische Literatur einführte und damit modernistische Tendenzen in ihr etablierte. Aus diesem Grund gilt sie eigentlich als eine der Schlüsselautorinnen der frühen Moderne in der Ukraine.

Zahlreiche führende Intellektuelle der Zeit wiesen auf den übermäßigen Einfluss Nietzsches auf die Schriftstellerin hin.1 Sie bezogen sich dabei vor allem auf die von der Autorin, insbesondere in ihren frühen Werken, eingeführten Ideen der „starken Person“ bzw. „starken Frau“. Mit diesen wirkte sie erheblich auf die dominante feministische Bewegung der Zeit in der Region ein und insofern können wir sagen, dass der – vermittelte – Einfluss Nietzsches hier sehr bedeutend war. Kobylianska kann also als die erste ukrainische Nietzscheanerin angesehen werden, die in Österreich-Ungarn lebte. Und auch die erste ukrainische Nietzscheanerin überhaupt, weil ihr Interesse an Nietzsche ähnlichen Tendenzen in der übrigen Ukraine, die damals Teil des Russischen Reiches war, vorausging.

Der nietzscheanische Einfluss in diesem von Russland beherrschten Teil der Ukraine ist insgesamt betrachtet eher oberflächlich, er zeigt sich z. B. in der antichristlichen Kritik und dem Experimentieren mit verschiedenen Mythologien, etwa Motiven der vorchristlichen slawischen Tradition, in einigen Werken. Zurückzuführen lässt er sich wiederum auf Frau, die Schriftstellerin Lessja Ukrajinka (1871-1913). Sie stammte aus Wolhynien, das damals Teil des russischen Reiches war. Wolodymyr Wynnytschenko (1880-1951), Wjatscheslaw Lypynskyj (1882-1931) und Dmytro Donzow (1883-1973) können ebenfalls in die Galaxie des ‚russischen Teils‘ der ukrainischen Autoren aufgenommen werden, in der der Einfluss des deutschen Philosophen offensichtlich ist. Diese Autoren eint nicht nur ihre Nietzsche-Rezeption, sondern auch ihr politisches Wirken. Obwohl ihre Lesarten von Nietzsche sehr unterschiedlich waren, können wir angesichts dieser Synthese von Philosophie und Politik doch von einer geteilten ideologischen Verschärfung sprechen, die von Nietzsches Philosophie inspiriert wurde. Diese Verschärfung beruhte auf dem Wunsch, die Lebens- bzw. Existenzkultur der ukrainischen Nation zu verändern. Die oben genannten Autoren sprachen etwa von der „Notwendigkeit einer revolutionären Umgestaltung des Lebens eines neuen Menschen“, den „Problemen des Volkswillens“ oder dem „Ideal eines starken Menschen“.

(2) Über die zweite sowjetische Periode kann ich nicht viel sagen, da Nietzsche in dieser Zeit – die etwa 70 Jahre des Bestehens der Sowjetunion – verboten war und es kaum Möglichkeiten gab, mit seinen Texten zu arbeiten. Nietzsche wurde in dieser Zeit nur durch den Filter der Floskeln der sowjetischen Enzyklopädien gesehen, wie folgt: „Ein reaktionärer idealistischer Philosoph, ein unverblümter Apologet der bürgerlichen Ausbeutung, der Aggression und der faschistischen Ideologie”. Nietzsche konnte also nicht mit den bolschewistischen Interpretationen von Marx um die Aufmerksamkeit der sowjetischen Proletarier konkurrieren.2 Und die anfänglichen Versuche der 20er und 30er Jahre, Nietzsche weiter zu rezipieren, insbesondere durch literarische Visionen, endeten in der Tragödie der „erschossene Renaissance“: Der ukrainische Futurismus von Mychajlo Semenko (1892-1937), der einen Typus des willensstarken „eisernen Menschen“ auf einer künstlerischen nihilistischen Plattform zu verkörpern suchte, oder das Echo der „Übermenschen“-Bilder als Führer der Massen, der für sein eigenes Heimatland verantwortlich war, von Mykola Сhwylowyj (1893-1933), trafen auf die Auswirkungen und Folgen des Stalinismus.

Es ist wichtig zu betonen, dass die Autoren beider Perioden in Imperien lebten und auf unterschiedliche Weise unter dem Regime der Sowjetunion litten (einige wurden zur Emigration gezwungen, andere wurden inhaftiert und einige bezahlten sofort mit ihrem Leben). Sie waren also Teil beider Perioden, so dass die Besonderheit dieser Periodisierung vor allem darin besteht, auf die je spezifische Möglichkeit hinzuweisen, Nietzsches Philosophie neu zu rezipieren oder mit den Prinzipien seiner Weltanschauung im Allgemeinen zu arbeiten.

(3) Die dritte Periode, die man offensichtlich als „unabhängig” bezeichnen kann – von den frühen 1990er Jahren bis heute – eröffnete wieder die Möglichkeit, Nietzsche kennenzulernen und einige Forschungsprojekte zu seiner Philosophie zu entwickeln. Ich würde hier allerdings nicht von einer allgemeinen kulturellen Beeinflussung sprechen, sondern eher von einer wachsenden Nietzsche-Forschung und -Übersetzung. In den 1990er Jahren erschienen Anatolij Onyschkos Übersetzungen von Also sprach Zarathustra und Petro Taraschchuks von Der Antichrist; Anfang der 2000er Jahre wurden Onyschkos Übersetzungen von Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral veröffentlicht. Ein sehr wichtiges weiteres Nietzsche-Übersetzungsprojekt wurde von Oleh Feschovets und Kateryna Kotiuk in Kooperation mit dem Verlag Astrolabe im Jahr 2004 gestartet. Dessen Bedeutung lag darin, dass die Übersetzung auf der kritischen Ausgabe von Colli und Montinari basierte, die Nietzsche dem ukrainischen Publikum auf eine völlig andere Art und Weise erschloss, einen ‚entnazifizierten‘ Nietzsche. Auf der Website des Verlags Astrolabe ist zu lesen, dass derzeit sieben Bände der Übersetzung fertiggestellt wurden.  Leider kommt sie etwas schleppend voran. Es gibt auch andere zeitgenössische Übersetzungen, wie die von Wakhtang Kebuladze übersetzte Morgenröthe, die vor ein paar Jahren veröffentlicht wurde, und einige der Ideen des deutschen Philosophen werden in einem philosophischen Übersetzungslabor unter der Leitung des genannten Autors und Übersetzers diskutiert.  

Es ist interessant festzustellen, dass die ersten Studien, die der ukrainischen Rezeption Nietzsches gewidmet sind, gleich mit den Jubiläumsjahren des Philosophen verfasst wurden. Zum Beispiel die eher programmatischen Artikel von Ihor Bytschko (Nietzsche in der Ukraine, zum 150. Jahrestag) und Volodymyr Zhmyr (Auf den Spuren von Nietzsche in der Ukraine, zum 160. Jahrestag). Der kürzlich erschienene Artikel Ukrainischer Nietzscheanismus von Taras Ljutyj unterstreicht die beiden vorangegangenen.

Der diesjährige 180. Geburtstag Nietzsches gibt Gründe zur Hoffnung, dass dieses Ereignis trotz aller Belastungen durch die russische Aggression und den Krieg auch im ukrainischen Raum ansatzweise behandelt wird. Zumindest habe ich dazu ein paar Ideen, die nicht nur eine einmalige, sondern hoffentlich eine dauerhafte Wirkung entfalten werden. – Daher würde ich sagen, dass Nietzsche seine Reise in der Ukraine gerade erst beginnt.

II. Nietzsche und die Entstehung des ukrainischen Nationalbewusstseins

PS: Haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihre ausführliche und sehr gehaltvolle Antwort. Lassen Sie mich zu den einzelnen Perioden jeweils eine Rückfrage stellen. Zur ersten Periode würde ich gerne bemerken, dass ich hier große Parallelen zur Nietzsche-Rezeption im Allgemeinen erblicke. Es gab zahlreiche Feministinnen und emanzipierte Frauen, die Nietzsche ein solches Leitbild einer „starken Frau“, mitunter sogar eines „Überweibs“, entnahmen. Nietzsche wurde nicht zuletzt von Frauen gelesen – und dies in einem ganz anderen Sinne, als es manchen seiner Texte zu entnehmen ist. Er wurde gegen seinen Willen zu einem wichtigen Katalysator des Feminismus und der allgemeinen Frauenemanzipation – es ist hier, denke ich, zwischen der politischen Bewegung und der kulturellen Bewegung zu unterscheiden –, aber auch, wie Sie ja ebenfalls vermerken, generell zum Katalysator politischer und kultureller Radikalisierungsprozesse. Was mich interessiert, ist, ob es schon in dieser Periode das Bewusstsein einer ukrainischen Literatur gab oder ob sich die Autorinnen und Autoren eher als Untertanen des Kaiser- bzw. Zarenreichs verstanden.

VM: Wenn wir über den Zeitrahmen dieser Periode sprechen, nämlich das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert, dann hat sich in dieser Zeit definitiv und eindeutig ein vollwertiges Bewusstsein für die ukrainische Literatur gebildet. Außerdem findet in dieser Zeit bereits das statt, was man bedingt als „die nächste Generation dieses Bewusstseins“ bezeichnen kann, denn schon davor hatte sich das Verständnis einer eigenständigen ukrainischen Nationalliteratur entwickelt. Damit meine ich in erster Linie das Phänomen Taras Schewtschenko (1814-1861). Er lebte und arbeitete Mitte des 19. Jahrhunderts im Russischen Reich und gilt als Begründer und Förderer des ukrainischen Nationalbewusstseins in der Literatur im politischen Sinne. Noch heute gilt Schewtschenkos Werk als geistige Grundlage für die Bildung der modernen ukrainischen Nation und als Quelle des nationalen und politischen Bewusstseins, und der Schriftsteller selbst ist ein Symbol der Ukraine – ähnlich vielleicht wie Shakespeare für England oder Goethe für Deutschland. Aber natürlich können wir auch von Schriftstellern sprechen, die vor ihm oder zur gleichen Zeit gelebt haben und die ebenfalls ihren Beitrag zu diesem Bewusstsein geleistet haben. Iwan Kotljarewskyj (1769-1838) etwa und dann Petro Hulak-Artemovskyj (1790-1865). Ersterer gilt als Klassiker der neuen ukrainischen Literatur, doch sein Beitrag zur Herausbildung der ukrainischen Nationalkultur solcher ist eher ästhetischer und sprachlicher Natur; letzterer wird von der Forschung trotz seiner schriftstellerischen, übersetzerischen und pädagogischen Verdienste einer übermäßigen Loyalität gegenüber der zaristischen Kanzlei bezichtigt. Daher bedeutet die Jahrhundertwende für die ukrainische Literatur bereits eine gewisse Keimung dieses Fundaments. Allerdings standen diese zarten Keimlinge stets unter der heißen Sonne des politischen Drucks des Zarenreichs: offizielle Nichtanerkennung, Opposition oder völliges Verbot der ukrainischen Sprache und jeglicher literarischen Produktion.

Wenn es um Figuren von Taras Schewtschenkos Format in Österreich-Ungarn geht, ist Iwan Franko (1856-1916) der unbestrittene Favorit. Er schöpfte seine Geschichten aus dem Leben und den Kämpfen seines Heimatvolkes, das er in einem unabhängigen Staat vereint sehen wollte. Obwohl die allgemeine Situation der Ukrainer im Kaiserreich viel besser war als im Zarenreich und die ukrainische Sprache zum Beispiel den Status einer „Randsprache“ hatte, stehen die Themen Kampf und Freiheit für sein Volk im Mittelpunkt von Frankos Werk. Sie repräsentieren sehr gut das von Schewtschenko konzipierte und begründete Nationalbewusstsein. Hervorzuheben ist, dass sich das Bewusstsein für die ukrainische Literatur in beiden Teilen der Ukraine vor allem auf den die östliche Mitte des Landes, d. h. auf die Dnipro-Ukraine (Naddniprjanska Ukrajina), konzentriert, die einen etwas tieferen nationalen Einigungsimpuls herausbildete. Dies ist wahrscheinlich auf die dortigen härteren Existenzbedingungen zurückzuführen.

So geht Nietzsches Saat auf dem „Boden“ dieser nationalen Impulse auf. Mit anderen Worten: Die genannten, von seiner Philosophie genährten „Radikalisierungen“ tauchen erstmals in der ästhetischen und kulturellen Kodierung der oben genannten Autoren zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf (und bei Kobyljanska sogar noch früher, ab 1890), und in der politischen Kodierung – etwas später allerdings, an der Wende zu den ersten Jahrzehnten des 20.

III. Zwischen Zensur und SubversionNietzsche während der Sowjetzeit

PS: Zur zweiten Periode möchte ich gerne rückfragen, ob Nietzsche nicht vielleicht doch in oppositionellen Zirkeln gelesen wurde und dort als Ideengeber fungierte. In der DDR war es durchaus so, dass Nietzsche trotz der offiziellen Zensur in solchen Kreisen durchaus gelesen und diskutiert wurde und insofern eine unterschwellige, in den 80er Jahren auch (halb)offizielle, Wirkung entfalten konnte. Aber es wäre dort auch nahezu unmöglich gewesen, Nietzsche vollständig zu unterdrücken, schon allein wegen der Nähe zu Westdeutschland und der Prominenz Nietzsches vor 1945.

VM: Auch die Zeit der sowjetischen Besatzung war nicht allzu homogen und immer gleich. Ein Rückblick auf die Geschichte der Zensur in der Sowjetunion wäre ein Beleg dafür. Das Schrecklichste ist jedoch, dass nicht nur Nietzsche oder eine Reihe anderer Autoren verboten wurden, sondern dass die unausweichliche Notwendigkeit, ausschließlich mit dem leninistisch-stalinistischen Marxismus zu arbeiten, festgeschrieben wurde. Die Philosophie wurde zu einer „Dienerin der Ideologie“. Die Herausforderung für die Intellektuellen bestand also darin, den philosophischen Diskurs auf versteckte Weise und in klandestiner Form am Leben zu erhalten. Neben der Entwicklung rein philosophischer und theoretischer Fragen scheint es mir jedoch wichtig zu sein, über einen Faktor bei der Lektüre von Nietzsche zu sprechen, nämlich den Wunsch, die eigene nationale Kultur und Identität weiterzuentwickeln. Dieser Faktor hatte in den verschiedenen Sowjetrepubliken eine unterschiedliche Dynamik. In der Ukraine war er immer sehr wichtig. Daher konnte die Suche nach Quellen der Bestätigung der eigenen kulturellen Identität und damit der Unabhängigkeit keineswegs auf einen so fruchtbaren Boden des Umdenkens wie die Philosophie Nietzsches verzichten. Und es ist offensichtlich, dass es sich dabei um eine Angelegenheit des Untergrunds handelte. Hier möchte ich einen interessanten Punkt aus dem oben erwähnten Artikel von Volodymyr Zhmyr, Auf den Spuren von Nietzsche in der Ukraine, erwähnen. Darin erzählt er, wie er einmal, im Jahr 1964, die Wohnung seines Nachbarn besuchte und auf dem Tisch ein aufgeschlagenes Buch im Format 1:32 sah. Es handelte sich um eine Ausgabe von Also sprach Zarathustra aus dem Jahr 1903, übersetzt von einer Autorin namens A. V. Perelhina (ihren Vornamen konnte ich leider nicht herausfinden). Er hatte diese Übersetzung gegen ein anderes Buch eingetauscht, und erst dann konnte er sich mit diesem Text vertraut machen. Ich erzähle diese Geschichte, um zu zeigen, wie es durch reinen Zufall dazu kommen konnte, dass Nietzsche zum Lesen zur Verfügung stand. Mit anderen Worten, dieses Werk lag seit den Tagen des vorigen Reiches, der Periode, die wir „imperial“ nennen, in den Regalen der Privatbibliotheken herum, ohne den Säuberungen der bolschewistischen Behörden zum Opfer zu fallen. Nur auf diese Weise konnte ein „akademischer Philosoph“ zufällig sein Werk lesen. Es gab kein so nahes „Westdeutschland“, aus dem einige Werke hätten kommen können und schließlich war die Gesamtzahl der Veröffentlichungen und der tatsächliche Einfluss Nietzsches im Vorkriegsdeutschland viel höher, was nicht so leicht und schnell zu beseitigen war. In der UdSSR war es die Ideologie, die die Regale vieler Privatbibliotheken von solchen Büchern säuberte, während in Universitäts- oder Staatsbibliotheken spezielle Dienste dies taten.

Die Inspirationen des Untergrunds, von denen ich sprach, wären ein gutes Thema für künftige Forschungen, die aber im Moment nicht sehr gut entwickelt sind. An dieser Stelle sei jedoch das Beispiel einer Gruppe ukrainischer Intellektueller erwähnt, die sich für den Schutz der nationalen Sprache, der Kultur und der Freiheit des künstlerischen Schaffens einsetzten und durchaus nach Impulsen für ihren eigenen Fortschritt suchte – die Sechziger (Schistdesjatnyky). Nehmen wir zur Veranschaulichung einen der Dissidenten und Vertreter dieser Bewegung, der von den sowjetischen Behörden zu Tode gefoltert wurde, Wassyl Stus (1938-1985). Einer seiner Kommilitonen am Institut bezeugte, dass er sich schon immer sehr für Philosophie interessiert und neben anderen Denkern auch Nietzsche sehr intensiv gelesen habe. Da er sehr gut Deutsch sprach, ist es möglich, dass er Nietzsches deutschsprachige Werke gelesen hat, die ihm noch aus früheren Zeiten bekannt gewesen sein könnten. Wir wissen auch von seinem Tagebuch, in dem er Zitate von Philosophen, insbesondere auch Nietzsche, niederschrieb und kommentierte. Die tatsächlichen ideellen Einflüsse sind hier noch zu untersuchen, aber die Tatsache, dass der deutsche Philosoph in diesen Kreisen gut bekannt und intensiv besprochen worden war, lässt sich nicht leugnen.

Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Geschichte meines Mentors, einem bekannten Übersetzer und Spezialisten für kantische Philosophie, Vitalii Terlezkyj. Er erzählte uns Studenten, wie er an der Wende von den 80er zu den 90er Jahren an der Philosophischen Fakultät in Kyjiw studierte. Eine außergewöhnliche Ironie des Schicksals bestand darin, dass man damals, um Nietzsche zu lesen, den wichtigsten religiösen und kulturellen Ort der Ukraine aufsuchen musste, die Lawra (das Kyjiwer Höhlenkloster oder Heiliges Mariä-Himmelfahrt-Kloster). Auch dieser Frage muss nachgegangen werden: Wie und wann kamen diese Bücher in die Kirchenbibliothek? Aber jedenfalls ist es überhaupt bemerkenswert, dass ausgerechnet diese kirchliche Bibliothek Nietzsche „beschützte“ und seine Werke zum Lesen bereitstellte.

IV. Nietzsche und die ukrainische Zukunft und Gegenwart

PS: Was die dritte Periode angeht, muss vielleicht für unsere deutschsprachigen Leser betont werden, dass es sich hier um Übersetzungen in die ukrainische Sprache handelt. Russische Übersetzungen gibt es ja, nehme ich an, doch diese Übersetzungen sind Teil der Bemühungen, die während der Sowjetzeit, und wohl auch zuvor, unterdrückte ukrainische Sprache – die durchaus kein Dialekt des Russischen ist, sondern vielleicht eher mit dem Niederländischen vergleichbar, das man kaum als Dialektik des Deutschen betrachten würde – als Bildungssprache zu etablieren. Generell ist es ja ein Problem, dass man im Westen die Ukraine lange Zeit quasi als eine Art ‚Kleinrussland‘, so wie Putin, betrachtete.  Erst kürzlich sprach der deutsche Philosoph Christoph Menke in abfälliger Manier von einer eigenständigen ukrainischen Nation als propagandistischer „Erfindung“.3 Dabei ist doch klar, dass der Kampf um eine eigenständige kulturelle Identität als Bedingung der Schaffung eines demokratischen, selbstbestimmten Gemeinwesens stets Momente der Rekonstruktion und Konstruktion beinhaltet, erst recht bei Nationen, denen eine unabhängige kulturelle Entwicklung über Jahrhunderte verwehrt wurde. Man denke nur an Irlands Wiederbelebung der keltischen Sprache oder die entsprechenden Bemühungen Israels – für die Nietzsche im Übrigen ebenfalls ein wichtiger Stichwortgeber gewesen ist, ging es den Zionisten doch um das heroische Projekt der Konstruktion eines „neuen Juden“, der den Antisemitismus nicht länger erduldet, sondern offensiv bekämpft, und aufhört, so devot wie die ‚alten Juden‘ zu sein oder das eigene Judentum zu verneinen wie die Assimilierten. Soweit ich weiß, gibt es auch bei Nietzsche keine einzige Bemerkung über die ukrainischen Länder, auch wenn er sich sehr für Osteuropa interessierte, speziell für Russland und Polen, mit dem er sich sogar identifizierte (vgl. meinen Artikel zu dieser Thematik auf diesem Blog). Wir müssen diesbezüglich unsere vielleicht ihrerseits imperiale, neoimperiale, Arroganz und Ignoranz endlich aufgeben und die Unabhängigkeit der ukrainischen Kultur akzeptieren.

VM: Lieber Paul Stephan, Sie haben mit dieser Frage oder Bemerkung viele Themen angesprochen. Ich werde daher nur ganz kurz auf jedes einzelne eingehen. Zunächst zum Thema der Übersetzungen. Ja, natürlich haben wir über Nietzsches Übersetzungen ins Ukrainische gesprochen, denn warum sollte ich über andere Übersetzungen, z. B. ins Russische sprechen? Es gab auch Übersetzungen in andere Sprachen, etwa ins Polnische. Allerdings sind viele russische Übersetzungen philosophischer Literatur, wie Sie richtig bemerkten, das Ergebnis der sowjetischen Politik gegenüber Sprachen im Allgemeinen und ihren Möglichkeiten in der Wissenschaft (Philosophie, Literatur) im Besonderen. Aber in den 1990er Jahren wurden auch modernere Übersetzungen, insbesondere von Nietzsche, in Russland angefertigt. 

Ich möchte an dieser Stelle deutlich festhalten, dass alle (vor allem auch deutschsprachige Leser und Forscher), die es gewohnt sind, über die ukrainische Kultur oder Sprache ausschließlich im Rahmen der russischen Kultur oder Sprache zu sprechen, ihre Ansätze überdenken sollten, denn sie sind veraltet und haben für mich persönlich den Beigeschmack des Imperialismus. Sie haben das sehr treffend gesagt. Und auch die ersten Übersetzungen von Nietzsche, die in der vorsowjetischen Zeit, an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, entstanden sind, zeugen von dem Versuch, eine eigene Kultur, vor allem eine sprachliche, zu etablieren und zu entwickeln: Sowohl russische als auch ukrainische Übersetzungen erschienen etwa zur gleichen Zeit. Allerdings unter sehr unterschiedlichen Bedingungen. Es liegt auf der Hand, dass nur die russischen Übersetzungen von offizieller Seite unterstützt werden konnten, während die ukrainischen in den Gefängnissen inoffiziell in Form von Notizen auf Papierschnipseln angefertigt wurden. Ich beziehe mich hier auf den bereits erwähnten ukrainischen Schriftsteller Wolodymyr Wynnytschenko. Er fertigte eine der ersten ukrainischen Übersetzungen von Also sprach Zarathustra irgendwann in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts an, als er in einem zaristischen Gefängnis saß, als Ukrainisch noch nicht einmal als Sprache anerkannt und in jeder Hinsicht verboten war. Dieses Notizbuch befindet sich heute im Staatsarchiv von Kyjiw. Wie wir sehen, wurde die Übersetzung von Nietzsche für die Ukrainer von den offiziellen Stellen der verschiedenen Epochen, die sich in Moskau befanden, kaum begrüßt. Und die Aufarbeitung solcher Momente des Kampfes und der Widerstandsversuche sollte vielen westlichen Intellektuellen die Augen dafür öffnen, dass die ukrainische Kultur und Sprache durchaus eigenständig sind.

Was heißt „Kleinrussland“ überhaupt? Serhiy Plokhiy zeigte in seiner populären Studie The Gates of Europe, dass die „Kleine Rus“ den ursprünglichen Kern der Rus bezeichnete. „Klein“ meinte nur, dass es dort eine geringere Anzahl von Diözesen gab. Die „Große Rus“ entstand erst später. Die ukrainischen Länder waren also niemals ein „Ableger“ von Russland, wie es der Begriff suggeriert – es ist geradezu andersherum. Zumindest bezeichnet der Begriff ursprünglich keine Minderheit und erst recht Unterlegenheit, wie ihn Putin heute verstehen möchte. Diese Intellektuellen sollten sich mit dieser Geschichte ernsthaft auseinandersetzen, ehe sie von der ukrainischen Nation als „Erfindung“ sprechen. Eine propagandistische „Erfindung“ ist im Gegenteil das Narrativ von Russland als legitimem „Urrussland“ mit der Ukraine als „minderwertigem Ableger“. Und es ist diese Erfindung, die eingesetzt wird, um den Ukrainern jede Möglichkeit einer demokratischen Selbstbestimmung zu nehmen – so, wie es die Russen seit Jahrhunderten versuchen, obwohl große Teile der ukrainischen Länder, wie beschrieben, lange Zeit noch nicht einmal Teil des russischen Reiches waren und sich kulturell unabhängig von ihm entwickelten.

Und schließlich bin ich mir nicht sicher, ob wir historische oder kulturelle Analogien als Vorlage für eine Erklärung nehmen können. Jede Nation hat ihre eigene Geschichte, die erst einmal geschrieben werden muss, und dann können Parallelen zu anderen Geschichten von Kulturen und Sprachen gezogen werden. Für einen Europäer, wenn auch für nicht alle Intellektuellen, ist die ukrainische Geschichte immer noch unbekannt, und das untermauert dann oft leider ihre russische Interpretation. Wenn dies jedoch ein gutes Werkzeug für solche und ähnliche Intellektuelle ist, um dieses Problem zu verstehen, dann danke ich Ihnen, lieber Paul Stephan, für das Aufzeigen solcher Parallelen.

PS: Sie selbst sind ja nicht nur Beobachter, sondern auch Teilnehmer dieser, wenn man so will, ‚dritten Welle‘ der ukrainischen Nietzsche-Rezeption und wollen, wie Sie mir im Vorfeld verrieten, das erwähnte Jubiläum nutzen, um, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes, eine ukrainische Nietzsche-Gesellschaft zu begründen. Was mich in dieser Hinsicht interessieren würde, wäre, was Sie selbst als ukrainischer Nietzsche-Rezipient seinen Werken entnehmen können bzw. worin Ihres Erachtens allgemein die Bedeutung Nietzsches für die Ukraine in Ihrer gegenwärtigen Situation liegen könnte?

VM: Ja, es gibt einen solchen Gedanken und sogar einen Plan, eine solche nach Nietzsche benannte Gemeinschaft zu gründen. Ich befinde mich derzeit in der Vorbereitungsphase. Ich versuche, die mögliche Reaktion der intellektuellen Schicht der Ukraine auf eine solche Initiative zu verstehen und das mögliche Potenzial dieser Initiative zu erfassen. Wir werden sehen, was passiert, denn unter den derzeitigen Bedingungen ist das keine leichte Aufgabe.

Wissen Sie, zu verschiedenen Zeiten mochte ich verschiedene Themen oder Konzepte und Nietzsches Beschreibung derselben. Das hat sich allmählich verändert. Das einzige, was unverändert bleibt, ist mein Interesse an Nietzsches Methodik. Zumindest nenne ich sie so. Es ist eine Art und Weise, verschiedene Phänomene als eine Notwendigkeit zu analysieren, um dort etwas anderes zu sehen, das Prozesse der Degeneration oder einige Negationen zum Vorschein bringen kann, die oft vergessen oder verdrängt werden. Es geht also um ein ständig unvollendetes Denkprojekt, das von der Unzufriedenheit mit der herrschenden Verstocktheit angetrieben wird. Dieser Ansatz wird auch Nietzsche’scher „Perspektivismus“ genannt. Diese Meinung vertrete ich schon seit langem, und wir haben sie in unseren Gesprächen während unseres gemeinsamen Aufenthalt in Weimar im Jahr 2017 und danach diskutiert, wofür ich Ihnen sehr dankbar bin, und sie wird auch in unserem Artikel über Nietzsche und die ukrainische Revolution der Selbstüberwindung(Link) ansatzweise behandelt.

Auf dieser Grundlage lässt sich sagen, dass die ersten Kämpfe zur Überwindung der eigenen Sklaverei (im geistigen Sinne, die fast immer von Moskau als Unterlegenheit aufgezwungen wurde) in Form von Revolutionen stattfanden, und nun ist ein entscheidender Kampf im Gange, bei dem alles auf dem Spiel steht. Aber die Überwindung dieser Etappe wird nicht die letzte sein, denn dann müssen wir uns wieder selbst überwinden, eine neue Perspektive (im nietzscheanischen Sinne) schaffen. Und das wird eine weitere große Herausforderung sein, denn jetzt ist der ukrainische Geist in dem „Kriegsmodus“ gehüllt, ein Zustand, in dem man leicht die objektiven Parameter des Denkens verliert. Sie können durch einen ausgeprägten Patriotismus und den starken Wunsch, Gerechtigkeit herzustellen, außer Kraft gesetzt werden. Und das ist nicht schlecht, sondern normal. Denn in dem Krieg mit dem Bösen, im Kampf um die eigene Identität, muss man alle notwendigen Mittel mobilisieren, um die Quellen der eigenen Identität zu stärken. Doch sobald dieser Kampf gewonnen ist, gilt es, wieder in einen anderen, offeneren Modus überzugehen, um nicht in die Fänge des „Ressentiments“ und des „Geistes der Rache“ zu geraten, von denen Nietzsche so beredet spricht. Dies ist eine sehr ernste Herausforderung in der Nachkriegszeit! Und hier kann die Nietzsche’sche Perspektive sehr nützlich sein.

Für die heutige Ukraine ist es jedoch zunächst wichtig, eine Welle von Nietzsche-Studien im Allgemeinen in Gang zu setzen, und zwar nicht nur mit populären Thesen, die auf scharfe Aussagen über die Neubewertung des Alten abzielen, sondern um diese Methodik des tiefen und außergewöhnlichen Denkens zu begreifen. Das heißt: Nietzsche als kein doktrinärer Philosoph, sondern als ein Methodiker. Es sind ganz andere Versionen seiner Philosophie wichtig als die, die wir bereits kennen. In diesem Sinne arbeite ich derzeit an einem kleinen Projekt, um seine Philosophie in der Ukraine, insbesondere für die philosophische Gemeinschaft, anders bekannt zu machen. Es wird eine Reihe von Artikeln über Nietzsche sein, die von europäischen Forschern zu seinem 180. Geburtstag veröffentlicht werden. Diese Perspektive ist sehr wichtig, denn ich bin fast sicher, dass nur wenige Universitäten – vielleicht keine – Zugang zu zumindest einigen Nietzsche-Studien anderer Art haben.

Was ich damit meine, ist, dass Nietzsche zu einer kritischen, tiefgreifenden Analyse anregen und gleichzeitig die Kreativität fördern sollte. Mir scheint, dass seine Philosophie ein großes Potenzial auch heutzutage hat, sehr ungewöhnliche Kombinationen anzuregen. Ich würde sogar sagen: das Potenzial zur Provokation, natürlich vor allem intellektuell. Übrigens gibt es dafür sogar einen künstlerischen Beweis, das Gemälde Nietzsche im Eis oder die Geburt der Musik aus dem Geist der Tragödie von Oleksandr Rojtburd, einem ukrainischen Künstler, aus dem Jahr 2017.4 Dies ist eine ästhetische Vision seiner Philosophie, die offensichtlich nicht ohne ein provokatives Element ist. Dieses künstlerische Rätsel ist jedoch noch zu lösen und zu interpretieren.

PS: Lieber Vitalii Mudrakov, ich danke Ihnen für diesen äußerst bereichernden Einblick in die ukrainische Nietzsche-Rezeption und wünsche Ihrem Land und Ihrer Familie von Herzen alles Gute für die Zukunft!

VM: Ich bedanke mich für Ihre interessanten Frage und Ihre freundliche Einstellung.

Vitalii Mudrakov ist Philosoph, der in der Ukraine geboren wurde. Er hat Musik, Ethik und Ästhetik an der Geisteswissenschaftlichen Hochschule (Chmelnytzkyj, Ukraine) studiert und dann Philosophie und Religionswissenschaft an der Jurij-Fedkowytsch-Universität in Czernowitz (Ukraine). Seit 2022 lebt er fest in Deutschland und war Stipendiat am Kolleg Friedrich Nietzsche (Klassik Stiftung Weimar) und am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ (Universität Münster). Seit Kurzem ist er Stipendiat am „Center for Religious Studies“ (CERES) der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitet gerade an einem Konzept der „identity security“ (Identitätssicherheit). Im Fokus seiner jetzigen Forschungen stehen darüber hinaus Nietzsches Metapher als methodologisches Konzept der Erkenntnistheorie und axiologischen Transformation sowie die ukrainische Rezeption Nietzsches.

Quellenangabe zum Artikelbild

Oleksandr Rojtburd: Nietzsche in Ice, or the Birth of Music From the Spirit of Tragedy (2017). Online: https://www.wikiart.org/en/alexander-roitburd/nietzsche-in-ice-or-the-birth-of-music-from-the-spirit-of-tragedy-2017

Fußnoten

1: Zu nennen sind hier etwa der Historiker Mychajlo Hruschewskyj, der Literaturkritiker Serhij Yefremow, der Sprach- und Kulturkritiker Ahatanhel Krymskyj und die Schriftstellerin Lessja Ukrajinka.

2: Obwohl ich weiß und versuchen werde, es in einem kommenden Aufsatz zu beweisen, dass dieses Verbot nur offiziell war. Hinter den Kulissen waren nietzscheanische Ideen bei den bolschewistischen Ideologen und Inspiratoren durchaus vorhanden.

3: „Eine andere undemokratische Entität in diesem Krieg ist die ‚Nation‘, deren tiefe und lange Geschichte von einigen ukrainischen Intellektuellen entdeckt (bis vor kurzem hätte man gesagt: erfunden) und besungen wird.“ (Lieber Etienne, lieber Christoph … Online: https://www.philomag.de/artikel/lieber-etienne-austausch.)

4: Anm. d. Red.: Es handelt sich um das Artikelbild.

Sinnieren im Südwind

Zu Gast in Nietzsches Sommerhaus im Engadin

Sinnieren im Südwind

Zu Gast in Nietzsches Sommerhaus im Engadin

30.9.24
Christian Saehrendt

In knapp 2.500 m Höhe entspringt in der Südostschweiz, im Kanton Graubünden, der Fluss Inn. Über eine Strecke von 80 km fließt er zunächst durch ein Hochgebirgstal, das man das Engadin nennt. Er durchzieht hier, unweit des mondänen Kurorts St. Moritz, zwei kleine Seen, den Silsersee und den Silvaplanersee, zwischen denen das idyllische Bergdorf Sils Maria liegt. Der Philosoph Friedrich Nietzsche verbrachte in dieser erlesenen Landschaft mehrere Sommer und ließ sich von ihr zu einigen seiner wichtigsten Werke inspirieren. Christian Saehrendt begab sich an diesem vielleicht wichtigsten „Pilgerort“ der Nietzsche-Szene auf Spurensuche.

In knapp 2.500 m Höhe entspringt in der Südostschweiz, im Kanton Graubünden, der Fluss Inn. Über eine Strecke von 80 km fließt er zunächst durch ein Hochgebirgstal, das man das Engadin nennt. Er durchzieht hier, unweit des mondänen Kurorts St. Moritz, zwei kleine Seen, den Silsersee und den Silvaplanersee, zwischen denen das idyllische Bergdorf Sils Maria liegt. Der Philosoph Friedrich Nietzsche verbrachte in dieser erlesenen Landschaft mehrere Sommer und ließ sich von ihr zu einigen seiner wichtigsten Werke inspirieren. Christian Saehrendt begab sich an diesem vielleicht wichtigsten „Pilgerort“ der Nietzsche-Szene auf Spurensuche.

Besucher aus dem Norden spüren hier sofort, dass sie einen magischen Ort erreicht haben: Der Blick schweift über den Silsersee Richtung Italien, das südliche Licht schmeichelt den Augen, das Gesicht umspielt der warme Malojawind, ein thermischer Luftstrom, der in manchen Wetterlagen ganztägig in Windstärke 4 bis 5 weht. An der Spitze der Halbinsel Chastè, die weit in den Silsersee hineinragt, ist er besonders zu spüren, wenn er rauschend die Kiefern zerzaust.  

Chastè gehörte zu den Lieblingsorten Friedrich Nietzsches, der im nahegelegenen Dorf Sils Maria sieben Sommer verbrachte. Im Hause der Familie Durisch bewohnte er in den 1880er Jahren mehrfach für einige Wochen ein einfaches Gästezimmer. Im trockenen und sonnenreichen Klima des Oberengadin erhoffte der von häufigen Migränebeschwerden gequälte Philosoph günstige Bedingungen für seine Gesundheit und Arbeitsfähigkeit vorzufinden. Wichtige Werke wurden in Sils konzipiert und z. T. niedergeschrieben: Die fröhliche Wissenschaft, Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral, Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung u. a. Vor allem in seinem dichterischem Hauptwerk Also sprach Zarathustra ist Nietzsches Interpretation der Engadiner Landschaft als „heroisch“ und „belebend“ spürbar.

Blick auf den Silsersee. Foto: Christian Saehrendt, 2024

Er erlegte sich während seiner Aufenthalte in Sils einen strikten Tagesplan mit festen Arbeits-, und Essenszeiten und mehreren Stunden Bewegung auf. Das breite, flache Tal erlaubte ausgedehnte Spaziergänge in der Umgebung, bei denen man sich nicht allzu sehr verausgabte und jederzeit die Gelegenheit bestand, die mitgeführten Notizbücher mit Gedankenblitzen zu füllen. Schon der erste Aufenthalt in Sils soll ihm an einem markanten, pyramidenförmigen Stein am Ufer des Silvaplanersees einen Schlüsselgedanken beschert haben, der seinem weiteren Philosophieren eine Richtung gab: jenen „Gedanken der ewigen Wiederkunft“, der in Also sprach Zarathustra eine wichtige Rolle spielen sollte. Auf aktuellen Wanderkarten und bei Googlemaps ist der Pyramidenstein markiert, so dass auch heute jeder die Aura dieses Felsblocks bei einem Spaziergang überprüfen kann.

Das Nietzsche-Haus in Sils Maria. Foto: Christian Saehrendt, 2024

Das 200-jährige Haus im historischen Ortskern von Sils Maria, in dem Nietzsche als regelmäßiger Sommergast wohnte, wurde 1959 von der eigens dafür gegründeten „Stiftung Nietzsche-Haus in Sils Maria“ erworben, renoviert und mit Exponaten ausgestattet. Am 25. August 1960, an Nietzsches sechzigstem Todestag, eröffnete die Stiftung im Haus ein Museum. Das Konzept der Stiftung, die bis heute Trägerin des Hauses ist, ruht auf zwei Säulen: Zum einen informiert eine Ausstellung über Leben und Werk des Philosophen, zum anderen ist das Haus als lebendige Wohn-, Arbeits- und Forschungsstätte gedacht. Das Münchner Nietzsche Forum schreibt jährlich ein „Werner-Ross-Stipendium“ aus. Dieses richtet sich an junge Akademikerinnen und Akademiker, an Schriftsteller und Autorinnen, die an Texten und Projekten im erweiterten Themenkreis von Nietzsche arbeiten. Das Stipendium bietet einen kostenlosen vierwöchigen Aufenthalt im Monat September im Nietzsche-Haus mit abschließender Teilnahme am Nietzsche-Kolloquium, das jährlich im benachbarten Luxushotel Waldhaus stattfindet.1 Die bislang 14 Stipendiaten und Stipendiatinnen kamen aus Deutschland, Kanada, Frankreich, Italien, Finnland und China. Daran sieht man: Das internationale wissenschaftliche Interesse an Nietzsche hat sich also stabilisiert und die wissenschaftliche Nietzsche-Community verjüngt sich permanent. Doch nicht nur Stipendiaten können ein Zimmer im Haus bewohnen, um dort in inspirierender Umgebung zu schreiben. Auch andere Gäste, also „Zivilisten“, haben die Möglichkeit, einen Raum im Haus zu mieten. Diese Mischung der Nutzer dient dem Ziel, Dialog und Vernetzung unter Forschenden, Nietzsche-Lesern und Touristen zu fördern. Ausserdem führt die Stiftung seit Mitte der 1980er Jahre Ausstellungen zeitgenössischer Kunst mit Nietzsche-Bezug im Haus durch, schließlich hatte Nietzsche wie wohl bisher kein zweiter Denker gerade die Künstler immer wieder stark inspiriert und zu produktiver Auseinandersetzung mit seinen Ideen und seiner Person angeregt. Nach Gastspielen u. a. von Gerhard Richter und Helmut Federle war auch der Bündner Künstler Not Vital zu Gast: Ein monumentaler weisser Gips-Schnauzbart war sein Hauptexponat, das er auf dem Bett Nietzsches deponierte.

Riesenschnauz auf Nietzsches Bett. Kunstwerk von Not Vital, Ausstellungsansicht Nietzsche-Haus 2006

Seit 2021 zeigt das Nietzsche-Haus eine erneuerte Präsentation von Leben und Werk Nietzsches, die von Matthias Buschle und Wolfram Groddeck kuratiert wurde. Neben biografisch-chronologischen Fakten werden wichtige Begriffe aus der Gedankenwelt Nietzsches einem Publikum erläutert, das nicht nur aus Nietzsche-Kennern, sondern auch aus Neugierigen und touristischen Zufallsbesuchern besteht. Im Laufe der Jahrzehnte nach der Eröffnung ist dieses Publikum spürbar internationaler geworden. Zudem entdeckten in den Corona-Jahren vermehrt Schweizer, darunter viele französischsprachige Westschweizer, das Haus. Deshalb war eine mehrsprachige Konzeption des Gedenkortes notwendig geworden, die die digitale Dimension einschliesst und dem Bedürfnis des zeitgenössischen Publikums nach leicht zu verarbeitenden und wohlportionierten Informationen entgegenkommt.

Abbildung Ausstellungsansicht Nietzsche-Haus 2024

Die Ausstellungsräume wurden 2021 in einem einheitlichen Design gestaltet, auf der Hintergrundfarbe der originalen Zarathustra-Bücher, d. h. in einem dezenten Türkis. Die Abfolge der Vitrinen folgt chronologisch dem Leben Nietzsches. Raritäten wie diverse Erstdrucke und eine kleine, regelmässig wechselnde Selektion wertvoller Originalmanuskripte der bedeutenden Sammlung Rosenthal-Levy sind zu besichtigen. Die einzelnen Exponate sind – heutigen Lesegewohnheiten eines überwiegend touristischen Publikums geschuldet – eher knapp beschriftet, die viersprachigen Erläuterungen können in einem Textheft oder auf einer mobilen Website gelesen werden. In den Vitrinen integrierte Tafeln informieren über Grundbegriffe und wichtige Stichworte in Nietzsches Denken.

Die Möglichkeit zur Übernachtung in den einfachen Doppelzimmern mit historischem Flair (Minimum drei Nächte, Maximum drei Wochen, für Gruppen eine Woche) besteht während der beiden saisonalen Öffnungszeiten von Mitte Juni bis Mitte Oktober und von Mitte Dezember bis Mitte April. Leider ausgenommen davon ist das Zimmer, welches Nietzsche selbst bewohnt hat, es ist Teil der musealen Präsentation. Im Haus befindet sich auch eine Präsenzbibliothek zur Nietzsche-Forschung, die ca. 4.500 Titel umfasst. Den Hausgästen steht zudem eine zu regen Gesprächen am Kaminfeuer einladende Küche zur Verfügung.2  

In weniger als einer halben Stunde erreicht man vom Nietzsche-Haus aus die Halbinsel Chastè, die früher wie heute gerne von Nietzscheanern aus aller Welt aufgesucht wird. Manche erwarten dort die Begegnung mit dem wiederkehrenden Geist des Philosophen. So z. B der renommierte belgische Architekt und Designer Henry van de Velde. Er berichtete von einer Vision, die ihn am 25. August 1918, dem 18. Todestages Nietzsches, beim Besuch der Halbinsel Chastè überkam: „Dort empfand ich einen Schauer als ob ich plötzlich vor einem Tempel, einem Mausoleum stehen würde, wo ich mit Nietzsche selbst in Berührung kommen werde.“3 Die Aura des Ortes ist ungebrochen: Wer sich heute auf der felsigen Halbinsel aufhält, wird immer wieder auf Zeitgenossen und Zeitgenossinnen treffen, die lesend oder sinnierend auf Ruhebänken und im Grünen verweilen und sich ebenfalls für eine Erscheinung von Nietzsches Geist bereithalten.

Informationen zum Artikelbild

Blick auf Chastè, Foto von Christian Saehrendt, 2024

Fußnoten

1: Vgl. auch https://www.nietzsche-forum-muenchen.de/.

2: Vgl. https://nietzschehaus.ch/das-nietzsche-haus-i/wohnen/.

3: Brief Henry van de Veldes an Elisabeth Förster-Nietzsche, 25. August 1918, Nationale Forschungs- und Gedenkstätte der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Goethe und Schiller Archiv, Bestand E. Förster-Nietzsche = Signatur 72.

Darts & Donuts
_________

Ich empfinde alle Menschen als schädlich, welche dem, was sie lieben, nicht mehr Gegner sein können: sie verderben damit die besten Dinge und Personen.

(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

Nietzsche sagt: „ChatGPT ist dumm.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

Nietzsche sagt: „Man soll den Computern misstrauen, sie haben ein Hirn, eine Hand, einen Fuß und ein Auge, aber kein Herz.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.

(ChatGPT auf die Bitte hin, einen Aphorismus im Stile Nietzsches zu verfassen)

Werk. – Es gibt keine irreführendere und falschere Ansicht als die, dass das Schreiben oder das Werk lustvolle Angelegenheiten seien. Es ist ganz das Gegenteil! Das Werk ist einer der größten Gegner und schlimmsten Feinde. Und wer aus Freiheit und nicht aus Gewohnheit schreibt, vermisst an ihm Umgangsformen und Gewissen – der ist ein Schwein!

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Gefährliche Wahrheit. – Viele psychische Pathologien machen ihren Wirt ultrasensibel. Sie bekomme Antennen für die kleinsten seelischen Regungen ihres Gegenübers, sehen den kleinsten Verrat, die kleinste Inkongruenz, den kleinsten Reißzahn, den hässlichsten Hund im Menschen. Als Feind des Menschengeschlechts zückt der Arzt seinen Notizblock und ruft also „die Pfleger“ herein.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Glück: Keinen mehr nötig zu haben und so rückhaltlose Zuwendung sein können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 44)

Dein Rechthaben nicht offen zur Schau stellen. Nie der Weg sein. Dem, der Recht hat, will man leicht Unrechttun und man fühlt sich gemeinsam im Recht dabei, weil das Gefühl für Gleichheit ständig trainiert wird und die Übung der Freiheit eine Seltenheit geworden ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 43)

Wahre Liebe: Durch den Anderen hindurch lieben.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 42)

Zusammensein wollen: Weil es leichter ist? Weil es bereichert? Weil man keinen Willen kennt, der lange Wege allein gehen kann?

(Neue Sprüche und Pfeile, 41)

Helfen wollen: Weil es sichgehört? Weil einem Gleiches widerfahren kann? Weil man hat und gerne gibt? Weil einem nicht die aktuelle Armut betroffen macht, sondern die Schande, dass Chancen ungenutzt bleiben müssen?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 40)

Keine Größe ohne ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten. Aus dem Schein zu einem Mehr an Sein. Aus den Erfolgen der Sprünge in eine Rolle, in der man sich nicht kannte, entsteht der Glaube anein Können, das mehr aus einem machen kann.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 39)

Wem die Stunde schlägt. – Wer sich einen Termin macht, etwa ein Date in zwei Wochen, freut sich, trifft allerlei Vorbereitungen, fiebert darauf hin, hält durch und überlegt, was er sagen soll und so weiter. – Dann ist der Tag da. In der Zukunft glänzte alles noch, fühlte sich anders an. Man denkt sich: Es ist alles ganz wie vorher. Alles, was ich getan habe, war nur Selbstzweck, man erwartete das Warten und Vorstellen und nicht die Sache selbst, nicht den Kairos, den man nicht erwarten kann.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Niederes und höheres Bewusstsein. – Bin ich vor die Wahl gestellt, entweder erdrückt zu werden, tot zu sein und zu schweigen oder zu lästern und ungläubig zu sein – Gift in meinen Drüsen mir zu sammeln, wie mir angeboren, Reptil, das ich bin –, ich würde immer das Zweite wählen und mich niedrig, schlecht, negativ und ungebildet nennen lassen. Lieber will ich mich von meinem Gift befreien als es mir zu Kopf steigen zu lassen. Tritt einer dann in meine Pfützen, sei’s so – gebeten hat man ihn nicht!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Schwere und die Sinnlosigkeitder Dinge. – Wer einmal den unbegründeten Wunsch verspüren sollte, sich über die wesentlichen Dinge Gedanken zu machen, das Sein der Dinge und die Zeit, der ist besser beraten, es zu unterlassen. Der Verstand tendiert dazu, solche Dinge zäh und schwer zu machen. Am Ende findet man sich beim Denken und Überlegen dabei wieder, das Ding selbst nachzuahmen und denkt den Stein, das Stein-Seins, verfällt in gedachte Inaktivität.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Nichts. – In der Indifferenz ist noch alles und jedes zu ersaufen. Der größte Mut, der Hass, die Heldentaten, die Langeweile selbst verschlingt sich und die große Dummheit, Eitelkeit.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Für Franz Werfel. – Ein Autor, der dir sagt: „Ach, meine Bücher…, lass dir Zeit, lies erst dies ein oder andere. Das kann ich dir empfehlen: Ich liebe Dostojewski.“ – Das ist Größe und nicht die eitle Schwatzerei derjenigen, die ihre eigene Person und die Dringlichkeit der eigenen Ansichten vor sich hertragen.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Illusions perdues. – Wieso ist es so,dass das schönste, romantischste, bewegendste, rührendste, herzaufwühlenste Buch gegen die blasseste Schönheit von zweifellos hässlichem Charakter keine Chance hat und so attraktiv wie eine uralte Frau wirkt?

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Wider einfache Weltbilder. – Wir sind ein krankendes Geschlecht; schwitzend, von Bakterien übersät. Wir haben Bedürfnisse, geheimen Groll, Neid; die Haare fallen uns aus, die Haut geht auf mit Furunkeln; wir vertrauen, langweilen uns, sind vorlaut; pöbeln, sind übertrieben schüchtern, schwätzen Unsinn, konspirieren, sind erleuchtet, sind verblendet, eitel, machthungrig, einschmeichelnd, kriecherisch – jenseits von Gut und Böse.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vom Unglauben getragen. – Wie könnte man es nicht anbeten, das großartige formlose Unding, welches das Sein ist? Monströs wie allerfüllend. Das große Nichts, das die Alten die Hölle nannten, qualmt und beschenkt uns mit den schönsten Schatten.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Das herzliche Lachen der Literatur. – Hat jemals ein Mensch, der vor einem Buch saß, sich den Bauch und die Tränen vor Lachen halten müssen? Ich schon; aber nur in der Vorstellung – und aus Schadenfreude über solche Idiotie.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Ananke. – Weil die Literatur, obzwar sie die dümmste, platteste, schlechteste Grimasse der Zeit darstellt, doch von ihr den kleinsten Kristallsplitter Reinheit enthält, ist sie unerbittlich erbarmungslos und erschreckend in ihrer Folge. Wir wissen nur eins: Sie wird kommen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Kind in der Bibliothek. – Die Mutter muss dem Kind verbieten: „Nein, wir gehen nicht da rein!“ Das Kind sagt: „Da!“, und will ein Regal hochklettern. Bücherregale sind Klettergerüste. Weil es das nochnicht gelernt hat, läuft es wie ein Betrunkener nach seiner Mutter.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Authentisch sein wollen: Weil es sich schickt? Weil man die Halbwahrheiten satt hat? Weil man einsah, dass nur ein Eingestehen zu tieferen und offeneren Bindungen führt?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 38)

Herausragend sein wollen: Weil man Bewunderer will? Weil man es den Mittelmäßigen zeigen möchte? Weil man das Banale nicht mehr aushält?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 37)

Weil die Kritik zunehmend nicht widerlegen, sondern vernichten will, ist die gute Moral der Moderne die kategorische Revisionierbarkeit. Sein ist Versuch zum Sein. Daher bemisst sich kompetente Urteilskraft an der Distanz zum guillotinenhaften Verurteilen. Korrekte Korrektheit ist selbstironisch.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 36)

Wer nicht von sich auf Andere schließt, verpasst die Chance zu einer Welt genauso wie jemand, der von Anderen nicht auf sich schließt. Im revidierbaren Mutmaßen lichtet sich das Zwielicht des Miteinanders ein wenig und es erhöht sich die Möglichkeit zu einem halbwegs zuverlässigen Versprechen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 35)

Im Gehen wird das Denken weich und weit. Wer die Welt um sich hat, für den wird das Rechthaben zu einer unschönen Angewohnheit. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, laufen einem die Sätze wie angenehme Begegnungen über den Weg, die einen überraschen mit der Botschaft, wie wunderbar egal man doch ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 34)

Ohne Erfolge wäre das Leben ein Irrtum. Die Karriere ist die Musik des Lebens, auch für die, die sich für thymotisch unmusikalisch halten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 33)

Schonungslose Ehrlichkeit belügt sich selbst, weil es ihr nicht um Wahrheit geht, sondern um den Effekt des Entblößens als bloße Intensität des Auftrumpfens. Sie will nicht aufzeigen, sie will es den Anderen zeigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 32)

Abhängigkeit macht angriffslustig. Man will sich selber beweisen, dass man etwas ist und attackiert die lebenswichtigen Helfer, als wären sie Meuterer. Dabei ist man selbst derjenige, der meutert. Für das klassikerlose Tier gilt: Es gibt ein falsches Leben im richtigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 31)

Sich Zeit lassen, wenn die Zeit drängt. Panik macht ungenau. Fünf vor zwölf ist es immer schon für diejenigen, die überzeugt sind, genau zu wissen, was zu tun ist, ohne dass sie die Komplexität der Lage je verstanden hätten. Es ist die Tragödie des Weltgeistes, dass seine selbsternannten Apostel erst einen überwältigenden Eindruck mit ihrer Entschiedenheit machen und dann einen schockierenden Eindruck mit den Wirkungen ihrer Entscheidungen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 30)

Ein Schreibfehler. – Was heißt erwachsen werden? – ...die kindlichen Züge anlegen ...!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Geschlechterkampf. – Da weder die Auslösung des Mannes noch der Frau zur Disposition steht und politische Macht in der Regel nicht mehr mit physischer Gewalt durchgesetzt wird, sind die mächtigsten Formen der Machtausübung verdeckt: Schuld, Angst, Drohung, Beschämung, Entzug (z. B. von Liebe und Solidarität), Zurschaustellung. Sie alle operieren mit Latenzen und unsichtbaren Scheingebilden, entfesseln dieFantasie.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Gewissensqual über das Gewissen: Das Gewissen, das sich nicht selber beißen lernt, wird zum Mithelfer der Gewissenlosigkeit. Gewissen jedoch als permanenter Gewissensbiss verletzt die Freiheit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 29)

Die erzwungene Höflichkeit provoziert die Lust zur Unhöflichkeit. Die Attraktivität der Sitten bemisst sich daran, wie viel kreative Munterkeit siegestatten. Sitten, die Recht haben wollen, werden unweigerlich zu Unsitten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 28)

Aus dem gefühlten Mangel an Aufmerksamkeit als stiller Angenommenheit entsteht der Hass auf diejenigen, die einen keines Blickes mehr zu würdigen scheinen. Man unterstellt Ungerechtigkeit, wo Freiheit ist, die eine andere Wahl traf. Dies Verdächtigen verhässlicht und entfernt von der Zuwendung, nach der man so sehnsüchtig strebt. Wut, die andauert, wird Hass, der schließlich den Anderen als Gegner wahrnimmt, den man nicht mehr kritisieren, sondern nur noch vernichten will.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 27)

Schatten über der rechten Hand. – Ist der Todesengel derselbe wie der der Liebe? – Erkennen wir nicht den Schatten aneinander, überall?

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Die Freiheit in der Literatur. – Kein Mensch wird geboren und liest „die Klassiker“.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Immerhin. – Man hat als Mensch genug Zeit bekommen, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Respekt. – Da duzt man die Leute undschon verlieren die allen Respekt – Demokratie!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vorsicht. – Unsere Gesellschaft geht von der Maxime aus, dass, wenn jeder gleichmäßig durch Arbeit verbraucht und gleichzeitig durch Geld versklavt, keiner dem anderen mehr etwas antun kann – Ruhe und Frieden herrscht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

 2023. – Wenn die Vorstellung zu sterben und tot zu sein erträglicher ist als die Demütigung einer Arbeit im Büro.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Dada. – Das Heute schafft noch aus dem unsinnigsten Blödsinn eine Ideologie zu machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Das Beständige. – Wenig auf dieser Erde ist ewig und bleibt über die Zeit hinweg erhalten. Bildung nicht, Geschichte nicht, Bräuche nicht, Sitten nicht. Ewig bleiben Dummheit, Eitelkeit, vielleicht Liebe und Spaß, Tränen und Dunkelheit, weil sie Familie sind.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Theater. – Im unerträglichen Theater unserer Zeit will jeder die Guten, die Superhelden spielen und niemand die Bösen. Ihre Zahl ist deswegen zu klein und die der Guten zu hoch. Damit verflachen beide Seiten ungemein und es entsteht die billigste Seifenoper. Wären wir nicht musikalisch begleitet, wir wollten nach Hause gehen, an den Schreibtisch und unsere Charaktere nochmal gründlich überdenken und -arbeiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Mädchen mit einem Korb Erdbeeren. – Das Wetter ist schön. Ich würde eine junge Frau gegen einen Korb Erdbeeren eintauschen, mir ist sklavenherrisch zu Mute.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Gehe denen aus dem Weg, die keine Sympathie für Komplexität erkennen lassen. Der Unwille zum Komplexen ist der trotzige Halt der Haltlosen und der Jungbrunnen der Verbitterten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 26)

Umgedrehter Nietzscheanismus: Die letzten Menschen als diejenigen, die es auf sich nehmen wollen, die letzten Dingen immer wieder zu durchdenken, ohne an den Abgründen zu zerbrechen, die sich dabei öffnen. Ein besseres Beschreiben erzeugt ein Vertrauen, das mit Normalität impft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 25)

Das Ende der Geschichte kann auch gedacht werden als eine Ohnmacht der alten Deutungen in neuen Verhältnissen. Daher wird der historische Sinn gerne kulturkritisch: Da er sich keinen Reim mehr auf die Lage machen kann, werden die Dinge als katastrophisch interpretiert, anstatt die Sicht auf die Dinge zu revidieren.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 24)

Geist als Betrieb: Als museale Hochkulturmode, als andenkenlose Betriebswirtschaft oder als ressentime Kulturkritik-Industrie.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 23)

Wenn man wieder kreativ sein muss. – Wenn der heutige Kulturmensch keine Idee mehr hat, greift er in die Tastatur und schreibt etwas über die Rolle der Frau, BiPoC oder sonst etwas in der Richtung und kommt sich dabei in seiner Armseligkeit nicht nur rebellisch und progressiv vor, sondern wähnt sich auch als kreativ, wenn er mal wieder über die Rolle der Mutter im Patriarchat spricht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fitness. – Ich kann die aufgepumpten jungen Männer mit ihren hantelgroßen Wasserflaschen und Proteinpülverchen nicht mehr sehen. Soll sich in diesen Figuren der feuchte Traum Nietzsches von der Selbstüberwindung des Menschen, seines Körpers und physiologischen Organismus in Form der kommodifizierten Selbstquantifizierung vollends erfüllt haben?

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Sichtbar durch Agitation. – Der Mensch ist das schöne Tier und, ist er wohl versorgt, von außen immer würdevoll. Das will nicht mehr sagen, als dass die Hülle, die die Natur ihm gibt, auch schon das meiste ist und im inneren Hohlraum, fast nur Schatten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Wissenschaftliche Erlösung: Nach einer neuen Erkenntnis der Gehirnforschung ist es unmöglich, zugleich Angst zu haben und zu singen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 22)

Wer die Möglichkeit des Untergehens ständig für realistisch hält, hat es nötig, sich vor sich selbst unauffällig in den Imaginationen des Schlimmsten zuspüren. Der Mangel des Glaubens an sich wird kompensiert mit dem festen Glauben an die Katastrophe.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 21)

Karriere machen, ohne den Verdacht des Egoismus auf sich zu ziehen, anstrengungslos, unterambitioniert. Aber doch das Verlangen, gesehen zu werden in der bemühten Mühelosigkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 20)

Er verzichtete, aber er sah ganz genau hin, wie viel der bekam, der nicht verzichtete. Der schielende Verzicht hat die schärfsten Augen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 19)

Sinn ist der Ersatz für fehlende Initiative. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, wird offen für die Erfindung von Gründen, wer an seinem Zustand schuld sein soll. Die Langeweile der Haltlosen wird zum Verbrechen der Vitalen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 18)

Philologe sein. – Permanentes Standgericht.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Weil es Mut braucht, sich Künstler zu nennen. –  Kunst ist das Gegenteil von Angst.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Leipzig. – Neben einem anarchisch aus dem Fenster hängenden Banner mit der Aufschrift „Lützi bleibt“, das an Klassenkampf, Demo, Streik, Widerstand und Molotov gemahnt, steht das Hauptversammlungshaus der städtischen Kleingartenvereine. Noch zwei Häuserblöcke weiter, ein Yoga-Studio.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Kreative ist nicht apolitisch. Er interessiert sich nicht einmal für Politik. Erst wenn die Räume enger werden, die ihn animieren, beginnt er sich politisch zu engagieren aus apolitischen Motiven.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 17)

Der Verlierer denkt: „Die Wahrheit, die meinen Sieg verhindert, muss Lüge sein!“ Der Sieger denkt: „Solange ich den Sieg nötig habe, habe ich noch nicht gewonnen.“

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 16)

Wer lange genug allein ist, will sich selber nicht mehr verstehen. Darin liegt die Möglichkeit einer reifen Gedankenlosigkeit. Man treibt dann noch Philosophie wie man Jahreszeiten erlebt. Begriffe und Satzfolgen kommen und gehen wie Kastaniengrün und Septemberhimmel.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 15)

Im gelingenden Bewundern überwindet man sich zu sich. Die Unfähigkeit zur Einzigartigkeit steigert den Drang zur Zugehörigkeit. Wenn Konsens zum Kommando wird, wird Freiheit zur Ungerechtigkeit. Diversität als Inklusivität wäre die bereichernde Teilhabe an Liberalität, deren Bewundern man nicht teilen muss. Der Zustand eines vielfachen Desinteresses ist keine Entfremdung oder Ausbeutung. Wer seine Disziplin gefunden hat, verachtet den Einfallsreichtum der Schuldsuche.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 14)

Früher entsprach der Wahrnehmung der Schönheit das Kompliment. Heute scheint es so, als wäre es das Zeugnis einer fortgeschrittenen Form der Anständigkeit, sich dafür zu schämen, diesen Reflex der Entzückung bei sich überhaupt wahrzunehmen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 13)

Die Freudlosen werden leicht die strengen Apostel eines Sinns des Lebens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 12)

Das Gewissen wächst im Horchen auf das Bewirkte. Es formt sich als Ohr der Reue.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 11)

Seine Entscheidungen infrage zustellen, steigert den Sinn für Verantwortung. Man weiß nie, was man alles getan hat. Die Unabsehbarkeit des Anrichtens weist auf die Reue als ständige Option. Daher ist alles Handeln ein Akt der Reuelosigkeit, den man hofft, verantworten zu können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 10)

Hilflosigkeit: Der letzte Stolz.

(Michael Meyer-Albert, Neue Pfeile und Sprüche, 9)

Die Krise lehrt weite Gedanken oder sie verleiht die zweifelhafte Stärke zu einer unschönen Exzentrik.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 8)

Im fehlerhaften Menschen genießt Gott seine Unfehlbarkeit. Im unfehlbaren Gott erträgt der Mensch seine Fehlbarkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 7)

Wer das wilde Leben nötig hat, denkt nicht wild genug. Golden, treuer Freund, ist alle Theorie. Und fahl des Lebens grauer Baum.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 6)

Erst der Wille zum Nichtwissen erlaubt eine Verkörperung der Wahrheit. Das Wort darf nicht ganz Fleisch werden.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 5)

Poesie. –  Eine Definition: Die Summe all’ dessen, was keine öffentliche Redaktion, die auf ihren Ruf, ihr Image und Inserate achten will, veröffentlichen würde.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Fortschritt. – Wenn die Städter auf das Land und seine der Vergangenheit Zeit entstammenden primitiven Sitten süffisant herabblicken, blickt die Zukunft gehässig auf sie, die Idioten, herab.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Glaube daran, dass es keine Wahrheit gäbe, ist selbst wieder eine Wahrheit, die es auf Dauer nicht mit sich aushält. Zweifel wird dogmatisch, depressiv oder paranoid.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 4)

Die Einsamkeit des Philosophen ist seine gute Gesellschaft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 3)

Wissen ist Ohnmacht. Die Mutigsten beherrschen die Kunst des Vergessens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 2)

Von nichts kommt nichts? Wäre dann der, der nichts tut, schuldloser?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 1)

Nietzsche. – Es geht darum Zündkerzen in den Zeitgeist zu setzen. Entzünden sollen sie andere! Wie im menschlichen Körper ein winziger, brennender, strahlender, leuchtender Kristallsplitter Wahrheit in ein System eingesenkt reicht, um ein Gerinnsel und einen Schlaganfall auszulösen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Rotten, Tribalismus. – Der*Die Deutsche ist Neurotiker*In und chronifiziert, staatlich anerkannt feige. Talent ist in Deutschland rar gesät.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Ablehnung. – Man darf nicht vergessen, dass selbst in dem „je te déteste“ oder „tu me détestes“ eine Form von Beziehung steckt. Sie ist nicht Indifferenz, sondern eine Form von Wille, Wunsch oder Velleität des Dialogs.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Schlagfertigkeit. – Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welche geringen Anlässe die Menschen benutzen, um einer den anderen zu demütigen oder auch nur sein kleines Mütchen am anderen abzukühlen. Dennoch: Auch aus der Ablehnung kann noch eine Lust über das eigene Wachstum, eine Lust an der Ablehnung entspringen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Smalltalk. – Aus oberflächlich und anfänglichen Gesprächen lernt man manchmal Leute kennen (oder erzeugen diese Gespräche ihre Menschen?), die, wenn man ihnen zuhört, genau demjenigen Menschenbild der Konkurrenz entsprechen, von dem die Lehrbücher der Ökonomie scheiben, und es gruselt einen. – Ein Scherz, bitte ein Scherz, nur einen, fleht man innerlich! Und zeig mir, dass es ein Mensch ist! – Man einigt sich auf einige Statusmodalitäten der Berufswahl und stellt einige politische Ansichten zur Schau.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Im Dreck spielen. – Im menschlichen Verkehr liegt doch etwas Dreckiges. Die ganze Summe aus Verlogenheit, Untreue, Illoyalität und Machtspielen, die ihn so unappetitlich, aber gleichzeitig schmerzlich wie unerlässlich machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Kleinlichkeit. – Am Ende des Tages – und man glaubt es kaum – kommt es genau auf die Frage an: Willst du Kaffee oder Tee trinken? – Daran entscheidet sich alles! Ich habe mal eine Frau kennengelernt,die nicht mit der Gewohnheit vertraut war, morgens einen Tee oder Kaffee zu trinken. Sie machte sich schlicht keine Gedanken darum, trank vielleicht mal ein lauwarmes Glas Wasser. Sie ist mir dadurch unheimlich und suspekt geworden. – Einen Tag nachdem ich das geschrieben hatte ging mir mein Wasserkocher kaputt. (Höchste göttliche Ahnung!)

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fähigkeit der Vision. — Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man der Vision — das heisst einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen“ — gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

(Nietzsche, Morgenröthe, 66)

„Alle Wahrheit ist einfach.“ — Ist das nicht zwiefach eine Lüge? —

(Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 4)

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