Nietzsche POParts
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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches





Artikel
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Mit Nietzsche und Marx in die Erbstreitrunde
Über Jonas Čeikas "How to Philosophize with a Hammer and Sickle"
Mit Nietzsche und Marx in die Erbstreitrunde
Über Jonas Čeikas How to Philosophize with a Hammer and Sickle


Nietzsche ist immer wieder Gegenstand politischer Deutungsprojekte geworden, von links wie von rechts. Nietzsche und Marx wurden immer wieder aufs Neue als Doppelgespann einer Konzeption umfassender Emanzipation jenseits der ausgetretenen Pfade der dominanten linkspolitischen Strömungen betrachtet. In seinem Buch How to Philosophize with a Hammer and Sickle. Nietzsche and Marx for The Twenty-First Century und in zahllosen Youtube-Videos aktualisiert Jonas Čeika diese Sichtweise für unsere Zeit. Henry Holland hat sich für Nietzsche POParts mit der Frage beschäftigt, was von diesem Ansatz zu halten ist.
Jonas Čeika will „die Verhältnisse“ mit einem Mix aus zwei der einflussreichsten Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts „aufheben“, also die Gesellschaft grundlegend transformieren. Einige vergangene Autoren hatten solche Ambitionen. Dennoch hat seit langem kein linkspolitisches Philosophieren so hohe Wellen schlagen lassen. Das erkennt man an der sprachlichen Härte der Gegenschriften. Anfang 2024 konterte etwa Daniel Tutt mit seiner Darlegung How to Read Like a Parasite. Why the Left Got High on Nietzsche, die im selben Verlag, Repeater Books, erschien. Tutts gewöhnungsbedürftige Metapher ruft zu einem Eindringen in Nietzsches „Community“ auf, um dort eine Umdeutungsarbeit auszuführen (vgl. S. 331). Indem er die „Hermeneutik der Unschuld“ (ebd.) aus dem Werkzeugsatz verbannt und den Verdächtigen erneut vernimmt, will Tutt Nietzsches „wahre“ politische Anliegen als Hauptantrieb seines Denkens bloßlegen.
Diese hitzige Entwicklung ist Čeikas verdammt gutem Schreibstil und seinen populären Videos geschuldet, die beide Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Bevor ich auf Čeikas Entwurf eingehe, soll zuerst ein Abriss der vorherigen Geschehnisse in der gleichen Debatte folgen.
Als Seth Taylor 1990 Left-Wing Nietzscheans. The Politics of German Expressionism 1910-1920 herausbrachte, war der Streitgegenstand die vorgeworfene Nähe zwischen Nietzsche, den Denkern der „Konservativen Revolution“ und faschistischer Ideologie überhaupt. Taylor kritisierte darin extreme Formen dieser Genealogie, Georg Lukács’ Die Zerstörung der Vernunft (1954) zum Beispiel, welche Nietzsche als geistigen Mitverursacher des Faschismus charakterisierte. Substantieller war Steven Aschheims The Nietzsche Legacy in Germany, 1890-1990 (veröffentlicht 1992), der Lukács’ Angriff auch nicht auswich. Aschheim hielt Lukács’ Verdammung von Nietzsche für eine „antimodernistische“ (S. 42) – was auf die Ignoranz gegenüber dem Zeitgeist in Lukács’ Volten gegen den Expressionismus abhebt. Dennoch lehnen sich jüngere Kritiker wie Daniel Tutt noch stark an Lukács’ Zerstörung an und erheben erneut Anklage. Nietzsche, so diese Kontrahenten, könnte allzu leicht von Rechten zum Vordenker des Faschismus umgeschmiedet werden, und hat auch bewusst den geschichtlichen Vorgänger des Faschismus verteidigt: Eine „bonapartistisch-liberale Herrschaftsordnung“ – so Tutt (S. 34) –, welche „konzipiert“ wurde, um „Aufruhr von unten“, also vor allem von den sozialistischen Bewegungen, „zu maßregeln“ (ebd., S. 42).
In den 2020er Jahren angekommen, treten bei Čeika neue Beweggründe für das aufgeladene Gespräch ans Licht. Das Freiheitsraubende der Lohnarbeit und der Arbeitsteilung wird wieder sichtbarer, die Verpuffung vieler unserer politischen Handlungen auf bürokratisierten Seitengleisen spürbarer. Gleichzeitig wollen wenige sich als „links“ identifizierende Menschen an den Grundkoordinaten ihres kollektiven Denkens und Handelns rütteln. Čeika möchte deshalb den Denker, „der die Kategorien der Moderne als Ganze überwinden will“ (Hammer and Sickle, S. 4) – Karl Marx – neu sprechen lassen. Nietzsche soll „benutzt werden, um den Marxismus auszugraben“ (ebd.), samt seinen ignorierten oder absichtlich verzerrten Elementen. Beim Plädoyer für einen nietzscheanischen Marxismus geht es darum, „das menschliche Element wiederherzustellen – aktive menschliche Wesen, ihre gelebte Erfahrung, und die persönlichsten ihrer Belange“ (ebd.).
Philosophie des Seins gegen Philosophie des Werdens
Überhaupt bietet Čeikas Buch eine informierte und feurige Einführung in die faszinierendsten und folgenschwersten Konzepte und kritischen Gedanken Friedrich Nietzsches: den „Sklavenaufstand“, die Unmöglichkeit einer einzigen, objektiven Wahrheit und die „ewige Wiederkunft“, um nur drei exemplarisch zu nennen. Philosophiegeschichtlich leitet Čeika seine zwei Protagonisten ein, indem er ihre gemeinsame Wurzel in „der langen philosophischen Tradition des Werdens“ (ebd., S. 27) identifiziert, die „mindestens“ (ebd.) auf Heraklit (geb. um 520 v. Chr.) zurückgeht. Diese Tradition zelebriert er als „lebensbejahende“ und stellt sie als antagonistisch zu „der lebensvereinenden Tradition in der Philosophie“ (ebd.) – in diesem Modell: die Philosophie des Seins –, dar. Letztere schließt Platon mit ein, reicht aber „mindestens“ bis zu Heraklits Zeitgenossen Parmenides zurück. Von diesen beiden parallelen Anfängen her fließen beide Strömungen durch die westliche Philosophie wirksam bis heute fort. Dieses schlichte Schema ist plausibel und sicherlich eine willkommene Orientierung für Neuankömmlinge in der Philosophiegeschichte. Solche haben Čeikas Buch bereits zuhauf gelesen, viele davon wurden darauf über seinen gut besuchten Philosophie-Kanal auf Youtube aufmerksam. Aber vor allem die moralische Wertung der zwei Strömungen – Philosophie des Werdens = progressiv, die Gesellschaft verändernd; Philosophie des Seins = boshaft, reaktionär – kann so nicht stehen bleiben. Wo sollte zum Beispiel Carl Schmitt (1888-1985) eingeordnet werden, der die nationalsozialistische Machtergreifung philosophisch untermauerte und den fortschreitenden Umsturz der westlichen Demokratien unterstützte?
Das ändert aber nichts an die Gültigkeit von Čeikas Kritik an der Philosophie des Seins, die er am Beispiel Platons ausführt, und an die Überzeugungskraft von Čeikas Porträt Nietzsches als den Philosophen „der einzigen Welt, die wir wahrhaft kennen – die sich stets verändernde, die wir durch unsere Sinne erfahren“ (ebd., 26). Weg mit Platons „ewiger Welt der [außersinnlichen; HH] Formen“ (ebd., S. 26) als „wahre“ (ebd.) Grundlage der Realität! Aber Čeika meint damit sicherlich nicht, dass große historische Umbrüche, von denen wir mehrheitlich Kenntnisse nur aus Überlieferungen und nicht von unseren Sinnen her haben – China während der sog. „Kulturrevolution“ zum Beispiel – kein Gegenstand einer Philosophie des Werdens sein sollen. Gelegentlich steht die rühmliche Lust des Autors auf affektvolle Formulierungen ihm selbst im Weg. Insgesamt geht er jedoch mit begrifflicher Schärfe vor.
Eng hiermit verbunden, rückt Čeika Nietzsche, mittels seiner Biographie, als Philosoph des (menschlichen) Körpers in den Vordergrund: „Lasst uns uns daran gewöhnen, Philosophen von ihrer Symptomatik her zu lesen: Das Leiden und Kranksein, das Nietzsches ganzen Körper einnahm, zwang ihn dazu, dem Körperlichen unentrinnbar bewusst zu sein.“ (Ebd., 24.) Was Nietzsches unvermeidliche Obsession mit dem eigenen Körper lehrt, ist aber ambivalenter. Einerseits bieten die durch den Körper empfundenen Vergnügungen und auch Schmerzen, aus denen heraus Nietzsche seine Philosophie schreibt, einen für viele nachvollziehbaren Zugang: Von dort aus können Leser seine kniffligeren Konzepten dann individueller, sprich auf für sich bedeutungsvollere Weise begreifen.
Es gibt andererseits Schlüsselereignisse und Prozesse im Körperleben, welche ein Philosoph des Körpers nicht ignorieren kann: Sex und Sexualität stehen hier oben auf der Liste. Wie hat dann aber Nietzsche Sexualität empfunden und reflektiert? Hierzu sagt Čeika wenig, obwohl es Einiges zu berichten gäbe. So sprach sich Nietzsche beispielsweise für Sexualkunde für Frauen vor der Ehe aus, also gegen das übliche Tabuisieren des Themas, um ein Leiden am Sex nach der Eheschließung zu vermindern.2 Neben solchen zu bejahenden Stellen gibt es aber auch diejenigen, die zur Eugenik neigen, und von einem Ekel vor heterosexuellen Sex zeugen. In den Nachgelassenen Fragmenten vom Herbst 1881, Nr. 14[16], will der Autor etwa, dass „[d]ie Erlaubniß, Kinder zu zeugen“ als „eine Auszeichnung verliehen werden“ sollte, um dadurch dem „so üblichen geschlechtlichen Verkehre der Charakter eines Mittels der Fortpflanzung“ zu nehmen.
Trotz der vielen Fragezeichen, die Werk und Leben hervorrufen, stellt Čeika Nietzsches Heterosexualität nicht in Frage und erzählt zugleich, wie Nietzsches Suche nach einem „erfolgreichen Liebesleben“ (57) gescheitert ist – ein unnötiger Euphemismus. Joachim Köhlers Alternativgeschichte – Zarathustras Geheimnis –, die seit 1989 deutschsprachig vorliegt und 2002 in englischer Übersetzung erschien (allerdings stark verkürzt), argumentiert allerdings, dass Nietzsche homosexuell war und auch homosexuelle Erfahrungen mit Sexarbeitern in Italien gesammelt hatte. Selbst wenn Köhlers Verständnis wenig Anklang unter Nietzscheanern weltweit gefunden hat, sagt das wiederum, aus Charles Stones queerer Perspektive gesehen, mehr über diese Gelehrtengattung aus, als darüber, wen und wie Nietzsche sexuell geliebt hat. Stones begründetes Schimpfen auf „die Hysterie des prüden Nietzsche-Establisments“, das „seit Jahrzehnten versucht hat, jegliche Diskussion des Philosophens Männer-Liebe zu ersticken“ – veröffentlicht 2018 in The Gay & Lesbian Review – könnte noch einige Leser dazu bewegen, Köhlers Thesen erneut zu erwägen.
Walter Kaufmanns listige Übersetzungen
Es ist Čeikas Verdienst, wie sich sein Buch intuitiv von einem Thema zum nächsten fortentwickelt: Beinahe ist es ein Schmöker – wir wollen wissen, wie es ausgeht! Seiner Behandlung des umstrittenen „Willens zur Macht“ wird die Frage vorangestellt, wie, nach der großen „Popularität Nietzsches bei den Linken“ (Hammer and Sickle, S. 185) bis in die 1930er Jahre, Nietzsche in einen „Nazi-Held“ (ebd.) umwandelt werden konnte. Čeika skizziert die Rezeptionsgeschichte eher als diese allumfassend zu beschreiben, so dass wir nicht explizit erfahren, wie die rechte Rezeption bereits während des Ersten Weltkrieges begonnen hat. Diesen Rechtsruck stellt Čeika in Beziehung zum Buch Der Wille zur Macht, erschaffen von Nietzsches entsprechend orientierter Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche, und nicht von Nietzsche selbst (vgl. ebd., S. 186.) Er weist auch auf Mazzino Montinaris archivarische Forschung hin, welche Montinari zu folgendem Diktum veranlasst hat: „Den Willen zur Macht gibt es Nicht.“ (Ebd., S. 187.)
Diese quellenlose Stelle Čeikas nimmt vermutlich Bezug auf Montinaris „La Volonté de puissance“ n’existe pas (1996): Ein klares Signal, dass Čeika auch nichts von Nietzsches Urheberschaft eines solchen Werkes hält. Dennoch zitiert er im gesamten Buch nicht weniger als sieben Mal aus dem amerikanischen Buch The Will to Power und gibt Nietzsche als Autor und Walter Kaufmann und R. J. Hollingdale als Übersetzer, jedes Mal in den Endnoten, an. Čeika vernebelt die Sache weiter, indem, gegen die gängige wissenschaftliche Praxis, nicht 1968, das Jahr der ersten Ausgabe von Kaufmanns und Hollingdales erfolgreicher Übersetzung, sondern 1901 als Veröffentlichungsjahr angegeben wird: Das Erscheinungsjahr von Förster-Nietzsches ehrgeizigem Werkklau. Und obwohl Čeika gegen Kaufmans Deutung von Nietzsche als „einem im Wesentlichen nicht-politischen Denker“ (Hammer and Sickle, S. 171) spricht, setzt er diese Verzerrung nicht in Verbindung mit Kaufmans übersetzerischer Praxis. Daniel Tutt dagegen geht auf diese ein und findet, dass Kaufmann, „der am meisten gelesene englischsprachige Übersetzer Nietzsches“ (How to Read, S. 31), Nietzsche absichtlich verfälscht hat: „Wörter und Betonungen bezüglich seiner [Nietzsches; HH] Befürwortung des Sklaventums wurden entfernt; sein Hass gegen den Sozialismus und die Arbeiterklasse und seine geistige Umarmung einer Gesellschaft, die auf eine aristokratische Rangordnung fußt, wurden alle abgemildert und heruntergespielt.“ (Ebd., S. 30.) Tutt liefert auch Belege für seine Kritik, mit einem Blick etwa auf Kaufmans Übertragung folgender Stelle aus Ecce homo, Die Geburt der Tragödie, Abs. 4: „Jene neue Partei des Lebens, welche die grösste aller Aufgaben, die Höherzüchtung der Menschheit in die Hände nimmt“. Kaufmann verharmlost diese Passage bewusst, indem er die „Höherzüchtung der Menschheit“ – semantisch starker Tobak –, als das einschläfernde „to raise humanity higher“ (zit. n. Tutt, How to Read, S. 146) wiedergibt.
Die Fülle und er Übermensch
Es kommt einem so vor, als ob Čeika bei einigen verheerenden Stellen in Nietzsches Werk wegschauen will, um seine eigenen Erzählstränge nicht abzuschwächen. Gleichwohl bieten diese Stränge tatsächlich neue Einsichten. So etwa, wenn Čeika aufmerksam auf die Verbindung zwischen Nietzsches Konzepten des „Übermensch“ und der „Fülle“ macht und den Übermenschen als „großzügig aus Fülle“ porträtiert. Er will der hartnäckigen Karikatur von Nietzsches fast bekanntester Figur als einer, der „menschliches Leid egal ist“ (Hammer and Sickle, S. 233), ein Ende setzen. Dabei stützt er sich auf folgende Passage in Jenseits von Gut und Böse, Aph. 260:
Im Vordergrunde [des vornehmen Menschen; HH] steht das Gefühl der Fülle, der Macht, die überströmen will, das Glück der hohen Spannung, das Bewusstsein eines Reichthums, der schenken und abgeben möchte: – auch der vornehme Mensch hilft dem Unglücklichen, aber nicht oder fast nicht aus Mitleid, sondern mehr aus einem Drang, den der Überfluss von Macht erzeugt.
Čeikas Diskussion macht deutlich, dass es sich hier nicht um die Macht handelt, die von bestimmten Staaten der 2020er Jahre, und vorheriger Generationen, verwaltet wird, welche schutzlose Zivilbevölkerungen, ob durch kulturelle Repression, Bombenangriffe oder Hungerpolitik, in Elend sterben und aussterben lassen kann. Wenn Nietzsche vielmehr statt im Deutsch des 19. im Englischen des 21. Jahrhunderts über Macht geschrieben hätte, wäre ihm besser damit gedient gewesen, sich auf den Begriff der „agency“ statt auf denjenigen der „power“ bzw. „Macht“ zu fokussieren. Die Intervention dieses zentralen Gedankens der zeitgenössischen englischsprachigen Philosophie – der sich nur schwerfällig ins Deutsche übersetzen lässt; ‚Handlungsvermögen‘ ist die beste mehrerer unbefriedigender Optionen –, könnte die Debatte um Nietzsches Politik der Macht ganz anders aussehen lassen. Auch nach Čeikas Nietzsche-Verständnis wird Handlungsvermögen von „vornehmen Menschen“ (neuzeitlich: „zu bedeuteten Handlungen fähigen Menschen“) auf die „Unglücklichen“ (neuzeitlich: „in ihren Handlungen stark eingeschränkten Menschen“) übertragen, vor allem aus einem „Überfluss von Agency“ bei den erstgenannten heraus.
Youtube-Community mit Handlungsvermögen
Tutt betrachtet Nietzsches Bemühungen darum, mittels seiner Veröffentlichungen eine globale Community aufzubauen, die mit seiner Philosophie in die Zukunft wirken würde, als unheilvoll – und seine Anhänger vor allem als geprellt von dem sie anführenden Propheten-Philosoph. Jonas Čeika hat über die letzten sechs Jahre hinweg mit großer Resonanz seine Community auf Youtube aufgebaut – ohne erkennbare böse Absichten. Einige seiner älteren Videos, die bereits seit vier Jahren oder länger zur Verfügung stehen, wurden fast eine halbe Million Mal angeklickt, seine Analyse des Spätkapitalismus anhand von „K-Pop“ (koreanischsprachige Popmusik) sogar über eine Million Mal. Die riesige Arbeitsleistung des Schreibens und der Herstellung dieser Bildungsfilme lässt Čeika zum Teil über Abonnenten finanzieren, welche monatlich seine Community unterstützen. Abonnent muss man aber nicht sein, um auf alle Videos zuzugreifen. Sehr hat Čeikas tiefe Begeisterung für Popkultur, vor allem für Filme, ihm dabei geholfen, sein pädagogisch-philosophisches Programm über Youtube zu vermitteln. Parallel zu Čeikas theoretischen Einführungen in den Postmodernismus, in denen Čeika ihn gekonnt gegen Halbwahrheiten der intellektuellen Influencer Jordan Peterson und Stephen Hicks verteidigt, ist zum Beispiel auch eine postmodernistische Kritik des Films bzw. Buches American Psycho zu sehen. Da sich das Ausmaß von Nietzsches anhaltendem Einfluss auf als postmodernistisch verstandene Denker nicht verleugnen lässt – es geht Čeika hier u. a. um Lyotard, Baudrillard, Derrida und Richard Rorty –, schließt sich erstmal der Kreis. Oder tauchen eher alte Kreise in neuen Gewändern wieder auf, um uns mit unserer Beteiligung an der ewigen Wiederkunft neu zu konfrontieren?
Quellen
Aschheim, Steven: The Nietzsche Legacy in Germany, 1890-1990. Berkely 1992.
Čeika, Jonas: How to Philosophize with a Hammer and Sickle. Nietzsche and Marx for The Twenty-First Century. London 2021.
Köhler, Joachim: Zarathustras Geheimnis. Friedrich Nietzsche und seine verschlüsselte Botschaft. Nördlingen 1989.
Lukács, Georg: Die Zerstörung der Vernunft. Berlin 1954.
Montinari, Mazzino: „La Volonté de puissance“ n’existe pas. Übers. v. Patricia Farazzi & Michel Valensi. Paris 1996.
Stone, Charles: The Case of Nietzsche. In: The Gay and Lesbian Review. September/Oktober 2018. Abrufbar unter: https://glreview.org/article/the-case-of-nietzsche/.
Taylor, Seth: Left-Wing Nietzscheans. The Politics of German Expressionism 1910-1920. Berlin 1990.
Tutt, Daniel: How to Read Like a Parasite. Why the Left Got High on Nietzsche. London 2024.
Henry Holland (geb. 1975) ist Literaturübersetzer, aus dem Deutschen ins Englische, und lebt in Hamburg. Darüber hinaus schreibt und forscht er zur Ideen- und Kulturgeschichte und veröffentlichte 2023 zu Ernst Bloch und Rudolf Steiner in German Studies Review. Zusammen mit dem Religionswissenschaftler Aaron French (Universität Erfurt), arbeitet er an einer kritischen, englischsprachigen Steiner-Biographie. Mehr zu Hollands wissenschaftliche Arbeit und Kulturpolitik erfährt man auf seinem Blog, German books, reloaded, oder in Print-Zeitungen. Er ist Mitglied im Hamburger writers’ room: Der Arbeitsraum für literarisch Schreibende in Europa.
Fußnoten
1: Hier wie auch im Folgenden habe ich Zitate aus englischsprachigen Büchern selbst ins Deutsche übersetzt.
2: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 71.
Mit Nietzsche und Marx in die Erbstreitrunde
Über Jonas Čeikas How to Philosophize with a Hammer and Sickle
Nietzsche ist immer wieder Gegenstand politischer Deutungsprojekte geworden, von links wie von rechts. Nietzsche und Marx wurden immer wieder aufs Neue als Doppelgespann einer Konzeption umfassender Emanzipation jenseits der ausgetretenen Pfade der dominanten linkspolitischen Strömungen betrachtet. In seinem Buch How to Philosophize with a Hammer and Sickle. Nietzsche and Marx for The Twenty-First Century und in zahllosen Youtube-Videos aktualisiert Jonas Čeika diese Sichtweise für unsere Zeit. Henry Holland hat sich für Nietzsche POParts mit der Frage beschäftigt, was von diesem Ansatz zu halten ist.
Was bedeutet mir Nietzsche?
Was bedeutet mir Nietzsche?


Unser Stammautor Christian Saehrendt berichtet in seinem Beitrag zur Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ davon, wie er Nietzsche als Jugendlicher entdeckte und sich seitdem als Fan des Philosophen betrachtet – gerade wegen seiner Widerborstigkeit.
Im Alter von sechzehn, siebzehn Jahren wurde ich Nietzsche-Fan – das ist das Alter, in dem man unbedingt Fan von irgendetwas oder irgendwem sein will, Fan im Sinne einer oberflächlichen Bewunderung und eines demonstrativen Bekenntniswillens. Von Nietzsche hatte ich damals nur eine vage Vorstellung als einer düsteren, schillernden und alles in allem etwas unheimlichen Figur. In dieser Hinsicht passte Nietzsche zu meinem Faible für Spuk- und Gruselgestalten, für Horror, musikalischen Hardcore und diverse „Monsters of Rock“. Mich näher und systematischer mit Nietzsches Werk zu befassen – dazu fehlte mir damals die intellektuelle Disziplin und letztlich auch der Wille: denn möglicherweise will man als jugendlicher Fan seinen Idolen auch gar nicht zu nahe kommen. Vielleicht will man sie lieber in unerreichbarer Ferne sehen oder als nebulöse Projektionen eigener juveniler Größenideen kultivieren? Und auch Nietzsche war ein gewisser Abstand zu den Fans wichtig: „Man muss sich zu verdunkeln verstehen, um die Mückenschwärme allzu lästiger Bewunderer loszuwerden“1, notierte er dazu.
Das Buch aus der Abstellkammer
Gut, Friedrich-Nietzsche-Starschnitt-Poster hatte ich nicht in meinem Dachschräge-Jugendzimmer, aber als Nietzsche-Fan würde ich mich dennoch bezeichnet haben. Seine nicht selten großmäulig und anmaßend wirkenden Aphorismen imponierten mir als „Halbstarkem“, seine Philosophie schien wie gemacht für alle, die an den Autoritäten zweifeln – an Eltern, Lehrern, Priestern. Junge Menschen müssen dies ja tun, um überhaupt zu einer eigenständigen Persönlichkeit reifen zu können, Widerspruch und Zweifel sind prinzipiell gut und notwendig. Allerdings hat die Auflehnung und Abnabelung eine Kehrseite: Selbstzweifel, Einsamkeit, Traurigkeit. Man sehnt sich nach Seelenverwandten, nicht immer sind diese zur Hand, also kommt die Fantasie ins Spiel. Im Vorwort zu Menschliches, Allzumenschliches schrieb Nietzsche:
So habe ich denn einstmals, als ich es nötig hatte, mir auch die freien Geister erfunden[.] […] [D]ergleichen freie Geister gibt es nicht, gab es nicht – aber ich hatte sie damals zur Gesellschaft nötig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, Acedia, Untätigkeit): als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen man schwätzt und lacht[.]2
Das ist ein genuin künstlerisches Konzept, welches mir aus meiner Jugend aus eigenem Erleben, wenn auch in milder Variante, bekannt vorkommt: Die Flucht in eine Kunstwelt, welche allerdings an der Grenze zur Wahnwelt angesiedelt ist, wenn man sich zu tief hinein begibt. Man erfindet sich Charaktere, ebenbürtige Freunde, erträumt sich eine Gemeinschaft Gleichgesinnter. So lässt sich Isolation und Ohnmacht ertragen, allerdings nicht auf Dauer, sondern nur als Phase der Latenz, bis der echte Ausbruch stattfindet, bis die Suche nach realen Geistesverwandten und Kampfgenossen beginnt. Es ist ein bekanntes Phänomen in der späten Phase der Pubertät: Nun entfaltet sich das Selbstwertgefühl, schießt allerdings manchmal über das Ziel hinaus. In der Folge macht sich Selbstüberschätzung bis an die Grenze zum Größenwahn bemerkbar. Ein Phänomen, das sich offenbar evolutionär bewährt hat, weil es Mut und unter Umständen mitreißenden Enthusiasmus hervorbringt. Man wähnt sich ungemein stark, schön, unwiderstehlich, geistreich und visionär in diesem Zustand – im Idealfall der Naturzustand aller Künstler und Künstlerinnen. Jugendliche und Künstler verbindet also einerseits die rauschhafte Selbstüberschätzung im Moment, wenn sie sich spüren, wenn sie ihre Selbstwirksamkeit feststellen, sei es im Körperlichen, sei es im Geistigen, Schöpferischen. Andererseits kennen beide auch das Gefühl des Unverstandenseins, des Verkanntwerdens. Nietzsche brachte diese Ambivalenz auf den Punkt:
Der künstlerische Genius will Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so fehlen ihm leicht die Genießenden; er bietet Speisen, aber man will sie nicht, seine Pfeife tönt, aber niemand will tanzen. Kann das tragisch sein? Vielleicht doch.3

Wäre Nietzsche noch am Leben und würde Lesereisen mit Stationen in diversen Thalia- oder Orell-Füssli-Filialen machen, würde ich hineilen und ihm ein bestimmtes Buch mit der Bitte um ein Autogramm vorlegen. Es handelt sich um eine Taschenbuchausgabe von Menschliches, Allzumenschliches aus der Reihe Goldmanns Gelbe Taschenbücher, erschienen in München 1960. Ich entdeckte es 1985 in einem entlegenen Regal in meinem Elternhause, auf einem Bücherfriedhof, wo sich Ausgelesenes oder nie Gelesenes ansammelte. Meine Eltern kauften es Anfang der 1960er Jahren in der besten Wirtschaftswunderzeit, als sich mit dem Abklingen der legendären Fresswelle ein intellektueller Hunger bemerkbar machte, bzw. als Bildung und Bücherborde zum Statussymbol wurde. Meine Eltern sprachen nie über Philosophie, Nietzsche war kein Konversationsthema bei uns. Das Buch muss also aus Bildungsbeflissenheit oder als Geschenk in unseren Haushalt gelangt sein. Ich nahm es aus dem Regal, es wirkte ungelesen, obgleich das billige Papier schon bräunlich verfärbt war. Ich las darin und behielt es bis heute. Es ist kein Prachtband, kein haptisches oder optisches Erlebnis. Ich würde Nietzsche heute ein sichtlich preiswertes Buch zur Signatur vorlegen, der Einband ist etwas berieben und bestaubt, ein seltsam bunt-psychedelisches Covermotiv würde ihm entgegenleuchten, einzelne Seiten sind rissig und lösen sich aus der Klebebindung, eingeknickte Seitenecken, sogenannte Eselsohren, drohen abzubrechen. Der Buchrücken fehlt und ist durch braunes Paketklebeband ersetzt. Im Buch finden sich zahlreiche, von meiner Hand markierte Textstellen, Bleistift und Kugelschreiber kamen hastig unterstreichend zum Einsatz, wilde Malereien neonfarbiger Textmarker, passagenweise schon wieder zu Rosé, Mintgrün und Neapelgelb verblasst, Spuren einer unsystematischen, diskontinuierlichen und sprunghaften, aber doch zugleich aufwühlenden Lektüre!
Nietzsche ist schuld, dass ich Künstler werden wollte.
Nietzsche galt und gilt als Anwalt der Kunst und eines dionysischen künstlerischen Lebensstils – auch wenn er selbst wohl eher davon träumte, als ihn zu praktizieren. Als Partylöwe war er ja nicht bekannt gewesen. Von extrovertierter Ruhmsucht und intrinsischer Schaffensfreude abgesehen, war es aber auch der künstlerische Lebensstil an sich, der Menschen zur Kunst lockte. Bohemiens und Freigeister, Künstlerkolonien und Lebensreformbewegung standen seit Beginn der Moderne für einen alternativen Way of Life. „Künstler werden“ verhiess eine Fluchtmöglichkeit aus spießiger Enge, provinziellem Mief, militärischem Drill und bürokratischer Routine. Nietzsche wurde damals populär als Säulenheiliger der Künstler und aller, die es gerne wären. Seit gut 150 Jahren haben seine Schriften Menschen für die Kunst begeistert – und gerade aus der Mittelschicht und aus dem Kleinbürgertum fühlten sich viele angesprochen. Ich gehörte auch dazu. Nietzsche zählte zu den Inspirationsquellen, die mich dazu brachten, das Hobby zum Beruf machen zu wollen, im Glauben an meine „Genialität“ in Hamburg an einer Kunstakademie zu studieren und später in Berlin einige Jahre als bildender Künstler zu leben. Einmal griff ich auch zum Pinsel, um den Philosophen selbst zu malen – in einem Bett liegend, das ihm seine Schwester zusammengeschraubt hätte.

Heute erscheint es mir, als sei ich in meiner Nietzsche-Begeisterung ein Nachzügler gewesen. Wir wurde klar: Heutige Künstler beschäftigen sich eher selten mit Nietzsche. Mehrere Gründe sind meines Erachtens dafür ausschlaggebend. Zunächst das gewandelte Selbstverständnis dieses Berufsstandes: Die Verklärung Nietzsches als Apostel eines heroischen und größenwahnsinnigen Künstlertums ist passé. Damals boten seine Schriften die ideale Legitimation für das neue Selbstverständnis von Avantgardekünstlern, die keinerlei traditionellen Autoritäten mehr über sich dulden wollten. Nietzsche galt einerseits als Kronzeuge des befreiten, schöpferischen Individuums, andererseits als Stichwortgeber eines elitären (und potenziell) totalitären Weltverbesserertums: Der Künstler als voranschreitender Herold der Zukunft, der Künstler als Demiurg. Die ästhetischen Moderne befand sich in jenem „Zeitalter der Extreme“ permanent im Spannungsfeld von Totalitarismus und Demokratie, sie schwankte zwischen einer Aristokratie des Geistes und kollektivistischen Gesellschaftsvisionen. Heutige Künstler meiden hingegen Pathos und Allmachtsphantasien, um nicht zu narzisstisch zu wirken. Nietzsche beeindruckte damals viele Künstler durch seine Wissenschafts- und Rationalitätskritik. Einer verknöcherten und menschenfeindlichen Rationalität setzte er die Kunst als letztes im Nihilismus der Gegenwart noch wirkendes „Stimulans des Lebens“4 entgegen. Dies mag grundsätzlich für jeden Künstler schmeichelhaft und annehmbar wirken, trotzdem wirkt es heute unzeitgemäß, da viele Künstler gerade den Schulterschluss zur Wissenschaft suchen: Statt zum dionysischen Rausch drängt es sie zur drögen „künstlerischen Forschung“, zur bürokratischen Drittmitteleinwerbung und Projektförderbeantragung. Zeitgenössische Künstler gelten nunmehr als sogenannte Schnittstellenakteure, die zwischen Kunst und Wissenschaft, Ästhetik, Technik und Konsum vermitteln und dabei weitgehend behördlichen und wissenschaftlichen Autoritäten gehorchen, um „das Klima zu retten“ oder „queere“ und „postkolonialistische“ Statements zu produzieren. Heutige Künstler müssen immer an Sponsoren, Kunden und Konkurrenten, an neue Märkte und Moden denken. Sie sind oftmals Meister im Erkennen neuer Konsummuster und gesellschaftlicher Trends. Nietzsche wäre nicht mehrheitsfähig bei heutigen Jurys, Förderinstitutionen und Sponsoren – deshalb macht die Kunst einen Bogen um ihn.
Ein wichtiger Grund dafür liegt darin, dass Nietzsche nicht zum Kanon linker Denker gehört. Paul Stephan hat darauf verwiesen, dass Nietzsche für Linke kaum zu vereinnahmen ist, weil er von der Ungleichheit der Menschheit überzeugt war, und geradezu von einer gesellschaftlichen Notwendigkeit sozialer Ungleichheit ausging.5 Stattdessen steht Nietzsche in Mitteleuropa noch immer unter dem Generalverdacht, Pate rechtsextremen Gedankengutes zu sein. Ihn als „Hausphilosophen“ der Neuen Rechten oder der AfD zu definieren, darf aber eher als journalistisches Vorurteil gelten.6 Nietzsche lässt sich laut Andreas Urs Sommer aber durchaus „als politisch unkorrekter Denker“ beschreiben: „Er stellt ganz fundamentale politische Selbstverständlichkeiten, etwa die Gleichheitsvorstellung, die wir vom Menschen haben, er stellt die Werte der Französischen Revolution und auch der Aufklärung, die dieser Revolution vorangeht, infrage.“7
In einem seltsamen Fanclub. So what?
Um dieses ambivalente Verhältnis der heutigen Gesellschaft gegenüber Nietzsche zu verstehen, schauen wir einmal, welche VIPs sich öffentlich zu Nietzsche bekennen. Wer besucht beispielsweise sein Grab in der Gedenkstätte Röcken bei Leipzig, welche prominenten Kulturmenschen und Politiker lassen sich hier sehen? Es sind nur wenige. In den 1990er Jahren der damalige Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Reinhard Höppner (ein protestantisch geprägter und kirchlich engagierte SPD-Politiker), Joseph Fischer (DIE GRÜNEN, damals Außenminister auf Wahlkampftour) und Wolfgang Wagner (Enkel von Richard Wagner und damals Leiter der Bayreuther Festspiele). Auch sonst geben sich nur wenige Prominente als Nietzsche-Leser zu erkennen, der frühere Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen bildete hier eine Ausnahme. Während seiner Dienstzeit liess er im Arbeitszimmer eine Kopie von Edvard Munchs Nietzsche-Porträt aufhängen und zeigte sich rückblickend enttäuscht, dass viele Besucher, vor allem Politiker, den Philosophen nicht erkannt hatten.8 In Mitteleuropa und dort vor allem in den linksliberalen Milieus des Kulturbetriebs weithin gemieden, findet Nietzsche hingegen in Asien und Amerika mehr Beachtung, zum Beispiel in China, wo eine erste Nietzsche-Rezeptionswelle schon in der Reformphase des Jahres 1978 zu beobachten war,9 und in Südamerika konnte man in den letzten Jahren geradezu von einem Nietzsche-Boom sprechen. Im Jahr 2014 kontaktierte der Träger des „Leipziger Buchpreises für europäische Verständigung“, Pankaj Mishra, auf eigenen Wunsch die Gedenkstätte in Röcken. Mishra, der in seinen Büchern mit antidemokratischen Ressentiments kokettiert und über den baldigen „Niedergang des Westens“ frohlockt, bat sich aus, am Grab zehn Minuten lang alleine verharren zu dürfen. 2016 folgte ein merkwürdiger Auftritt des damaligen Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalts, Rainer Haseloff (CDU), der sich auf Wahlkampftour an Nietzsches Grab blicken liess – in Begleitung der Bild-Zeitung. 2018 pilgerte der russische Oligarch Vitaly Malkin nach Röcken, um sich dort zu Nietzsche zu bekennen und sein Buch Gefährliche Illusionen zu bewerben. Die deutsche Presse spekulierte über seine Motivation: „Ist Malkins Buch eine größenwahnsinnige Methode, sich selbst ein Denkmal zu setzen? Ergänzend zu Yacht, Luxuswohnung, Familienstiftung? Und: Warum genau liebt dieser reiche Russe ausgerechnet Nietzsche so sehr?“10 Nietzsche umgibt also noch immer eine Aura des Unheimlichen. Dazu trägt die Tatsache bei, dass es oftmals etwas merkwürdige Menschen sind, die sich offen zu Nietzsche bekennen. Man trifft im Nietzsche-Fanclub also mitunter auf seltsame Gesellschaft, auch wenn man dies dem Philosophen kaum anlasten kann. So wurde Nietzsche gelegentlich von nihilistischen Gewalttätern als Pate aufgerufen, etwa von den Highschool-Attentätern von Columbine: „Ich liebe einfach Hobbes und Nietzsche“11. Oder von dem norwegischen Massenmörder Anders Breivik. In seinem Manifest 2083 – Eine europäische Unabhängigkeitserklärung erwähnt er Nietzsche an zehn Stellen.12 Auch die Häufung von Nietzsche-Zitaten und Bezügen in der gewaltbesessenen Black-Metal-Szene Norwegens passt in dieses Muster.13 Wenig beruhigend wirkt in diesem Zusammenhang, dass auch die frühere amerikanische Box-Legende Mike Tyson sich seit einigen Jahren zu Nietzsche bekennt: „Most philosophers are so politically incorrect – challenging the status quo, even challenging God. Nietzsche’s my favorite. He’s just insane. You have to have an IQ of at least 300 to truly understand him.“14 Zugegebenermaßen befinde ich mich als Nietzsche-Fan in seltsamer Gesellschaft. Und doch kann ich aus vollem Herzen sagen: Ich hatte damals den richtigen Instinkt. In meinem Fan-Dasein fühle ich mich bis dato voll bestätigt. Je mehr ich über Nietzsches Werk, Leben und Rezeption lernte, desto klarer wurde mir: Er ist bis heute DER Pate allen intellektuellen Außenseitertums. Seine ebenso scharfe Wissenschafts- wie Religionskritik, sein unablässiger Kampf gegen ressentimentgeladene Spießer, Frömmler und Duckmäuser, seine Einsicht in die Unvermeidlichkeit von Einsamkeit und Traurigkeit, seine heroisch-tragisches Pathos – all das ist in unserer heutigen Gesellschaft schwer vermittelbar. Und dennoch ist es hochaktuell. Dass Nietzsche vereinzelt Beifall von der falschen Seite bekommt, stört mich nicht, weil ich den Verdacht habe: Nicht alle dieser merkwürdigen Nietzsche-Fans scheinen ihn richtig verstanden zu haben oder verstehen zu wollen. Nietzsche hatte dies vorausgesehen. 1878 notierte er unter der Überschrift „Im Strome“: „Starke Wasser reißen viel Gestein und Gestrüpp mit sich fort, starke Geister viel dumme und verworrene Köpfe.“15
Abbildungsnachweis zum Artikelbild
Christian Saehrendt, Selbstporträt als Künstler, Öl auf MDF, 100cm x 100cm, 2001, im Besitz des Autors.
Fußnoten
1: Menschliches, Allzumenschliches II, Vermischte Meinungen und Sprüche, 368.
2: Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede, 2.
3: Menschliches, Allzumenschliches I, 157.
4: Nachgelassene Fragmente 1888, Nr. 17[3].
5: Vgl. Paul Stephan: Was ist der Links-Nietzscheanismus? Vortrag Helle Panke Berlin 26. 4. 2018.
6: Vgl. Sebastian Kaufmann: Nietzsche und die Neue Rechte. Auch eine Fortführung der Konservativen Revolution. Vortrag bei der Tagung „Nietzsche und die Konservative Revolution“ (Oßmannstedter Nietzsche-Colloquium der Klassik Stiftung Weimar, 12.–15. Juni 2016 auf dem Wielandgut Oßmannstedt).
7: „Nietzsche war ein politisch unkorrekter Denker“. Gespräch zwischen Andreas Urs Sommer und Korbian Frenzel, Deutschlandfunk Kultur.
8: Vgl. Der Spiegel 30/2019, S. 38 f.
9: Vgl. Felix Wemheuer entsprechende Beiträge bei der Podiumsdiskussion Schottet sich China wieder ab? Ein Bestandsaufnahme 40 Jahre nach Beginn der Reform- und Öffnungspolitik (Berlin 22. 11. 2018).
10: Hannah Lühmann: Dieser russische Oligarch will jetzt Europa retten. Welt.
11: Jordan Mejias: Ich hasse euch, Leute. FAZ.
12: Vgl. Daniel Pipes: Die Linke verdreht Breiviks mentale Welt.
13: Vgl. Lukas Germann: Der Rest ist bloß die Menschheit! Black Metal und Friedrich Nietzsche. Vortrag bei der Konferenz „Pop! Goes the Tragedy. The Eternal Return of Friedrich Nietzsche in Popular Culture“ (Zürich, 23./24. 10. 2015).
14: Mike Tyson: On Reading Kierkegaard, Nietzsche. Genius.com.
Was bedeutet mir Nietzsche?
Unser Stammautor Christian Saehrendt berichtet in seinem Beitrag zur Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ davon, wie er Nietzsche als Jugendlicher entdeckte und sich seitdem als Fan des Philosophen betrachtet – gerade wegen seiner Widerborstigkeit.
Menke fascinirt.
Ist Befreiung Faszination?
Menke fascinirt.
Ist Befreiung Faszination?


In seiner jüngst erschienenen Studie Theorie der Befreiung fasst der Frankfurter Philosoph Christoph Menke Befreiung als „Faszination“, als lustvolle Desubjektivierung und Hingabe. Er bezieht sich dabei an entscheidender Stelle auf Nietzsche – doch für den bedeutet „Faszination“ gerade Verhexung, die Verstrickung in Unfreiheit und Ressentiment. Kann uns die mystische Kraft der Faszination wirklich befreien – oder ist nicht eher Nietzsche Recht zu geben und Befreiung bedeutet vor allem Selbstermächtigung und Autonomie, die faszinierte Aufopferung hingegen Unterwerfung, nicht zuletzt unter einen faschistischen Führer?
I. Freiheit = Faszination
Über Christoph Menke, Professor für Praktische Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, kann man auf Wikipedia lesen: „Er gilt als wichtiger Vertreter der ‚dritten Generation‘ der Frankfurter Schule.“ In seiner 2022 bei Suhrkamp erschienenen Studie Theorie der Befreiung plädiert er für einen seinem Anspruch nach „radikalen“, neuen Begriff von Befreiung. Neben den Surrealisten, dem biblischen Moses, der Fernsehserie Breaking Bad und einer ganzen Reihe von philosophischen ‚Gewährsmännern‘ von Walter Benjamin über Theodor W. Adorno bis Martin Heidegger, ist einer seiner wichtigen Bezugspunkte Nietzsche, den er in dem Buch immer wieder zitiert und es sogar mit einem Zitat aus Schopenhauer als Erzieher beendet.
Die Kernthese dieser, so die Eigenwerbung auf dem Umschlagstext, „bahnbrechende[n] Theorie“, lautet, dass die gesamte abendländische philosophische Tradition Freiheit fälschlicherweise als Autonomie, als Befähigung, missverstand. Versteht man Freiheit so, koppele man sie an Herrschaft, Ausbeutung und die Macht der Gewohnheit. In den Bereichen der Kunst, der Religion und – überraschenderweise – ausgerechnet der Ökonomie erblickt Menke ein davon abweichendes Paradigma der Befreiung: Befreiung als Bruch mit der Gewohnheit in der Faszination, der begeisterten Hingabe, für das Erhabene, das Göttliche, aber auch das Geld.
Da Menke zugleich immer wieder das Scheitern auch dieser Formen der Befreiung aufzeigt, lässt er den Leser am Ende ein wenig ratlos zurück. Sein Grundgedanke fasziniert jedoch ohne Zweifel. Wurde im philosophischen Nachdenken über Freiheit nicht genau dieser Aspekt bislang übersehen? Liegt Freiheit eigentlich in etwas vollkommen anderem als dem vernünftigen Handeln, der politischen Emanzipation oder der durch Selbstdisziplinierung gewonnen Macht? Gerade in Momenten der Begeisterung, der Spontanität, des Bruchs und der Desubjektivierung? Für Menke ist Befreiung kein heroischer aktiver Akt der Selbstermächtigung, sondern das passive Angesprochenwerden von etwas Äußerem, Höherem, das uns fasziniert und aus dem Alltag, aus der Gewohnheit, aus unserer Identität herausreißt.
II. Eine faszinierende Etymologie
Menke, der sich in seinem Buch etwa sehr ausführlich mit der Etymologie des griechischen Wortes für „Freiheit“, eleuthería, befasst, spricht dort leider so gut wie nicht über die Geschichte seines positiven Gegenbegriffs, obwohl auch diese sehr alt ist. Das lateinische Verb fascinare bedeutet ‚verhexen‘. Die Römer bezeichneten damit eine alles andere als befreiende Macht, nämlich diejenige des fascinus oder fascinum, des Schadenszaubers, der meist mit dem „bösen Blick“ des Neidischen assoziiert wurde, von dem eine für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft schädliche Kraft ausgehe, die es unbedingt zu bändigen gelte, um die jeweilige Integrität zu gewährleisten. Der Zauber kann jedoch nur durch einen entsprechenden Gegenzauber bekämpft werden, so dass fascinum schließlich vor allem die Mittel gegen den Schadenszauber bezeichnet, allen voran die in der römischen Welt ubiquitären Phallus-Amulette, die getragen wurden, um ihn abzuwehren.1 Dies widerspricht Menkes Theorie jedoch nicht, sondern bestärkt sie eher. Die römisch-griechische Welt sieht er nämlich als Ursprung des bis heute gültigen falschen Verständnisses von Befreiung an – und es verwundert aus seiner Sicht nicht, dass es genau jene Welt ist, die geradezu besessen davon ist, die dunkle Macht der Faszination zu bändigen; allerdings, indem sie sich dieselbe Macht zu Nutze macht.
III. Böse Blicke
Nietzsche kannte diesen Aspekt der antiken Kultur zweifellos. Der „böse Blick“ ist eine von ihm an zahllosen Stellen verwandte Metapher, geradezu ein, schnell zu übersehenes, Leitmotiv seines Denkens. Freilich bezieht er dabei den Standpunkt der von ihm bewunderten Antike: Der „böse Blick“ ist für ihn genau der missgünstige Blick des ressentimentgeladenen, unfreien Sklaven auf die Freiheit der Herren, der später im christlichen Welthass seine Ideologie findet, und der darum so gefährlich ist, weil er die Seele der Herren vergiftet und sie selbst ein schlechtes Gewissen entwickeln lässt. Er spricht von einer „Pessimisten-Optik“2 , die sich gegen „die Leidenschaften“3 richte, dem „bösen Blick“4 des Staates auf die ursprünglichen Völker und des „Pöbels“5 auf die gesamte Erde, vom „müde[n] pessimistische[n] Blick, d[em] Misstrauen zum Räthsel des Lebens, d[em] eisige[n] Nein des Ekels am Leben“6, dem „hypnotische[n] Blick des Sünders“7. Besonders gefährlich ist dieser Blick, wenn man ihn auf das eigene Leben richtet, der „zurückgewendete[] Blick des Missgebornen von Anbeginn“8: „[E]in Gewissensbiss scheint mir eine Art ‚böser Blick‘“9, „Der Mensch hat allzulange seine natürlichen Hänge mit ‚bösem Blick‘ betrachtet, so dass sie sich in ihm schliesslich mit dem ‚schlechten Gewissen‘ verschwistert haben.“10
Kurz: Moral ist für Nietzsche eine „grundsätzliche Verschlechterung der Phantasie, als ‚böser Blick‘ für alle Dinge“11. Es ist der neidische Blick desjenigen, „der das Hohe an den Menschen nicht sehen kann“12, des Zynikers, des „Spielverderber[s]“13. Er ist eine permanente Bedrohung der „höhere[n] Menschen“14, die sich gegen ihn zu sichern haben, indem sie nicht aufhören, an sich selbst zu glauben. – Dies entspricht alles sichtlich der antiken Sicht auf die Dinge und es ist sicher kein Zufall, dass Nietzsche den Begriff so oft in Anführungszeichen setzt, um kenntlich zu machen, dass er an diesen Stellen genau jene uralte Tradition herbeizitiert. Dementsprechend weiß Nietzsche darum, dass es selbst eines bösen Blicks bedarf, um die Moral des Ressentiments bekämpfen zu können.15
Dem Gebrauch seiner Zeit entsprechend verwendet Nietzsche das Wort ‚Faszination‘ spärlich und wenn, dann nahezu ausschließlich in seinem pejorativen, antiken Sinn. Er ist überhaupt einer der ersten, die es im deutschen Sprachraum häufiger verwenden. Zur häufig gebrauchten und neutral bzw. sogar positiv besetzten Vokabel wurde es erst im Laufe des 20. Jahrhunderts.16 Ob Wagner und Schopenhauer,17 die Sozialisten,18 die ersten Christen,19 die rousseauistischen Romantiker,20 die mystischen Untergrundreligionen der Antike,21 die Märtyrer,22 die „Heiligen“ allgemein23: Die Faszination ist eine, wenn nicht die, entscheidende Waffe der „Schwachen“ im Kampf gegen die „Wohlgeratenen“ und „Starken“, mit der es ihnen gelingt, sie aus ihrer Selbstbejahung herauszureißen und für sich einzunehmen. Indem sie die Starken faszinieren, werden die Schwachen stark: „[D]ie Kranken und Schwachen haben die Fascination für sich gehabt, sie sind interessanter als die Gesunden“24. In dieser „Fascinations-Kraft der Tugend“25 erblickt Nietzsche eine der größten Gefahren für die Freiheit. Neben Paulus26 und Platon27 ist für Nietzsche Sokrates ein Meister der Faszination: „Sokrates fascinirte“28, gerade durch „seine furchteinflössende Hässlichkeit“29 und Widersprüchlichkeit und rächte sich damit an den vornehmen Athenern, wurde zum philosophischen Vertreter der Revolte und des „Pöbel-Ressentiment“30.
Menke geht auf diesen Aspekt Nietzsches in seinem Buch nicht ein, doch es ist klar, wie er ihn in seine Theorie integrieren würde: Er liest Nietzsches Erzählung vom „Sklavenaufstand“ nämlich affirmativ, er interpretiert sie unter umgekehrten Wertungszeichen, und insofern bestätigen diese Passagen nur seine Gleichsetzung von Befreiung und Faszination. Faszination ließe sich als Kraft verstehen, die die Herrscher aus ihrer Identität als Herrscher und die Beherrschten gleichermaßen aus ihrer Identität als Beherrschte befreit.
Freilich liegt für Nietzsche ironischerweise dieses Verständnis von Befreiung ja gerade am Anfang der abendländischen Zivilisation und nicht das ihm entgegengesetzte griechisch-römische. Für Nietzsche ist die abendländische Kultur gerade von Beginn an eine Kultur, die auf einem falschen Freiheitsverständnis basiert, nämlich von Befreiung als Fasziniert-Werden, nicht von Befreiung als Autonomie und Selbstermächtigung.
So heißt es gleich zu Beginn der Fröhlichen Wissenschaft:
Ich fand bei gewissen Frommen einen Hass gegen die Vernunft vor und war ihnen gut dafür: so verrieth sich doch wenigstens noch das böse intellectuale Gewissen! Aber inmitten dieser rerum concordia discors [zwieträchtige Eintracht der Dinge; PS] und der ganzen wundervollen Ungewissheit und Vieldeutigkeit des Daseins stehen und nicht fragen, nicht zittern vor Begierde und Lust des Fragens, nicht einmal den Fragenden hassen, vielleicht gar noch an ihm sich matt ergötzen – das ist es, was ich als verächtlich empfinde, und diese Empfindung ist es, nach der ich zuerst bei Jedermann suche[.]31
Und noch am Ende des Buches knüpft er an diesen Gedanken an:
Eine Art von Redlichkeit ist allen Religionsstiftern und Ihresgleichen fremd gewesen: – sie haben nie sich aus ihren Erlebnissen eine Gewissenssache der Erkenntniss gemacht. „Was habe ich eigentlich erlebt? Was gieng damals in mir und um mich vor? War meine Vernunft hell genug? War mein Wille gegen alle Betrügereien der Sinne gewendet und tapfer in seiner Abwehr des Phantastischen?“ – so hat Keiner von ihnen gefragt, so fragen alle die lieben Religiösen auch jetzt noch nicht: sie haben vielmehr einen Durst nach Dingen, welche wider die Vernunft sind, und wollen es sich nicht zu schwer machen, ihn zu befriedigen, – so erleben sie denn „Wunder“ und „Wiedergeburten“ und hören die Stimmen der Englein! Aber wir, wir Anderen, Vernunft-Durstigen, wollen unseren Erlebnissen so streng in’s Auge sehen, wie einem wissenschaftlichen Versuche, Stunde für Stunde, Tag um Tag! Wir selber wollen unsere Experimente und Versuchs-Thiere sein.32
Nietzsche plädiert – jedenfalls in seiner mittleren und späten Periode – also für Kritik und Skepsis angesichts „faszinierender“ Erfahrungen, gegen die Hingabe an mystische Erfahrungen; für die Reflexion und gegen die Macht des Unmittelbaren und Präsentischen, die Menke in seiner Theorie der Befreiung beschwört. Befreiung im Sinne des Ideals des „freien Geistes“ bedeutet für ihn gerade, nicht auf charismatische Figuren wie Paulus, Sokrates oder Rousseau hereinzufallen, nicht auf die allgegenwärtigen „Zukunfts-Sirenen des Marktes“33 und die hohlen Ideale, die sie propagieren.
IV. Kritik der Faszination
Welcher Freiheitsbegriff und welche Lesart der westlichen Geschichte ist nun die plausiblere? Der erwähnte Bedeutungswandel des Wortes „Faszination“ legt nahe, dass wir es in der Moderne tatsächlich mit einem Anwachsen von Faszination zu tun haben, mit ihrer Banalisierung und Profanisierung. Sie ist nichts mehr, was wir fürchten und meiden, sondern eher etwas, das wir suchen, egal, ob wir im Internet nach neuen Memes suchen, ins Museum gehen oder uns von politischen Massenbewegungen mitreißen lassen. Menke reflektiert die manipulative Gewalt der modernen Bildwelten in seiner Studie genauso wie die mitreißende Kraft der modernen Ökonomie – das entsprechende Kapitel ist das wohl stärkste des Buches – und versucht, zwischen genuinen und künstlich-manipulativen Formen der Faszination zu unterscheiden. Doch wozu diese aufwändige, am Ende nicht wirklich überzeugende Differenzierungsarbeit? Ist die Faszination so, wie wir sie heute erleben, nicht eher, wie es schon Nietzsche beschreibt, eine versklavende Macht, die uns nur noch fester an die bestehende Gewohnheit bindet, als eine in irgendeiner Form befreiende, wenn man den Freiheitsbegriff nicht vollkommen von Ideen wie „Autonomie“ und „Selbstbestimmung“ ablösen möchte?
Die Sache gewinnt an Brisanz, wenn man einen anderen von Menke ebenfalls nicht thematisierten Bedeutungsaspekt von „Faszination“ in Betracht zieht. Auch wenn etymologisch faktisch nicht verwandt, fällt es heute schwer, beim Wort fascinum nicht an den fasces zu denken, das Rutenbündel der römischen Republik, das zum Namensgeber des Faschismus wurde. So, wie der alte fasces als eine Art sublimiertes fascinum diente, ein Phallussymbol, um das sich die Gemeinschaft scharte, um die Macht des „bösen Blicks“ abzuwenden, besteht der Faschismus in der mythischen Beschwörung irrationaler Kräfte, um die das Gemeinwesen bedrohenden dunklen Energien der Auflösung zu bannen. Faschistische Politik ist geradezu per definitionem eine Politik der Faszination, die auf Begeisterung, Überwältigung, Hingabe, Desubjektivierung und die charismatische Aura einer Führerfigur setzt, um „die Ordnung“ zu retten.34 Es ist nicht so, dass Menke dieses Problem in seiner Studie vollkommen ausblendet, doch es spielt für ihn – für einen vermeintlichen Nachfolger der Frankfurter Schule überraschend – nur eine Nebenrolle. Wie lässt sich Befreiung sinnvoll wesentlich und primär als Fasziniertwerden – also Desubjektivierung, Aufopferung, Unterwerfung etc. – verstehen und sich dieser Freiheitsbegriff zugleich scharf von einem faschistischen, irrationalistischen trennen? Eine Quadratur des Kreises, die auch Menke nicht gelingt.
Nietzsche geht den umgekehrten Weg. Er geht – auch schon und gerade in Schopenhauer als Erzieher, auf das sich Menke in seiner Studie vollkommen zu Unrecht beruft – von einem individualistischen, aufklärerischen Verständnis von Befreiung aus, doch gesteht zu, dass es Momente der Faszination (der Ekstase, der Entgrenzung, der Passivität …) braucht, um eine vollständige Freiheit zu realisieren. Nietzsche beschreibt diese Inspiration etwa in einem Gedicht:
Meine Wahrheit ists!
Aus zögernden Augen,
aus sammtenen Schaudern
trifft mich ihr Blick,
lieblich, bös, ein Mädchenblick…35
Der Blick der – je eigenen– Wahrheit fasziniert gerade, weil er zweideutig ist, weil er „lieblich“ und „bös“ zugleich ist in untrennbarer Identität. Erst die Konfrontation mit diesem Blick ermöglicht es Zarathustra in diesem Gedicht, die nächste Stufe der Selbstwerdung zu erklimmen.36
In der frühen Schrift Die dionysische Weltanschaung feiert Nietzsche in ganz ähnlichen Begriffen wie Menke die desubjektivierende, entgrenzende Macht des „dämonisch fascinirende[n] Volksgesang[s]“37 der Bacchanten, doch erblickt in ihr ebenso eine zu bändigende Gefahr für das Gemeinwesen, der es nur durch ihre apollinische Einhegung zu begegnen gelte; nur aufgrund dieser Vereinigung von Subjektivierung und Desubjektivierung, Freiheit und Faszination, habe sich eine hohe Kultur wie die griechische entwickeln können. In diesem Sinne preist er auch noch in seinem Spätwerk die Faszinationskraft der Wagner’schen Opern.38 Und Nietzsche schreibt sich selbst39 und seinen Schriften40 eine ähnliche Faszinationskraft zu. Es gibt für Nietzsche eben auch eine „Fascination der Stärke“41. Die – temporäre und gebändigte – Hingabe ist notwendig, um Freiheit und Stärke zu bewahren und zu vergrößern; doch ähnlich, wie sich Nietzsche von seinen zeitweiligen Idolen Schopenhauer und Wagner distanzierte und distanzieren musste, um er selbst zu werden, darf diese Hingabe eben nicht absolut sein, muss eine in einem gewissen Sinne ‚ironische‘, vorbehaltliche bleiben, um nicht zur Selbstauflösung und mithin zum Freiheitsverlust zu führen.
Menke kann mit diesem Individualismus sichtlich nichts anfangen. Im erwähnten Kapitel über ökonomische Faszination versteigt er sich gar zu der Behauptung, das moderne individualistische Verständnis von Selbstverwirklichung verwirkliche sich im neoliberalen Modell ökonomischer Selbstbehauptung; gerade so, als hätte es Werke wie Quellen des Selbst von Charles Taylor nicht gegeben, die detailliert zeigen, dass Selbstverwirklichung im modernen Sinne wesentlich eine ethische Idee ist, die den Einzelnen dazu aufruft, wie es Nietzsche in Schopenhauer als Erzieher schreibt, sein „höheres Selbst“ zu realisieren, gerade nicht, sich unter die „Fliegen des Marktes“42 zu mischen. Menkes positive Bezugnahme auf diese Schrift, in welcher er vielleicht am dezidiertesten eine Ethik individueller Selbstverwirklichung vertritt, will dazu nicht recht passen. Es ist ähnlich wie mit Menkes Rundumschlag gegen den vermeintlichen „abendländischen“ Freiheitsbegriff: Er liebt die Polemik, die sich bisweilen zu – stilistisch gehobener – Demagogie aufschwingt, doch dies auf Kosten der philosophischen Tiefenschärfe dieses Buches, das in seiner in ihm zum Ausdruck kommenden abgrundtiefen Verachtung für Individualismus, Aufklärung und Emanzipation dem Geiste nach weitaus eher im Lager Konservativen Revolution als demjenigen ihrer Gegner zu verorten ist.
V. Freiheit in Faszination, Faszination in Freiheit
Es käme auf die Entwicklung eines umfassenden Freiheitsverständnisses an, dass alle in Frage stehenden Momente – individuelle Selbstverwirklichung, politische Selbstbestimmung, pragmatische Selbstermächtigung, moralische Selbstbestimmung – zusammendenkt und zugleich die von Menke verabsolutierten Momente der ästhetischen Faszination, der religiösen Hingabe etc. – sicher auch das von Menke weitgehend ausgesparte, bei Nietzsche anklingende Moment der erotischen Faszination – zu integrieren weiß. Nietzsches Nachdenken über die Freiheit gefährdende und zugleich ermöglichende Macht der Faszination ist dafür zielführender als die neuste „bahnbrechende“ Relektüre von Heideggers Sein und Zeit, in der sich der „Meister aus Deutschland“ bereits eine ganz ähnliche Umdeutung des Freiheitsbegriffs im Sinne einer desubjektivierenden Aufopferung für das „Volk“ propagiert, seine spätere Faszination für die „Volksgemeinschaft“ denkerisch antizipierend.43
Es mag sein, dass Nietzsche sich in seiner mittleren und späten Schaffensphase zu sehr auf das Moment der individuellen Selbstermächtigung versteift. Der politisch reaktionäre Impetus seiner Überlegungen zum „bösen Blick“ ist unübersehbar. Doch ausgerechnet in einer Zeit wachsender Entmächtigung der Einzelnen und des Erstarkens freiheitsfeindlicher faszinierter politischer und religiöser Bewegungen das Hohelied der „Lust der Desubjektivierung“ (Menke, S. 128) anzustimmen, gleicht einer gegenwartsdiagnostischen Bankrotterklärung. Freigeistigkeit und Leidenschaftlichkeit in jeglicher Hinsicht – politisch, spirituell, ästhetisch, erotisch … – müssen Hand in Hand gehen, um den weiteren Fortschritt der allgegenwärtigen Desubjektivierung zu verhindern und die Freiheit im ganz schnöden Sinne der Ideen von 1789, die auszumerzen sich Menke ebenso wie seine Vordenker anschickt,44 wiederherzustellen, zu vertiefen und zu verbreitern.45
Der „böse Blick“ des Faszinierten verhindert bei Nietzsche gerade die Entwicklung einer genuinen, authentischen Leidenschaftlichkeit, insofern er die unmittelbaren Emotionen verteufelt und an ihre Stelle einen sie übertünchenden hohlen Pathos setzt. Vielleicht wäre es ein erster Schritt, um sich der Gewalt der schlechten Faszination für die „Götzen“ der Gegenwart (Gott, Geld, ‚große Kunst‘ etc.) zu entziehen, wieder eine weniger aufgeladene, dafür jedoch beglückendere und befreiendere Sensibilität wiederzuentdecken. Carmen statt Parsifal, Ostsee statt Süden, gelebte Solidarität statt Aufrufen zur Weltrevolution vom Katheder, sich in einem Boot auf einem Schweizer Bergsee Träumereien hingeben, die Stille einer Kathedrale … Begriffe statt Jargon, Authentizität statt Eigentlichkeit. Man mag über derlei Ethik im Messeturm die Nase rümpfen, doch vielleicht ist heute das Kleinste und Bescheidenste – die Sorge um die „kleinen Dinge“46 statt die Aufopferung für die „Götzen“ der „grosse[n] Politik“47 – radikaler als die große Geste der Weltzertrümmerung und des modischen „Abendland“-bashings, die auch durch ihre hundertste Wiederholung nicht an Kraft gewinnt.
Sekundärquellen
Confino, Alon: Foundational Pasts. The Holocaust as Historical Understanding. Cambridge 2012.
Hahnemann, Andy & Björn Weyand: Faszination. Zur Anziehungskraft eines Begriffs. In: Dies. (Hg.): Faszination. Historische Konjunkturen und heuristische Tragweite eines Begriffs. Berlin e. a. 2009, S. 7–32.
Stephan, Paul: Wahrheit als Geschichte und Augenblick. Die Kritik der Wahrheit im Werk Friedrich Nietzsches im Lichte des Abschnitts Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde. Nordhausen 2018.
Ders.: Zarathustras „Augen-Blick“. Nietzsches Lehre von der Konfrontation mit der Wirklichkeit. In: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft Bd. 24. Berlin & Boston 2017, S. 315–327.
Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Übers. v. Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 1996.
Fußnoten
1: Vgl.etwa für einen ersten Überblick den entsprechenden Eintrag in Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft.
2: Götzen-Dämmerung, Streifzüge, 24.
3: Die fröhliche Wissenschaft, 139.
4: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.
5: Also sprach Zarathustra, Vom höheren Menschen, 16.
6: Zur Genealogie der Moral, II, 7.
7: Zur Genealogie der Moral, III, 20.
8: Zur Genealogie der Moral, III, 14.
9: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 1.
10: Zur Genealogie der Moral, III, 24.
11: Der Antichrist, 25.
12: Also sprach Zarathustra, Von den Tugendhaften.
13: Also sprach Zarathustra, Das Tanzlied.
14: Menschliches, Allzumenschliches I, 480.
15: Vgl. Götzen-Dämmerung, Vorwort.
16: Vgl. Hahnemann& Weyand, Faszination.
17: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, 99.
18: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 10[82].
19: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 10[157].
20: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 9[184].
21: Vgl. Der Antichrist, 58.
22: Vgl. Der Antichrist, 53.
23: Vgl. Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 8.
24: Nachgelassene Fragmente 1888, Nr. 14[182].
25: Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 10[184].
26: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 10[189].
27: Vgl. Götzen-Dämmerung, Was ich den Alten verdanke, 2.
28: Götzen-Dämmerung, Das Problem des Sokrates, 11.
29: Ebd., 9.
30: Ebd., 7.
31: Die fröhliche Wissenschaft, 2.
32: Ebd., 319.
33: Ebd., 377.
34: Man denke nur an Thomas Manns berühmte Erzählung Mario und der Zauberer. Vgl. auch den erwähnten Aufsatz von Hahnemann und Weyand.
35: Dionysos-Dithyramben,Von der Armut der Reichsten.
36: Für eine vertiefte Interpretation dieser für Nietzsche zentralen Konstellation vgl.meine Studie Wahrheit als Geschichte und Augenblick sowie den sie resümierenden Aufsatz Zarathustras „Augen-Blick“.
37: Die dionysische Weltanschauung, 2.
38: Vgl. Ecce homo, Warum ich so klug bin, 6 und Brief an Carl Fuchs vom 27. 12. 1888.
39: Vgl. Brief an Franz Overbeck von Weihnachten 1888 und Brief an Meta von Salis vom 29. 12. 1888.
40: Vgl. Ecce homo, Die Geburt der Tragödie, 1.
41: Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 9[185].
42: Also sprach Zarathustra, Von den Fliegen des Marktes.
43: Aus der Herleitung seines Freiheitsbegriffs aus Heideggers Ontologie macht Menke keinen Hehl (vgl. insb. S. 226–229). Er gehört zu den meistgenannten Philosophen der Studie. Die Nähe der Sprache Menkes zum „Jargon der Eigentlichkeit“ (Adorno über die Diktion Heideggers und seiner Adepten) ist unverkennbar.
44: Man denke etwa an die entsprechenden einschlägigen Äußerungen von Goebbels, Rosenberg oder Ernst Bertram (vgl. Alon Confino, Foundational Pasts, S. 6f.), die sich alle die Abschaffung des liberalen Subjektivismus zugunsten einer faszinierten Hingabe an die Gemeinschaft auf die (braunen) Fahnen geschrieben hatten.
45: Nietzsche spricht in diesem Sinne von „zwei Hirnkammern“, zwei Sensibilitäten – eine wissenschaftliche (kritische) und eine leidenschaftliche (religiöse, metaphysische und ästhetische) –, die jeder ausbilden müsse, der an der„höheren Cultur“ teilhaben möchte und die sich wechselseitig in Schach halten sollen, um ihre jeweiligen Einseitigkeiten zu korrigieren: „Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen,Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt werden“ (Menschliches,Allzumenschliches I, 251).
46: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 10.
47: Menschliches, Allzumenschliches I, 481.
Menke fascinirt.
Ist Befreiung Faszination?
In seiner jüngst erschienenen Studie Theorie der Befreiung fasst der Frankfurter Philosoph Christoph Menke Befreiung als „Faszination“, als lustvolle Desubjektivierung und Hingabe. Er bezieht sich dabei an entscheidender Stelle auf Nietzsche – doch für den bedeutet „Faszination“ gerade Verhexung, die Verstrickung in Unfreiheit und Ressentiment. Kann uns die mystische Kraft der Faszination wirklich befreien – oder ist nicht eher Nietzsche Recht zu geben und Befreiung bedeutet vor allem Selbstermächtigung und Autonomie, die faszinierte Aufopferung hingegen Unterwerfung, nicht zuletzt unter einen faschistischen Führer?
Von Stalin zu Nietzsche oder Wie ich Nietzscheaner wurde (1970-1990)
Von Stalin zu Nietzsche oder Wie ich Nietzscheaner wurde (1970-1990)


Als Marxist war Nietzsche schon ein frühes Ärgernis. Doch mit der Nietzsche-Renaissance in den Achtzigern kam ich nicht mehr an ihm vorbei. Dann entdeckte ich Nietzsche als innovativen Denker. - Teil II der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“, in der sich unsere Stammautoren vorstellen.
I. Der wildgewordener Kleinbürger
Durch die Osterunruhen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke 1968 politisiert, dann durch Sartre philosophiert, war ich 1970 in einer Sympathisantengruppe der KPD/ML und somit Maoist. Die chinesischen Kommunisten waren Stalinisten, womit ich meinerseits doch haderte und was mich dort wieder aussteigen ließ. Dass 20 Millionen Menschen für die Revolution sterben dürfen, war ein nicht verdauliches Argument. Nur darf man en passant einwenden, dass Staaten ihre Menschen regelmäßig millionenfach in Kriegen opfern, ist Stalin nur einer unter ganz vielen, zu denen selbstredend auch Demokratien zählen. Und schuld sind immer die anderen. Trotzdem blieb ich noch ein paar Jahre revolutionärer Marxist.
1970, also noch als Maoist, sah ich mich zum ersten Mal mit Nietzsche konfrontiert. In der 12. Gymnasiumklasse wurde ein Philosophiekurs angeboten, an dem meine linksradikalen Klassenkameraden und ich begeistert teilnahmen. Wermutstropfen war der an sich sehr sympathische Lehrer, der sich als von Hermann Hesse inspirierter Nietzscheaner outete – ein damals verbreiteter Werdegang von Unpolitischen – und mit uns den Zarathustra las, den zu verstehen ich mich als Leninist freilich weigerte.
Den ersten Zusammenstoß über Nietzsche hatte ich um diese Zeit mit einer Teilnehmerin dieses Kurses, die im Raucherzimmer des Gymnasiums im Militärparka auf der Fensterbank sitzend und rauchend – versteht sich – den Zarathustra las. Ein Ärgernis für mich und ich fauchte: „Nietzsche – ein wildgewordener Kleinbürger!“ Sie fauchte zurück: „Marx ist ein vielschlimmerer wildgewordener Kleinbürger.“ Es dauerte noch ca. zehn Jahre, bis Dagmar Allendorf mich in die freie Liebe einführte, genauer mich zur offenen Beziehung zwang. Danach wurde sie zu einer jahrzehntelangen guten Freundin und ich hatte von ihr die Vorzüge offener Beziehungen gelernt, wozu Nietzsche sicher nur von ferne beigetragen hatte und wenn, dann vom Individualismus zum Feminismus.
II. Der leidende Nietzscheaner
Während ich zwischen 1979 und 1982 über praktische Philosophie bei Kant und Hegel promovierte, schrieb ein anderer Weggefährte – ebenfalls bei jenen Maoisten und in besagtem Philosophiekurs gewesen – auch bei Manfred Riedel über Nietzsche seine Dissertation. Damit konnte ich einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Nietzsche nicht mehr entgehen.
Reinhard Knodt war denn auch mit seiner Nietzsche-Dissertation dem Zeitgeist der frühen achtziger Jahre näher als ich mit Kant und Hegel als Background für Marx. Denn seit der Colli-Montinari-Ausgabe erlebte Nietzsche eine Renaissance, nicht nur in Frankreich und Italien, wo der Poststrukturalismus sich schon seit den sechziger Jahren verbreitet und die Postmoderne-Diskussion gerade begonnen hatte.
Als zwischenzeitlich gemäßigter Marxist schrieb ich meinen allerersten Aufsatz nach der Promotion gegen diese Nietzsche-Renaissance, der freilich nie veröffentlicht wurde. Viele Linke interessierten sich plötzlich für Nietzsche, was ich als frustrierte Fluchtlinie verstand, nachdem der Stern von Marx während der späten siebziger Jahre verblasste. Wie konnten Linke nur in den siebziger Jahren gegen die Atomkraft sein, geht es Marx doch um den Fortschritt der Produktivkräfte! Bis Harrisburg 1979 war ich Befürworter der Atomenergie.
Wie konnten sich linke Intellektuelle mit einer solchen schillernden Figur wie Nietzsche beschäftigen, der das wissenschaftliche Wissen in Frage stellt, auf dem schließlich die Produktivkraftentwicklung beruht! Reinhard Knodt hatte über Die ewige Wiederkehr des Leidens promoviert. Anstatt gegen das Leiden etwas zu tun, stellt man es als unvermeidbar dar, gibt sich ihm hin und leidet aufmerksamkeitsheischend wie Nietzsche. Damit verbunden ist das verbreitete Lamento von Intellektuellen über mangelnde Resonanz in Politik und Gesellschaft wie bei Nietzsche, obwohl man doch so klug ist, wie man es im Ecce Homo lesen kann.
III. Zu Nietzsche durch schwaches Denken
Anfang der achtziger Jahre erschien es mir langsam unabdingbar, das Problem der Naturzerstörung philosophisch auf den Begriff zu bringen. Im Anschluss an meine Dissertation entwickelte ich dazu ein Fortschrittskonzept der Rationalisierung: Im 18. Jahrhundert beginnt die Rationalisierung des Staates, im 19. die der Ökonomie und im 20. die des Naturverhältnisses – Rechtstaat, Sozialstaat, Naturstaat.
Der Düsseldorfer Philosoph Rudolf Heinz, bei dem ich Mitte der siebziger Jahre drei Semester studiert hatte, brachte mich vom Rationalisierungskonzept ab, indem er mich auf die französische Philosophie rings um die Poststrukturalismus hinwies. Wiewohles dabei zunächst noch nicht um Nietzsche ging, begann ich für das Problem der Naturzerstörung einen vernunftkritischen Ansatz zu entwickeln. Durch Vermittlung von Rudolf Heinz veröffentlichte ich 1985 mein erstes Buch nach der Doktorarbeit, Philosophie und Ökologie. Philosophische und politische Essays, in dem Nietzsche noch kaum vorkommt und im Literaturverzeichnis nur auf die Schlechta-Ausgabe verwiesen wird.
Der Blick auf Nietzsche intensivierte sich in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts, als ich Gianni Vattimo kennenlernte, den italienischen Hauptvertreter der postmodernen Philosophie, dessen hermeneutischer Ansatz mir damals näher lag als die poststrukturalistischen Konzeptionen von Foucault, Derrida und Lyotard. Er hatte bereits 1974 das Problem der Befreiung mit Nietzsche verbunden: Il Soggetto e la Maschera. Nietzsche e il Problema della Liberazione („Das Subjekt und die Maske. Nietzsche und dasProblem der Befreiung“). Just diese Verbindung hatte ich noch wenige Jahre zuvor kritisiert.
Zwischenzeitlich aber verließ ich langsam die kommunitarischen Pfade des Marxismus und kehrte zuden Anfängen vor dem Maoismus zurück, wurde schließlich die Außerparlamentarische Opposition der Achtundsechziger-Zeit auch antiautoritäre Bewegung genannt und hatte ich mit Sartres Individualismus damals das Philosophieren begonnen. Doch zu einer Rückkehr zu Sartres Existentialismus war die Zeit noch nicht reif. Das wird erst gegen Ende des Jahrtausends der Fall sein.
Zunächst lernte ich bei Vattimo Nietzsches Hermeneutik als Kritik an den Wissenschaften und der modernen Technik zu verstehen, er hatte 1984 das Buch Jenseits vom Subjekt. Nietzsche, Heidegger und die Hermeneutik publiziert. Und just Naturwissenschaften und Technik erschienen mir damals und heute immer noch als der eigentliche Hintergrund der Naturzerstörung, weniger der Kapitalismus. Heute glauben dagegen die Klimaradikalen mit den Naturwissenschaften und den Technologien das Naturverhältnis ins Lot bringen zukönnen. Für mich waren und sind diese indes nicht die Lösung, sondern das Problem, heute umso mehr, wenn sie unverfroren propagieren, die Welt richtig zuerfassen – ein religiöser Habitus.
Hierzu war die Wissenschafts- und Technikkritik Nietzsches an der Mathematik, die Edmund Husserl 1936 in seiner Krisis der europäischen Wissenschaften wiederholen wird, an der Kausalität, die beim späten Wittgenstein wiederkehren wird, und am Handlungsbegriff, die Hannah Arendt ausbuchstabieren wird, hilfreich. Naturwissenschaften und Technik erfassen die Natur nicht, wie sie wirklich ist, sondern interpretieren sie undentfalten dadurch ihren Willen zur Macht, den heute die Experten repräsentieren.
In diesem Sinne hatte Vattimo die Geschichte des Denken nicht als einen Prozess der immer besseren und adäquateren Erfassung der Welt interpretiert, der die Welt immer präziser beherrscht, sondern als eine Geschichte der zunehmenden Einsicht darein, diesen Prozess als einen der Schwächungen der Erkenntnis wie der Ethik zubegreifen – en passant darf man neben Husserl auf Einsteins Relativitätstheorie, die Grundlagenkrise der Mathematik, Heisenbergs Unschärferelation und das Scheitern der Begründung einer gegenstandsadäquaten Wissenschaftssprache im logischen Konstruktivismus der Erlanger Schule verweisen.Von all dem will man in den Wissenschaften gar nichts mehr wissen.
So entwickelte Vattimo daraus 1983 die Theorie des „schwachen Denkens“ – Il pensiero debole –, an das ich in meinem zweiten Buch zur Naturzerstörung 1989 anschloss: Die Technik und die Schwäche. Ökologie nach Nietzsche, Heidegger und dem ‚schwachen Denken‘. Damit war ich definitiv Nietzscheaner geworden. Vattimos programmatischen Aufsatz Dialektik, Differenz, schwaches Denken übersetzte ich und publizierte ihn in dem von mir 2000 herausgegebenen Sammelband Ethik des Denkens.
IV. Von der negativen Ökologie zur Lebenskunst
Im gleichen Jahrbrachte ich das noch auf einen Begriff, der sich mehr an Adornos negativer Dialektik als an Nietzsches Nihilismus anlehnte, aber von letzterem umso stärker beseelt wurde. Ich veröffentlichte zunächst ein kleines programmatisches Buch unter dem Titel Von der Schwierigkeit Natur zu verstehen. Entwurf einer negativen Ökologie. Die Quintessenz lautet: Zwischen Wissenschaften und Natur besteht eine Differenz, die sich nicht überbrücken lässt. Just deswegen ist im Umgang mit Natur Vorsicht geboten.
1990 habe ich das Konzept ausgearbeitet und es durch Lyotards Widerstreit erweitert: D. h., dass sich das Problem auch nicht politisch lösen lässt,weil Politik der Ort des Widerstreits der Diskursarten ist. Der Titel lautet Negative Ökologie. Politische Philosophie im technischen Zeitalter. Das sollte meine Habilitationsschrift werden. Sie blieb liegen und als ich es in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zur Grundlage einer Vorlesung machen wollte, musste ich entdecken, dass mich das besorgte Pathos um die zerstörte Natur verlassen hatte, so dass ich das Manuskript seither auch nicht mehr veröffentlichen wollte.
So war Nietzsche anfänglich ein Ärgernis, gegen das ich mich zur Wehr setzte, bis ich begriff, dass seine Philosophie viel innovativer und inspirierender war als das, was die Philosophie meiner akademischen Lehrer zu bieten hatte. Und erkenntnistheoretisch kann man von Nietzsche etwa so viel lernen wie von Wittgenstein: Der heute vorherrschende Szientismus ist eine Ideologie, der man so wenig glauben muss wie Religionen.
Heute will das niemand hören. So bleibt man mit Nietzsche Außenseiterin, Bohémienne, Intellektuelle, Lebenskünstlerin gemäß meinem Buch Der Übermensch als Lebenskünstlerin. Nietzsche, Foucault und die Ethik (2009). Wenn man mit Nietzsche dagegen in den Mainstream gerät, hat man ihm diebösen Zähne gezogen, was Arthur C. Danto empfiehlt, um Nietzsche demokratiekonform zu machen.
Obendrein lernte ich von Nietzsche vieles über den Individualismus, wiewohl er den auf das Genie beschränkt. Man kann und muss sein Leben selber gestalten und sich gegen alle Versuche wehren, sich dergleichen von den „letzten Menschen“ vorschreiben zu lassen. Derart hat Nietzsche eine Ethik des Individuums entworfen, die mich zumeinen antiautoritären Anfängen bei Sartre zurückbrachte. Also sprach Zarathustra:
Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise. Dort wo der Staat aufhört, – so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen?1
Fußnoten
1: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.
Von Stalin zu Nietzsche oder Wie ich Nietzscheaner wurde (1970-1990)
Als Marxist war Nietzsche schon ein frühes Ärgernis. Doch mit der Nietzsche-Renaissance in den Achtzigern kam ich nicht mehr an ihm vorbei. Dann entdeckte ich Nietzsche als innovativen Denker. - Teil II der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“, in der sich unsere Stammautoren vorstellen.
Vom Verlangen nach Verschwendung
Vom Verlangen nach Verschwendung

Welchen Stellenwert kann in der heutigen Zeit fortgeschrittener Rationalisierung eine Praxis der Verschwendung haben? Müssten wir nicht vielmehr alles tun, um unsere Effizienz und Produktivität zu steigern, wenn wir den Herausforderungen dieser krisengeschüttelten Zeit begegnen wollen? Aber wenn wir uns dem Denken Friedrich Nietzsches und seines glühenden Verehrers Georges Bataille zuwenden, werden wir mitunter einer Verschwendungsemphase ausgesetzt, die unsere moralischen Grundsätze erschüttert und uns vielleicht auf eine neue und andersartige Politik hin öffnet, als diejenige, die sich uns heute als alternativlos aufzudrängen scheint.
I. Kritik an einer mangelhaften Ökonomietheorie
Bürgerliche wie marxistische Ökonomietheorien gehen stets vom Mangel aus, moniert der französische Schriftsteller, Soziologe, Philosoph und Nietzscheaner Georges Bataille (1897–1962). Den Ausgangspunkt bildet immer das Manko, ein Zuwenig, das kompensiert werden muss, um das Überleben des Individuums, der Gattung, der Gesellschaft zu sichern. Der homo oeconomicus ist ein durch und durch reaktives Wesen, das nichts als Anpassungsleistungen gegenüber einer feindlichen Umwelt, nichts als die Not kennt; er ist stets bedürftig, stets zu kurz gekommen. Daher neigt er zum Ressentiment – zu konkurrierendem Neid, ichbezogener Klugheit und chauvinistischem Geiz. Es ist genau dieses armselige, nur am Nutzen und an der eigenen Bequemlichkeit interessierte menschliche Wesen, dessen Abschaffung Zarathustra mit dem Bild des Übermenschen heraufzubeschwören sucht. Für Bataille ist Nietzsche selbst in der Tat kein aneignender, akkumulierender, sondern ein gebender Denker.
Nietzsches Zarathustra tritt zu Beginn seiner Geschichte vor die Sonne hin und spricht:
Du grosses Gestirn! […] [W]ir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir deinen Überfluss ab und segneten dich dafür. Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, […] ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken. Ich möchte verschenken und austheilen […]. Dazu muss ich in die Tiefe steigen: wie du es des Abends thust, […] du überreiches Gestirn!“1
Den Ausgang der Zarathustra-Geschichte Nietzsches bilden damit nicht Not und Mangel, sondern Reichtum und Überfluss. Das Verlangen nach einer verschwenderischen Verausgabung, wie sie der strahlend selbstlos sich verzehrenden Sonne wesentlich ist, treibt Zarathustra von seinem Berg hinab, hinein in seine Reise voller Irr- und Umwege, voller Überschwang, voller Tragik. Indessen geht der Entwurf einer „allgemeinen Ökonomie“, den Bataille in seinem 1949 erschienen Werk Der verfemte Teil vorstellt, ebenso wie Also sprach Zarathustra, von der Sonne aus, sofern er ihren übertrieben verschwenderischen Charakter zum systematischen Ausgangspunkt seiner Ökonomietheorie macht. Denn es ist die Sonnenenergie, die überall auf der Erde einen „Druck des Lebens“2 bewirkt, der sich in der „Erzeugung immer kostspieligerer Lebensformen“3 äußert. Es gibt dabei immer ein Zuviel an Energie, einen Überschuss, der vom Wachstum nicht absorbiert werden kann. Was sich nicht restlos reinvestieren lässt, muss am Ende sinnlos verausgabt werden. Dies zeigt sich im Luxus der Natur, dessen auffälligste Form der Tod ist. Die gewaltsamen Exzesse der Natur kehren auf soziologischer Ebene wieder: Auch eine Gesellschaft verfügt Bataille zufolge immer über mehr Ressourcen, als zu ihrem schieren Erhalt nötig sind: Existenz ist stets mehr als Subsistenz. Bataille insistiert darauf, dass es gerade die spezifischen Formen der Verschwendung der Überschüsse sind, die eine konkrete Gesellschaft zu einer bestimmten Gesellschaft machen. Denn die Überschüsse müssen auf jeden Fall verausgabt werden – es fragt sich nur, ob dies in katastrophischer Form erlitten, oder in einer Weise, die sogar Freude bereitet, gewählt wird. Bei dem, was über die bloße Subsistenz einer Gesellschaft hinausgeht, handelt es sich mit Nietzsches Wort um deren Kultur.
„Müßiggang, Pyramidenbau und Alkoholgenuß haben gegenüber der produktiven Tätigkeit, der Werkstatt oder dem Brot den Vorzug, daß die Ressourcen, die sie verbrauchen, ohne Gegenwert, ohne Profit verzehrt werden“, schreibt Bataille im Verfemten Teil, „sie gefallen uns einfach, sie entsprechen der Wahl ohne Not, die wir hier treffen.“4 Die in Nietzsches Sinn radikale Wertumkehrung, die Bataille in ökonomietheoretischer Hinsicht vornimmt, liegt in der prinzipiellen Vorrangstellung, die er dem Problem der Verausgabung von Überschüssen gegenüber der Notwendigkeit der Steigerung der Produktivkräfte einräumt, was ihm zufolge auch eine völlige Umkehrung der Moral mit sich bringt. Denn in dieser Perspektive wandeln sich die Begriffe dessen, was als ‚gut‘ und ‚nützlich‘ gilt: Dem Nutzlosen kommt plötzlich ein positiver Wert zu. In dieser Ökonomietheorie liegt die Emphase nicht auf Effizienz, sondern auf Verschwendung. Erst da, wo wir uns sinnlos verausgaben, beginnt das Leben, das nicht bloß reaktiv, bloß Anpassung, bloß Knechtschaft ist, sondern das sich exzessiv und schöpferisch entfaltet, wo alle Singularitäten sich ausrollen dürfen und nicht länger dem Zwang unterliegen, einer möglichst sparsamen Form des Überlebens zu dienen. Batailles „allgemeine Ökonomie“ erweist ihre nietzscheanische Inspiration: in formaler Hinsicht als Wertumkehrung sowie auf inhaltlicher Ebene als affirmative Betonung exzessiver Verschwendungsprozesse.
II. Nietzsches Verachtung des Geizes, Emphase der Großzügigkeit
So ist Nietzsches Werk von seinen frühesten bis zu seinen spätesten Schriften vom verächtlichen Spott gegenüber der Bedürftigkeit und der Kleinlichkeit, zugleich von einer glorifizierenden Betonung der überfließenden Großzügigkeit und des verschwenderischen Schöpfertums durchzogen. Hier einige Beispiele:
Im Versuch einer Selbstkritik, den Nietzsche 1886 seinem Erstlingswerk, der Geburt der Tragödie, voranstellt, fragt der Autor bissig:
[D]as, woran die Tragödie starb, der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit des theoretischen Menschen – wie? könnte nicht gerade dieser Sokratismus ein Zeichen des Niedergangs […] sein?5
In der zu Lebzeiten unveröffentlichten Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne stellt Nietzsche einen rationalen, aus Not handelnden wissenschaftlichen Menschentypus einem künstlerischen und verschwenderischen intuitiven Typus gegenüber:
Wo einmal der intuitive Mensch, etwa wie im älteren Griechenland, seine Waffen gewaltiger und siegreicher führt, als sein Widerspiel, kann sich günstigen Falls eine Kulturgestalten, und die Herrschaft der Kunst über das Leben sich gründen […]. Weder das Haus, noch der Schritt, noch die Kleidung, noch der thönerne Krug verrathen, dass die Nothdurft sie erfand […]. Während der von Abstractionen geleitete Mensch durch diese das Unglück nur abwehrt, ohne selbst aus den Abstractionen sich Glück zu erzwingen, während er nach möglichster Freiheit von Schmerzen trachtet, erntet der intuitive Mensch, inmitten einer Kultur stehend, bereits von seinen Intuitionen, ausser der Abwehr des Uebels eine fortwährendeinströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung.6
Gegen die Aufwertung der Arbeit und die Abwertung überschwänglicher Freuden wettert Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft: „Oh über diese Genügsamkeit der ‚Freude‘ bei unsern Gebildeten und Ungebildeten! Oh über die zunehmende Verdächtigung aller Freude! Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits ‚Bedrüfniss der Erholung‘ und fängt an, sich vor sich selber zu schämen.“7
Zarathustra macht es sonnenklar: „Nicht eure Sünde – eure Genügsamkeit schreit gen Himmel, euer Geiz selbst in eurer Sünde schreit gen Himmel!“8 „Ich liebe Den, dessen Seele sich verschwendet, der nicht Dank haben will und nicht zurückgiebt: denn er schenkt immer und will sich nicht bewahren.“9 „Und auf Entartung rathen wir immer, wo die schenkende Seele fehlt. Aufwärts geht unser Weg, von der Art zur Über-Art. Aber ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: ‚Alles für mich.‘“10
Nietzsches unerbittliche Analyse des lebensfeindlichen „asketischen Ideals“ in Zur Genealogie der Moral, das den Nihilismus der Moderne begründet, ist weithin bekannt.11 Auch die im Spätwerk präsenten moralkritischen Begriffe des „Vornehmen“ oder „Aristokratischen“ die Nietzsche vordergründig in die Nähe einer reaktionären, chauvinistischen Position zu rücken scheinen, erweisen sich vor allem anderen als Affirmation einer großzügigen Selbstverschwendung: Die Vornehmen behaupten sich gerade dadurch, dass sie nicht auf den eigenen Vorteil bedacht sind. Paradoxerweise begründet dies zugleich ihr historisches Unterliegen gegenüber dem, was Nietzsche als „Sklavenmoral“ bezeichnet.
III. Ethik und Politik der Verschwendung?
Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um Nietzsches Hass auf Not, Zurückhaltung und Kleinlichkeit und seine Emphase verschwenderischer Generosität zu dokumentieren. Doch spricht Nietzsche, ähnlich wie Bataille, dieser eigenwilligen ethischen Wertsetzung auch eine politische Bedeutung zu? Nietzsche hat nie eine ausgearbeitete politische Theorie vorgelegt und an dem Versuch, eine seinen Schriften implizite politische Positionierung zu entnehmen, beißen sich die Interpret*innen seit Beginn der Nietzsche-Rezeptionsgeschichte die linken wie die rechten Backenzähne aus. Und doch finden sich kleine unscheinbare Stellen in Nietzsches Werk, die eine gesellschaftspolitische Interpretation seiner Ethik der Fülle und des sorglosen Überschwangs nahelegen. So wendet er seinen Aristokratiebegriff in Zur Genealogie der Moral in der Tat auch soziologisch und suggeriert die Möglichkeit einer Gesellschaft, die gerade als ‚aristokratische‘ kommunistische Züge trüge: „Es wäre ein Machtbewusstsein der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie giebt, – ihren Schädiger straflos zu lassen. ‚Was gehen mich eigentlich meine Schmarotzer an? dürfte sie dann sprechen. Mögen sie leben und gedeihen: dazu bin ich noch stark genug!‘“12
Diese Vorstellung eines starken und glücklichen Gemeinwesens widerspricht nicht nur dem politischen Geist von Nietzsches Zeitgenossen, sondern auch allem, was in heutigen politischen und gesellschaftlichen Debatten um innen- wie außenpolitische Fragen opportun ist: Allem voran steht ein allgemeines Sicherheitsbedürfnis. Der Staat hat sich mit aufwendigen Mitteln der Kontrolle vor äußeren wie inneren Gefahren zu schützen. Die Kassen scheinen notorisch leer zu sein, der Haushalt weist beängstigend große Löcher auf. Ehe jemand sich schmarotzerisch auch nur am winzigsten Teil des gesellschaftlichen Reichtums gütlich tun kann, hat er einen langwierigen, komplizierten, nicht selten mit Demütigungen einhergehenden bürokratischen Hürdenlauf zu meistern. Ob wir auf (vermeintliche) Bedrohungen von außen oder von innen schauen, ob es um Terror und Extremismus, um feindlich gesinnte Staaten, um die Konkurrenz auf dem Weltmarkt, um die Verwüstungen der Umwelt oder um unsere Gesundheit geht: Alle Zeichen stehen auf Prävention, Kontrolle, Vorsicht (sie ist angeblich besser als Nachsicht) – und unbedingt: auf Sparsamkeit. Jedenfalls gilt dies auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Die luxuriösen Exzesse der Reichen und Superreichen zeugen indessen weiterhin, ebenso wie die Vernichtung von zahllosen Menschenleben in kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem gesamten Erdball, von der Notwendigkeit der sinnlosen Verausgabung von Überschüssen, auf die Batailles ökonomietheoretische Perspektive uns stößt. Sie werfen außerdem die Frage auf, ob wir nicht andere Formen der zwecklosen Verausgabung finden und bewusst wählen sollten, die uns allen gefallen könnten, anstatt in einer Spirale aus immer mehr Angst vor der eigenen Vernichtung und immer größeren Sicherheitsmaßnahmen als Reaktion darauf, unbewusst immer katastrophalere Verausgabungsformen hervorzubringen.
IV. Wie wir leben wollen
Doch folgt man Bataille, besteht unser größtes Problem darin, dass wir nicht einmal mehr wissen, „was die Wörter nutzlos, souverän, heilig bedeuten“13, dermaßen sind wir in einen rationalen Diskurs verstrickt, der nur unsere reaktive Seite bedient, nur unserer Bedürftigkeit geschuldet ist. Ich spreche von einem Wir – und jetzt auch noch von einem Ich – ganz so, als ob klar wäre, wer hier spricht und wer angesprochen werden soll. Aber das ist keinesfalls klar. Uns ist „niemals etwas anders als auf missverständliche Weise gegeben“14. So konstituiert sich ein Wir vielleicht überhaupt erst in dieser Unklarheit und in der Frage nach der nutzlosen Verschwendung, nach der es uns immer verlangt, wie laut und nachdrücklich auch immer wir nach dem Nützlichen schreien, wenn wir dastehen wie der letzte Mensch Zarathustras und blinzeln. Vielleicht kennen wir die Bedeutung des Nutzlosen und Heiligen tatsächlich nicht mehr, wie Bataille behauptet. Dennoch mag es Anlässe geben, es zu bedenken.
Ein Theaterregisseur, der zu wenig Zeit zum Proben bis zur Premiere hatte, sagte einmal zu seinem Schauspielensemble: „Wenn man viel zu wenig Zeit hat, muss man sich besonders viel Zeit nehmen. Darum beginnen wir mit den Proben erst in ein paar Tagen, obwohl wir heute schon loslegen könnten und eigentlich müssten.“ Aus dieser paradoxen Anweisung spricht die souveräne Weigerung, sich den objektiven Verhältnissen von Enge und Knappheit zu unterwerfen. Gerade unter den Bedingungen von Druck und Zwang bedarf es eines besonders verschwenderischen Umgangs mit den spärlich vorhandenen Ressourcen. Je größer die Armut, desto großzügiger die Gastfreundschaft; je größer hingegen der Reichtum, desto peinlicher die Maßnahmen, um ihn zu sichern und weiter zu mehren. Sich verschwenden können heißt nicht, über genügend Ressourcen zu verfügen, es heißt vielmehr, der eigenen Sicherheit und Selbsterhaltung nicht den allergrößten, nicht den einzigen Wert beizumessen. Vielleicht ist die Gastfreundschaft wichtiger, als das Bedürfnis, den eigenen Hunger zu stillen. Vielleicht ist die souveräne Verfügung über die eigene Zeit wichtiger, als die erfolgreiche Verwirklichung eines Projekts. Vielleicht gehen wir doch noch eines Tages, Zarathustra folgend, „gerne über die Brücke“15, indem wir unseren eigenen Untergang endlich bejahen. Und vielleicht beginnt genau da erst ein Wir, das es wert ist, gelebt zu werden.
Quellen
Bataille, Georges: Der verfemte Teil. In: Ders.: Die Aufhebung der Ökonomie, hrsg. v. Gerd Bergfleth. München 1985.
Ders.: Hegel, der Tod und das Opfer. In: Ders.: Hegel, der Mensch und die Geschichte, hrsg. v. Rita Bischof. Berlin, 2018.
Ders.: Nietzsche im Lichte des Marxismus. In: Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich. Berlin & Wien, 2003, S. 19–26.
Jenny Kellner (geb. 1984) hat Schauspiel, Philosophie und Soziologie in Hamburg studiert und wurde mit der Arbeit Anti-ökonomischer Kommunismus. Batailles philosophische Herausforderung an der Universität der Künste Berlin promoviert. In ihrer Dissertation geht es zentral um die Nietzschelektüren Batailles. Zur Frage nach den politischen Implikationen des Denkens Nietzsches und Batailles hat sie zahlreiche Artikel publiziert, zuletzt den Beitrag Was heißt Anti-Politik bei Nietzsche? im Tagungsband Nietzsches Perspektiven des Politischen (2023).
Fußnoten
1 Also sprach Zarathustra, Vorrede, 1.
2 Bataille, Der verfemte Teil, S. 55.
3 Ebd., S. 59.
4 Ebd., S. 153.
5 Die Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik, 1.
6 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralische Sinne, 2.
7 Die fröhliche Wissenschaft, 329.
8 Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3.
9 Also sprach Zarathustra, Vorrede, 4.
10 Also sprach Zarathustra, Von der schenkenden Tugend, 1.
11 Vgl. die dritte Abhandlung der Genealogie der Moral.
12 Zur Genealogie der Moral, II, 10.
13 Bataille, Nietzsche/Marxismus, S. 26.
14 Bataille, Hegel, Tod, Opfer, S. 67.
15 Also sprach Zarathustra, Vorrede, 4.
Vom Verlangen nach Verschwendung
Welchen Stellenwert kann in der heutigen Zeit fortgeschrittener Rationalisierung eine Praxis der Verschwendung haben? Müssten wir nicht vielmehr alles tun, um unsere Effizienz und Produktivität zu steigern, wenn wir den Herausforderungen dieser krisengeschüttelten Zeit begegnen wollen? Aber wenn wir uns dem Denken Friedrich Nietzsches und seines glühenden Verehrers Georges Bataille zuwenden, werden wir mitunter einer Verschwendungsemphase ausgesetzt, die unsere moralischen Grundsätze erschüttert und uns vielleicht auf eine neue und andersartige Politik hin öffnet, als diejenige, die sich uns heute als alternativlos aufzudrängen scheint.