Nietzsche POParts
Sind nicht Worte und Töne
Regenbogen und Schein-Brücken
zwischen Ewig-Geschiedenem?
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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches
Artikel
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Kafkas und Nietzsches vor dem Staat flüchtender Mensch
Oder: Frau-Werden nach Deleuze & Guattari
Kafkas und Nietzsches vor dem Staat flüchtender Mensch
Oder: Frau-Werden nach Deleuze & Guattari
Kafka und Nietzsche eint die Auseinandersetzung mit Staat und Bürokratie. Deleuze & Guattari, deren Werke sich auf beide stützen, entwickeln eine unpolitische Antwort auf die fatale politische Situation, nämlich Verwandlungen nach Kafka, ein über sich Hinauswachsen nach Nietzsche, was man als Fluchtlinien aus einer bevormundenden Gesellschaft verstehen kann.
I. Kafka, „der größte Theoretiker der Bürokratie“
Kafka sympathisierte mit den Sozialisten. Nietzsche träumte von einer Herrschaft eines politischen Genius, den er jedoch in seiner zeitgenössischen Politik vermisste, so dass man in seinem Werk viele staatskritische Stellen findet, vor allem im Zarathustra. Just dieses Buch schätzte Kafka, über den Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem monumentalen Werk Tausend Plateaus 1980 schreiben: „Kafka ist der größte Theoretiker der Bürokratie […].“1 Das zeigt sich vor allem in seinen beiden Romanen Der Prozess und Das Schloss.
Aber Kafka ist für Deleuze & Guattari kein Kritiker der Bürokratie. Vielmehr bemerken sie 1975 in ihrem Buch über Kafka: „Was Kafka so gefährlich macht, ist gerade die Kraft seiner Nicht-Kritik.“ (S. 84)
Ihr gemeinsames Werk hat Projekt-Charakter. Es beginnt 1972 mit dem Anti-Ödipus endet 1991 mit Was ist Philosophie?, dazwischen liegt Tausend Plateaus – und eben das wichtige Buch über Kafka: Für eine kleine Literatur. Kafka spielt hier auch generell eine wichtige Rolle, wie auch Nietzsche. Sie verbinden beide als Herausforderer des modernen Staates.
Sie sind wie Nietzsche scharfe Kritiker des Staates und wie Kafka wollen sie das nicht einfach begrifflich ausbuchstabieren, sondern in der Art und Weise darstellen, wie sie selbst schreiben; vor allem die Tausend Plateaus haben etwas Kafkaeskes, beschreiben etwas äußerst Skurriles, nämlich die Herrschaft des Staates, auf skurrile Weise. Am Anfang von Kafkas Der Prozess wird die Hauptfigur K. verhaftet, weiß aber nicht warum, verliert K. dadurch seine Bodenhaftung, bestimmt er nicht mehr über sich selbst, wird somit deterritorialisiert. Jeder Mensch im modernen Staat sieht sich einer Macht gegenüber, die ihn beherrscht; er gehört sich somit nicht selbst. Im Schloss heißt es: „Es begannen die sinnlosen Bittwege zum Vorsteher, zu den Sekretären, den Advokaten, den Schreibern, meistens wurde er nicht empfangen, und wenn er durch einen Zufall doch empfangen wurde […][,] wurde er äußerst schnell abgewiesen und nie wieder empfangen.“ (S. 239)
Man kann sich dafür Erklärungen ausdenken und sich damit abfinden. Aber das, was dem Menschen geschieht, lässt sich mit solchen Erklärungen nicht verständlich machen, mögen ihm die Juristen das Recht erklären oder Politiker ihr Tun umschreiben oder Soziologen die Gesellschaft darstellen. Dass man den Staat für selbstverständlich hält, ist nicht selbstverständlich. Wie bemerkt ein Staatsvertreter zum anderen über K.: „[…], er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht, und behauptet gleichzeitig, schuldlos zu sein.“2
Andererseits wird der Mensch von den politischen und sozialen Mächten zu einem bestimmten Funktionieren genötigt, das ihm in gewisser Hinsicht Halt gibt, so dass das Leben wie gewohnt weitergeht. K. kommt im Prozess nicht ins Gefängnis, sondern wird wieder zur Arbeit in der Bank genötigt und derart reterritorialisiert.
II. „aus dem Denken eine Kriegsmaschine machen“
Kafka führt damit die Absurdität des Lebens im modernen Staat vor, dem er sich selbst ausgeliefert sieht; das man gar nicht auf den kritischen Begriff bringen kann, das man derart nicht erfasst. Allein man muss es nüchtern – kafkaesk – vorführen, was für das Recht letztlich viel entlarvender ist. Wie erläutert im Prozess ein Geistlicher: „[M]an muss nicht alles für wahr halten, man muss es nur für notwendig halten.“ (S. 160)
Nietzsche sieht das ähnlich wie Kafka: „Lieber Nichts wissen, als Vieles halb wissen! Lieber ein Narr sein auf eigne Faust, als ein Weiser nach fremdem Gutdünken!“3 Nicht die Weisheit der Experten übernehmen, die durch wissenschaftliche Erzählungen die Absurditäten moderner Staatlichkeit vergessen lassen, sondern lieber sich selbst diverse Reime auf das Absurde machen.
Gegenüber dem herrschenden bürokratischen Denken bleibt für Deleuze & Guattari nur eins, nämlich „aus dem Denken eine Kriegsmaschine machen, das ist ein eigenartiges Unternehmen, dessen genaue Verfahrensweisen man bei Nietzsche studieren kann […].“4 Denn: „Das Schlimmste aber sind die kleinen Gedanken. Wahrlich besser noch bös getan, als klein gedacht!“5 Nietzsche ist ein Skeptiker moderner Wissenschaften, die die Natur höchstens anders interpretieren, aber nicht erklären können, weil Erklärung als solche nur eine Illusion ist, indem man eine Wirkung durch etwas anderes ersetzt, die Ursache, also schlicht eine Sache durch eine andere, auch wenn man sich noch so sehr darum bemüht, Verbindendes zwischen beiden zu finden.
Nietzsche hinterfragt die vermeintlichen Gewissheiten und erschüttert damit die politischen und sozialen Verbindlichkeiten. Das bezeichnen Deleuze & Guattari als Kriegsmaschine, die sie auch bei Kafka bemerken: „Bewusst zerstört Kafka alle Metaphern, alle Symbolismen, jede Bedeutung und jede Designation“6, damit die Bedeutungen, die jeder Staat regelmäßig durchsetzt, um das Denken seiner Untertanen lenken zu können. Wie schreibt Nietzsche im Nachlass: „Die meisten Menschen spüren gelegentlich, dass sie in einem Netz von Illusionen hinleben. Wenige aber erkennen, wie weit diese Illusionen reichen.“7
Das Szenario in Kafkas Erzählungen und Romanen zeigt die Absurdität der bürokratisch beherrschten Wirklichkeit. Was ein Verbrechen ist, bestimmt das Gesetz, beispielsweise in vielen Ländern immer noch Homosexualität oder Abtreibung, die auch in Deutschland nur unter bestimmten Bedingungen straffrei bleibt – exakt die absurde Situation im Prozess: „Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war?“ (S. 165) Und die meisten Menschen erkennen das an, ob als gerecht oder als positive Rechtsetzung.
Die Hinrichtungsmaschine in der Strafkolonie schreibt dem Opfer mit Nadeln das Urteil in die Haut, das das Opfer nach Stunden anfängt auf seiner Haut als Worte zu erkennen: „Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. […] Es geschieht ja nichts weiter, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund, als horche er. […] unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden.“ (S. 108) Nietzsches Zur Genealogie der Moral liefert dazu die Vorlage: „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtniss […].“8 Dann verdanken sich die Moral wie die wissenschaftliche Erkenntnis der Gewalt.
III. Nietzsche: „es gibt kein solches Allgemeines!“
Die wissenschaftliche Erkenntnis beruht darauf, dass sie die Welt sprachlich adäquat wiedergibt, ähnlich wie ein Bild einen Sachverhalt zeigt, wobei man dabei unterstellt, dass ein Bild den Sachverhalt nicht verfremdet oder ihm womöglich erst einen Sinn verleiht. Dem widersprechen Deleuze & Guattari: „Das Denken ist wie ein Vampir, es hat kein Bild, um daraus ein Modell oder eine Kopie zu machen.“9 Die Welt lässt sich nicht einfach sprachlich erfassen. Vampire haben bekanntlich kein Spiegelbild. Ob bei Kafka oder Nietzsche, die Sprache hat den ontologischen Status eines Phantoms: Sie sagt, was ist; doch damit sagt sie nicht das, was ist, sondern immer nur, was sprachlich sein soll. Sie macht aus dem, was ist, immer etwas anderes, etwas Sprachliches.
Für Deleuze & Guattari hat Kafka selbst einen vampirischen Charakter. Sie bemerken: „Er durchwacht die Nächte und schließt sich tagsüber in seinem Büro-Sarg ein […]. Kafka-Dracula hat seine Fluchtlinie in seinem Zimmer, auf seinem Bett […].“10 Die Eingangsszene aus Der Prozess spiegelt Kafkas Lebenssituation, sich durch Lohnarbeit freie Zeit zum Schreiben zu erarbeiten. So findet das Leben in der Nacht statt, der Tag ist dagegen ein Grab.
Der Staat bestimmt das Weltbild seiner Untertanen. Also sprach Zarathustra: So „[…] ist der Staat ein Heuchelhund; […] redet er gern mit Rauch und Gebrülle, – dass er glauben mache, […] er rede aus dem Bauch der Dinge.“11 Derart gibt der Staat vor, zu wissen, wie die Dinge sind, immer schon und heute umso mehr. Und Zarathustra spricht weiter: „Denn er will durchaus das wichtigste Thier auf Erden sein, der Staat; und man glaubt’s ihm auch.“ (Ebd.) Kafka glaubt es ihm nicht, schon gar nicht, dass der Staat „aus dem Bauch der Dinge“ spricht. Vielmehr spricht er die Sprache der Bürokratie.
Deleuze & Guattari buchstabieren aus, was Nietzsche aphoristisch andeutet:
Es mag sein, dass, ob geistig oder weltlich, tyrannisch oder demokratisch, kapitalistisch oder sozialistisch, es stets nur einen Staat gegeben hat, den Heuchelhund Staat, der mit Rauch und Gebrülle redet. Nietzsche spricht aus, wie dieser […] verfährt: kraft eines beispiellosen Terrors, demgegenüber das alte System der Grausamkeit, die primitiven Formen der Dressur und der Erziehung ein Kinderspiel darstellten. […] Die Erde wird am Ende ein Irrenhaus.12
Wie dem Staat das gelingt, ohne dass es die Untertanen bemerken, beschreibt Nietzsche um die Jahreswende 1887/88: Der Staat ist die
organisirte Unmoralität […] / wie wird es erreicht, dass er eine große Menge Dinge thut, zu denen der Einzelne sich nie verstehen würde? / – durch Zerteilung der Verantwortlichkeit – des Befehlens und der Ausführung / – durch Zwischenlegung der Tugenden des Gehorsams, der Pflicht, der Vaterlands- und Fürstenliebe […] / Die Kunstgriffe, um Handlungen, Maaßregeln, Affekte zu ermöglichen, welche, individuell gemessen, nicht mehr „statthaft“ sind, – auch nicht mehr „schmackhaft“ sind […].13
Indem der Staat die Funktionen des Anführens und des Ausführens teilt, haben die Ausführenden keine Verantwortung mehr für das, was sie tun, und begehen schreckliche Taten, die sie selbst nie verantworten könnten. Im Prozess heißt es: „Durch seinen Dienst auch nur an den Eingang des Gesetzes gebunden zu sein, ist unvergleichlich mehr, als frei in der Welt zu leben. Der Mann kommt erst zum Gesetz, der Türhüter ist schon dort.“ (S. 160)
Kafka führt vor, wie es möglich ist, dass die Menschen das nicht bemerken. So schreiben Deleuze & Guattari:
Die berühmten Texte im Prozess (dazu die Erzählungen In der Strafkolonie, Beim Bau der Chinesischen Mauer usw.) präsentieren das Gesetz als reine Leerform, ohne jeden Inhalt und ohne erkennbaren Gegenstand: Es erscheint nur als Urteilsspruch, und dieser wird nur in einer Strafe erkennbar.14
Das Gesetz begegnet den Menschen nur durch seine Wirkungen. Dabei behauptet der Staat von sich, das Allgemeinwohl zu verkörpern. Wie kommentiert das Nietzsche: „‚Das Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des Einzelnen‘ . . . aber siehe da, es gibt kein solches Allgemeines!“ 15
Jedenfalls gibt es keine inhaltlichen Bestimmungen des Allgemeinwohls oder der Allgemeinheit mehr. Universalismus lässt sich nur formal bestimmen. Dazu schreiben Deleuze & Guattari: „Kant […] zufolge entspringt das Gesetz nicht mehr einem präexistenten Guten, das ihm Inhalt verliehe, sondern es ist nur noch reine Form, die das Gute als solches bestimmt: Gut ist, was das Gesetz verkündet, und zwar in denselben formalen Bedingungen, unter denen es sich selbst verkündet.“16 Kants Rechtsprinzip beruht auf der allgemeinen Geltung von Gesetzen, was nur in ihrer Form und nicht an ihrem Inhalt liegt: Gesetze müssen allgemein gelten. Was sie inhaltlich aussagen, macht sie nicht zu Gesetzen. Gehorchen muss man ihnen nämlich, weil sie Gültigkeit haben, die sich auf Gewalt stützt, nicht weil sie richtig oder gerecht sind.
Was Nietzsche dazu schreibt, kann dann auch nicht mehr verwundern: „Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ‚Ich der Staat, bin das Volk.‘“17 Damit beansprucht der Staat, das Allgemeinwohl zu vertreten. Der Staat bestimmt, was das Volk ist. Dabei behauptet er, dass das Volk kein von ihm geschaffenes und bestimmtes Konstrukt ist, sondern naturgegeben.
IV. „Substitution der Liebe durch den Liebesbrief“
Doch für die staatliche Gewalt ist dessen Maschinenwesen verantwortlich. Die Bürokratie arbeitet wie eine Maschine, an der die Menschen angeschlossen werden. Deleuze & Guattari schreiben 1975: „Was einem bei Kafka Angst (oder Freude) macht, ist […] die amerikanische Technokratie-Maschine und die sowjetische Bürokratie-Maschine und die faschistische Totalmaschinerie.“18 Der Staat und die Maschinen, auf die er sich stützt, sind die Bedrohung für den Menschen. Im Zentrum steht neben der Bürokratie das Recht, das die Menschen nicht schützt, sondern diese bedroht. Im Anti-Ödipus heißt es: „Niemand hat eindrucksvoller als Kafka dargestellt, dass dem Gesetz nichts von einer immanenten, natürlich-harmonischen Totalität anhaftet, dass es vielmehr als enthobene formale Einheit wirkt, […].“ (S. 255) Auch der Rechtstaat macht einen kafkaesken Eindruck.
Das Individuum kann sich davor eigentlich nur zurückziehen. Nietzsche hat das bereits ähnlich gesehen: „Geht eure Wege! Und lasst Volk und Völker die ihren gehn! – dunkle Wege wahrlich, auf denen auch nicht Eine Hoffnung mehr wetterleuchtet!“19 Nietzsche fordert dazu auf, sich nicht an der Politik zu beteiligen, nicht zuletzt, weil deren Wege nur kafkaesk erscheinen. Deleuze & Guattari kommentieren das:
Die etablierten Mächte haben die Erde besetzt und Volksorganisationen geschaffen. Die Massenmedien und die großen Volksorganisationen wie Parteien oder Gewerkschaften sind Reproduktionsmaschinen […]. Die etablierten Mächte haben uns in einen zugleich atomaren, kosmischen und galaktischen Kampf getrieben. Vielen Künstlern ist diese Situation schon seit langem bewusst, zum Teil schon, bevor sie wirklich da war (zum Beispiel Nietzsche).20
In der Tat sagt Nietzsche für das kommende Jahrhundert den Kampf um die Erdherrschaft voraus. Und worauf das hinausläuft, weiß schon Zarathustra: „Staat, wo der langsame Selbstmord Aller – ‚das Leben‘ heißt.“ 21 Der schnelle Selbstmord findet auf den Schlachtfeldern statt, der langsame im Kontor oder in der Familie. Kafka wird von Frauen gleichermaßen angezogen wie abgestoßen; denn er fürchtet sich vor der Familie, ist die Ehe schließlich Gesetz, ein Vertrag, der die Grundlage aller Liebesbeziehungen im 19. Jahrhundert sein soll und der doch die Lust abtötet.
So flieht Kafka vor der Institution Ehe. Deleuze & Guattari bemerken: „Substitution der Liebe durch den Liebesbrief? Deterritorialisierung der Liebe. Substitution des gefürchteten Heiratsvertrags durch einen Teufelspakt.“22 Nicht zu heiraten, lieber zu schreiben, befreit die Liebe aus den Fesseln der Familie und damit auch aus der staatlichen Zwangsorganisation, die den Menschen in die Familie einbindet. Warum weint Gregors Schwester in Die Verwandlung? „Weil er nicht aufstand und den Prokuristen nicht hereinließ, weil er in Gefahr war, den Posten zu verlieren und weil dann der Chef die Eltern mit den alten Forderungen wieder verfolgen würde?“23
In Das Urteil (1913) gehorcht der Sohn und begeht auf Geheiß des Vaters Selbstmord. Die Familie erscheint in den Werken Kafkas als Ort der Unterwerfung, des Opfers und des Leidens. Wie kann man sich dem entziehen? Indem man nicht mehr so schreibt, wie es sozial anerkannt wird, sondern so, dass die Zusammenhänge sich nur schwer erschließen lassen, weil sie so verwickelt und absurd entworfen werden, wie sich die Realität dem kühlen Blick darbietet. Das Rhizom lässt sich als Labyrinth der sprachlichen Zeichen verstehen, so dass man nicht verstanden wird, aber jemanden in ein chaotisches Textgewebe verwickelt: Kafkas Geliebte, Kafkas Leser, Kafkas Feinde, nämlich Bürokraten und Wissenschaftler. So schreiben Deleuze & Guattari: „Die Briefe sind ein Rhizom, ein Netzwerk, ein Spinngewebe. […], und seine Kraftquelle liegt weit entfernt in dem, was seine Briefe ihm zutragen. Er fürchtet nur zwei Dinge: das Kreuz der Familie und den Knoblauch der Ehe.“24 Die Einleitung zu Tausend Plateaus hat den Titel Rhizom, ein Text, der auch separat erschienen ist.
V. Kafka: „Das Gericht will nichts von dir“
Auch Zarathustra propagiert den Menschen jenseits des Staates und damit auch jenseits der Familie, in denen er immer nur dienendes Rädchen im Getriebe ist, das sich auswechseln lässt. In Die Verwandlung stellt sich heraus, dass die Eltern vom Sohn gar nicht so abhängig sind, wie sie ihm vorgaukelten, um ihn zu fleißiger Arbeit zu motivieren. Der Übermensch entsteht nicht im Staat und nicht in der Familie. Nietzsche proklamiert:
Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise. Dort wo der Staat aufhört, – so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen?25
In der Gemeinschaft, und sei es nur die der Konzertbesucher, ist der Mensch nur Nächster, nicht einmalig und nicht unersetzbar, sondern einer unter vielen.
Wie gelangt man dorthin, wo man Mensch ist? Durch eine experimentelle Philosophie, wie diejenige Nietzsches, und dadurch, dass man sich mit Kafka verwandelt, nämlich Tier wird. Mensch sein bzw. Untertan sein, ist nicht ersprießlich. Deleuze & Guattari schreiben:
Wir glauben nur, dass Kafka Experimente protokolliert, dass er nur Erfahrungen berichtet, ohne sie zu deuten, ohne ihrer Bedeutung nachzugehen […]. Ein Mensch, der schreibt, ist niemals „nur ein Schriftsteller“: Er ist ein politischer Mensch, und er ist ein Maschinenmensch, und er ist ein experimentierender Mensch (der aufhört, Mensch zu sein, um versuchsweise Affe zu werden, oder Käfer, Hund, Maus, irgendein Tier […]).26
Gregor entzieht sich der Familie und der Arbeit, indem er sich in einen Käfer verwandelt. Er macht aus sich etwas anderes als das, was der Staat von ihm verlangt. Er übersteigt sich, indem er Chaos verbreitet, wie es Nietzsche fordert:
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren! Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.27
Kafka hat noch Chaos in sich, indem er kein Kritiker des Staates ist, sondern schlicht Berichterstatter, der nüchtern festhält, wie er auf die Menschen wirkt, welche Gedanken sich K. im Prozess oder Gregor in der Verwandlung macht. Die Verwandlung, das Tier-Werden ist für Deleuze & Guattari eine Flucht aus den sozialen Verhältnissen, ein politischer Akt, wenn Politik nur noch den Sinn hat, die Interessen des Staates durchzusetzen, wenn das aber keinen Sinn für den Menschen hat. Deleuze & Guattari begreifen Kafkas Schriften als eine politische Antwort: „Das Wesentliche am Tier ist für Kafka der Ausweg, die Fluchtlinie, auch ohne sich von der Stelle zu rühren, selbst wenn man im Käfig bleibt. Nicht die Freiheit, sondern ein Ausweg. Nicht ein Angriff, sondern eine lebendige Fluchtlinie.“28
Nietzsche hat diese Sachlage antizipiert: „Oh meine Brüder, ist jetzt nicht Alles im Flusse? Sind nicht alle Geländer und Stege in’s Wasser gefallen? Wer hielte sich noch an ‚Gut‘ und ‚Böse‘?“29 Es gibt keine obersten ethischen Werte mehr, nur noch solche die der Staat und das Gesetz erlassen, wodurch für die Menschen eine Situation entsteht, aus der sie nur fliehen können, und zwar dadurch, dass sie sich in Tiere verwandeln, weil die Menschen unter der Regie des Staates ja keine Menschen sind, die mit Nietzsche noch wesentlich wären. Sie sind unwesentlich, so dass man anders als sie werden muss.
Da bietet sich das Tier-Werden als Fluchtlinie an. Deleuze & Guattari schreiben:
Das Tier-Werden ist eine bewegungslose Wanderung auf der Stelle, die sich nur in Intensität erleben und begreifen lässt […]. Das Tier-Werden hat nichts Metaphorisches an sich. Es ist kein Symbolismus und keine Allegorie.30
Insofern hat es weder eine bürokratische noch eine wissenschaftliche Wahrheit. Nein, so etwas hat es doch nie gegeben! Oder Kafka beschreibt, was alltäglich der Fall ist, wenn die Menschen entweder krank oder verrückt werden, wie es Deleuze & Guattari in ihrem Projekt Kapitalismus und Schizophrenie vorführen. Verrückt-Werden erscheint als eine ähnliche Fluchtlinie wie Tier-Werden.
Es war die Zeit, als die zweite Frauenbewegung Fahrt aufnahm. Statt Tier-Werden besteht die Möglichkeit des Frau-Werdens, das für Kafka in Das Schloss eine andere Perspektive entwickelt. Deleuze & Guattari schreiben:
Alle gemeinsam bezeugen in ihrem Verlangen – in dem, das sie selber erfüllt, und in dem, das sie bei anderen wecken – die tiefe Identität von Justiz, Verlangen und junger Frau oder Mädchen. Das junge Mädchen gleicht dem Gericht: Es ist prinzipienlos, reiner Zufall. „Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst“[31]. Im Dorf unterm Schloss geht die Redensart: „Amtliche Entscheidungen sind scheu wie junge Mädchen“.32
Die Justiz ist unberechenbar wie kapriziöse junge Frauen, die sich ihren Verehrern notorisch entziehen, diesen ständig Schwierigkeiten bereiten.
Doch Deleuze & Guattari erkennen darin eine Fluchtlinie für Männer, das Frau-Werden, schon in der Zeit der bürgerlichen Frauenbewegung. Den männlichsten Literaten wie D. H. Lawrence oder Henry Miller attestieren sie just eine solche Neigung. Politik heißt dann nicht mehr Parteipolitik, auch nicht Bürgerprotest, sondern Fluchtlinien aus solchen Organisationen und sich verwandeln, um Verwirrung zu stiften: Frau-Werden! Oder heißt das Mensch-Werden, wenn aus feministischer Perspektive die Menschlichkeit eher von Frauen verkörpert wird als von Männern? Dafür spricht jenseits aller Kritik am Patriarchat, dass die Frauen die Kinder in die Welt setzen. Wenn Frauen liebesfähiger als Männer sind, sollten daher letztere ersteren nacheifern? Würde das Männer verwandeln?
Quellen
Deleuze, Gilles & Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie Bd. 1 (1972). Frankfurt a. M. 1979.
Dies.: Kafka. Für eine kleine Literatur (1975). Frankfurt a. M. 2019.
Dies.: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus (1980). Berlin 1992.
Kafka, Franz: Das Schloss (1926). Berlin 2010.
Ders.: Der Prozess (1925). Frankfurt a. M. 1960.
Ders.: Die Verwandlung (1915). Sämtliche Erzählungen, Frankfurt a. M. 1970.
Ders.: In der Strafkolonie (1919). In: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt a. M. 1970.
Fußnoten
1: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus, S. 291.
2: Kafka, Der Prozess, S. 11.
3: Also sprach Zarathustra, Der Blutegel.
4: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus. S. 518.
5: Also sprach Zarathustra, Von den Mitleidigen.
6: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 32.
7: Nachgelassene Fragmente 1870 5[33].+
8: Zur Genealogie der Moral, Abs. II, 3.
9: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus, S. 519.
10: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 42.
11: Also sprach Zarathustra, Von den grossen Ereignissen.
12: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus, S. 247.
13: Nachgelassene Fragmente 1887 11[407].
14: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 60.
15: Nachgelassene Fragmente 1887 11[99].
16: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 60.
17: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.
18: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 18.
19: Also sprach Zarathustra, Tafeln, 21.
20: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus. S. 471.
21: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.
22: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 41.
23: Kafka, Die Verwandlung, S. 62.
24: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 42.
25: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.
26: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 12.
27: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 5.
28: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 49.
29: Also sprach Zarathustra, Tafeln, 8.
30: Deleuze & Guattari, Kafka. S. 50.
31: Kafka, Der Prozess, S. 161.
32: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 88.
Nietzsche im Kreuzfeuer des Kulturkampfs
Zwei aktuelle Perspektiven im Vergleich
Nietzsche im Kreuzfeuer des Kulturkampfs
Zwei aktuelle Perspektiven im Vergleich
Dass Nietzsche in seiner Wirkungsgeschichte quer durch alle politischen Lager hindurch gelesen und vereinnahmt wurde, ist hinreichend bekannt. Doch wie steht es mit unserer Gegenwart? Paul Stephan untersucht die Schriften von zwei Autoren, die in etwa so alt sind wie er selbst, Mitte/Ende 30, und deren Blickwinkel auf Nietzsche unterschiedlicher kaum sein könnte: Während der französische Publizist und Youtuber Julien Rochedy Nietzsche zum Vordenker eines rechten Kulturkampfs erklärt, bringt ihn der deutsche Philosoph und Politikwissenschaftler Karsten Schubert für eine linke Identitätspolitik in Anschlag. Unseren Autoren überzeugen beide Positionen nicht so recht, sie bewegen sich vielmehr ganz im Rahmen der herrschenden Simulation von Politik als Kulturkampf, der es die Besinnung auf die wirklich drängenden Lebensprobleme der gegenwärtigen Menschheit entgegenzusetzen gälte.
Zusammenfassung
Nietzsche verortete sich selbst in äußerst vielfältiger und widersprüchlicher Weise zu politischen Fragen. Es ist daher kein Wunder, dass sein Denken in der Folge von den unterschiedlichsten politischen Fraktionen vereinnahmt wurde, von Anarchisten bis hin zu Nazis. Daran hat sich bis heute wenig geändert, wie zwei kürzlich erschienene Publikationen unterstreichen: Nietzsche – der Zeitgemäße von Julien Rochedy (2020/2022) und Lob der Identitätspolitik von Karsten Schubert (2024). Während der ehemalige Front-National-Politiker und Publizist Rochedy in Nietzsche einen politisch unkorrekten Kritiker der linken Identitätspolitik und einen Vordenker der rechten erblickt, versteht ihn der erklärte „Linksnietzscheaner“ Schubert genau als einen Inspirator einer linken. Beide eint bemerkenswerterweise ihre starke Bezugnahme auf den späten Nietzsche und seine machttheoretische Analyse des Dualismus von „Herren-“ und „Sklavenmoral“ in der Genealogie der Moral, aus der allerdings vollkommen unterschiedliche Konsequenzen ziehen: Rochedy plädiert für eine neue Herrenmoral, Schubert gibt die Kritik an der Sklavenmoral preis.
Ausgehend von seiner eigenen Studie Links–Nietzscheanismus. Eine Einführung (2020), in der er selbst für einen linken Nietzscheanismus plädiert, vergleicht Paul Stephan diese beiden Ansätze und zeigt ihre jeweiligen Schwächen auf. Rochedy gelingt es trotz aller Bemühungen nicht, sich hinreichend vom historischen Faschismus und der Konservativen Revolution als dessen intellektuelle Avantgarde zu distanzieren, er bleibt vollends in einer partikularistischen Position verhaftet. Schuberts Gegenentwurf eines „partikularistischen Universalismus“ krankt indes daran, dass er zum rechten Partikularismus keine wirklich radikale Alternative aufzuzeigen vermag. Er verbleibt in derselben Logik identitätspolitischer Kulturkämpfe, der Simulation von Politik als Spektakel der Symbole, an der unsere Gegenwart krankt. Zeitgenössischer Rechts- wie Linksnietzscheanismus erweisen sich als unfähig, eine radikale Alternative zum bestehenden globalen Kapitalismus aufzuzeigen und die wesentlichen Zukunftsfragen der Menschheit auch nur zu stellen. Sie bleiben so hinter dem Niveau von Nietzsches „großer Politik“ am „Leitfaden des Leibes“ zurück. Politischer Realismus heißt heute, utopisch zu fühlen, zu handeln und zu denken und nicht, sich an der „ewigen Wiederkunft“ von „Herren-“ und „Sklavenmoral“ zu beteiligen.
Kompletter Artikel
I. Nietzsche zwischen den Stühlen der politischen Moderne
Nietzsche versucht in seinen Schriften bekanntlich, eine un-, ja, antipolitische Position einzunehmen. Egal ob Konservative, Sozialisten, Feministinnen, Liberale, Nationalisten, Antisemiten … alle bekommen gleichermaßen ihr Fett weg und werden als Opfer der „modernen Ideen“1 gebrandmarkt. Dies hält ihn allerdings nicht davon ab, immer wieder positive Vorschläge zur Lösung der drängenden politischen Fragen seiner Zeit zu unterbreiten oder wenigstens Ansätze politischer Utopien zu skizzieren, die allerdings vage und mithin in ihrem politischen Gehalt uneindeutig bleiben: vom „Übermenschen“ über wilde Phantasien von neuen sozialen Hierarchien, „einer neuen Sklaverei“2, bis hin zur Verklärung der polnischen Adelsrepublik der frühen Neuzeit zum anarchischen Idealstaat.3 Nietzsche wird so paradoxerweise für nahezu alle politischen Ideologien der Moderne höchst anschlussfähig: Weil er sich von allen gleichermaßen distanziert, projizieren alle ihre eigenen Vorstellungen in ihn. Man muss an eine begehrte – oder besser: sich begehrt machende – Frau denken; oder in den Worten, die Nietzsche der femininen Figur des „Lebens“ in den Mund legt: „[I]hr Männer beschenkt uns stets mit den eignen Tugenden – ach, ihr Tugendhaften!“4 Nietzsche als Verführer.
In jüngster Zeit dominiert die breite Debatte ein relativ „gemäßigtes“ Bild von Nietzsche als Individualisten und Kritiker aller Ideologien – was ihn allerdings auch wieder sehr dem gegenwärtigen postmodernen Zeitgeist anpasst, der die „großen Erzählungen“, von denen Jean-François Lyotard schon 1979 sprach,5 für abgeschafft erklärt und es lieber bei pragmatischer Realpolitik im Namen möglichst unverbindlicher Werte belässt. Nietzsche als „zahmes und civilisirtes Thier, […] Hausthier“6 des linksliberalen Mainstreams. Aus dem „Unzeitgemäßen“ von einst wurde der Zeitgemäße von heute.
Spannender – und womöglich: näher an Nietzsches eigenen Intentionen – ist es dagegen, Nietzsche für radikale politische Projekte in Anschlag zu bringen, die sich genau gegen diesen Mainstream wenden. Wie plausibel ist das? Welches Potential lässt sich Nietzsches Schriften in dieser Hinsicht entnehmen? Und führt uns Nietzsche in dieser Hinsicht eher nach rechts oder nach links?
Ich selbst habe 2020 ein zweibändiges Buch mit dem bescheidenen Titel Links–Nietzscheanismus. Eine Einführung publiziert, dass genau solche Fragen anhand einer Untersuchung von Nietzsches eigenen Schriften (Band 1) und seiner, rechten wie linken, Wirkungsgeschichte (Band 2) zu beantworten sucht. Dort halte ich mich mit einer eindeutigen Verortung Nietzsches eher zurück, doch verweise auf die Potentiale, die er für eine linke Theorie und Praxis der Gegenwart heute haben könnte, etwa in seinem Plädoyer für einen heroischen Individualismus, in seiner Akzentuierung der Leiblichkeit und der Naturabhängigkeit des Menschen, in seiner Kritik eines ressentimenthaften, kleingeistigen Linksseins in Gestalt der „Sklavenmoral“, in seiner Ermunterung zu Aufbruch und utopischem Denken (Stichwort: „Übermensch“), in seiner scharfen Diagnose des Nihilismus der modernen Kultur, in seiner Wertschätzung authentischer Leidenschaftlichkeit und unbekümmerter Kreativität. Und vieles weitere. „Links–Nietzscheanismus“ kann für mich keine Ideologie sein – daher auch der Gedankenstrich –, sondern eher eine Haltung, die Individualismus und Freigeistigkeit mit dem Kampf für universelle Werte – den Nietzsche oftmals, wenn auch nicht immer, ablehnt – verbindet („Universalismus“ – das heißt für mich im Kern: Links-Sein7). Eine Haltung, die, wie die Geschichte des Links–Nietzscheanismus zeigt, zu den unterschiedlichsten praktischen und theoretischen Konsequenzen führen kann, sei es in Gestalt der anarchistischen Ansätze Gustav Landauers und Emma Goldmans, des nietzscheanischen Marxismus Ernst Blochs und der Frankfurter Schule oder dem „Links-Dionysmus“ Georges Batailles und der Surrealisten. Zentral ist jedenfalls der Individualismus der links–nietzscheanischen Akteurinnen und Akteure, ihr Streben nach der Verbindung von individueller und kollektiver Befreiung, das sie immer wieder in Konflikt mit dem Mainstream der linken Parteien und Institutionen brachte.
In der Zwischenzeit sind zwei bemerkenswerte weitere Schriften zu derselben Thematik erschienen. Uns verbindet, dass wir in etwa derselben Generation angehören, auch wenn unser Werdegang ein sehr unterschiedlicher ist, und uns dieselbe Frage stellen: Was folgt in der heutigen gesellschaftlichen Situation aus Nietzsches Philosophie für die politische Theorie und Praxis? Und uns eint, dass wir uns um Antworten bemühen, die vom genannten linksliberalen Mainstream abweichen. Doch da hört die Gemeinsamkeit schon auf. Karsten Schubert fordert in seinem jüngst erschienen Buch Lob der Identitätspolitik auf der Basis seiner zahlreichen in den letzten Jahren zu diesem Themenfeld publizierten Artikel8 aus seinem „Linksnietzscheanismus“ (ohne Strich) heraus genau eine Parteinahme für das, was ich, jedenfalls in Teilen, als „Ressentiment-Linke“ bezeichnen würde. Für den französischen Publizisten, Julien Rochedy, zeitweise führendes Mitglied in der Jugendorganisation des Front National, ist in seinem Buch Nietzsche – der Zeitgemäße, erschienen im französischen Original schon 2020 und 2022 ins Deutsche übersetzt, klar, dass Nietzsche ein Rechter war und mithin ein Vordenker einer „Identitätspolitik“ ganz anderer Art.
II. Ein neuer rechtsradikaler Nietzsche aus Frankreich
Rochedys Buch ist eine recht kompakte Einführung in Nietzsches Denken, eine populärphilosophische Schrift, die weitgehend ohne Quellennachweise auskommt und an einigen Stellen auch sachliche Fehler enthält.9 Sie basiert auf dem dreistündigen Vortrag Nietzsche : vie et philosophie, den Rochedy 2019 auf YouTube hielt und der 1,5 Millionen Zuschauer erreichte (Link). Man sieht: Der ehemalige führende FN-Funktionär, der generell sehr stark auf den sozialen Medien präsent ist und in der Zwischenzeit weitere Bücher publizierte, ist kein intellektueller Einzelgänger, sondern im Milieu der jungen radikalen Rechten eine populäre und einflussreiche Gestalt, dessen Thesen man schon allein aus diesem Grund unbedingt zur Kenntnis nehmen sollte, selbst wenn man mit ihnen nicht einverstanden ist.
Das Buch liest sich flott und ist mitreißend geschrieben, zumal Rochedy immer wieder Anekdoten aus seinem Leben und starke Aussagen zu aktuellen Fragen einflicht. Er erzählt die wichtigsten Stationen in Nietzsches Leben nach und referiert den Inhalt seiner Schriften. Auffällig ist allerdings, dass er, von der Geburt der Tragödie abgesehen, die Schriften bis zur Fröhlichen Wissenschaft nur beiläufig streift. Mit dem dionysischen Ästhetizismus des Erstlingswerks kann er wohl noch etwas anfangen, doch wenig mit den Unzeitgemäßen Betrachtungen und mit dem aufklärerischen Pathos der drei ersten Aphorismenbände10, sie passen nicht recht in sein Nietzsche-Bild. So behauptet er sogar, Nietzsches Widmung des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches an Voltaire sei ironisch gemeint gewesen,11 die Unzeitgemäßen Betrachtungen tut er als „verfrühte Betrachtungen“ (S. 35) ab, die „fest im zeitlichen Kontext fußen und alles andere als ‚zeitlos‘ sind“ (ebd.). So richtig interessant wird Nietzsche für Rochedy erst ab der Fröhlichen Wissenschaft und vor allem in seinem Spätwerk, zu dem er dezidiert auch die von Nietzsches Schwester und ihren Mitarbeitern edierte umstrittene Collage Der Wille zur Macht zählt. Dieses sei Nietzsches, wenn auch „unvollendetes“, „Hauptwerk“ (S. 65), dem Rochedy eine „Metaphysik des Willens zur Macht“ (S. 68) entnimmt.12 Besonders ausführlich referiert er zudem die Kernthesen der Genealogie der Moral.
Rochedys Leitgedanke: Man soll den „Willen zur Macht“ als wesentliches Grundprinzip allen Seins anerkennen und auf dieser Grundlage eine machtbejahende Lebenshaltung entwickeln. „Antirassismus, Feminismus, Progressivismus und Sozialismus“ (S. 97) sind für ihn nichts weiter als „Degeneration[en] und Perversion[en]“ (S. 74) desselben, Ideologien, die eine herrschaftsfreie Gesellschaft zwar versprächen, aber notwendig stets neue Hierarchie einführen müssten. Er folgert daraus: Weg mit der Heuchelei – und fordert ein neues europäisches Machtbewusstsein, eine Ethik der Männlichkeit und Stärke, um den umliegenden Großmächten etwas entgegensetzen zu können und der „Dekadenz“ im Inneren zu entkommen.
Rochedy knüpft damit dezidiert an die Nietzsche-Interpretation der „Konservativen Revolution“ an, zu der rechte Intellektuelle gezählt werden, die während der Weimarer Republik bereits mit ähnlichen Argumenten gegen dieselbe gehetzt haben und mal mehr mal weniger offen für einen faschistischen Sturz der verhassten Demokratie eintraten wie Julius Evola, Martin Heidegger oder Ernst Jünger. Doch es finden sich auch deutliche Anspielungen auf Thomas Manns nationalistische Schriften während des Ersten Weltkriegs, Alfred Baeumler und nicht zuletzt Oswald Spengler, der ähnlich wie Rochedy den „Untergang des Abendlands“ prophezeite, wenn es nicht zu einer „lebensbejahenden“ Renaissance der „Herrenmoral“ käme13.
Freilich bemüht sich Rochedy um eine Distanzierung von der „alten Rechten“. Er wirbt für ein geeintes Europa – freilich in entschiedener Abgrenzung vom „dekadenten“ Projekt der EU – und kritisiert Imperialismus und Militarismus, spricht sogar von der „absurde[n] Gewalt in zwei Weltkriegen“ (S. 111). Rochedy möchte eine Alternative zum Kommunismus bzw. der linken Ideologie allgemein aufzeigen, aber auch zur Postmoderne, ohne darum eine faschistische Position zu vertreten.
Allerdings fällt diese Abgrenzung zum historischen Faschismus angesichts der offenkundigen ideologischen Nähe zu ihm eher halbherzig aus. Wie will Rochedy ihn auch kritisieren, wenn er alle Werte der Moderne – Menschenrechte, Demokratie, soziale Gerechtigkeit etc. – als Dekadenzphänomene und Auswüchse der „Sklavenmoral“ zurückweist? Er träumt von genau derselben Eruption der von der Zivilisation gebändigten Gewalt und archaischen Männlichkeit. Im „neuen Europa“ sollen eindeutig weiße heterosexuelle Männer an der Spitze stehen und allen anderen ein allenfalls inferiorer Status zugebilligt werden. Und wenn man dann Sätze liest wie „Ist […] ein sauber ausgeführter Uppercut an das Kinn des Gegners zwingend weniger ‚klug‘ als das verbale Gegenargument?“ (S. 154), kommen wirklich Zweifel an dem bürgerlich-seriösen Image auf, um das sich Rochedy in seiner öffentlichen Selbstdarstellung sichtlich bemüht. Sein „neues Europa“ muss man sich wohl als Kopie von Putins Russland vorstellen, eine autoritär gelenkte Demokratie, in der vielleicht basale Bürgerrechte – zumindest solche, die der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ökonomie dienen – und formal sogar demokratische Institutionen fortbestehen, in der jedoch in Wahrheit alles dafür getan wird, um eine kleine Elite von „Herrenmenschen“ an der Macht zu halten.
III. Nietzsche als Vordenker der linken Identitätspolitik
Es überrascht wenig, dass die linke Identitätspolitik und alles, was damit verbunden ist – political correctness, wokeness, cancel culture etc. – Rochedy ein besonderer Dorn im Auge ist. Nietzsche ist für ihn ein politisch Unkorrekter par excellence, dessen „Zeitgemäßheit“ sich gerade daraus ergibt, uns dabei zu helfen, uns gegen diese Ideologie zu immunisieren und eine entschlossene Gegenwehr zu organisieren. Ein von Rochedy immer wieder bedientes Feindbild ist dabei die gegenwärtige intellektuelle linksliberale postmoderne Elite, über deren vermeintliche Leibfeindlichkeit und körperliche Verwahrlosung er sich immer wieder lustig macht, wenn er etwa schreibt:
Heutzutage würden Typen wie Platon [der ein breitschultriger Athlet gewesen sein soll; PS] in Saint-Germain-des-Prés, an der Sciences Po oder in der Umgebung der Rue d’Ulm in Paris zweifellos mit abschätzigen Blicken bedacht, denn niemand vermag mehr zu glauben, dass die Gestalt eines Boxers aufgeklärter und klüger sein könnte als ein schmächtiger Soziologe oder schlabbriger Journalist mit Eierkopf.14
Spricht aus solchen Sätzen nicht selbst das Ressentiment? – Und dies ist nur eines von zahlreichen Beispielen für verbale Provokationen in Rochedys Buch.
Der promovierte Philosoph und Politologe Karsten Schubert dürfte Rochedy jedenfalls als mustergültiger Angehöriger dieser „Elite“ erscheinen (womit natürlich nicht gesagt werden soll, dass ich mich hier Rochedys Polemik auch nur im Ansatz anschließen möchte!15). Er hat bislang eine solide akademische Karriere hingelegt, arbeitet derzeit als assoziierter Forscher an der HU Berlin und dies mit dezidiert linken Positionen. Sein neustes Buch Lob der Identitätspolitik liest sich in jedweder Hinsicht als ein diametraler Gegenentwurf zu Rochedys Thesen.
Es fängt schon mit der Form an: Schuberts Buch ist recht trocken geschrieben. Es geht ihm nicht darum, den Leser mit Witz und Polemik mitzureißen, sondern mit guten Argumenten zu überzeugen. Schubert bemüht sich redlich um eine nüchterne Argumentation und verwendet in dem Buch viel Raum darauf, seine Begriffe klar zu definieren und die Positionen seiner Gegner fair wiederzugeben. Die Zielgruppe des Buches ist offenkundig ein akademisch gebildetes Publikum. Seine Laudatio fällt überraschend leidenschaftslos aus. Muss sich Rochedy den Vorwurf der Unsachlichkeit gefallen lassen, krankt Schuberts Monographie eher umgekehrt daran, durch ihren akademischen Stil vielfach allzu belehrend daherzukommen und ihren Zweck der Überzeugung so zu verfehlen.
Die Pointe von Schuberts Buch ist es nun, dass er zahlreiche auch von Rochedy dargelegten rechtsnietzscheanischen Argumenten aufgreift und sie in seiner Studie auch ausführlich referiert. Er wendet sie allerdings im Sinne eines erklärten „Linksnietzscheanismus“: Er stimmt der nietzscheanischen Kritik am Universalismus der Moderne partiell zu und bezieht sich ausgerechnet ebenso wie Rochedy vor allem auf die Genealogie der Moral und die machttheoretischen Überlegungen des späten Nietzsches – freilich stets aus der Brille Michel Foucaults, seines wohl wichtigsten Vordenkers, betrachtet –, doch greift diese Gedanken auf, um für eine Neubestimmung des Universalismus zu werben. Der klassische Universalismus der Aufklärungsphilosophie und des Liberalismus sei in der Tat zu blind für Machtbeziehungen und für die partikularen Standpunkte der Individuen gewesen. Diese Beschränktheit möchte Schubert nun durch einen „partikularistischen Universalismus“ überwinden, in dem es darum geht, den klassischen Universalismus zu „erden“, indem man immer wieder hinterfragt, inwiefern er seinem Anspruch wirklich gerecht wird und nicht in Wahrheit nur die bestehenden Privilegien machtvoller Gruppen unterstützt. Schubert gibt offen zu, dass es sich bei diesem „Linksnietzscheanismus“, im Gegensatz zum Rechtsnietzscheanismus, um eine eher lose Anknüpfung an Nietzsche handelt, ausgehend von den Klassikern der poststrukturalistischen Theorie.16
„Identitätspolitik“ bezeichnet für Schubert diesem Verständnis folgend das kontinuierliche und im Grunde unabschließbare Bemühen um die „Demokratisierung der Demokratie“. Immer neue unterdrückte Gruppen sollen im Sinne einer „radikalen Demokratietheorie“ ihren fairen Anteil am demokratischen Diskurs erhalten und so zu einer stetigen Transformation der demokratischen Institutionen beitragen, die immer inklusiver werden sollen. „Identitätspolitik“ ist also für Schubert durchaus der partikulare Kampf von bestimmten sozialen Gruppen (Frauen, Homosexuelle, Schwarze, queers etc.) um mehr demokratische Mitsprache und kulturelle Anerkennung, doch da es sich um die vom herrschenden Diskurs bislang vernachlässigten Gruppen handelt, ist in diesem Fall der partikulare Kampf zugleich universell. Für Schubert ist damit zugleich nicht jede Interessenpolitik gleich gut, er unterscheidet zwischen einer regressiven „Interessenpolitik“, die dem Ausbau und Erhalt der eigenen Privilegien dient – darunter würde auch die von Rochedy angestrebte Renaissance der „Herrenmoral“ fallen – und einer wahrhaften progressiven „Identitätspolitik“, die sich damit zugleich bestimmten normativen Maßstäben unterwirft, was ihre Ausgestaltung und ihre Strategie betrifft. Schubert möchte der realexistierenden Identitätspolitik mit seinem „Lob“ also dezidiert keine „carte blanche“ (S. 167) ausstellen, sondern vielmehr Kriterien entwickeln, wie sie ausgehend von ihrem eigenen Anspruch von innen heraus kritisiert werden kann – wobei zugleich klar ist, dass Schubert die meisten Formen realexistierender Identitätspolitik, inklusive Sprachregelungen (political correctness), cancel culture und anderen oft kritisierten Problemfeldern, gutheißt.
Gegen eine moralische Kritik an der so verstandenen Identitätspolitik führt Schubert genau ins Feld, dass die Identitätspolitik letztendlich einerseits eben doch moralischen Zwecken diene, andererseits jedoch eine entschlossene Machtpolitik nun einmal nötig sei, um die Anliegen der marginalisierten Gruppen auch gegen den Willen einer privilegierten Mehrheit durchzusetzen. Er macht dabei keinen Hehl daraus, dass Identitätspolitik in vielen Fällen bedeutet, dass Angehörigen von privilegierten Gruppen etwas weggenommen wird – doch dies sei eben im Sinne des Ziels der „Demokratisierung der Demokratie“ notwendig, um die viel schwerwiegendere Unterdrückung der benachteiligten Gruppen zu überwinden. Dass Identitätspolitik darum notwendig teils wütende Abwehrreaktionen, „Ressentiment“, der Privilegierten provozieren muss, reflektiert Schubert sehr klar.
Was Schubert in diesem Zuge erklärtermaßen aufgibt, ist die Kritik der „Sklavenmoral“, die für ihn auf einem falschen naturalistischen Verständnis von „Stärke“ und „Schwäche“ basiere und nur dazu diene, die Privilegien der Privilegierten zu legitimieren. Dasjenige, was Nietzsche „Sklavenmoral“ nennt, sei eigentlich kein Problem, sondern „bildet tatsächlich den generellen Kern des Politischen“ (S. 72). Es gebe in Wahrheit weder lebensbejahende Herren auf der einen noch lebensverneinende Sklaven auf der anderen Seite, sondern einfach nur nüchtern zu betrachtende Machtkonstellationen, auf deren Veränderung im Sinne einer vertieften Demokratie es ankomme – und wo gehobelt wird, fallen nun einmal Späne.
IV. Jenseits von korrekt und unkorrekt
Schuberts und Rochedys Herangehensweise an Nietzsche ähnelt sich in bemerkenswerter Weise. Sie interpretieren zunächst beide Nietzsche im Kern als Theoretiker der Macht, ausgehend vor allem von den Analysen des Spätwerks und nicht zuletzt der Genealogie der Moral. Gegen den Moralismus des Mainstreams und dessen durchschaute Illusionen plädieren sie für einen entschlossenen Machtkampf, um die eigene Identität zu pushen: Hier das weiße „Abendland“ mit klar definierten geschlechtlichen Rollenbildern, dort das „queere“ Anderssein. Freilich gibt es einen zentralen Unterschied: Schubert hält am Universalismus, am linken Projekt, dezidiert fest, Rochedy möchte von all dem nichts wissen. In Schuberts Analyse betreibt er eine regressive Interessen-, keine emanzipatorische Identitätspolitik.
So unterschiedlich, ja: entgegengesetzt, diese Sichtweisen auch sind, sie fußen doch auf einer geteilten Erfahrung, die ohne Zweifel auch diejenige des späten Nietzsche ist: die Entwertung aller Werte in einer als nihilistisch durchschauten Realität, vor deren Hintergrund die offiziellen Moralismen als Heuchelei erscheinen. Freilich ziehen dabei, auch darin mit Nietzsche einig, weder Schubert noch Rochedy daraus die Konsequenz des Zynismus: Sie wollen vielmehr beide an Werten festhalten, in dem einen Fall dezidiert partikularistische, in dem anderen Fall universalistische. Auch die „Herrenmoral“ ist eben eine Moral. In dieser allgemeinen Grundhaltung beanspruchen wohl beide zu Recht den Titel „Nietzscheaner“ und verleihen einem Lebensgefühl Ausdruck, das weit verbreitet sein dürfte. Ein Gefühl der Orientierungslosigkeit und der Suche nach neuer Orientierung – die aus der Sicht beider nur durch die Unterwerfung unter eine kollektive Ideologie gelingen kann und durch dem Teilhaben an einer Gemeinschaft. Den modischen Individualismus unserer Zeit und die entsprechenden Nietzsche-Ratgeber für den Hausgebrauch lehnen beide gleichermaßen ab.
Was ich nun selbst in meinem erwähnten Buch entwerfe, erscheint mir eine qualitativ verschiedene Alternative zu diesen beiden Ansätzen zu sein. Sowohl Schubert als auch Rochedy bewegen sich vollkommen im Denkkosmos des späten Nietzsche und seiner – wie experimentell und perspektivisch auch immer gebrochenen – Metaphysik der Macht. Beide bewegen sich realitätsnah in den Bahnen der bestehenden Gesellschaft, deren adäquater ideologischer Ausdruck diese Metaphysik ist. Sie vollziehen die ewige Wiederkehr des Kampfes von „Herrenmoral“ und „Sklavenmoral“. Ihr Kampf zielt letztendlich darauf ab, innerhalb des bestehenden Systems für die „eigenen Leute“ eine bessere Position innerhalb der Hierarchie klarzumachen: hier die anständigen europäischen Jungs und Mädels, dort die kosmopolitischen queers. Doch sind das nicht alles ausgetretene Pfade, role models, die uns von der Kulturindustrie selbst nahegelegt werden? Der woke Intellektuelle und der „mutige“ politisch Unkorrekte als Scheinkontrahenten, deren Spiegelfechtereien man nur entkommt, indem man den Kampf in eine ganz anders geartete Arena versetzt.
Was sowohl Schubert als auch Rochedy abgeht, ist die Einsicht in die ökonomischen Wurzeln der Entfremdung, mit einem Wort: Marx. In Rochedys Buch spielt er noch nicht einmal als Antipode eine Rolle, Schubert muss ihn als Linker irgendwie eingemeinden, doch ist in diesem Zuge gezwungen, aus dem Kapitalismuskritiker Marx den Vordenker einer Identitätspolitik der Arbeiterklasse machen, ihn also völlig umdeuten.17 Ebenso wenig interessieren sie, anders als Nietzsche, die materialistischen Fragen von Leiblichkeit und Ökologie.18 Sie sind, im schlechten Sinne, Kulturalisten und spiegeln damit das eigentliche Problem der gegenwärtigen Politik: Dass es eigentlich nie um die wirklich entscheidenden Fragen – ökonomische Verteilung, Eigentumsverhältnisse, Ökologie – geht, sondern mehr oder weniger an der Oberfläche kratzende Nebenschauplätze, um die sich dann aber der politische Diskurs einzig und allein dreht (Immigration, Gendersprache, Quotenregelungen, Normen der politischen Korrektheit …). Nietzsche selbst schrieb:
Alle Fragen der Politik, der Gesellschafts-Ordnung, der Erziehung sind dadurch bis in Grund und Boden gefälscht, dass man die schädlichsten Menschen für grosse Menschen nahm, – dass man die „kleinen“ Dinge, will sagen die Grundangelegenheiten des Lebens selber verachten lehrte…19
Damit soll nicht gesagt werden, dass die genannten Themen per se zweitrangig seien, doch es gelte sie eben, im Gesamtzusammenhang der kapitalistischen Weltgesellschaft zu analysieren und nicht vor dem Hintergrund der kulturalistischen Analyseraster „Nihilismus vs. Rettung des Abendlands“ (Rochedy) oder „Privilegierte vs. Nichtprivilegierte“ (Schubert), die in ihrer Grobschlächtigkeit wenig zu einem genauen Verständnis dieser Konflikte beitragen. Von der Unterdrückung der Frauen ist offensichtlich nicht nur eine kleine Minderheit betroffen, doch es gelte genau zu bestimmen, welchen ökonomischen Interessen die forcierte Öffnung des Arbeitsmarkts für Frauen dient und zu welchen Zusatzbelastungen diese führt, anstatt sich blindlings auf die Seite „Frauen zurück an den Herd“ vs. „Frauen auf den Arbeitsmarkt“ zu schlagen. Ähnlich verhält es sich mit den globalen Migrationsströmen, die nur als Bestandteil der nach wie vor fortbestehenden Ausbeutung des globalen Südens durch den Norden zu verstehen sind und dem gleichzeitigen „Heißhunger“ der Industrien der kapitalistischen Staaten nach Arbeitskräften. Verbleibt man in der Denkschablone „Grenzen zu“ vs. „offene Grenzen für alle“, verliert man auch hier die Möglichkeit einer differenzierten und nuancierten Analyse dieser Problematik – und erst recht der Entwicklung überzeugender realpolitischer Strategien in dieser Frage: Die rechte Perspektive blendet aus, dass die Massenimmigration eben durchaus einer gewissen ökonomischen Notwendigkeit entspricht und müsste erst einmal aufzeigen, wie sie sich eine Aufrechterhaltung des Wohlstands der westlichen Nationen ohne dieselbe überhaupt vorstellt; die Perspektive des radikalen Linksliberalismus verdrängt, dass sie eben durchaus bestimmten Kapitalinteressen dient, die es vor allen Fragen moralischer oder politischer Bewertung erst einmal zu verstehen gelte.
Diese kulturalistische Selbstverdummung ist notwendiger Ausdruck der scheinbaren Ohnmacht, in der wir uns befinden: Der allgemeine Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrer neoliberal eingerichteten Gestalt wird mehr oder weniger fraglos hingenommen,20 Handlungsmacht allenfalls noch angesichts solcher kulturellen Fragen und moralischer Scharmützel erlebt. Insofern müssen sich Schubert und Rochedy gleichermaßen vorwerfen lassen, ihren eigenen Anspruch, eine konsequente Machtpolitik anzuregen, zu verfehlen: Sie geben sich vielmehr mit der gesetzten „kleinen Politik“ zufrieden, ohne wirklich die Dimension der von Nietzsche eingeforderten „großen Politik“, der radikalen Utopien und Alternativen,21 in den Blick zu nehmen. Sie bleiben beide in dem stecken, was Nietzsche im Zarathustra als den „Lärm der grossen Schauspieler“22 bezeichnet und mahnt: „Hin zum Throne wollen sie Alle: ihr Wahnsinn ist es, – als ob das Glück auf dem Throne sässe!“23
Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um in genau dieser Entgegensetzung von „politischen Unkorrekturen“ und „Woken“ ein Spektakel zu erblicken, das letztendlich vor allem einem nutzt: den wirklich Mächtigen. Ein banales Beispiel: Der gegenwärtige Feminismus zerfleischt sich gerade in bitter ausgetragenen, oftmals bis zu körperlicher Gewalt ausartenden, Kleinkriegen zwischen Anhängern des queeren Feminismus und des traditionellen, der von einer biologisch determinierten Wurzel von Geschlechtlichkeit ausgeht. In diesen verortet sich, wie man vermuten wird, auch Schubert in sehr polemischer und einseitiger Weise auf Seiten des queeren Feminismus24 – und wenn sich Rochedy in diesem Konflikt überhaupt positionieren würde, dürfte seine Präferenz klar sein. Doch ohne dass dieser Streit künstlich zu diesem Zweck angezettelt worden wäre, ist doch klar, dass er objektiv nur darauf hinausläuft, die feministische Bewegung zu spalten, zu schwächen und handlungsunfähig zu machen. Und dieselben Mechanismen lassen sich in allen möglichen anderen Bereichen beobachten.
Was es dagegen in Anschlag zu bringen gelte, wären kreative und lebensbejahende Visionen eines nichtkapitalistischen (und natürlich auch: nichtpatriarchalen, nichtrassistischen, mit der Natur versöhnten …) Lebens, die stark und überzeugend genug sind, die Vereinzelung und die kulturelle Spaltung, die so kennzeichnend für unsere Zeit sind, zu überwinden und die uns dazu bringen, uns auf die wirklich wichtigen Fragen – die von Nietzsche so genannten „kleinen Dinge“ zu fokussieren. Nietzsche zählt zu ihnen: „Ernährung, Ort, Clima, Erholung, die ganze Casuistik der Selbstsucht“25, die für alle Menschen wichtigen „Grundangelegenheiten des Lebens“, die der globale Kapitalismus in der heutigen Zeit stärker bedroht als jemals in der Geschichte zuvor: Selbst in den kapitalistischen Kernstaaten wie den USA und Großbritannien werden Hunger und Mangelernährung – von dem absurderweise gleichzeitigen Problem der massenhaften Obesitas ganz zu schweigen – wieder zu massenhaften Problemen,26 für die gewaltsame Aufrechterhaltung der repressiven Grenzregime werden immer größere Ressourcen aufgewandt bei stetig anwachsendem Emigrationsdruck, die Folgen des Klimawandels werden immer deutlicher, die Kulturindustrie verlagert den kapitalistischen Leistungsdruck immer mehr in unsere schwindende Freizeit „hinein“, „Selbstsucht“ ist nur erwünscht, wenn es diejenige der Reichen ist …
Ich meine damit keine irgendwie geartete Bündnispolitik, sondern eher die kognitive und vor allem auch emotionale Fokussierung auf wichtigere Fragen, als sie uns von der linken und der rechten Identitätspolitik (ob letztere nun eine „echte“ Identitätspolitik ist oder nicht) vorgegeben werden. Von einer solchen Bewegung träume ich, die linken wie auch rechten Identitätspolitiker torpedieren sie gleichermaßen.
Nietzsche schreibt in der Fröhlichen Wissenschaft hellsichtig:
Denke ich an die Begierde, Etwas zu thun, wie sie die Millionen junger Europäer fortwährend kitzelt und stachelt, welche alle die Langeweile und sich selber nicht ertragen können, – so begreife ich, dass in ihnen eine Begierde, Etwas zu leiden, sein muss, um aus ihrem Leiden einen probablen Grund zum Thun, zur That herzunehmen. Noth ist nöthig! Daher das Geschrei der Politiker, daher die vielen falschen, erdichteten, übertriebenen „Nothstände“ aller möglichen Classen und die blinde Bereitwilligkeit, an sie zu glauben. Diese junge Welt verlangt, von Aussen her solle – nicht etwa das Glück – sondern das Unglück kommen oder sichtbar werden; und ihre Phantasie ist schon voraus geschäftig, ein Ungeheuer daraus zu formen, damit sie nachher mit einem Ungeheuer kämpfen könne. Fühlten diese Nothsüchtigen in sich die Kraft, von Innen her sich selber wohlzuthun, sich selber Etwas anzuthun, so würden sie auch verstehen, von Innen her sich eine eigene, selbsteigene Noth zu schaffen. Ihre Erfindungen könnten dann feiner sein und ihre Befriedigungen könnten wie gute Musik klingen: während sie jetzt die Welt mit ihrem Nothgeschrei und folglich gar zu oft erst mit dem Nothgefühle anfüllen!27
Nietzsches Schriften würde ich, davon ausgehend, für unsere Zeit die wesentliche Lektion entnehmen, uns – jeder und jede für sich und wir alle miteinander in Dialog und Streit – die Frage zu stellen, was für uns echte Notwendigkeiten sind. Es kann nicht um die autoritäre Setzung dessen gehen, was wesentlich und unwesentlich ist, sondern darum, überhaupt in diesen Prozess einzutreten und die Frage danach aufzuwerfen. Ich bin freilich zuversichtlich, dass ein solcher Prozess, wenn er überhaupt erst einmal in Gang käme, bestimmte Antworten zu Tage fördern würde, auf die wir uns alle einigen könnten; wesentliche Menschheitsprobleme, die ganz außerhalb dessen liegen, was uns der zeitgenössische Rechts- und Links-Nietzscheanismus gleichermaßen als „drängendste“ Fragen anzupreisen versuchen. Vielleicht wäre so eine Perspektive denkbar, die wirklich jenseits von Herren- und Sklavenmoral liegt; eine „Herrenmoral der Sklaven“.
Für den Hintergrund des Artikelbilds wurde diese Photographie verwendet.
Literatur
Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 2019.
Rochedy, Julien: Nietzsche – der Zeitgemäße. Dresden 2022.
Schubert, Karsten: Lob der Identitätspolitik. München 2024.
Stephan, Paul: Links–Nietzscheanismus. Eine Einführung. 2 Bd.e. Stuttgart 2020.
Fußnoten
1: Vgl. etwa Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 358.
2: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 377.
3: Vgl. zum letzteren Aspekt meinen entsprechenden Artikel auf diesem Blog.
4: Also sprach Zarathustra, Das Tanzlied.
5: Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen.
6: Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 11.
7: Eine Minimaldefinition, die auch Schubert und Rochedy teilen. – Im heutigen Sprachgebrauch werden die Begriffe „links“ und „rechts“ leider oftmals beliebig und ausgehend von bloßen Lifestylefragen verwendet – und dann natürlich, nachdem sie bis zur Unkenntlich entleert wurden, für obsolet erklärt.
8: Ich werde auf diese Artikel nicht im Einzelnen eingehen, da das Buch in wesentlichen Teilen auf ihnen basiert. Auf der Internetseite des Autors sind sie aufgelistet.
9: So teilt Rochedy etwa unkritisch die Nietzsche’sche Familienlegende von der polnischen Herkunft des Namens (vgl. S. 22 f. & mein in Fn. 3 erwähnter Artikel), behauptet, Richard Wagner habe sich erst 1872 zum „Nationalisten, Antisemiten und christlichen Reaktionär“ (S. 35) gewandelt und stellt es so dar, dass die akademische deutsche Philosophie noch in den 1870er Jahren vom Hegelianismus und nicht etwa vom Neu-Kantianismus dominiert worden sei (vgl. S. 38).
10: Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft.
11: Vgl. S. 38.
12: In Wahrheit brach Nietzsche die Arbeit an jenem „Hauptwerk“ ab und die Verfälschungen der Schwester sind weit gravierender als Rochedy einräumt. Vgl. die entsprechenden Hinweise hier.
13: Vgl. den entsprechenden Artikel von Christian Saehrendt auf diesem Blog.
14: S. 47.
15: Wieso soll es überhaupt besonders „leibesbejahend“ sein, sich krampfhaft um die Figur eines Boxers zu bemühen? Und die gegenwärtige kulturelle Elite scheint sich mir anders als in Rochedys Darstellung eher durch ihr extremes Bemühen um „Fitness“ und Hedonismus auszuzeichnen. Wirklich leibesbejahend ist es doch wohl, sich von solchen Körperbildern frei zu machen. – Und dass Nietzsche Rochedys Idealtypus eines boxenden Intellektuellen eher nicht entsprach, ist ohnehin offensichtlich. Ein leidenschaftlicher Boxer war übrigens ausgerechnet der linke Antifaschist Jean-Paul Sartre.
16: Vgl. S. 69.
17: Vgl. S. 25. Am Ende des Buches plädiert er dann für eine Erweiterung der Identitätspolitik um die Achse class (vgl. S. 183–187).
18: Bei Schubert kommen diese Themen nur am Rande vor bzw. der Leib nur aus dem beschränkten Blickwinkel der Foucault’schen Analytik der Macht, die sein vorgesellschaftliches Eigenleben notwendig leugnen muss (vgl. auch seine erwähnte Ablehnung der Psychologie). – Rochedy spricht zwar viel von einer Rückkehr zur Leiblichkeit, doch hat damit nur den „starken“, trainierten Leib im Sinne, selbst wenn er sich von einem allzu naiven Körperkult alla Arno Breker distanziert (vgl. S. 143). Auf ökologische Themen kommt er kurz zu sprechen (vgl. S. 156 f.), doch wichtiger als eine Erwähnung des Klimawandels ist ihm dabei eine Kritik der gesundheitsschädlichen Folgen der „sogenannte[n] Antibabypille“ (S. 157).
19: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 10.
20: Rochedy bezieht sich an einer Stelle sogar lobend auf die US-amerikanische Autorin Ayn Rand, eine der wichtigsten Vordenkerinnen des radikalen Neoliberalismus (S. 142).
21: Vgl. Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 1.
22: Von den Fliegen des Marktes.
23: Vom neuen Götzen.
24: Vgl. S. 169 f.
25: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 10.
26: Im Juni 2023 waren 17 % aller Haushalte im Vereinigten Königreich von moderater bis schwerer Nahrungsunsicherheit betroffen (Quelle), in den USA 2023 13,5 % aller Haushalte von Hunger (Quelle).
27: Aph. 56.
Der Wille zum Kommentar
Ein Bericht über die diesjährige Tagung der Nietzsche-Gesellschaft
Der Wille zum Kommentar
Ein Bericht über die diesjährige Tagung der Nietzsche-Gesellschaft
Der fast vollständig vorliegende Freiburger Nietzsche-Kommentar ist mittlerweile zu einem unverzichtbaren Werkzeug der Nietzsche-Forschung geworden. In akribischer Kleinstarbeit trugen die Autoren jahrelang nützliche Hinweise zu nahezu allen Aspekten von Nietzsches Werken (Entstehungsgeschichte, Quellen, Anspielungen, Rezeptionen, Interpretationen …) zusammen und kommentierten sie Passage für Passage, mitunter Satz für Satz und Wort für Wort. Auf der Seite des de Gruyter-Verlag sind fast alle der bisher erschienen Bände kostenlos abrufbar (Link). Auch Laien finden hier einen wahren Schatz von Hintergrundinformationen und Erläuterungen. Die drei federführenden Mitarbeiter des Projekts – sein langjähriger Leiter Andreas Urs Sommer, Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann – nahmen seinen Abschluss zum Anlass, um dem Thema „Nietzsche kommentieren“ die diesjährige Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft zu widmen. Sie blickten dabei nicht nur zurück, sondern auch nach vorne.
I. Frühling im Herbst
Obwohl nun schon Mitte Oktober ist, hat sich für die Dauer des diesjährigen internationalen Nietzschekongresses in Naumburg an der Saale Frühlingswetter eingestellt. In diesem Jahr steht die fünftägige Veranstaltung unter dem Motto „Nietzsche kommentieren“. Auf dem Flyer (siehe das Artikelbild): Nietzsche sitzend und lesend; auf der Spitze eines Bücherberges, der nur durch eine Leiter erklimmbar ist. Das Bild stammt von dem Hallenser Künstler Michael Girod, der seit 2006 fast sämtliche Plakate der Jahrestagungen gestaltet hat.
Die Veranstaltung stand unter der wissenschaftlichen Leitung der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Sebastian Kaufmann und Prof. Dr. Katharina Grätz sowie des Philosophen Prof. Dr. Andreas Urs Sommer, die alle dem Nietzsche-Forschungszentrum der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angehören. Alle drei sind in zentralen Funktionen am Freiburger Nietzsche-Kommentar, der an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften angesiedelt ist, beteiligt. Sommer ist zudem Direktor der Nietzsche-Stiftung.
Der Kongress ist eine Kooperationsveranstaltung der Friedrich-Nietzsche-Stiftung, der Nietzsche-Gesellschaft und des erwähnten Forschungszentrums. Veranstaltungsort war das sowohl moderne und zugleich beschauliche Nietzsche-Dokumentationszentrum, das direkt an das mit Weinranken gezierte Nietzsche-Haus angrenzt, deren Blätter in diesem Herbst wunderbar grell-rötlich schimmern. Hier ist Nietzsche zwar weder geboren noch gestorben, doch verbrachte hier seit 1858 seine Jugend und einige Jahre während seiner geistigen Umnachtung.1 Heute liegen direkt in der Nähe, neben dem historischen Stadtkern, ein Spielplatz und eine KiTa.
Zur Einstimmung des Kongresses, der vom Mittwoch, dem 16. 10. 2024 bis Sonntag, dem 20. 10. 2024 stattfand, hielt Renate Müller-Bruck einen Vortrag über ihr im Sommer erschienenes Büchlein „… zitternd vor bunter Seligkeit“. Nietzsche in Venedig. Müller- Bruck ist profilierte Nietzsche-Kennerin und war unter anderem Mitarbeiterin bei Mazzino Montinari. Montinari initiierte ab Mitte der 60er zusammen mit Giorgio Colli die Kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken, Nachlassfragmenten und Briefen, die die Grundlage für die in den 80ern publizierte Kritische Studienausgabe bildet. Montinari ist mithin eine, wenn nicht die wesentliche Figur der kritischen Editionsgeschichte der Schriften Nietzsches. Der Kongress wurde am Donnerstag mit verschiedenen Grußworten, unter anderem vom Naumburger Oberbürgermeister Armin Müller, Sommer und Prof. Dr. Marco Brusotti, dem Vorsitzenden der Nietzsche-Gesellschaft eröffnet. Die Einleitung übernahm, nach dem Programm, Katharina Grätz.
II. Der (un)populäre Philosoph
Noch vor dem Kongress, im Gespräch mit einem mir bekannten belgischen Wirtschaftsmanager, taucht die Veranstaltung als Thema auf. Der gutvernetzte Manager fragt, ob Nietzsche in Deutschland sehr bekannt sei. Also wie bekannt. Bekannt wie etwa … Sigmund Freud?! In Belgien sei man mit Freud wohl vertrauter, schätzt er ein. – Nietzsche ist für ihn ein Philosoph, nicht mehr, nicht weniger. Darüber hinaus kann er nichts sagen. Kennt keine der Schriften, ist vage vertraut mit dem Begriff „Übermensch“ und schätzt ihn korrekt ins 19. Jahrhundert. – Ähnlich wird es dem Durchschnittsbürger gehen: Schon mal gehört, ein Titel und ein, zwei Begriffe lassen sich vielleicht richtig erraten.
Für Liebhaber ist diese Vorstellung ernüchternd. Nichtsdestotrotz gehört Nietzsche wohl zu den großen Philosophen, die auch im Ausland und der Popkultur ihren festen Platz im Pantheon der Denker und Schriftsteller eingenommen haben – seine Zitate sind Gemeinplätze und Bonmots geworden. Insofern lebt er weiter, wenngleich Nietzsche sich nie ganz so als Posterboy eignete wie etwa Che Guevara, Karl Marx oder Jesus.
Es ist eine traurige Wahrheit, dass er für den Großteil unserer heutigen modernen Mitbürger mehr oder weniger eine Randnotiz geblieben sein wird. Das hat er mit den meisten Größen der Literatur- und Philosophiegeschichte gemein.
Zwar bleibt die Marke Nietzsche in gewisser Hinsicht ein Bildungs- und Intellektuellenphänomen, doch gilt gerade für Nietzsche, dass diese Sphäre sich immer wieder als porös erweist. Im Internet feiert er als Thema von Videos, als Ikone mit dem Schnurbart oder Referenzfigur für die verschiedensten Prominenten und Interpreten oder diejenigen, die sich für solche halten, Erfolge. Das Internet kommentiert Nietzsche und das nur selten so, wie die Wissenschaft es sich wünscht. Aber später mehr zu der Frage seiner Digitalisierung. Für die postmoderne Philosophie ist seine Bedeutung enorm, ebenso für die modernen Künstler und in ihrem Anhang die Popkultur, was sicher auch mit dem provokativen und anstößigen Charakter seiner Schriften zu tun hat. Immer wieder pflegte er mit romantischem Ganzheitsanspruch die künstlichen Grenzen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen zu überschreiten. Für die Veranstaltung möchte ich mir die Vorträge, die eine gewisse Popularität versprechen, ansehen und Nietzsche getrost dem Prinzip Zufall überlassen, man nimmt es mir hoffentlich nicht übel.
III. Destruktionen, Aufklärungen, Editionen
Der erste Vortrag, den ich am Freitag anhöre, überrascht durch seine Jovialität. Der Nachwuchswissenschaftler Milan Wenner spricht über den Freiburger Nietzsche-Kommentar. Bereits der Langtitel des Kommentars deute eine Spannung zwischen historischer und kritischer Edition an. Anders, als es der Titel des Vortrags Von der Destruktion zur Dekonstruktion? Der Freiburger-Nietzsche-Kommentar als wissenschaftsgeschichtliches Phänomen vermuten lässt, geht es hier weder um Martin Heidegger noch um Jacques Derrida, sondern um die Frage, wie die Editionswissenschaft sich von ihren stark philosophisch gefärbten Anfängen – dazu später mehr – hin zu einer mehr analytischen, textwissenschaftlichen Ausrichtung entwickelt hat: „Das Subjekt [Nietzsche] ausscheiden“ aus dem Text, heißt Dekonstruktion bei Wenner, das technische „lyrische Ich“ und die „Texte als Gewebe vieldeutiger Stimmen“ freizulegen.
Gleich der zweite Vortrag, an dem ich teilnehmen möchte, ist mir nicht möglich in seiner vollen Länge anzuhören, da sich an den Vortrag Wenners derart lebhafte Diskussionen in dem ohnehin überfüllten Raum entspannen, dass für mich nichts anderes übrigblieb, als zu bleiben. Die Stimmung ist allgemein heiterer und offener als von einem wissenschaftlichen Kongress zu erwarten gewesen wäre. Die Kürze der Sektionsvorträge von 20 Minuten mitsamt 10-minütiger Diskussion geben der Veranstaltung ein angenehmes Tempo. Auch das Publikum ist diverser als man vermuten könnte: Interessierte (ich spreche mit einem Musiker, einer Yoga-Lehrerin, einem Mechaniker), Experten, Professoren, Lehrer, Wissenschaftler und solche, die es werden wollen, aus einer Vielzahl verschiedener Länder und jeden Alters.
Am Nachmittag folgt eines der Herzstücke. Dr. Sarah Bianchi, ebenfalls eine junge Wissenschaftlerin, die sich in ihrer Forschung sowohl mit Mikropolitiken bei Adorno und Foucault als auch kritisch mit den Implikationen des sogenannten Digital Enhancement beschäftigte, hält einen Vortrag mit dem Titel Essayistisch lesen. Macht, Aufklärung und experimentalphilosophische Geschichte nach Nietzsche. Kommentieren, so Bianchi, sei bereits eine Aufklärungspraxis und – mit Nietzsche gesprochen – nicht nur eine Frage der Subjektivität essayistischen Künstlertums, sondern auch eine der Genealogie. Eine durchaus kontroverse Ansicht, da, wie später auch aus dem Publikum eingeworfen, sich die Frage stellt, ob Nietzsches und ihm folgend die Methode Foucaults nicht gerade in einer Unterminierung der Aufklärungsphilosophie und ihrer Subjektivitätsnarrative bestünde. Bianchi bezieht sich auf aktuelle französische Romanciers, u. a. Annie Ernaux und Édouard Louis. Es ginge darum, durch essayistisches Schreiben Diskursräume für Marginalisiertes zu schaffen und damit zur „Entlarvung von Ideologien“ beizutragen. Sowie zur Möglichkeit von „affekt- und machtsensiblen“ Positionen jenseits der „digitalen Perfektionslogik“ beizutragen, die im Gegensatz zu der oft prädisponierten Selbsthilfe- beziehungsweise Ratgeber-Literatur „kein therapeutisches oder naturalistisches, also triebbasiertes Verständnis, sondern ein machtbasiertes“ der Subjekte eröffneten.
Anschließend an den Vortrag Bianchis folgt eine Laudatio und Podiumsdiskussion mit Sommer, Kaufmann, Müller-Bruck und Grätz. Mit vor schweizerischem Charme und sanfter Ironie nur so spritzender freier Rede – dazu in druckreifen Lettern – erinnert Sommer an Prof. Dr. Karl Pestalozzi und Prof. Dr. Annemarie Pieper. Ersterer war unter anderem Präsident der Stiftung des Nietzsche-Hauses in Sils Maria2 und beteiligt an der Weiterführung der Kritischen Gesamtausgabe, letztere ihres Zeichens Mitherausgeberin der Kritischen Gesamtausgabe der Briefe und des Jahresbuchs der Nietzsche-Gesellschaft. In seiner Laudatio memoriae schildert Sommer Pestalozzi als integren und unwahrscheinlich gebildeten Repräsentanten der Universität Basel. Pieper hingegen als feministische und unangepasste Vorkämpferin in der Philosophie, deren akademiekritischen Roman Die Klugscheißer GmbH er mit einem langen Schmunzeln nicht unerwähnt lässt. Pieper verstarb im Februar diesen Jahres, Pestalozzi bereits im Sommer des vorherigen.
Aus der an den Vortrag anschließenden Podiumsdiskussion mit einem Titel, der auf den berühmten Essay Nietzsches rekurriert, Vom Nutzen und Nachteil des Nietzsche-Editierens für das (akademische) Leben, entschlüsselt sich, so erzählt mir auch Grätz beiläufig, das Motto des Kongresses. Es handelt sich um das Projekt einer „neuen kritischen Edition des Nachlasses“, das von Kaufmann näher erläutert wird. Mit einer digitalen genetischen Edition, für die Prof. Dr. Paolo d‘Iorio in Form der Website nietzschesource.org bereits einen Prototyp vorlegte, soll an die Vorarbeiten Montinaris und Collis angeschlossen werden. Die neue Ausgabe soll sich noch näher an den Originalen bewegen und eine digitale zitierfähige Quelle schaffen. Wie Kaufmann darlegt, beruhen Teile der Colli-/Montinari-Ausgabe auf Konjekturen – also herausgeberischen Eingriffen –, die den heutigen editionswissenschaftlichen Standards nicht mehr entsprächen. Dazu gehören stilistische „Korrekturen“, die nicht ohne interpretatorische Momente seitens der Editoren auskamen, sowie Probleme mit dem kritischen Apparat, die zu beheben das Projekt sich vornimmt.
In vielen Vorträgen nicht unerwähnt blieben auch die exemplarischen Jahre misslungener Editionspraxis seitens des Nietzsche-Archives unter der Ägide Elisabeth Förster-Nietzsches, deren Verwaltungspraktiken man, wenngleich sie nicht ohne Breitenwirkung blieben, als durchaus missbräuchlich bezeichnen kann. Eine nichtzitierfähige Quelle sei und bleibe – auch wenn sie in Teilen des internationalen Publikums noch immer unkritisch als genuines Werk Nietzsches gelte und als solches publiziert werde – das Buch Der Wille zur Macht, herausgegeben von der Schwester selbst und Nietzsches engem Vertrauten Heinrich Köselitz alias Peter Gast. Wie alle Redner nicht müde werden zu betonen: ein editorisches Konstrukt, eine sehr freie Interpretation der Editoren. Zugespitzt: Ein „philologischer Mumpitz“, der unter „falscher Flagge [dem Namen ‚Nietzsche‘]“ segelte, heißt es in einer der Reden an diesem Abend; und noch nicht einmal der einzige seiner Art.
Die Kritik lasse sich aber, so Kaufmann, auch auf heute übertragen. So entstand aus dem ungeordneten Sammelsurium der „Mythos des vermeintlichen Nachlasses“, der auch durch Colli und Montinari weiter befeuert wurde. Es stelle sich die ganze Palette editionswissenschaftlicher Fragen: Wie steht es mit der Reihenfolge, der Autorisierung; aber auch der korrekten Aus- und Bewertung z. B. der Frage, ob der Nachlass überhaupt als gleichrangiges Werk zu beurteilen sei? Selbst die Colli-/Montinari-Ausgabe unterliege so einer Interpretationsgeschichte und einem Filterungsprozess, den die neue Nachlass-Ausgabe auszugleichen suche und um die Möglichkeiten digitaler Editionsarbeit erweitern möchte. Das Projekt konnte bisher allerdings keinen Finanzier finden.
III. Geistesgegenwärtige Blütenlesen
Der Samstag ist noch frühlingshafter und wärmer, eine angenehme Brise weht – wieder: die Schönheit der roten Weinranken des Nietzsche-Hauses.
In dem Vortrag Die Blütenlese – ein unendlicher Kommentar stellt Dr. Catarina Caetano da Rosa, stellvertretende Leiterin des Dokumentationszentrums, ein Projekt vor, in dem sie Fundstellen über Nietzsche in der Sekundärliteratur und Hinweise auf solche penibel exzerpierte. Eine Sammlung aus Zitaten zweiter Hand, Bildern und Erwähnungen, die auf der Website des Dokumentationszentrums zu finden ist. Da Rosa erinnert dazu an die Liste von fantastischen Tiergruppen, die Michel Foucault in seiner Ordnung der Dinge von Jorge Luis Borges zitiert. Kurz gesagt handelt es sich zwar um mehr als ein eigenwilliges Kunstprojekt, vorläufig jedoch auch noch um kein rezeptionswissenschaftliches Vorhaben im strengen Sinne. Die experimentelle Sammlung veranschauliche ein „fragmentiertes Profil“ des Philosophen und den „Impulsgeber“ Nietzsche. In dem Raum im ehemaligen Studierzimmer im ersten Stock des Nietzsche-Hauses hängen einige poppige T-Shirts, die wie ein Querschnitt der Ikonografie des Philosophen wirken. Sie unterstreichen noch einmal seinen popkulturellen Einfluss, der sich nicht immer mit der Realität oder den historischen Kontexten decken muss.
Am Abend wird die große Verleihung des Internationalen Friedrich Nietzsche-Preises an Prof. Dr. Renate Reschke, eine Koryphäe der Nietzsche-Forschung, die insbesondere als eine der wenigen in der DDR zu Nietzsche forschte, gefeiert. Dotiert ist der Preis mit 15.000 €. Sie erhält Glückwünsche, Grußworte und Geschenke ihren Kollegen und dem Bürgermeister. Abgerundet wird der Festakt mit einer Laudatio von Prof. Dr. Christoph Türcke. Der Abend wird musikalisch mit einer Darbietung der Kompositionen Nietzsches mit Gesang und Klavier untermalt.
Reschkes eigener Vortrag unter dem Titel Vom Dilemma der Geistesgegenwart und dem fehlenden Sinn für Geschichte. Zur fortgesetzten Aktualität Nietzscheanischer Kulturkritik kennzeichnet eine wunderbar pessimistische Gegenwartsdiagnose – im Sinne von Nietzsches Zeit, aber auch unserer eigenen. Eigentlich, so Reschke, hätte sie lieber über das Thema „Warum ich keine Nietzscherianerin bin“ gesprochen, hatte sich aber dann doch für das vorliegende entschieden. Reschke setzt sich kritisch mit dem Begriff der „Geistesgegenwart“ und seinem Verhältnis zur Historie auseinander. Den enorm dichten und in Teilen polemischen Vortrag zusammenzufassen, erscheint mir an dieser Stelle weder möglich noch zielführend, vielmehr sei Reschkes wunderbar natürlicher Stil hervorgehoben, der ohne große Allüren auskommt. Nur selten wird sie ganz konkret: Aus ihr spricht das Philosophische, insofern bleibt ihr Vortrag in gewisser Hinsicht enigmatisch und im Raum der Abstrakta. Ihre Kritik richtet sich nicht nur gegen die Massenkultur moderner Medien, die eher dazu neigten, Gegenwart erstarren zu machen (Maschinenkultur, Beschleunigung usw.), sondern auch gegen das eigene Milieu, wobei auch die (politische) Rolle Nietzsches im vergangenen Ost-West-Konflikt, in dem er lange (für beide Systeme) als enfant terrible galt, nicht unberührt bleibt. Schöner konnte es wahrscheinlich nur Nietzsche selbst ausdrücken: „Nein, wir lieben die Menschheit nicht“3.
IV. Zwei Geister
Was sich am Ende des Kongresses glasklar darstellt, ist, wie eng Interpretation, Kritik und Editionswissenschaften beieinander liegen. So spielen, wie insbesondere der Streit um Elisabeth Förster-Nietzsches Verwaltung des Nachlasses anzeigt, immer wieder politische, ökonomische, aber auch private Interessen eine Rolle.
Für den Schluss ein letztes Bild: Zwei Gespenster, in Form zwei sich ausschließender methodologischer Lager, schienen den Kongress immer wieder heimzusuchen. Das eine, das an dem Konzept, der Figur und Persönlichkeit, einem authentischen Nietzsche sowie einer ihm eigenen Philosophie festhalten will, und das andere, dem es um die wissenschaftliche Analyse, technische Strukturen sowie die historischen und geistesgeschichtlichen Einflüsse in seinem Denken geht. Das Bild vom Kampf der wissenschaftlichen Liebe zur Wahrheit mit der theatralen Liebe zum Schein will man am Schluss nicht bemühen. Lieber verweile ich noch einen Moment beim Sonnenlicht und dem Wandel der Farben des Herbstes.
Jonas Pohler wurde 1995 in Hannover geboren. Er studierte Germanistik in Leipzig und schloss das Studium mit einem Master zum Thema „Theorie des Expressionismus und bei Franz Werfel“ ab. Er arbeitet jetzt in Leipzig als Sprachlehrer und engagiert sich in der Integrationsarbeit.
Bis auf das Artikelbild sind die Bilder zu diesem Artikel Photographien des Autors.
Fußnoten
1: Anm. d. Red.: Vgl. zum Nietzsche-Haus und seiner Geschichte auch diesen Artikel von Lukas Meisner auf diesem Blog.
2: Anm. d. Red.: Vgl. dazu den Artikel von Christian Saehrendt auf diesem Blog (Link).
3: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 377.
„Der höchste Gegenspieler“
Daniel Tutt und Henry Holland im Gespräch
„Der höchste Gegenspieler“
Daniel Tutt und Henry Holland im Gespräch
Nach zwei vorherigen Beiträgen zu Nietzsche in der Anglosphere für diesen Blog, interviewte Henry Holland den US-Amerikanischen Denker Daniel Tutt über seine Perspektive auf Nietzsche als wichtigsten Antagonisten der Linken. Dabei kam das Gespräch unter anderem auf Huey Newton, Anführer der Black Panthers in den 1970er-Jahren, und was dessen „parasitische“ Art Nietzsche zu lesen bewirkte. Eine unredigierte und ungekürzte Fassung dieses Interviews, im englischsprachigen O-Ton, ist auf dem Youtube-Kanal von Tutt anzuhören und anzuschauen (Link).
Zusammenfassung
Das Gespräch kreist um Daniel Tutts Buch How to Read Like a Parasite. Why the Left Got High on Nietzsche, das Ende 2023 erschien. Henry Holland spricht Tutt zunächst auf seine Herkunft aus der Arbeiterklasse an, die Tutt in dem Buch immer wieder zum Thema macht. Tutt berichtet davon ausgehend von seiner ersten begeisterten Nietzsche-Lektüre als Jugendlicher und wie ihn Nietzsches Individualismus von der Entwicklung eines Klassenbewusstseins im marxistischen Sinne abbrachte. Er möchte aus diesem Grund an die marxistische Nietzsche-Kritik, wie sie etwa Georg Lukács und Domenico Losurdo artikulierten, anknüpfen. Holland fragt ihn dann nach seiner Einschätzung des Linksnietzscheanismus. Hierfür dient der in dem Buch auch thematisierte Huey Newton (1942-1989) als Beispiel, der in den 60er Jahren in den USA die Black Panther Party mitbegründete und in der Folge einer ihrer führenden Köpfe war; eine Organisation, die sich in radikaler Form für die Emanzipation der Schwarzen einsetzte. Das Gespräch kreist in der Folge darum, inwiefern die nietzscheanische Suche nach der Realisierung eines „höheren Selbst“ mit einer marxistischen Gesellschaftskritik und einem entsprechenden Engagement nicht doch kompatibel ist im Sinne einer „parasitären“ Lesart von Nietzsches eigentlich elitären und gegen die Arbeiterbewegung gerichteten Ideen. Unter kritischer Aufgreifung der Polemiken des zeitgenössischen Rechtsnietzscheaners Costin Alamariu begreifen Tutt und Holland Nietzsche als politisch vieldeutigen Verteidiger der individuellen wie kollektiven Überschreitung herrschender Normen.
Vollständiges Gespräch
I. Nietzsche und die Arbeiterklasse
Henry Holland: Einen großen Dank, Daniel – Daniel Tutt –, dass du bei uns sein kannst, für dieses Blog- und Video-Interview. Eher zufällig stieß ich auf dein neues Buch, nachdem Micky Wierda vom Repeater-Verlag mir das Werk für eine Besprechung nahelegte. How to Read Like a Parasite. Why the Left Got High on Nietzsche kam als Taschenbuch und E-Book Ende 2023 heraus. Es nimmt Lesende auf einer intellektuellen Reise mit über eine riesige Steppe der modernen Ideengeschichte, in der auch politische Wendepunkte – sei es etwa die Russische Revolution 1917, seien es die Tumulte von 1968 – stets präsent sind. Auf dieses faszinierende, aber auch bisweilen entsetzliche Territorium entführt, erfahren Lesende auch die Geschichten außerordentlicher nietzscheanischer Akteure. Und zu guter Letzt, mittendrin in dieser großen Historie, forcieren auch die Einblicke in deine Autobiographie, die du immer wieder einstreust, vielfach Perspektivwechsel. Kannst du an dieser Stelle kurz rekonstruieren, wie deine Biographie dich zu Nietzsche führte und erklären, warum deine Herkunft aus der Arbeiterklasse eine Schlüsselrolle in deinen Argumenten spielt?
Daniel Tutt: Zuerst auch ein Dank meiner Seite, es ist eine Ehre mit dir in einen Dialog zu treten. Wie du andeutest, las ich Nietzsche zum ersten Mal als sehr junger Student, Jenseits von Gut und Böse – und ich verstand fast gar nichts. Aber wie bei allen Texten Nietzsches – und weil es mit seinem anziehenden Stil doch etwas auf sich hat –, fühlte ich mich geradezu gezwungen, weiterzulesen und zu recherchieren, was eigentlich in diesem äußerst dynamischen Material vor sich geht. Es war also etwas vollkommen anderes als die übliche angloamerikanische analytische Philosophie, die ich an der Uni studierte. Und ich habe mich auch für Geschichte und Lyrik interessiert, das passte gut zusammen.
Ich hatte also diese Figur, die in mein Leben trat, die irgendwie alle meine fachlichen Interessen befriedigte und auch einen sehr tiefgründigen Kommentar zum modernen Leben, zur modernen Existenz abzugeben hatte. Nietzsche hat mich umgehauen, wie nur er es eben vermag, und ich glaube, er sprach auch ein Gefühl der rastlosen Erregung bei mir an, die ich nicht genau benennen oder lokalisieren konnte.
Du hast von der „Arbeiterklasse“ gesprochen: Das trifft sich. Es gehört zu den besonderen Absurditäten unseres gegenwärtigen Kapitalismus, dass im Verständnis vieler Spezialisten, Soziologen und sogar Philosophen so etwas wie die „Arbeiterklasse“ gar nicht mehr existiert. Diese Entwicklung bahnte sich in den letzten vier Generationen seit dem Zweiten Weltkrieg an. Infolge dieser Entwicklung ist allein die Kundgabe, dass man selbst aus dieser „Arbeiterklasse“ stammt, an sich schon ein Skandal. Damit betrachtet man seine Existenzweise aus der Perspektive eines bestimmten Antagonismus, der vom Status quo verdrängt wird. Denn der Status quo will die Welt nicht in Klassen sehen. Der Status quo will die Dinge in Bezug auf individuelle singuläre Agenten oder Agierende sehen, die versuchen, sich über ihre Beziehung zum Markt zu bestimmen. Dort wollen sie auch die „höchste“ Version ihrer eigenen „Marke“ – laut dieser Perspektive mit ihrem höchsten Selbst identisch – verwirklichen.1 Nietzsche machte mich aber nicht klassenbewusster. Eher glaube ich, dass die Lektüre Nietzsches mich damals von jedweder Formulierung eines Klassenbewusstseins abbrachte; dafür stattete sie mich aber mit dem nötigen Rüstzeug aus, um die Verwirklichung eines höheren und singulären Selbst zu versuchen. Und deshalb lautet der Titel meines ersten Kapitels: „Wir leben in Nietzsches Welt“. Genau deswegen halte ich sein Denken für so aktuell. Peter Sloterdijk spricht davon, dass es Nietzsches Anspruch war, uns das fünfte Evangelium zu bringen.2 Nietzsche kann also, laut Sloterdijk, als Prophet unserer heutigen Welt angesehen werden. Und damit aktualisiert auch Nietzsche die sokratische Maxime von der Erweiterung der Selbsterkenntnis.3 Er fügt aber diesem wichtigen Zusammenhang etwas Entscheidendes hinzu: Diejenigen, die sich um ein höheres Selbst bemühen, müssen einen gefährlichen Weg einschlagen, um weiterzukommen. Anders formuliert: Dieser Weg ist nur für wenige bestimmt. Das war für mich als junger Mensch der Reiz der Nietzsche-Lektüre, nämlich dass ich mein höheres Selbst erreichen und auch Teil dieser nietzscheanischen Community sein wollte, die aus außergewöhnlichen Persönlichkeiten bestand. Und damit kommen wir zum anderen großen Erzählstrang des Buches: Nietzsche – ausgerechnet er – als gemeinschaftsbildender Philosoph.
Falls man meiner Argumentation soweit folgen mag, denn muss man auch zugeben, dass es so etwas wie den Nietzscheanismus gibt, dass Nietzsche mehr als lediglich ein Philosoph der Gedankenexperimente oder ein Kritiker der Metaphysik gewesen ist. Und auch mehr als ein Philosoph, der wie ein reiner Einsiedler jenseits der Politik wirkt, der aus dem gesellschaftlichen Leben „subtrahiert“ werden kann und der unzeitgemäß ist.4 Und mein Buch stellt schließlich auch die Frage nach der Rückkehr zu Nietzsche, nachdem man sich schon einmal mit ihm vertraut gemacht hat. Dabei greife ich auf das zurück, was ich für eine lange vernachlässigte marxistische Kritik an Nietzsche halte.
II. Individualismus und sozialistische Bedrohung
HH: Ja, Georg Lukács‘ marxistische Kritik5 und Domenico Losurdos fast enzyklopädische neuere Schriften bilden tragende Säulen deines Buches.6 Unter den vielen verlockenden Faden, die du gerade ausrollst, lasst uns zuerst Nietzsches „Gemeinschaftsbildungsprojekt“ herausgreifen. Denn es gibt diese dir ja bekannte und sich penetrant am Leben haltende Debatte: Besitzen Nietzsches Schriften einen nennbaren Kern, ein definierbares Zentrum? Oder sind sie rettungslos dezentriert? Und hier nimmst du klare Stellung für ein „Zentrum“, für einen springenden Punkt in Nietzsches Philosophie, von dem alles andere ausgeht. Oder, präziser gefasst, für einen Kern von von Nietzsche absichtlich verbundenen springenden Punkten. Du führst vor, wie Nietzsches Denken im Kern auf den Aufbau einer elitären Community intellektueller Aktivisten abzielt, eine exklusive Intelligenzija, die wiederum realen Einfluss auf die Politik ausüben soll. Ein weiterer Teil dieses Kerns ist deiner Ansicht nach, dass Nietzsche Rangordnungen um jeden Preis beibehalten will, auch wenn das bedeutet, dass die Arbeiterklasse unterdrückt und in ihre Schranken gewiesen werden muss. Kurz gesagt, er will die bestehenden Tabus bezüglich eines Sich-Identifizierens mit der Arbeiterklasse, oder gar eines Klassenbewusstseins aufrechterhalten. Gerade vor diesem Hintergrund wäre es sinnvoll, über den einen oder anderen sogenannten „Linksnietzscheaner“ zu sprechen, die du im Buch anführst. Denn diese haben offensichtlich von einem „Klassenbewusstsein“ gesprochen im Zuge ihrer eigenen Bemühungen darum, intellektuelle Gemeinschaften aufzubauen. Wahrscheinlich ist die frappanteste Figur, die du in deinem Buch in dieser Hinsicht behandelst, Huey Newton (1942-1989). Newton, vor allem bekannt als einer der Mitbegründer der Black Panthers, kam aus einer völlig peripheren gesellschaftlichen Position, um plötzlich eine Führungsrolle innerhalb der radikalen Linken und vor allem der schwarzen Communities in den späten 60er und frühen 70er Jahren einzunehmen. Du beschreibst, wie Newton diesen Sprung schaffte: Durch eine „kreative Fehldeutung“ von Nietzsches Thesen über den Willen zur Macht.7 Das fand fast zeitgleich mit einem kulturellen Ereignis statt: 1968 erschien eine außerordentlich einflussreiche Neuübersetzung von Der Wille zur Macht, dieser verfälschenden Edition der Nachlassfragmente Nietzsches durch seine Schwester und ihre Mitarbeiter, übertragen von Walter Kaufmann und R. J. Hollingdale. Du stellst wiederum fest, dass Nietzsche, ab etwa 1971, eine stetige Größe in Newtons Denken war. Könntest du diese Zusammenhänge näher erörtern?
DT: Sehr gerne. Ich entnehme deinen Ausführungen zwei Fragen. Eine davon betrifft Nietzsches Verhältnis zur Arbeiterklasse. Die zweite zielt darauf ab, wie ich Nietzsches sogenannten „Kern“ verstehe.
Wenn wir nun überhaupt die Behauptung wagen, dass Nietzsches Denken einen solchen „Kern“ besitzt, dann verstößt dies zunächst gegen die fest etablierte akademische Orthodoxie der French Theory8. Aber auch, wenn man sich zum Beispiel die US-amerikanischen Nietzsche-Interpretationen von Maudemarie Clark9 bis hin zu Brian Leiter10 anschaut, und das sind überwiegend analytisch geprägte nietzscheanische Ansätze, dann bestehen diese Denker ebenso darauf, dass wir es bei Nietzsche mit einem dezentrierten Denker zu tun haben. Auch wenn sie dies mit ganz anderen Argumenten begründen als etwa Derrida, Deleuze und Foucault, beharren sie doch auf demselben Punkt. Und dann existieren außerdem noch die verschiedenen Perspektiven auf Nietzsche, die eine genuin linke Nietzsche-Interpretation leiten könnten. Es ist in dieser Hinsicht von entscheidender Bedeutung klarzustellen, dass Nietzsche der plebejischen oder sogar der Arbeiterklasse nicht mit besonderem Hass entgegentritt. Es geht vielmehr darum, Nietzsches Begriffsbildung zu dieser Frage durch das Brennglas seiner breiteren Kritik der Sklavenmoral hindurch zu verstehen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang betonen, dass aus Nietzsches Sicht der Zustand der Arbeiterklasse nach der Französischen Revolution und nach der Entstehung des industriellen Kapitalismus ab den 1830er Jahren äußerst problematisch wurde. Er diagnostiziert, dass das Bewusstsein der Arbeiterklasse in dieser Periode mit Ideen der „Sklavenmoral“ durchtränkt wurde. Diese „Sklavenmoral“ ist vor allem deswegen problematisch, so Nietzsche in seinem Frühwerk, weil sie eine „optimistische Weltanschauung“ impliziert. Eine solche Einstellung beeinträchtige die Fähigkeit einer Kultur, individuelle „Genien“ hervorzubringen.
Wenn wir uns mit Nietzsches Frühschrift Schopenhauer als Erzieher auseinandersetzen, dann sehen wir eine Sache, die sich im Kielwasser Goethes bewegt: eine Abkehr von einem bestimmten Verständnis des Intellektuellen und von einem bestimmten Verständnis von Größe. Nietzsche bezeichnet Individuen, die eine solche Größe noch in sich tragen, als „höhere“ oder „werthvollste Exemplare“. Diesen gegenüber stellt Nietzsche die Philosophie des Ressentiments und der Sklavenmoral, welche Judaismus, Christentum und moderner Sozialismus miteinschließt und welche, laut diesem Verständnis, auf einer vulgären Auffassung von Gleichheit beharrt. Dadurch wird die volle Blüte der gerade erwähnten Form menschlicher Größe verhindert. Diese verhinderte Form nennt Nietzsche, im Gegensatz zur „optimistischen“, die tragische Weltanschauung. Schopenhauer ist nach dieser Leseart ein Philosoph, der das große Individuum nur in Begriffen der Kontemplation, nicht aber in Begriffen der Handlung denkt. Nietzsche legt also großen Wert auf die Notwendigkeit, die Sklavenmoral durch eine politische Praxis zu bekämpfen, die darauf bedacht ist, diesen möglichen Mann der Tat und des Genies zu erhalten. Denn die Bewegungen der Nivellierung, insbesondere der Sozialismus, scheinen diese Möglichkeit zu beseitigen. Und das ist bei Nietzsche eine Quelle tiefer Melancholie. Wir sollten auch anerkennen, dass Nietzsche selbst ein frühreifes Genie war, oder zumindest auf diese Weise betrachtet wurde, indem er mit nur vierundzwanzig Jahren auf so außergewöhnliche Weise eine ordentliche Professur erhielt.
III. Faustkämpfe mit dem Philosophen der Überschreitung
HH: Da sind einige heiße und gesprächswürdige Themen im Raum, die ich gerne aufgreife. Fangen wir mit der biographischen Perspektive an. Wiederholt empfinde ich Nietzsches Biographie als schlichtweg zu chaotisch, dass er, in seinem ozeanischen Werk, das er kaum zügeln konnte, ein kohärentes Zentrum hätte hinein gestalten können. Man denke nur an seine großen gesundheitlichen Einschränkungen, die sich bei ihm als gerade Erwachsenen einstellten und nicht weggingen. Man kommt in die Versuchung, seine eigenen krassen Worte, die er wiederholt gegen die wehrlosesten Teile der Bevölkerung gnadenlos richtete, auf ihn selbst anzuwenden. Ganz objektiv, also vor allem physiologisch gesehen, war er eine „kranke Natur“, und welchen Realitätsbezug haben die Aussagen einer solchen? „Das, was die Menschheit bisher ernsthaft erwogen hat, sind nicht einmal Realitäten, blosse Einbildungen, strenger geredet, Lügen aus den schlechten Instinkten kranker, im tiefsten Sinne schädlicher Naturen heraus“12. Solche schelmischen Versuchungen beiseite, aber dennoch vor dem gleichen Hintergrund: Bis zu welchem Grad willst du Nietzsche eine durchgeplante Absichtlichkeit in seinem Wirken zuschreiben? Gleichzeitig würde ich gerne auf Huey Newton zu sprechen kommen. In früheren Gesprächen zwischen uns empfahlst du nämlich einen faustkampfartigen Umgang mit Nietzsche. Kurzgefasst, du behauptest, wir können am meisten von „Nietzsches Politik“, „Nietzsche’s politics“, wie du es selbst formulierst, lernen, wenn wir diese im Zentrum seines Gesamtwerkes verortet sehen – und dabei Nietzsche wie einen Sparringpartner behandeln.
Und Newton ging auch faustkampfartig bei seiner Nietzsche-Lektüre vor. Bildhaft gesprochen, fand sie da draußen auf der Straße und bei Konfrontationen statt, es ging nicht um nette Lesegruppen von „Gutmenschen“, bei denen die Frage, wer jetzt beim Vorlesen dran wäre, den größtmöglichen Streitgegenstand bildet. Und in diesem Zusammenhang will ich auch die Frage der Transgression oder strafbaren Überschreitung nachgehen. Denn ich schlage vor, dass der Grund für Nietzsches Attraktion für so viele Lesende, einschließlich so viele Lesende aus der Arbeiterklasse13, darin liegt, dass er den Weg frei macht, so dass Individuen „berechtigten Transgressionen“ nachgehen können: So könnten wir solche Handlungen nennen.
In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, dass Newtons Mitführung der Black Panthers von diversen Überschreitungen der bürgerlichen Ordnung gekennzeichnet war, Transgressionen, die insgesamt emanzipatorisch auf ihre Protagonisten wirkten, selbst wenn sie immer wieder gewalttätig waren. Er wurde tatsächlich erst zu einer bundesweiten Führungsfigur in den USA, nachdem er im Oktober 1967 in tödliche Schüsse auf einen Polizisten involviert war. Nach diesem Todesfall, wofür er wegen Mordes angeklagt wurde – im Falle eines Schuldspruches hätten die Behörden ihm hingerichtet –, organisierte sich in den USA eine bundesweite „Free Huey“-Kampagne, an der eine Reihe entrechteter Gruppen beteiligt waren, darunter die Young Lords oder die sogenannten Latin Panthers. Diese Gruppen erkannten die rassistisch motivierte staatlicher Gewalt in dem, womit Newton konfrontiert war. In den Anklagepunkten gegen ihn wurde er aber nicht für schuldig befunden und konnte deswegen, und sozusagen ausgezeichnet durch die leibliche Erfahrung mit der Ahndung einer Transgression, eine Führungsrolle in seinen Organisationen übernehmen.14
Zuletzt will ich diese Frage bezüglich der berechtigten Überschreitung bei und mit Nietzsche mit einer Perspektive aus dem zeitgenössischen „Rechts–Nietzscheanismus“ verbinden und dich auch um deinen Standpunkt zum letzteren bitten. Es geht um das neue Buch von Costin Alamariu, den viele Menschen nur unter seinem draufgängerischen Social-Media-Pseudonym kennen: Bronze Age Pervert. Augenscheinlich geht es Alamariu um das Inszenieren und Herbeiführen von Transgressionen: Ob diese „berechtigt“ sind, ist aber eine andere Frage. Alamariu zufolge postulierte Nietzsche einen „glücklichen Moment“ in geschichtlichen Zyklen, in dem eine politische Schwäche eintritt, die zuvor erzwungene Homogenität zusammenbricht und eine lang in Regimen aufgestaute Spannung sich entlädt. (Kontra Alamariu denke ich an dieser Stelle auch an die repressive Homogenität des Arbeitslebens im Spätkapitalismus, die berührend in deinem Buch beleuchtet wird, Daniel.) Darüber hinaus behauptet Alamariu, dass diese Homogenität durch eine „tropische Vermehrung“ monströser Typen ersetzt wird, die meisten von ihnen schwach und/oder mangelhaft, aber einige wenige glücklicherweise stark und „wohlgeraten“. Und nun möchte ich Alamariu direkt zitieren: „Die Qualitäten oder Tugenden, die inneren Zustände, die das Ergebnis aristokratischer Erziehung und Erziehung sind, sind jetzt frei, um ihren Weg in neue, unerwartete Richtungen zu gehen. […] Man kommt auf neue Geschmäcker: auf das Neue als solches und auf eine Vorliebe für Überschreitung, eine Langeweile mit dem Gesetz ...“15
Selbst wenn ich wenig von Alamarius Polemik als Ganze halte, resoniert seine Schilderung an dieser Stelle stark mit den Kampagnen von Newton und weiteren linkspolitischen Akteuren in den Sechzigern und Siebzigern. Du stellst wiederum fest, Daniel, dass „Nietzsche die Krisen des Kapitalismus und die von ihnen aufgewirbelte Dekadenz offen verfocht“, denn diese „bieten eine Chance, die in ihnen offengelegte Brutalität [noch weiter] zu beschleunigen“16. Offensichtlich glaubst du nicht an einen Zusammenbruch unserer jetzigen politischen Ordnung, der sich emanzipatorisch für die meisten Menschen in der Arbeiterklasse auswirken würde: Und in dieser Gruppe siehst du auch die große Mehrheit der Weltbevölkerung. Würdest du dich dennoch dafür einsetzen, dass mehr Menschen auf den Geschmack der Überschreitung im positiven Sinne kommen?
DT: Das ist eine komplexe Frage, ich kann aber deinem Gedankengang folgen. Lass mich versuchen, die Frage auszupacken. Zunächst einmal: Warum glaube ich, dass Nietzsche für die Beschleunigung der Dekadenz war? Das ist eine Behauptung, die sich übrigens von denjenigen Interpretationen unterscheidet, die im Zeitraum unmittelbar nach dem Tod des Denkers im Umlauf waren, zum Beispiel von Stefan Georges Deutungen und denjenigen der anderen frühen Nietzsche-Kulte. Und wir können auch über das sprechen, was Nietzsche als den Wert transgressiver Gemeinschaften erkannte, nämlich dass sie als Versuchskaninchen für die Elastizität der Sitten der Sklavenmoral dienen könnten. Diese Strategie hat Nietzsche in den Augen vieler zu einem antibürgerlichen Denker qualifiziert. Und bis zu einem gewissen Grad stimmt auch diese Einstufung. Ich behaupte nicht, dass Nietzsche leicht als Anhänger der bürgerlichen Macht zu verstehen ist. Lukács hingegen wird argumentieren, dass Nietzsches Anti-Moral, Nietzsches Theorie der Überschreitung und so weiter, oder sogar die Gemeinschaft, die Nietzsche aufzubauen versucht, die Elemente bilden, die als militante Ästhetik zugunsten des Erhalts von bürgerlichen Macht zu begreifen sind.17 Die Wertesphäre der bürgerlichen Macht ist selbst als eine Art elastische Sphäre zu verstehen, in der Überschreitungen ihrer eigenen Werte nicht zwangsläufig eine tödliche Bedrohung für ihren Status als Klassenmacht darstellen. 1968 kehrte Nietzsche zurück, aber – und im Gegensatz zu den 1930ern – kehrte er dieses Mal auf der Seite der Linken zurück. Diese Umstellung entsetzte Lukács, der den Aufstieg der Nazis miterlebt hatte und Nietzsche Komplizenschaft mit demselben vorgeworfen hatte. Aber so war’s eben: Nietzsche kehrte unter Linken zurück, und der Fokus liegt auf der Counterculture, weil die Wertesphäre Nietzsches, in der Praxis umgesetzt, in erster Linie in der Kultur liegt. Bleibt nun die Frage: Was ist der Nutzen oder die Stärke von Nietzsches Kritik am Kulturwert?
Da gibt es eine Menge zu sagen. Huey Newton bietet eine interessante, nennen wir es eine „parasitäre“ Lesart. Denn Newton erkennt durchaus an, dass Nietzsche reaktionäres Gepäck mit sich schleppte, aber er liest dennoch einen bestimmten Text von Nietzsche, der ihn sehr beeinflusst: Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne.18 Diese äußerst überzeugende kurze Frühschrift kann man als Vorläufer dessen bezeichnen, was später Diskurstheorie wurde. Sprache ist Nietzsche zufolge die Heimat von Werten, die in Worten manifestiert sind; Worte haben daher eine politische Wertigkeit.
Parallel dazu hat Newton Nietzsches Kritik der Arbeiterklasse wahrgenommen: Die Bedingungen des modernen Lebens haben sie ruhiggestellt, sie eines gewissen Vitalismus beraubt. Daher sind Menschen in der Arbeiterklasse teilweise nicht mehr in der Lage, sich mit der Art von Aktivität zu beschäftigen, durch die ihr höheres Selbst letztendlich verwirklicht werden kann. Das ist eigentlich, glaube ich, Henry, ein wahrer Punkt Nietzsches. Wir sollten nicht so tun, als gäbe es da nichts. Und ich glaube, Huey Newton hat das Gleiche gesehen. Ja, dass man sich in einem Zustand der Passivität befindet, ist, wenn man aus der Arbeiterklasse kommt oder einem Leben in Armut ausgesetzt ist, eine der Dinge, die es zu erkennen gilt. Die Frage wird dadurch wesentlich: Wie kann man diese Unterdrückung umstellen und sie von ihrer Verflechtung mit der um sich greifenden Passivität lösen? Für Newton war die Antwort eine sprachliche und publikumswirksame Operation, von den Panthers vorangetrieben, welche die Polizei im Bewusstsein vieler neu bestimmt hat. Die Neudefinition der Polizei, wortwörtlich als „Schweine“, ermöglichte es auch den Panthers, sich und ihre Beziehung zum Staat neu zu erfinden, und hier wird es interessant.
Denn das bedeutet, dass Newton im Grunde das Klassenbewusstsein durch die Lektüre Nietzsches fördern konnte. Auch wenn das, glaube ich, das Gegenteil von Nietzsches Absichten ist. Nietzsche ist ein militanter Bürgerlicher, der für die Überschreitung sein mag, aber nicht unbedingt für eine Gesellschaftsordnung, die sich in einem ständigen revolutionären Moment der Agitation befände. Nietzsche ist Antirevolutionär. Das heißt nicht, dass wir ihm nicht etwas entlocken können, und das führt uns auf das Faustkämpferische zurück. Ja, falls du ein linker Mensch bist und dir die Beendung der Ausbeutung eine Herzenssache ist, kannst du Nietzsche so lesen. Ich denke, das wird für euch am produktivsten sein, oder? Und wenn du ihn so liest, dann wirst du dich mit diesem sehr berühmten Satz Nietzsches identifizieren können, der fast wie ein Gebet für seine Feinde wirkt: „Ihr müsst stolz auf euern Feind sein: dann sind die Erfolge eures Feindes auch eure Erfolge.“19
Daniel Tutt (geb. 1981) wuchs an der US-amerikanischen Westküste auf, in einer Familie aus der Arbeiterschicht, die mehrmals auseinanderfiel. Er arbeitete, seit er ein junger Teen war, im Baugewerbe, zuerst als Zuarbeiter für Maurer („hod carrier“ im Englischen), und verdiente auch nach seinem ersten Universitätsabschluss sein Geld in der Baubranche. 2014 promovierte er zum Thema „Political Community in Badiou, Laclau, Nancy, and Žižek“. Tutt gibt auf seiner Webseite an, dass ihm den Übergang zum „bürgerlichen“ Beruf des Philosophen vor allem deswegen gelang, weil er die finanzielle Unterstützung eines Geschäftsmannes in der Übergangsphase genoss. Seitdem lehrt er in Gefängnissen und an Universitäten und setzt sich in zahlreichen Veröffentlichungen mit der Schnittstelle von Psychoanalyse, Politik und Marx’scher Philosophie auseinander.
Henry Holland (geb. 1975) ist Literaturübersetzer, aus dem Deutschen ins Englische, und lebt in Hamburg. Darüber hinaus schreibt und forscht er zur Ideen- und Kulturgeschichte und veröffentlichte 2023 zu Ernst Bloch und Rudolf Steiner in German Studies Review. Zusammen mit dem Religionswissenschaftler Aaron French (Universität Erfurt), arbeitet er an einer kritischen, englischsprachigen Steiner-Biographie. Mehr zu Hollands wissenschaftliche Arbeit und Kulturpolitik erfährt man auf seinem Blog, German books, reloaded, oder in Print-Zeitungen. Er ist Mitglied und im Vorstand vom Hamburger writers’ room: Der Arbeitsraum für literarisch Schreibende in Europa.
Quellen
Alamariu, Costin: Selective Breeding and the Birth of Philosophy. New York 2023.
Clark, Maudemarie: Nietzsche on Truth and Philosophy. Cambridge 1991.
Doggett, Peter: There’s A Riot Going On. Revolutionaries, Rock Stars And the Rise And Fall Of ʽ60s Counter-Culture. Edinburgh 2007.
Leiter, Brian: Nietzsche on Morality. London 2014.
Losurdo, Domenico: Nietzsche, der aristokratische Rebell. Berlin 2012.
Lukács, Georg: Die Zerstörung der Vernunft. Berlin 1960.
Sloterdijk, Peter: Über die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches fünftes „Evangelium“. Rede zum 100. Todestag von Friedrich Nietzsche. Frankfurt a M. 2000.
Tutt, Daniel: How to Read Like a Parasite. Why the Left Got High on Nietzsche. London 2024.
Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Griechisch-deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Peter Jaerisch. Düsseldorf & Zürich 2003.
Fußnoten
1: Vgl. Nietzsches Idee der „Treue“ eines Individuums zu „seinem höheren Selbst“ in Richard Wagner in Bayreuth, Abs. 3.
2: Vgl. Peter Sloterdijk, Über die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches fünftes „Evangelium“. Sloterdijk greift auf Nietzsches Beschreibung von Also sprach Zarathustra I zurück, wie sie einem Brief an seinen Verleger Ernst Schmeitzner zu entnehmen ist: „Es ist eine ‚Dichtung‘, oder ein fünftes ‚Evangelium‘ oder irgend Etwas“ (Brief vom 13. 2. 1883).
3: Vgl. u. a. den Bericht von Sokrates’ Schüler Xenophon, der einige Aussagen Sokrates zum Thema Selbsterkenntnis sammelte: Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, S. 199-201.
4: An dutzenden Stellen seiner Schriften inszeniert Nietzsche sich als „einen Unzeitgemässe“: In dieser Hinsicht sind die vier Bände seiner Unzeitgemässen Betrachtungen, zwischen 1873 und 1876 veröffentlicht, am bekanntesten. Aber auch ein Kapitel der Spätschrift Götzen-Dämmerung betitelt Nietzsche „Streifzüge eines Unzeitgemässen“ (Link).
5: Vgl. Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft.
6: Vor allem: Domenico Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell.
7: Vgl. Daniel Tutt, How to Read Like a Parasite, S. 193.
8: Anm. d Red.: Als „French Theory“ wird in der internationalen Debatte vor allem der Poststrukturalismus bezeichnet (vgl. auch die entsprechenden Bemerkungen dazu hier).
9: Vgl. u. a. Maudemarie Clark, Nietzsche on Truth and Philosophy.
10: Vgl. Brian Leiter, Nietzsche on Morality.
11: Vgl. Schopenhauer als Erzieher, Abs. 6.
12: Vgl. Ecce homo, Warum ich so klug bin, Abs. 10.
13: Vgl. etwa eine Umfrage, die 1897 für die Leipziger Arbeiterlesesaal durchgeführt wurde, bezüglich des Leseverhaltens von Arbeiterinnen und Arbeitern, von der auf diesem Blog bereits die Rede war (Link).
14: Vgl. Doggett, There’s a Riot Going On, S. 128-130.
15: Alamariu paraphrasiert und direkt zitiert aus Chapter Four von Costin Alamariu, Selective Breeding and the Birth of Philosophy.
16: Tutt, How to Read Like a Parasite, S. 278.
17: Lukács schreibt in Die Zerstörung der Vernunft etwa: „Bei Nietzsche entsteht […] die Konzeption einer Instinktenfesselung: die niedergehende Bourgeoisie muß alles Schlechte, Bestialische in den Menschen entfesseln, um militante Aktivisten für die Rettung ihrer Herrschaft zu gewinnen“ (S. 305). In der sogenannten „Expressionismus-Debatte“ betonte er schon in den 1930er Jahren die Affinität einer nietzscheanischen Ästhetik und der faschistischen Bewegung.
18: Vgl. http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/WL. Diese Schrift von 1873 wurde allerdings erst posthum veröffentlicht.
Ein Tag in Nietzsches Zukunft
Bericht über die Tagung Nietzsches Zukünfte in Weimar
Ein Tag in Nietzsches Zukunft
Bericht über die Tagung Nietzsches Zukünfte in Weimar
Vom 7. bis 11. Oktober 2024 fand in Weimar die von der Klassik Stiftung Weimar organisierte Veranstaltung Nietzsches Zukünfte. Global Conference on the Futures of Nietzsche statt. Unser Stammautor Paul Stephan war am ersten Tag vor Ort und gibt einen Einblick in den gegenwärtigen Stand der akademischen Diskussionen um Nietzsche. Seine Frage: Wie ist es um die Zukunft der akademischen Nietzsche-Forschung bestellt, wenn man sie aus der Perspektive von Nietzsches eigenem radikalen Verständnis von Zukunft heraus betrachtet?
„Die Zukunft, das Wunderbar-Unbekannte der Zukunft ist der einzige Gegenstand des Nietzscheschen Festes.“1
Zusammenfassung
Nietzsche ist einer der großen Denker der Zukunft. „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ lautet der Untertitel von Jenseits von Gut und Böse und schon in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung konzipiert Nietzsche die Zukunft als primäre Zeitform, von der her sich Vergangenheit und Gegenwart erst adäquat verstehen lassen.
Was liegt also näher als „Nietzsches Zukünften“ – ein Plural, den er auch immer wieder selbst gebraucht – eine eigene Konferenz zu widmen? Ich wohnte dem ersten Tag der Tagung Nietzsches Zukünfte bei, veranstaltet von der Klassik Stiftung Weimar. Sie dauerte vom 7. bis zum 11. Oktober und versammelte erwiesene Nietzsche-Expertinnen und -experten aus der ganzen Welt, die aufgefordert waren, ihre jeweilige Perspektive auf Nietzsches Zukunft aus dem Kontext der Erfahrung ihres Heimatlandes heraus darzulegen.
Nach Grußworten von Ulrike Lorenz, der Präsidentin der Stiftung, und Helmut Heit, Leiter des Kollegs Friedrich Nietzsche, der die Konferenz gemeinsam mit seinen Assistentinnen Corinna Schubert und Evelyn Höfer organisiert hatte, folgte ein Panel, bei dem die Nietzsche-Forscher David Simonin aus Frankreich, Hans Ruin aus Schweden und Martine Prange aus den Niederlanden als Repräsentanten ihrer jeweiligen Herkunftsländer über die beiden gestellten Fragen sprachen. Im nächsten Panel referierten die südafrikanische Forscherin Vasti Roodt und Willow Verkerk aus Kanada. Den Abschluss des ersten Konferenztages bildete ein Panel, bei dem die vier Herausgeber der Nietzsche-Studien, des vielleicht wichtigsten Organs der internationalen akademischen Nietzsche-Forschung, Christian Emden, Helmut Heit, Vanessa Lemm und Claus Zittel, miteinander diskutierten.
Weitgehend einig waren sich die meisten Vortragenden, dass Nietzsches Zukunft in der Weiterführung der poststrukturalistischen Nietzsche-Interpretation liege und in philologischen, textimmanenten Zugangsweisen.2 Man müsse sich auf die Texte Nietzsches einlassen, um ihr radikales Potential zu erfahren, das vor allem in der Destruktion bestehender Wahrheiten und Gewissheiten bestehe. Immer wieder wurde die Vieldeutigkeit, Rätselhaftigkeit und Komplexität von Nietzsches Werk betont, das man keinesfalls auf bestimmte „Lehren“ reduzieren könne.
Mich überzeugte diese Sichtweise nur bedingt. Handelte es sich hier wirklich um einen Ausblick in Nietzsches Zukunft oder eher ein Resümee der letzten 20 Jahre Nietzsche-Forschung? Ist Nietzsche wirklich einfach nur ein Ironiker, Maskenspieler und Fallensteller – oder begeistert er nicht gerade immer wieder durch seine inhaltlich bestimmten Aussagen, die es neben allem Widersprüchlichen und Doppeldeutigem doch auch gibt – und von denen während der Tagung durchaus auch immer wieder die Rede war?
I. Nietzsches Zukünfte
Nietzsche ist einer der großen Denker der Zukunft. „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ lautet der Untertitel von Jenseits von Gut und Böse und schon in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung konzipiert Nietzsche die Zukunft als primäre Zeitform, von der her sich Vergangenheit und Gegenwart erst adäquat verstehen lassen: Wir brauchen eine Vorstellung davon, was sein wird, um zu verstehen, was war und was ist. – Ein wichtiger, um nicht zu sagen: zukunftsweisender, Gedanke, den später Heidegger in Sein und Zeit aufgreifen würde.
Nicht zuletzt der „Übermensch“ ist eine offene Utopie, deren philosophischen Gehalt man fast übersetzen könnte als „Zukunft um jeden Preis“. Nietzsches Einsicht: Der Mensch ist wesentlich ein Tier, das in der Zukunft lebt, das eine Vorstellung von ihr so sehr benötigt wie das täglich Brot, das zwischen Angst und Hoffnung schwankt. Doch er will den Menschen keine konkrete Zukunft vorschreiben, er denkt sie bewusst als radikal offen. Kein Wunder, dass er von ihr wiederholt im Plural spricht, wenn er etwa schreibt: „Hinaus, hinaus, mein Auge! Oh welche vielen Meere rings um mich, welch dämmernde Menschen-Zukünfte! Und über mir – welch rosenrothe Stille! Welch entwölktes Schweigen!“3
Nietzsche wendet sich damit gegen die gesamte von Platon her stammende Tradition in der Philosophie, die Wahrheit wesentlich als Wiedererinnerung, als Re–Konstruktion von etwas Vergangenem versteht. Für ihn ist Wahrheit wesentlich etwas, das aktiv mit Mut geschaffen werden muss, etwas, das noch nicht ist: „Muthig, unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig – so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann“4.
Jede Generation, jeden Einzelnen fordert Nietzsche immer wieder dazu auf, sich diese Wahrheit zu schaffen, das Unerhörte hörbar zu machen, das Ungesehene sichtbar, das Undenkbare denkbar. Kein Wunder, dass er der vielleicht wichtigste philosophische Vordenker der Avantgarden und radikaler politischer Bewegungen aller Art ist. Hegel wollte noch die Gegenwart begreifen und diese als Resultat der gesamten Weltgeschichte: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ Nietzsche hingegen ist der Philosoph der Morgenröte und des Aufbruchs – für ihn hat, wie zur selben Zeit für Marx, die eigentliche Geschichte noch gar nicht erst begonnen.
Mit dieser Philosophie des „Noch nicht“ inspirierte Nietzsche vor allem den unorthodoxen Marxisten Ernst Bloch, der diesen Aspekt von Nietzsches Denken so konsequent wie kein anderer Denker aufgriff und weiterdachte, zu einem ganzen System der Hoffnung und der Utopie ausbaute. Sicher gibt es auch Elemente in Nietzsches Werk – dies ist keine Überraschung – die dieser Betonung der Zukünftigkeit widersprechen: der Mythos der „ewigen Wiederkunft“, der keine echte Zukunft kennt, da es ja alles schon einmal gab; die eigenartige nostalgische Fixierung auf die „Herrenmoral“ als rückwärtsgewandter „Utopie“, die doch keine ist. Doch dieser Nietzsche hat eben keine Zukunft, gegen ihn gilt es den radikalen Abenteurer zu verteidigen, der hinaus aufs „offene Meer“5 und alle „Schatten“6 des toten Gottes hinter sich lassen wollte. Sicher kann man fragen, ob er nicht ‚zu weit‘ geht, ob das Neue nicht stets Elemente des Alten enthalten und in sich aufheben muss; doch das Pathos des Neuen ist es, das wesentlich ist, und das Nietzsche immer wieder gerade für junge Leserinnen und Leser interessant macht, die in seinen Schriften einen Katalysator ihres eigenen Aufbruchswillens erblicken.
Wie steht es mit diesen Gedanken in einer Zeit, die anscheinend „No future“ zu ihrem Slogan erkoren hat und die von schalen Heilsversprechen, Erschöpfung und Relativismus – Nietzsche würde sagen: Nihilismus – gekennzeichnet ist? In der sich die Jungen als „letzte Generation“ fühlen und die Alten schon allein aus demographischen Gründen immer mehr Macht haben und echten Fortschritt scheinbar blockieren? Gibt es noch eine Zukunft? Und wenn Nietzsche und Heidegger Recht haben, würde eine verneinende Antwort bedeuten: Dann gibt es auch keine Gegenwart und keine Vergangenheit. Und worin könnte in einer solchen posthistorischen Welt Nietzsches Zukunft bestehen?
II. „Nietzsches Zukünfte“ in Weimar
Mit der Erwartung, auf diese Fragen wenn nicht Antworten, so doch Fingerzeige zu erhalten, fuhr ich nach Weimar, um dem ersten Tag der Tagung Nietzsches Zukünfte beizuwohnen, veranstaltet unter den Fittichen von niemand geringerem als der Klassik Stiftung Weimar, einer der größten Kulturinstitutionen Deutschlands. Sie ging vom 7. bis zum 11. Oktober und versammelte erwiesene Nietzsche-Expertinnen und -experten aus der ganzen Welt, die aufgefordert waren, ihre jeweilige Perspektive auf Nietzsches Zukunft aus dem Kontext der Erfahrung ihres Heimatlandes heraus darzulegen.
Die Präsidentin der Stiftung, Ulrike Lorenz, verortete in ihrer Begrüßung die Tagung im Kontext ihres gesamten Wirkens und betonte, dass es sich um die Abschlussveranstaltung des Themenjahrs „Aufbruch“ handelte. Dieses habe man bewusst in das Jahr der Thüringer Wahlen gelegt, um, so ihre unausgesprochene Aussage, dem dann ja auch eingetretenen Wahlsieg der AfD etwas entgegenzusetzen.
Ein weiteres Grußwort sprach Helmut Heit, Leiter des Stabsreferats Forschung der Stiftung sowie des ihr ebenfalls angegliederten Kollegs Friedrich Nietzsche, eine Einrichtung, die sich eigens der Pflege und Fortführung der Weimarer Nietzsche-Tradition widmet. Er hat die Konferenz gemeinsam mit seinen Assistentinnen Corinna Schubert und Evelyn Höfer organisiert. Heit betonte, dass Weimar der Ausgangspunkt des „Ereignis Nietzsche“ gewesen sei, auch wenn der Philosoph hier nur seine letzten drei Lebensjahre, umnachtet und gepflegt von seiner Schwester, verlebt habe. Die mit der Schwester und ihrer umstrittenen Edition einiger Nachlassfragmente Nietzsches als Wille zur Macht verbundene Schattenseite dieses Erbes verschwieg er nicht, betonte jedoch zu Recht, dass die Weimarer Nietzsche-Rezeption bis zum Ersten Weltkrieg unter progressiven Vorzeichen stand und eng mit der kulturellen Avantgarde jener Zeit, vor allem dem Jugendstil, verbunden war. Ebenso wies er darauf hin, dass sich die Klassik Stiftung Weimar darum bemüht, Nietzsches hier zu einem Großteil lagernden Nachlass auf die Liste des immateriellen Weltkulturerbes der UNESCO setzen zu lassen. Über den diesbezüglichen Antrag sei jedoch noch nicht befunden worden.
Für die fortgesetzte Weiterwirkung jenes „Ereignisses“ machte Heit folgende Faktoren verantwortlich: dass Nietzsche immer wieder neue Multiplikatoren wie etwa die erwähnte Elisabeth Förster-Nietzsche, Georg Brandes, Lou Salomé, den chinesischen Schriftsteller Lu Xun, Heidegger, Foucault oder Judith Butler gefunden habe; die stilistische und inhaltliche Vielfalt von Nietzsches Philosophie; die Ästhetik seines Stils, die insbesondere Künstler immer wieder auf ihn aufmerksam gemacht habe; dass er immer wieder wichtige Fragen von wiederkehrender Relevanz auf anregende Weise angesprochen habe; dass er als radikaler Kritiker immer wieder die Jugend anspreche und Innovationen beflügele. Nietzsches Gegenwart sei noch immer unsere Zeit und Nietzsche habe sie kritisch auf den Begriff gebracht.
Es folgte ein Panel, bei dem die Nietzsche-Forscher David Simonin aus Frankreich, Hans Ruin aus Schweden und Martine Prange aus den Niederlanden als Repräsentanten ihrer jeweiligen Herkunftsländer über die beiden gestellten Fragen sprachen. Es zeichnete die Konferenz generell wohltuend aus, dass durch die Fokussierung auf diese beiden Probleme – Nietzsches Wirkung in den verschiedenen Kulturkreisen und seine Zukunft in ihnen – der rote Faden der Beiträge immer gut erkennbar war und sie sich stets klar aufeinander bezogen.
David Simonin betonte, wie früh, schon in den 1870ern, Nietzsche in Frankreich entdeckt worden sei, auch wenn er erst ab den 1960ern im Zuge des Poststrukturalismus – im Laufe der Konferenz meist als „French Theory“ bezeichnet7 – Einzug in die akademische Forschung erhalten habe. Er unterschied dabei drei Perspektiven auf Nietzsche in der heutigen französischen Diskussion: polemische, die Nietzsche und vor allem seine linken Interpreten teils vehement kritisieren; dialogische, die Nietzsche im Lichte gegenwärtiger kultureller Probleme interpretieren und aneignen; sowie philologische – er bezog sich hierbei besonders auf das Projekt nietzschesource.org –, die sich Nietzsche aus einer eher historisierenden, kontextualisierenden und werkimmanenten Sicht nähern. Die Zukunft Nietzsches läge aus seiner Sicht in letzterem Ansatz, zu dem er sich auch selbst bekannte. Er sprach davon, dass es bald vielleicht möglich sein könnte, Nietzsches Leben mit Hilfe von Virtual Reality-Technologien direkt und in 3D nachzuerleben und ihn etwa auf einer Zugfahrt durch die Schweizer Alpen zu begleiten.
Hans Ruin stellte die skandinavische Nietzsche-Rezeption vor. Diese sei bis weit in das 20. Jahrhundert hinein sehr fruchtbar und wichtig für die skandinavische Kultur gewesen, wobei Nietzsche vor allem als Vordenker progressiver und avantgardistischer – so genannter „kulturradikaler“ – Positionen angeeignet worden sei. Bis in die 1980er Jahre hinein habe es in Schweden jedoch keine Diskussion über Nietzsche gegeben, er verglich die damalige Situation sogar mit der Zensur in der DDR. Die schwedischen Übersetzungen von Nietzsches Werken seien bis auf diejenige des Zarathustra vergriffen gewesen. Nietzsches Einfluss auf die skandinavische Kultur sei verdrängt worden, Ruin sprach von einem „verborgenen Erbe“, das erst ab den 90er Jahren durch Forscher wie ihn selbst und Thomas H. Brobjer wiederentdeckt worden sei, die auch eine Neuübersetzung von Nietzsches Werken ins Schwedische bewirkt hätten. In den Nuller Jahren sei es in diesem Zuge zu einem Aufschwung der schwedischen Nietzsche-Forschung gekommen. Ruin bezeichnete es als Zeichen für die Gesundheit einer Kultur, wenn sie in der Lage sei, Nietzsches Texte zu lesen, zu verdauen und mit ihnen zu sprechen.
Martine Prange schließlich legte dar, dass Nietzsche für die Kultur und vor allem die Philosophie ihres Landes eine nur untergeordnete Rolle gespielte habe. Diese führte sie neben der generell geistfeindlichen, sehr „krämerischen“ Mentalität des Landes vor allem auf die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende „Amerikanisierung“ der niederländischen Kultur und Philosophie zurück, die mittlerweile so weit gehe, dass das Niederländische als Wissenschaftssprache durch das Englische fast vollständig verdrängt worden sei. Ebenso sei das niederländische Forschungssystem in den letzten Jahren extrem kompetitiv und marktförmig strukturiert worden, so dass für Forschungen zu geistesgeschichtlichen Themen kaum noch Fördermittel vergeben würden, überall gebe es nur angewandte Ethik. Die neue rechte Regierung habe die ohnehin knappen Forschungsmittel nun noch einmal gekürzt und malträtiere nun „Langzeitstudenten“ mit Strafgebühren, so dass Prange sich sehr pessimistisch zeigte, jedenfalls, was die akademische Nietzsche-Forschung in den Niederlanden betrifft. Sie betonte den engen Zusammenhang zwischen Forschung und Politik und verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass Trump nicht wiedergewählt werde. Mit dieser deutlichen Anklage der schlechten politischen Rahmenbedingungen für geistesgeschichtliche Forschung traf Prange einen Nerv und erhielt viel Zuspruch. Ruin sprach in der Diskussion gar von der Amerikanisierung Europas als kultureller „Dekadenz“.
Im nächsten Panel sprachen die südafrikanische Forscherin Vasti Roodt und Willow Verkerk aus Kanada. Roodt vertrat die Auffassung, dass Nietzsche kein politischer Denker gewesen sei in dem Sinne, dass seiner Philosophie kein Beitrag für den Aufbau einer gerechten demokratischen Gesellschaft zu entnehmen sei. Er sei ein Denker, der vor allem über persönliche Probleme spreche, indem er immer wieder auf die unseren expliziten Wertungen zu Grunde liegenden impliziten Hintergrundwertsetzung hinweise und zum unendlichen Projekt einer Kritik dieser Vorurteile aufrufe. Sie griff Nietzsches Unterscheidung von bloßer Gelehrsamkeit, die ihre Zwecke nicht selbst setzen könne, und echter zwecksetzender Philosophie auf und warnte vor der Dominanz der ersteren. Nietzsche rufe auch heute noch zu einem „rendezvous at questions and question marks“ auf.
Ihr Vortrag provozierte seinerseits einige kritische Rückfragen. Insbesondere blieb offen, wieso Nietzsches Kritik unserer unbewussten Wertsetzungen nicht auch auf politische Wertsetzungen angewandt werden könne. Roodt relativierte ihre Einschätzung in der Folge in der Diskussion auch ein wenig und betonte, dass sie aus der Perspektive einer instabilen Demokratie spreche, die noch in den Kinderschuhen stecke.
Willow Verkerks Vortrag war vor allem deswegen spannend, weil sie über eine breite internationale Erfahrung verfügt und unter anderem in Belgien, Kanada, Großbritannien und Japan geforscht hat. Sie unterschied zwischen einer eher europäischen Herangehensweise an Nietzsche, die in etwa dem entspricht, was Simonin „philologische“ Interpretation genannt hatte und einer eher englischsprachigen, die sie als „toolboxing Nietzsche“ bezeichnete, also ein in philologischer Hinsicht eher oberflächliches Herausgreifen einzelner Textstellen des Philosophen, um sie zur Unterfütterung eigener Überlegungen zu verwenden. Sie selbst verortete sich als feministische Forscherin, deren Hauptanliegen es sei, diese europäische Methode nach Kanada zu importieren.
Ein solches „toolboxing“ hätten schon Heidegger und die Vertreter der French Theory betrieben und aus dieser Brille näherten sich auch ihre Studenten Nietzsche meist, wobei sie besonders stark von Gilles Deleuzes und marxistischen Nietzsche-Interpretationen inspiriert seien. Als relevante Kernkonzepte Nietzsche benannte sie vor allem seine genealogische Methode, insbesondere in ihrer Weiterentwicklung durch Michel Foucault, den radikalen Feminismus Judith Butlers und die Critical Race Studies; seine Diagnose des Nihilismus bzw. des „letzten Menschen“, die in der jüngeren Zeit vielfach als Anklage des umweltbezogenen bzw. ökologischen Nihilismus verstanden werde; seine Kritik der Metaphysik und den daraus folgende Perspektivismus; seine Kritik des „souveränen Individuums“, dessen Autonomie ein Resultat von Disziplinierung sei, in der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral; und schließlich Nietzsches Auffassung vom Selbst als Verkörperung des Willens zur Macht, die Nietzsche zu einem Vordenker der Phänomenologie, speziell derjenigen Maurice Merleau-Pontys, und der Psychoanalyse mache. Als weitere Problemfelder, die mehr Aufmerksamkeit einer künftigen Nietzsche-Forschung verdienten, benannte Verkerk Nietzsches Einfluss auf den frühen Feminismus und Anarchismus. Sie verwies zudem darauf, dass Nietzsches Kritik des Mitleids in jüngster Zeit zustimmend in den Disability Studies aufgegriffen werde.
In der folgenden Diskussion wurde von verschiedenen Forschern betont, dass die intensive Vertiefung in Nietzsches Schriften an sich, unabhängig von allen Inhalten derselben, ein transformatives Bildungserlebnis sei, das bei einer rein instrumentellen Annäherung an sie verlorengehe. Verkerk berichtete etwa von den starken emotionalen Reaktionen, die Nietzsches Texte bei ihren Studenten immer wieder hervorriefen8 und die dazu einlüden zu hinterfragen, woher sie eigentlich rührten.
Zum Abschluss des offiziellen Teils des ersten Tages der Konferenz diskutierten noch die vier prominenten Nietzsche-Forscher Christian Emden aus den USA, Helmut Heit, Vanessa Lemm aus Großbritannien und Claus Zittel aus Stuttgart direkt zur Frage „Hat Nietzsches Philosophie eine Zukunft?“. Es handelte sich nicht zuletzt deswegen um eine illustre Runde, da es sich um die aktuellen Herausgeber der Nietzsche-Studien, des wahrscheinlich wichtigsten internationalen Organs der akademischen Nietzsche-Forschung, handelt.
Vanessa Lemm betonte, dass Nietzsche für ein ganz neues Verständnis von Philosophie und einen neuen philosophischen Lebensentwurf stehe. Er betrachte die Philosophie als grundsätzlich relationales Unterfangen, sei ein Denker der Relation. Claus Zittel stimmte ihr darin zu, dass Nietzsche ein Kritiker jedwedes absoluten Wahrheitsanspruchs gewesen sei. Diese perspektivistische und relativierende Denk- und Schreibmethode Nietzsches mache in einer Zeit grassierender ‚Absolutismen‘ seine große Aktualität aus. Er sei ein Denker der „Differenz“ (womit Zittel eines der Hauptschlagworte der poststrukturalistischen Philosophie aufgriff), der uns immer wieder zur Relativierung der eigenen Positionen bis zur radikalen Konsequenz auffordere, zur stetigen Selbstaufhebung. Er schärfe unser Bewusstsein dafür, dass Positionierungen immer nur transitorisch sein können, und diagnostiziere in seinen Schriften unterschiedliche Verfallslogiken, ohne eine Gegenposition zu artikulieren, treibe ein Spiel mit Mehrdeutigkeiten, Rätseln und Masken, das man nur recht verstände, wenn man Nietzsche im Original lesen könne.
Christian Emden pflichtete Zittel bei, dass Nietzsche keine Botschaft oder Lehre vermittele, sondern er vor allem ein Kritiker sei und darin sein Potential liege. Ähnlich wie zuvor Verkerk benannte er die genealogische Methode und die Diagnose des Nihilismus – verstanden als radikale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Werten überhaupt – als zentrale relevante Themen seines Denkens. Sie ergänzte noch die Frage nach dem Verhältnis von Normativität und Natur, wie sie das posthumanistische Denken bzw. der Neue Materialismus aufwerfe und die Frage danach, was Philosophie überhaupt sei.
Alle vier Herausgeber waren sich somit weitgehend einig darin, eine eher philologische, werkimmanente Lektüre Nietzsches zu favorisieren – Zittel warnte etwa vor einer „Flucht aus dem Text“ – und Interpretationen abzulehnen, die Nietzsches Texten Positionen entnehmen möchten. Nietzsche wolle scheitern und kein System schaffen, so Heit; das Scheitern sei die große Konstante in Nietzsches Leben, so Emden; Nietzsche habe erkannt, dass in der Moderne nur noch „falsche Götter“ möglich seien und die Lüge ihre Unschuld verloren habe, so Zittel. Sein berüchtigtes Spätwerk Ecce homo etwa sei eine reine Parodie, so Zittel weiter. Lemm sprach von der Gefahr politisierender Interpretationen Nietzsches und vom philologischen Ansatz als wichtigstem Gegenmittel gegen dieselben, als zentralem Fortschritt der Nietzsche-Forschung der letzten Jahrzehnte, der sich, wie Zittel ergänzte, um 2000 vollzogen habe. Wichtig an Nietzsche sei also vor allem seine Schreibweise, nicht so sehr, was er im Einzelnen schreibe – wobei die Herausgeber der Nietzsche-Studien einhellig zustanden, dass sie in ihrer Zeitschrift keine allzu experimentellen Texte abdrucken möchten.
Nietzsche erscheint so als Vordenker des „Antihumanismus“ und des Neuen Materialismus – so Lemm, die sogar davon sprach, dass die menschliche Intelligenz durch KI ersetzt werden sollte –; nicht als Überwinder des Nihilismus, sondern selbst als Nihilist, so Zittel und Emden, auch wenn er zugleich, so Emden und Heit, die Notwendigkeit von, wenn auch nie absoluten, Wertsetzungen für unsere menschliche Existenz betone.
Zuletzt wurde aus dem Publikum die Frage aufgeworfen, wo denn Nietzsches Philosophie nun eigentlich noch eine Zukunft habe. An der Universität? Diesbezüglich äußerten sich die Herausgeber der Nietzsche-Studien eher verhalten. Zittel empfahl, nicht aus Karrieregründen ein Forschungsthema zu wählen, das nicht zu einem passe, Lemm plädierte dafür, eine stärkere innerakademische und kulturelle Wertschätzung der Philosophie offensiv einzufordern.
III. Und nun?
Es handelte sich bei der Veranstaltung um ein Stelldichein des Mainstreams der aktuellen akademischen Nietzsche-Forschung, eine wechselseitige Bestätigung der eigenen Überzeugungen in familiärer Atmosphäre, die sich etwa darin zeigte, dass man sich meist duzte und mit Vornamen ansprach. Von den etwa 70 Zuhörern waren nahezu alle aus professionellen Gründen dort, selbst nach Studenten der umliegenden Universitäten suchte man vergebens. Kritisch könnte man sagen: linksliberale Anhänger des Postmodernismus unter sich. Aus der Sicht der anwesenden Forscher liegt die „Zukunft“ Nietzsches vor allem in der unbeirrten Fortsetzung der Gegenwart, einer textimmanenten, philologischen Lektüre Nietzsches in Anknüpfung an die Klassiker der „French Theory“ wie Foucault, Deleuze, Jacques Derrida, Butler oder jüngst Bruno Latour, den wichtigsten Verfechter des Neuen Materialismus.
Dagegen ist erst einmal nichts einzuwenden. Man möchte sich nicht ausmalen, wie eine Nietzsche-Konferenz aussähe, die von Ideologen der stärksten Partei Thüringens organisiert würde – man würde fast meinen, dass von zwei unterschiedlichen Philosophen die Rede sei. Nietzsche als radikaler Kritiker und Relativierer aller, vor allem rechter, Ideologien und „Wahrheiten“: Gerne! Mehr davon!
Besonders gut veranschaulichten diesen Blick auf Nietzsche die die Tagung visuell begleitenden Zeichnungen der deutsch-iranischen Künstlerin Farzane Vaziritabar. In einem karikaturhaften Stil hinterfragen sie immer wieder aufs Neue den Nietzsche-Kult vergangener Dekaden und seine (Selbst-)Heroisierung, ohne ihn darum jedoch ins Lächerliche zu ziehen. Er erscheint auf ihnen als Maskenspieler und Religionskritiker, als Vordenker der kritischen Philosophen des 20. Jahrhunderts von Sigmund Freud über Theodor W. Adorno und Jean-Paul Sartre bis hin zur „French Theory“. Als Titelbild der Tagung wurde indes, ganz dem Plädoyer Lemms entsprechend, ein KI-generierter Pop-Nietzsche gewählt.
Und doch sind Zweifel angebracht. Nietzsche kritisiert Skeptizismus, Nihilismus und nicht zuletzt die philologische Forschung in seinen Texten selbst immer wieder – auch wenn diesbezüglich natürlich wie stets das berühmte spöttische Diktum Kurt Tucholskys gilt: „Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen“. Wie Natalie Schulte, Tucholskys Bonmot aufgreifend, auf diesem Blog kürzlich betonte, sind Nietzsches Texte zwar mehrdeutig und oftmals verrätselt, aber darum auch nicht beliebig ausdeutbar. Seinen Perspektivismus verknüpft er mit der Aufforderung, eine „Rangordnung der Werthe zu bestimmen“9. Er ist nicht einfach nur Maskenspieler und Ironiker, sondern kritisiert an zahllosen Stellen die Maskerade und die Beliebigkeit der Moderne.10 Er möchte, dass sich Europa, dass sich die Welt, eine neue, selbstbestimmte Zukunft gestaltet,11 auch wenn er vage wird, wenn es um deren konkrete Gestalt geht. Ein Aufruf, der ja nicht bedeuten kann, es bei einem allgemeinen Hinweis auf die Relativität jeder Positionierung zu belassen, sondern der darauf hinausläuft, im Angesicht ihrer Relativität entschieden und mutig Positionen zu beziehen. Zukunft ist nicht zuletzt etwas, das ist Heidegger, Nietzsche und Bloch gleichermaßen zu entnehmen, das uns nicht einfach wie ein Gegenstand gegeben ist, sondern dass wir aufgerufen sind, aktiv zu gestalten: Wir sind es, die Nietzsche eine Zukunft geben oder nicht und es liegt an uns, als seinen Lesern und Interpreten, sie in verantwortungsvoller Weise zu gestalten, ohne dabei durch irgendeine Vergangenheit oder Gegenwart determiniert zu sein. Diese erhalten ihren Sinn vielmehr erst im Lichte dieses Entwurfs.
Diese Eindeutigkeit Nietzsches, die es in vielerlei Hinsicht neben aller „Differenz“ eben auch gibt, anzuerkennen, darin würde eher die Zukunft einer Nietzsche-Forschung liegen, die auch jenseits des eigenen Dunstkreises als relevant erschiene. Doch diese Anerkennung ist womöglich schwieriger und schmerzhafter als die ewig selbe Leier von Vieldeutigkeit, Ambiguität, Relativität etc., verweist sie doch nicht zuletzt auf Nietzsches problematisches politisches Erbe, auf das eingangs Heit und später vor allem, wenn auch eher subtil, Roodt hinwies. Die traurige, so von Roodt nicht ausgesprochene, aber doch überdeutlich angedeutete, Wahrheit: Womöglich wäre Nietzsche selbst eher ein Befürworter von politischen Projekten wie dem südafrikanischen Apartheidsregime als ihr Kritiker gewesen.
Es bräuchte nach Jahrzehnten der Philologisierung und Relativierung Nietzsches also wahrscheinlich eine erneute „inhaltistische“ – um einen Begriff Andreas Urs Sommers aufzugreifen, der bei der Konferenz ebenfalls sprach12 – Wende der Nietzsche-Forschung, die mit einer unzweideutigen politischen Positionierung im Sinne der politischen Ideale der Moderne, auf die Roodt hinwies, einhergeht. Sie sollte die mit diesen Idealen unvereinbaren Positionierungen Nietzsches schonungslos aufdecken und kritisieren, aber zugleich eben auch auf die wichtigen und zukunftsträchtigen Aspekte seines Denkens hinzuweisen, die diesen Positionierungen widersprechen und die bei der Konferenz zu Recht immer wieder benannt wurden. Denn belässt man es bei der reinen Skepsis, unterminiert man damit ja alle, auch die emanzipatorischen, Positionierungen; man unternimmt im Sinne der Emanzipation nur die halbe Arbeit der Kritik.
Dafür spricht zumal, dass während der Konferenz trotz aller Beteuerung von Nietzsches Vieldeutigkeit, Rätselhaftigkeit etc. es immer wieder die Inhalte seiner Schriften – wie etwa seine Einsichten zur Psychologie – waren, die auch von den Forschern selbst in den Vordergrund gerückt wurden. Ganz kann der „Textismus“ – so Sommers Ausdruck – dieses Moment also offensichtlich nicht tilgen, möchte er auch nur ein Körnchen lebensweltlicher Relevanz retten. Hic rhodus, hic salta! – Hier blüht die Rose eines erneuerten Nietzscheanismus, hier tanzt, ihr Forschenden!
Dieses Umdenken ist umso notwendiger, weil die Zukunft Nietzsches sonst wohl unweigerlich von anderen Kräften geschrieben werden wird als sich die Teilnehmer der Konferenz unisono wünschen würden. Nur am Rande wurde auf die Gefahr eines erneuerten Rechtsnietzscheanismus hingewiesen.13
Dies soll alles nicht die Verdienste der philologischen Nietzsche-Interpretation schmälern. Es soll vielmehr darauf hingewiesen werden, dass es, im Sinne eines hegelianischen Dreischritts, wohl an der Zeit ist, auf die zahllosen Vereindeutigungen Nietzsches, die bis in die 70er Jahre erfolgten, und die sukzessiven Veruneindeutigungen seiner Philosophie einen neuen Weg zu finden im Sinne einer informierten Vereindeutigung, die die Ergebnisse der philologischen Forschungen nicht ignoriert, sondern aufgreift, um einer erneuten Auseinandersetzung mit den Inhalten von Nietzsches Denken den Weg zu bereiten. Das von Verkerk erwähnte wachsende Interesse ihrer Studenten an marxistischen Nietzsche-Interpretationen – genauso wie an feministischen, rassismuskritischen oder solchen innerhalb der Disability Studies – erweckt Hoffnung, dass sich diese Entwicklung, als Antwort auf den erneuerten Rechtsnietzscheanismus, dessen Renaissance jenseits der universitären Nietzscheforschung schon längst stattfindet, ebenso unweigerlich vollziehen wird. Und ebenso notwendig wird sich der anscheinend noch unentschlossene Mainstream der akademischen Nietzsche-Forschung in dieser Hinsicht positionieren müssen. Ein erneuerter aufgeklärter Humanismus, wie ihn etwa Bloch in seiner spezifischen Synthese von Marx und Nietzsche verfocht, könnte die Frucht dieser Bemühungen sein, vielleicht gar ein kollektiver kultureller Aufbruch wie derjenige, der sich um 1900 in Weimar und ganz Europa, angespornt nicht zuletzt von Nietzsches Ideen – die damals ganz „naiv“ verstanden wurden – vollzog.
IV. Anekdotisches Nachspiel
Während der Pausen hielt ich mich immer wieder vor dem Tagungsort, dem Kulturzentrum mon ami im Herzen Weimars, auf. Passanten kommen und gingen und begutachteten neugierig, was dort heute denn los sei. Manche fragten auch einfach nur nach der Toilette, niemand blieb. Einer zitierte aus dem Kopf eine der zahllosen misogynen Stellen aus Jenseits von Gut und Böse14 und meinte feist: „Das ist frauenfeindlich – na und?“ Ob er wohl ein paar Wochen zuvor Höcke gewählt hat? Ob ihn die Teilnahme an der Konferenz im Sinne des erhofften „Aufbruchs“ vom Gegenteil überzeugt oder ihn zumindest zu einer Relativierung seiner Position gebracht hätte?
Auf der Heimfahrt begegnete ich dann einem Einheimischen, der sich als Dichter von recht originellen Rätselversen zu erkennen gab. Sie erinnerten mich teilweise ein wenig an Nietzsches Aphorismen. Stolz zeigte er mir auf dem Smartphone einen Fernsehbericht von einer seiner Lesungen und erzählte mir, dass er von seinen Büchern schon mehrere tausend Stück verkauft hatte. Ich schwieg lieber über die Verkaufszahlen der meinen und wahrscheinlich überbot er in Sachen Verkaufserfolg so gut wie alle der Forscher, die heute gesprochen hatten. Und noch nicht einmal das Weimarer Lokalfernsehen hat sich in Nietzsches Zukünfte verirrt.
Wie die Einsichten der Philosophie populär machen, ohne sie zu popularisieren? Das war vielleicht die eigentliche Hintergrundfrage der Konferenz und die schwindenden Forschungsgelder sind ja nur ein Ausdruck dieses Problems. Welche Zukunft hat die Philosophie? Hat die Philosophie als akademische Disziplin?
Doch vielleicht ist die Frage so auch falsch gestellt. Die Philosophie wird, sofern sie irgendeinen Wert hat, immer eine Zukunft haben. Wenn sie ihn nicht hat, müsste man mit Nietzsche darüber nicht trauern, sondern einsehen: „[W]as fällt, das soll man auch noch stossen! Das Alles von Heute – das fällt, das verfällt: wer wollte es halten! Aber ich – ich will es noch stossen!“15 Nietzsche wird immer seine Leserinnen und Leser finden, solange wir in einer Kultur leben, die der seinigen gleicht. Er, Platon, Hegel, Kant, so viele andere: Sie alle sind zu etwas vorgedrungen, das vielleicht sogar ewig gilt, solange es Menschen gibt. Selbst wenn es nicht so wäre, so müssen doch wir, als Philosophen, die sich selbst ernst nehmen, daran glauben. Und ebenso ist es mit der Zukunft des Humanum, mit der Zukunft der Demokratie bestellt. Hoffnung ist ein Prinzip, ein Prinzip, das sich selbst erfüllend Zukunft ermöglicht. Das Denken, das Hoffnung und Glauben vergiftet, kann keine Zukunft haben. Oder, in den Worten des frühen Nietzsche, gegen die Philologie gerichtet, einen bedeutenden Humanisten aus Weimar zitierend:
Historie aber, die nur zerstört, ohne dass ein innerer Bautrieb sie führt, macht auf die Dauer ihre Werkzeuge blasirt und unnatürlich: denn solche Menschen zerstören Illusionen, und „wer die Illusion in sich und Anderen zerstört, den straft die Natur als der strengste Tyrann.“16
Die Photographien zu diesem Artikel stammen von Paul Stephan. Das Artikelbild ist eine Zeichnung von Farzane Vaziritabar (Link zur Homepage der Künstlerin mit den kompletten Reihe Ecce Nietzsche).
Literatur
Bataille, Georges: Nietzsche und die Faschisten. In: Wiedergutmachung an Nietzsche. München 1999.
Sommer, Andreas Urs: Was bleibt von Nietzsches Philosophie? Berlin 2018.
Fußnoten
1: Georges Bataille, Nietzsche und die Faschisten, S. 164.
2: Auf der Tagung wurde mehr oder weniger davon ausgegangen, dass diese beiden Interpretationsstränge letztendlich ein Strang seien. Bzw. es wurde unterstellt, dass beide Stränge letztendlich auf dieselbe Interpretation hinausliefen. Ich sehe hier allerdings durchaus eine gewisse Spannung, die man vertieft hätte diskutieren müssen. Der Begriff der „Philologie“ wurde zudem synonym mit „textimmanenter Lektüre“ gebraucht, was man auch bezweifeln könnte angesichts der Vielfalt philologischer Methoden.
3: Also sprach Zarathustra, Das Honig-Opfer.
4: Also sprach Zarathustra, Vom Lesen und Schreiben.
5: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 343.
6: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 108.
7: Wobei Simonin betonte, dass diese Theorieströmung mittlerweile gar nicht mehr so „french“ sei.
8: So sei ein männlicher Student bei der Diskussion einer scheinbar misogynen Passage in Tränen ausgebrochen und er habe verzweifelt gefragt „Wie kann man so etwas nur denken?“, während ein Kommilitone begeistert gemeint habe, dass Nietzsche doch vollkommen Recht habe in seiner Kritik des Feminismus.
9: Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 17.
10: Man denke nur an den berühmten Abschnitt Vom Lande der Bildung im Zarathustra. Einer seiner letzten Sätze lautet: „So liebe ich allein noch meiner Kinder Land, das unentdeckte, im fernsten Meere: nach ihm heisse ich meine Segel suchen und suchen“. Hans Ruin wies darauf hin, dass die schwedische Feministin Ellen Key einen fast gleichlautenden Satz aus einem anderen Abschnitt des Buches ihrem Hauptwerk Das Jahrhundert des Kindes voranstellte.
11: Heit verwies zu Recht auf die wichtige Stelle aus Ecce homo: „Meine Aufgabe, einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen grossen Mittag, wo sie zurückschaut und hinausschaut, wo sie aus der Herrschaft des Zufalls und der Priester heraustritt und die Frage des warum?, des wozu? zum ersten Male als Ganzes stellt“ (Morgenröthe, Abs. 2). – Hier berühren sich Nietzsche und Marx, hier wagt sich selbst noch der späte Nietzsche ganz weit in das Niemandsland der Utopie vor, orientiert sich ins Blaue hinein, von dem wenige Jahrzehnte später Bloch schrieb. Es ist keine fröhliche, sondern eine traurige Wissenschaft, in derartigen Lichtblicken eine reine „Parodie“ zu erblicken.
12: Vgl. Sommer, Was bleibt von Nietzsches Philosophie?, S. 28–41.
13: Simonin etwa sprach nur in einem Nebensatz von einigen französischen „Youtubern“, die neuerdings für eine rechte Nietzsche-Interpretation werben würden. Wenn er damit jedoch Autoren wie Julien Rochedy meint, deren Videos zu Nietzsche bisweilen Hunderttausende, wenn nicht Millionen, von Klicks erreichen – seiner Nietzsche-Interpretation werden wir in Kürze einen eigenen Artikel auf diesem Blog widmen –, dann wirkt das wie eine gehörige Untertreibung; Simonin dürfte froh sein, mit einem seiner zweifellos wissenschaftlich fundierteren Artikel auch nur ein paar Hundert Leser zu erreichen.
14: Es war, wenn ich mich recht entsinne, der 145. Aphorismus.
15: Also sprach Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 20.
16: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Abs. 7.