Nietzsche POParts
Sind nicht Worte und Töne
Regenbogen und Schein-Brücken
zwischen Ewig-Geschiedenem?
Nietzsche
POP
arts
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Sind

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Worte


und

Töne
Regenbogen
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Scheinbrücken

zwischen

Ewig-

Geschiedenem
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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches





Artikel
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„Frieden um mich“
Eine ungewöhnliche Weihnachtsbotschaft
„Frieden um mich“
Eine ungewöhnliche Weihnachtsbotschaft


In unserem letzten Artikel vor der Pause zum Jahreswechsel untersucht Paul Stephan in einem close reading einen bemerkenswerten Aphorismus Nietzsches, in dem dieser sich mit dem berühmten Weihnachtssegen „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ auseinandersetzt. Wie beim Auspacken eines mehrfach verhüllten Geschenks versucht er, die unterschiedlichen Bedeutungsschichten dieses Textes freizulegen, um Nietzsches genaue Positionierung deutlich hervortreten zu lassen. Ob man am Ende eine leuchtende Wahrheit in der Hand hält oder der Karton leer bleibt, mag der Leser für sich entscheiden. Wir wünschen jedenfalls allen unserer Leserinnen und Leser mit Nietzsche: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander!“

I. Die „goldene Loosung“
Die goldene Loosung. – Dem Menschen sind viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sich wie ein Thier zu gebärden: und wirklich, er ist milder, geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Thiere sind. Nun aber leidet er noch daran, dass er so lange seine Ketten trug, dass es ihm so lange an reiner Luft und freier Bewegung fehlte: – diese Ketten aber sind, ich wiederhole es immer und immer wieder, jene schweren und sinnvollen Irrthümer der moralischen, der religiösen, der metaphysischen Vorstellungen. Erst wenn auch die Ketten-Krankheit überwunden ist, ist das erste grosse Ziel ganz erreicht: die Abtrennung des Menschen von den Thieren. – Nun stehen wir mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen und haben dabei die höchste Vorsicht nöthig. Nur dem veredelten Menschen darf die Freiheit des Geistes gegeben werden; ihm allein naht die Erleichterung des Lebens und salbt seine Wunden aus; er zuerst darf sagen, dass er um der Freudigkeit willen lebe und um keines weiteren Zieles willen; und in jedem anderen Munde wäre sein Wahlspruch gefährlich: Frieden um mich und ein Wohlgefallen an allen nächsten Dingen. – Bei diesem Wahlspruch für Einzelne gedenkt er eines alten grossen und rührenden Wortes, welches Allen galt, und das über der gesammten Menschheit stehen geblieben ist als ein Wahlspruch und Wahrzeichen, an dem Jeder zu Grunde gehen soll, der damit zu zeitig sein Banner schmückt, – an dem das Christenthum zu Grunde gieng. Noch immer, so scheint es, ist es nicht Zeit, dass es allen Menschen jenen Hirten gleich ergehen dürfe, die den Himmel über sich erhellt sahen und jenes Wort hörten: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen an einander.“ – Immer noch ist es die Zeit der Einzelnen.1
Mit diesem Aphorismus beendet Nietzsche den zweiten Teil des zweiten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches, der überschrieben ist mit Der Wanderer und sein Schatten. Im Rückblick bezeichnet Nietzsche dieses Buch als das Dokument einer großen persönlichen Krise:
Damals – es war 1879 – legte ich meine Basler Professur nieder, lebte den Sommer über wie ein Schatten in St. Moritz und den nächsten Winter, den sonnenärmsten meines Lebens, als Schatten in Naumburg. Dies war mein Minimum: „Der Wanderer und sein Schatten“ entstand währenddem. Unzweifelhaft, ich verstand mich damals auf Schatten…2
Es ist unschwer zu erkennen, dass sich im zweiten Band seiner ersten großen Aphorismensammlung eine Wandlung vollzieht. Der erste Band des „Buches für freie Geister“, der 1878 erschien, steht noch ganz im Lichte einer aufgeklärten und individualistischen geistigen Libertinage. Gewidmet ist die Erstausgabe dem Aufklärer Voltaire, der hundert Jahre zuvor verstorben war. In den beiden Nachträgen zu diesem Buch – Vermischte Meinungen und Sprüche und eben Der Wanderer und sein Schatten –, die zunächst als separate Bücher 1879 und 1880 erschienen und erst 1886 zusammen mit dem ersten Band als ein Buch publiziert wurden, schlägt er in der Tat andere, ‚dunklere‘ und nachdenklichere Töne an. Die Selbstreflexivität nimmt zu, der Stil wird paradoxaler. Nietzsche wird immer mehr der zweifelnde ‚Hämmerer‘ seiner späteren Schriften.
Dieser Schlussaphorismus ist nun jedoch bemerkenswert ‚licht‘. Im ersten Abschnitt des Aphorismus, bis zum zweiten Gedankenstrich, vertritt er sichtlich das Programm eines aufklärerischen Humanismus. Der Mensch soll das Tier in sich überwinden und „milder, geistiger, freudiger, besonnener“ werden. Zarathustras Ideen der „Selbstüberwindung“ und des „Übermenschen“ deuten sich hier an, doch ohne die ‚dunkle‘ Wendung, die Nietzsche ihnen später geben sollte.
Es folgt dann, bis zum nächsten Gedankenstrich, die These, die man eigentlich als Nietzsches ‚Grundansicht‘ bezeichnen könnte und der er vom Frühwerk an bis zum Spätwerk die Treue halten sollte: dass sich der Mensch, um sein ureigenstens Potential zu realisieren, von den „Ketten“ der traditionellen Metaphysik und Moral befreien muss, die ihn bislang erdrückten und im Zustand der Animalität verbleiben ließen.
Diese Wendung überrascht, rechtfertigen sich jene „Irrthümer“ doch genau damit, einen Bruch zwischen Tier und Mensch zu erzeugen. Bereits die biblische Geschichte vom Sündenfall erzählt davon, wie dieser Bruch in die Welt kam. Nietzsche dreht diese gewohnte Perspektive hier diametral um – wie vermag er das zu rechtfertigen?
Es folgt bis zum nächsten Gedankenstrich jedoch keine Antwort auf diese naheliegende Frage, sondern eine neue Wendung in Nietzsche Argumentation, indem er eine weitere seiner Kernthesen anführt: dass sich nicht jeder Mensch gleichermaßen in seinem Sinne geistig befreien dürfe. Dieses Leben ohne moralische Fesseln soll den „veredelten Menschen“ vorbehalten bleiben. Sein Wahlspruch ist – auch dies ein typisches Stilmittel Nietzsches – eine Variation der Weihnachtsverkündigung, wie sie noch heute jedes Jahr in den Kirchen am Heiligen Abend verlesen wird.
Am Ende des Aphorismus wird diese, allerdings auch wieder leicht variiert, zitiert. Im klassischen Wortlaut der Luther-Bibel, mit dem Nietzsche natürlich bestens vertraut war – hier in der Version von 1912, die ihm weitgehend entspricht – lautet die Losung: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ (Luk. 2, 14) Es handelt sich um eine kollektive Prophezeiung der „Menge der himmlischen Heerscharen“ (Luk. 2, 13) an die Hirten als Repräsentanten des einfachen Volkes.
Allerdings – und womöglich war das Nietzsche bekannt – folgt die originale Luther-Bibel einer mittlerweile als veraltet geltenden Lesart des griechischen Originaltexts. Die neuste Version dieser Übersetzung von 2017 lautet daher etwas anders: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Es geht hier also nicht mehr um ein Gnaden- und Friedensversprechen an wirklich alle Menschen, sondern nur ein Friedensversprechen an diejenigen, denen das „Wohlgefallen“ Gottes zu Teil wird.
Blättert man im Lukas-Evangelium ein Kapitel nach vorne, wird deutlich, wie diese Einschränkung gemeint sein könnte, denn dort heißt es im berühmten Lobgesang Marias (in der Übersetzung von 2017): Gottes „Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Luk. 1, 50–53) Es geht also im Neuen Testament nicht unbedingt um ein seichtes ‚Gott hat alle Menschen lieb‘, sondern eine revolutionäre Botschaft: Gott hat nur die Menschen ‚lieb‘, die an ihn glauben, und die nicht „hoffärtig“ sind. Insbesondere ausgenommen werden hier, wie auch an zahllosen anderen Stellen des Buches, die Reichen und Mächtigen. – Aus dieser Perspektive klingt Nietzsches erste Umkehrung des Segens sehr „hoffärtig“: Der freie Geist möchte nur um sich Friede und in Einklang mit den Dingen leben, die ihn umgeben.
Auch dies wirft wieder Fragen auf. Wieso genau ist es für diese Losung noch nicht an der Zeit? Was müsste geschehen, damit sie als Ideal aufgestellt werden könnte? Und wie ist es zu erklären, dass Nietzsche einerseits einen Bruch mit allen bisherigen Idealen verkündet, diesen jedoch zugleich relativiert, insofern er das utopische Ziel des Christentums ja sogar gutheißt? – Dass Nietzsche sich dieses Ziel zu eigen macht, wird dadurch unterstrichen, dass er mit dieser Formel – „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander!“ – eine Postkarte beendete, die er am 23. 12. 1878 an seinen Studenten und Vertrauten Adolf Baumgartner schickte.3
II. Friede oder Wohlgefallen aneinander!
Zwei Nachlassfragmente aus den 1880er Jahren verdeutlichen, dass Nietzsche die heiklen Fragen, die dieser Aphorismus aufwirft, aber offen lässt, beantworten wird, indem er sich stärker als hier vom Ziel des Christentums distanziert. „Frieden und den Menschen ein Wohlgefallen“ erscheint ihm nun als Losung der „décadence“, die sich in der Unfähigkeit zum Widerstand gegenüber anderen äußere, in Toleranz, Mitleid und Nachsicht. An die Stelle dieser Moral der Schwäche soll nun eine Ethik der Stärke und Härte treten, die in keiner Weise mehr den „Frieden“ und das „Wohlgefallen an einander“ im Sinne hat, es sei denn im Sinne der ersten Losung.4
Er vertritt nun offensiv die Amoralität:
„Die Krankheit macht den Menschen besser“: diese berühmte Behauptung, der man durch alle Jahrhunderte begegnet, und zwar im Munde der Weisen ebenso als im Mund und Maule des Volks, giebt zu denken. Man möchte sich, auf ihre Gültigkeit hin, einmal erlauben zu fragen: giebt es vielleicht ein ursächliches Band zwischen Moral und Krankheit überhaupt? Die „Verbesserung des Menschen“, im Großen betrachtet, zum Beispiel die unleugbare Milderung Vermenschlichung Vergutmüthigung des Europäers innerhalb des letzten Jahrtausends – ist sie vielleicht die Folge eines langen heimlich-unheimlichen Leidens und Mißrathens, Entbehrens, Verkümmerns? Hat „die Krankheit“ den Europäer „besser gemacht“? Oder anders gefragt: ist unsere Moralität – unsere moderne zärtliche Moralität in Europa, mit der man die Moralität des Chinesen vergleichen möge – der Ausdruck eines physiologischen Rückgangs?… Man möchte nämlich nicht ableugnen können, daß jede Stelle der Geschichte, wo „der Mensch“ sich in besonderer Pracht und Mächtigkeit des Typus gezeigt hat, sofort einen plötzlichen, gefährlichen, eruptiven Charakter annimmt, bei dem die Menschlichkeit schlimm fährt; und vielleicht hat es in jenen Fällen, wo es anders scheinen will, eben nur an Muth oder Feinheit gefehlt, die Psychologie in die Tiefe zu treiben und den allgemeinen Satz auch da noch herauszuziehn: „je gesünder, je stärker, je reicher, fruchtbarer, unternehmender ein Mensch sich fühlt, um so „unmoralischer“ wird <er> auch“. Ein peinlicher Gedanke! dem man durchaus nicht nachhängen soll! Gesetzt aber, man läuft mit ihm ein kleines, kurzes Augenblickchen vorwärts, wie verwundert blickt man da in die Zukunft! Was würde sich dann auf Erden theurer bezahlt machen als gerade das, was wir mit allen Kräften fordern – die Vermenschlichung, die „Verbesserung“, die wachsende „Civilisirung“ des Menschen? Nichts wäre kostspieliger als Tugend: denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital: und „Jeder Jedermanns Krankenpfleger“ wäre der Weisheit letzter Schluß. Freilich: man hätte dann auch jenen vielbegehrten „Frieden auf Erden“! Aber auch so wenig „Wohlgefallen an einander“! So wenig Schönheit, Übermuth, Wagniß, Gefahr! So wenig „Werke“, um derentwillen es sich noch lohnte, auf Erden zu leben! Ach! und ganz und gar keine „Thaten“ mehr! Alle großen Werke und Thaten, welche stehn geblieben sind und von den Wellen der Zeit nicht fortgespült wurden – waren sie nicht alle im tiefsten Verstande große Unmoralitäten?… 5
Es gilt nun: entweder Frieden oder „Wohlgefallen an einander“. Wenn die Menschen sich friedlich verhalten, wenn sie geschwächt sind, können sie kein authentisches wechselseitiges Wohlgefallen empfinden.
Dies wirkt wie ein Versuch, den Aphorismus aus Der Wanderer und sein Schatten wenigstens nachträglich argumentativ zu unterfüttern. Das Christentum scheiterte an seinem Ideal, weil es zwei kontradiktorische Forderungen erhebt. Damit ist es freilich nicht nur „noch nicht“ realisierbar, es ist niemals realisierbar und taugt noch nicht einmal als Ideal. Als ein solches kann nur die individuelle Forderung an den einzelnen gelten, mit sich selbst in Einklang zu kommen und seine unmittelbare Umgebung wertzuschätzen. Doch auch diese möchte Nietzsche eben nicht an alle gerichtet wissen, sondern nur an die starken Naturen, die es auch wert sind, sich selbst zu bejahen. Die Schwachen sollen sich ruhig selbst verneinen und in Unfrieden mit sich und ihrer Umgebung leben – ihre Natur prädestiniert sie ohnehin dazu.
Der revolutionäre Ursinn des Weihnachtssegens bekräftigt Nietzsches Vorbehalte ja nur. Offenkundig geht es hier um das, was Nietzsche in Zur Genealogie der Moral als „Sklavenmoral“ bezeichnen wird: Die Starken sollen niedergehalten und gezähmt werden, um allgemeinen Frieden zu ermöglichen. Doch das Christentum verkennt, dass dadurch nur eine langweilige, graue, „nihilistische“ Welt entsteht, in der es am Menschen nichts mehr zu bejahen gibt. Anstatt das Tierische im Menschen zu transzendieren, werden die Menschen in Haustiere verwandelt.
III. Unweihnachtlich – allzuweihnachtlich?
Sicher ist an Nietzsches Gedanken etwas dran. Jeder kennt soziale Kontexte, in denen alle furchtbar nett zueinander sind, aber eigentlich keine wirklichen zwischenmenschlichen Resonanzen entstehen können, gerade weil zu diesen auch Konflikt und Ehrlichkeit gehört. In ihnen herrscht oft eine dumpfe, stickige Atmosphäre, wie auf einem Familienfest. Viele erleben Weihnachten wahrscheinlich genau so, als Inbegriff der christlichen Lüge und Heuchelei. Sollen sich diese Menschen doch erst einmal selbst lieben und mit sich selbst ins Reine kommen, ehe sie andere mit ihrem „Mitleid“ beschenken!
Doch der Nietzsche von Der Wanderer und sein Schatten macht es sich noch nicht so einfach wie der spätere. Es geht hier nicht um von Natur aus starke Individuen, sondern anscheinend solche, die in einem Bildungsprozess „veredelt“ worden und mithin wirklich Herr ihrer geheimen Begierden und Triebe geworden sind; die „stark“ in dem Sinne sind, dass in ihnen kein Rest an unsublimierter Animalität verblieben ist. Bei denen, im Sinne Freuds, wo „Es“ war, „Ich“ geworden ist. Erst sie könnten auch anderen gegenüber wirklich friedlich sein, ohne sich selbst belügen zu müssen. Sie sind also anderen gegenüber friedlich nicht, weil sie es sollen, sondern weil sie es wirklich wollen. Wird dieses Ideal jedoch allen aufgezwungenen, auch denen, die noch nicht bereit dazu sind, führt es nur zu Verlogenheit und innerer Zerrissenheit. Man ist nett zu allen, doch in Wahrheit voll von Aggressionen – für die man sich dann wiederum selbst hasst.
Nietzsche hält es in diesem Aphorismus jedoch noch für möglich und sogar für erstrebenswert, dass sich alle Menschen in diesem Sinne „veredeln“ und derart mit sich selbst und ihrer Umgebung im Reinen sind, dass ein wirklicher Frieden auf der Welt herrschen könnte. Dann erst könnten sich die Menschen wahrhaft gegenseitig wertschätzen. Und Friedlichkeit und Wertschätzung wären nichts mehr, was man moralisch verordnen müsste, sondern was sich aus diesem aufgeklärten, mit sich selbst einigen, authentischen Bewusstsein von selbst ergeben würde.
Das wäre also schlussendlich Nietzsches ‚frohe Botschaft‘ zur Weihnachtszeit: Respekt, Mitleid, Nächstenliebe und alle anderen Ideale des Christentums lassen sich nicht moralisch vorschreiben oder einfordern; sie müssen aus echter Selbstbejahung und Selbstbeherrschung heraus erwachsen. Wahre Moralität muss von innen kommen. Das Christentum betrügt die Menschen in Nietzsches Darstellung, indem es eine solche Moralität ohne eigene Anstrengung verspricht. Es müssen nur die ‚bösen Menschen‘ beseitigt werden, dann ist alles gut. Doch Friede kann nur um sich verbreiten und andere wahrhaft wertschätzen, wer den inneren Frieden aus eigener Kraft gefunden hat und wer sich selbst wertschätzt. – Doch ist das überhaupt so antichristlich und erinnert nicht vielmehr das Christentum an seinen eigenen Kern? Es ist jedenfalls eine sehr andere Botschaft als diejenige, die man an Weihnachten üblicherweise zu Ohren bekommt.
Fußnoten
1: Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten 350.
2: Ecce homo, Menschliches, Allzumenschliches 1.
3: Brief Nr. 785.
4: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1888 23[4].
„Frieden um mich“
Eine ungewöhnliche Weihnachtsbotschaft
In unserem letzten Artikel vor der Pause zum Jahreswechsel untersucht Paul Stephan in einem close reading einen bemerkenswerten Aphorismus Nietzsches, in dem dieser sich mit dem berühmten Weihnachtssegen „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ auseinandersetzt. Wie beim Auspacken eines mehrfach verhüllten Geschenks versucht er, die unterschiedlichen Bedeutungsschichten dieses Textes freizulegen, um Nietzsches genaue Positionierung deutlich hervortreten zu lassen. Ob man am Ende eine leuchtende Wahrheit in der Hand hält oder der Karton leer bleibt, mag der Leser für sich entscheiden. Wir wünschen jedenfalls allen unserer Leserinnen und Leser mit Nietzsche: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander!“
Interessante Fremde
Bemerkungen zu Kafkas Werk
Interessante Fremde
Bemerkungen zu Kafkas Werk


Vor 100 Jahren starb Franz Kafka. Der folgende Text ist ein Aktualisierungsversuch, der sich seinem Werk mit einer von Nietzsche inspirierten sozio-psychologischen Perspektive nähert. Seine These: Kafka zeigt erzählend, wovon Nietzsche philosophiert. Michael Meyer-Albert will dafür werben, in den als düster-surreal geltenden Fiktionen eines der bedeutendsten Autoren der Moderne die Logik einer nichtnaiven Weltaufhellung zu finden: Lebensbejahung statt Suizid.
Redaktioneller Hinweis: Einige schwierige Fachbegriffe haben wir in den Fußnoten erläutert.
„[...], war es eine Komödie, so wollte er mitspielen. Noch war er frei.“
Kafka, Der Prozeß
I. Kafkaesk
In Woody Allens Film Play It Again, Sam aus dem Jahr 1972 gibt es eine Szene in einem Museum, in der der Protagonist Allan etwas unbeholfen eine Frau anspricht, die in die Betrachtung eines Bildes versunken ist. Er versucht sein Glück, indem er sie fragt, was das Bild für sie bedeute. Darauf sieht sie ihn nicht an, sondern beschreibt in einem sonoren Monolog ihre Faszination für den existenziellen Pessimismus, den das Bild für sie hat. In seiner anders gearteten Faszination geht Allan auf den Schwall der dunklen Philosopheme nicht ein und fragt schlicht, ob die Dame am Samstag zufällig Zeit hätte für ein Rendezvous. Sie entgegnet darauf – offenbar ist es ihr ernster mit dem existenziellen Pessimismus –, dass sie samstags nicht könne, sie würde an diesem Tag Selbstmord begehen. Davon lässt sich Allan nicht entmutigen und fragt etwas verzweifelt, ob sich dann nicht ein Treffen am Freitag einrichten ließe. – Eine der folgenden Szenen zeigt die beiden nackt in einer anscheinend postkoitalen Situation im Bett. Schüchtern und nervös fragt Allan, wie sie den Beischlaf gefunden habe. Ihre Antwort: „Es war kafkaesk.“
Allens Film zeigt in dieser Passage tiefsinnig auf, wie das Erbe von Franz Kafka kollabierte zu einer Phrase. In einem Jargon der Absurdität1 funktioniert sie als eine Art Markierung für das Vokabular einer negative Weltsicht, die durch ihre automatische Geläufigkeit kontextunsensitiv in unpassende Situationen überspringt. „Kafkaesk“ konnotiert die grundlegende Absurdität des Lebens. Während bei Kafka die Absurditäten des Lebens zumeist eine düstere surreale Hoffnungslosigkeit ausdrücken, weist Allens Film darauf hin, dass existenzielle Absurditäten auch durchaus eine andere Richtung nehmen können. Sex statt Suizid. Für diese Nietzscheanisierung des Kafkaesken möchten die folgenden Abschnitte auf eine philosophische Weise werben. Für eine poetische Herangehensweise mit einer ähnlichen Stoßrichtung sei auf das Werk von Wilhelm Genazinos verwiesen, das die „Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“ in humorvoller Detailschärfe beschreibt.
II. Die Wunde Kafka
Kafka ist einer der Kronzeugen für die moderne Philosophie, die an der Moderne verzweifelt. Sein Werk gilt als Indiziensammlung für die dunkle Wahrheit der „verwalteten Welt“ (Adorno). Dass Kunst als Garant dieser Wahrheit herhalten muss, kann allerdings als Indiz dafür gelten, dass die Philosophie sich nicht mehr alleine zutraut zu sagen, was ist. Doch als freiwillige Magd der Kunst tritt das Denken nur auf den ersten Blick in einer neuen Bescheidenheit auf. Philosophie als Königinmacherin behält sich vor, das letzte Wort darüber zu haben, was die Kunst eigentlich zum Besten gibt. Für diese Rolle der hermeneutischen Dechiffrierung disponiert zusätzlich die in der Moderne unter der Konvention des Unkonventionellen stehende Entwicklung der Kunstwerke, die sich in immer kryptischere Originalitäten versteigen. Philosophie wird zu einem Priestertum des Ästhetischen. Sie erlangt über den Umweg der Kunst wieder die Weihen der metaphysischen Wahrheit. Davon profitiert auch die moderne Kunst, deren manische Enigmatik sich nun einbilden kann, transzendenten Ursprungs zu sein. Ein augenzwinkernder Hinweis auf die Show der Schau reicht von Platons Ion bis zu Sigmar Polkes: „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!“
Neben Heidegger ist es vor allem Adorno gewesen, der die Philosophie über die Interpretationshoheit maßgeblicher Werke wieder für die Wahrheit retten will. Neurespektabel wird das Denken nach dem Versuch sich als eine verstehende, nicht bloß positivistisch erklärende Geisteswissenschaft aufzuwerten, als eine Form der Kunstauslegung. Neben Beckett und Schönberg ist es für Adorno Kafka, aus dessen Werk er die Legitimation ziehen möchte, die moderne Welt en gros als demiurgische Hölle des „Bestehenden“ zu diffamieren.
Die Tragik von Adornos Philosophie ist es, dass ihre stupende Sensibilität manipuliert wird von ihrem Weltschmerzdogma. Ihre Negation von abstrakten Weltanschauungen schützt sie nicht davor, selbst wieder eine zutiefst resignative Weltanschauung zu propagieren, die sich indirekt durch wiederholte Deutungsmuster vermittelt, die das, was ist, insgesamt als großes Unglück interpretieren. Damit instrumentalisiert Adorno Kafka als eine Bestätigung für seine gnostischen2 Vorurteile. Er verstellt sich so eine bereichernde Betrachtung auf das Werk Kafkas. Und das, obwohl er es mit Sätzen wie diesen, die von der seiner großen ästhetischen Sensibilität zeugen, zugänglicher machte: „Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden.“3
Mit einer sozio-psychologischen Herangehensweise ließe sich Kafkas Wunde metaphysisch abgeklärter verstehen. Es wird schnell klar: Kafka hatte daddy issues, exemplarisch ablesbar in Das Urteil in der Gestalt Georg Bendemann oder auch im Brief an den Vater. Der Konflikt lässt sich leicht verständlich machen: Kafkas Vater stammte aus sehr einfachen Verhältnissen, Sohn eines Fleischhauers aus einem 100-Seelen-Dorf, der dann in Prag sein Glück suchte und dort mit Hilfe seiner vermögenden Frau ein Galanteriewarengeschäft gründete. Als erfolgreicher Entrepreneur, der es schaffen wollte und geschafft hat, hatte er kein Verständnis für einen Sohn, der allein für die Literatur leben wollte.
Philosophisch anspruchsvoll werden Kafkas Vaterprobleme, wenn man sie kulturgeschichtlich deutet. Die Figur das Vaters figuriert dann als erziehende Autorität, die den Akt der Geburt in erweiterten Dimensionen fortsetzt. Der Vater als die ergänzende Mutter führt ein in die Gesellschaft und die kulturellen Räume. Seine Autorität erscheint so nicht nur als diffuse Form einer herrischen Macht, sondern als überlegenes Muster von Kompetenz. Kafkas Werk geht so gesehen nicht darin auf, ein Indiz für die Welt der bürokratischen Herrschaftsformen zu sein, sondern es ist darüber hinaus ein Zeichen für die abgründigen Effekte, die sich einstellen, wenn der Zusammenhang der Generationen nicht mehr über Traditionen vermittelt wird, die für die Nachkommen eine hinreichende Plausibilität erreichen können. Kafkas Tagebuch ist ein Sammelsurium von Belegen für eine ortlose Existenz:
Ohne Vorfahren, ohne Ehe, ohne Nachkommen, mit wilder Vorfahres-, Ehe- und Nachkommenslust. Alle reichen mir die Hand: Vorfahren, Ehe und Nachkommen, aber zu fern für mich.4
Ich bin unsicherer, als ich jemals war, nur die Gewalt des Lebens fühle ich. Und sinnlos leer bin ich. Ich bin wirklich ein verlorenes Schaf in der Nacht und im Gebirge oder wie ein Schaf, das diesem Schaf nachläuft. So verloren zu sein […].5
Bin ganz leer und sinnlos, die vorüberfahrende Elektrische hat mehr lebendigen Sinn.6
Wenn Autoritäten als plausible Muster, die nachgeahmt und variiert werden können, nur noch als befremdende Mächte erfahren werden, fällt das Lernen eines halbwegs umfänglichen Zur-Welt-Kommens aus: „Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt.“7
Kafkas Werk zeigt also die erste Phase dieses Abbruchs einer kulturellen Nidation8 in Folge eines generationellen Prozesses, der von zwei Weltkriegen geprägt wurde und in der Grundstimmung einer universellen Ratlosigkeit resultierte.
In der zweiten Phase werden die Joseph Ks von aggressiveren rotbraunen Irrlehren mobilisiert, die ihm die vermeintlichen Schuldigen für seine Notlage benennen können und radikale Auswege aufzeigen. Dostojewskis unheimlichster Roman Die Dämonen (1872) hat diese Grundspannung, die so dominant werden sollte für das 20. Jahrhundert, in einer prophetischen Tiefenpsychologie erzählerisch ausgestaltet. Es ist genau die Vorform dieser Spannung, die der Affe Rotpeter in Kafkas Erzählung Ein Bericht für eine Akademie in den folgenden Worten beschreibt: „Nein, Freiheit wollte ich nicht. Nur einen Ausweg; rechts, links, wohin immer; […].“9
III. Nietzsches mögliche Aufzeichnungen zu Kafka
Über Nietzsche finden sich explizit keine Aufzeichnungen bei Kafka. Es ist allerdings von Max Brod, Kafkas Jugendfreund, überliefert, dass sein erstes Kennenlernen mit Kafka in einer intensiven Diskussion bestanden habe, bei der Kafka Brods Eintreten für Schopenhauer mit einem Hinweis auf Nietzsche kritisierte.10
Dennoch lässt sich mit Nietzsche eine sozio-psychologische Sichtweise auf Kafkas Werk vertiefen, indem ein Schritt hin zu einer metaphysischen Perspektive gemacht wird. Kafkas Literatur wird darin nicht als vermeintliche Theologie im Sinne einer modernen Kabbala11 gelesen, sondern als Ausgrabungsstätte für eine philosophische Archäologie, die die spurenhafte Wirkung von kulturellen Konzepten verdeutlicht. Mit dieser Sicht lassen sich in Kafkas düsterem Erzähluniversum zwei Leidparadigmen unterscheiden. Stellvertretend dafür können seine beide Romanhauptwerke stehen. So thematisiert Das Schloss implizit die platonische Seinsferne, die von einem melancholischen Abstand zwischen der irdischen Welt und den ewigen Guten ausgeht. Das Beste bleibt trotz aller Spuren und Annäherungsversuche unzugänglich. Die Sirenen schweigen. Den Roman Der Prozess wiederum könnte man lesen als Aktualisierung der augustinischen Erbsündenlehre – diese moralisiert Platons Abstand vom Sein – im Gewand der modernen Bürokratie. Ein unerklärliches Schuldigsein bestimmt das Leben wie eine anonyme Macht. Alle Bemühungen in einem bürokratischen Prozess Aufschluss über den Charakter dieser Schuld, Aufklärung und Gerechtigkeit zu erhalten scheitern letztlich. Die Wunde Kafka ist demnach kein Indiz für die „verwaltete Welt“ (Adorno), sondern die Spur von mächtigen metaphysischen Traditionen, die die Grundverständnisse und Stimmungen in der Moderne massiv prägen.
Folgt man dieser Lesart, so zeigt sich das von Nietzsche herausgestellte und kritisierte unnötig Masochistische eines platonisch-augustinischen Existenzialismus bei Kafka – vermutlich vor allem durch Kierkegaard vermittelt – in einer Vielzahl von Details. Etwa, wenn dem verhungernden Hungerkünstler am Ende die „Freude am Leben“ in der Gestalt eines Panthers – „dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper“ – gegenüber gestellt wird: „Ihm fehlt nichts.“12
IV. Schöne Rätselhaftigkeit
Kafkas Werke sind jedoch mehr als bloße Fußnoten zu Platon oder Augustinus. Mein Vorschlag ist es, sein literarisches Schaffen als einen impliziten Existenzialismus zu lesen, der die Kontingenz des Seins auf eine moderne Weise herausstellt.
Nietzsche hat für eine positive Konnotation der existenziellen Kontingenz die befreiende Perspektive gefunden, das Leben als ein „Experiment des Erkennenden“ zu begreifen. Das setzt aber voraus, dass man sich verabschieden lernt von den zentralen ontologischen Paradigmen der abendländischen Kultur. Es gibt kein Sein als zentrale Ursprungsmitte, das zu den Rändern hin ausstrahlt und es gibt keinen gerechtmachenden Advent13, der einmal in einer besseren Welt sein wird. Keine Geschichtsphilosophie, kein Ganz-Anderes. Das „Nichtidentische“ (Adorno) und das Gefühl der „Seinsverlassenheit“ (Heidegger) sind Chimären, die daraus entstehen, dass das Kontingente unnötig zu einer Not–Wendigkeit resubstanzialisiert wird, gegen die dann wieder ungenaue Aggressionen freigesetzt werden. Kafkas poetisches Projekt ließe sich mit Nietzsches philosophischem Projekt in der Idee einer apollinischen Verklärung verbinden:
Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch? – so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke.14
Kafkas Apollinismus ist allerdings ein latenter Apollinismus zweiter Stufe. Seine Prosa zeigt Ansätze dafür, sich auf die unlebbare Dissonanz mit der Welt durch ihre Darstellung als unlebbare Dissonanz doch noch einen minimalen Restreim zu machen. Zentral ist dafür die Explikation eines hermeneutischen Perspektivismus. In den Texten Kafkas objektiviert sich das Rätsel Welt durch scheiternde Objektivierungen der Protagonisten. Oftmals werden ganze Systematiken des Verstehens fortgeführt, deren autopoietische15 Dynamiken kontrastieren mit der Situation, auf die sie reagieren. Das Bestätigen fällt aus. Das Ganze ist das Seltsame, an dem das Reflektieren scheitert: „Try again. Fail again. Fail better.“ (Beckett) Was ist skurriler als Gregor Samsa, der zu einem „ungeheuren Ungeziefer“ mutiert, aber sich vor allem Sorgen macht um die Unannehmlichkeiten, die sein Fernbleiben bei seiner Anstellung verursachen? Dergestalt wirken Kafkas Texte wie Sagen, die mit dem Gestus des Erklärens das Unerklärliche nicht erklären. Indirekt wird so das Unheimliche zum Merkwürdigen verklärt. Eine zu unverständliche Welt wird verständlicher, indem ihr Verstehen als Unverständlich-Bleiben verstanden wird. Jeder Satz spricht aus einer Gewöhnlichkeit heraus, aber alles bleibt ungewöhnlich.
Damit wird das ewige Gespräch mit und über die Gesamträtselhaftigkeit der Welt nicht nur fortgesetzt, sondern ermöglicht, weil deren Fragwürdigkeit durch die Unzulänglichkeit des Verstehens nun stärker hervortritt. In diesen Versuchen einer impliziten Verklärung des Disharmonischen zum Enigmatischen sind Kafkas Werke kulturfunktionalistisch gesehen Darstellungen provisorischer Horizontverschmelzungsversuche. Ihre Irritationen harmonisieren, weil sie ein Verstehen veranschaulichen, das in seinem Nichtverstehen verständlich wird. Vorgeführter Irrsinn erzeugt eine Ironie zum Sinnmachen, das jedoch sein muss. Kafkas Prosa ist ein entlastendes Propädeutikum für die Dissonanz, die wir sind. Sie verklärt das Verklären. Kontingenz wird darin spürbar in der Ambivalenz einer Grundstimmung von „schöner Fremde“ (Eichendorff).
V. Die müde Wunde
Kafkas enigmatische Objektivierungen des Enigmatischen besitzen auch für Nietzsche-Leser eine kulturphilosophische Bedeutung. Auf eine vertiefende Weise loten sie den Gedanken neu aus, zum Verklären verurteilt zu sein. Darüber hinaus zeigen sie Spuren davon, was es heißt, nicht mehr von den Schatten Gottes verdunkelt zu werden. Nicht die Wunde Kafka, sondern das Rätselhafte bei Kafka stimuliert als Sensibilisierung für das von Nietzsche im Medium der Philosophie etwas zu großspurig und parolenhaft geforderte anziehende Geheimnisvollsein des Lebens. Die Explikation des Enigmatischen stimuliert eine geistige Lebendigkeit. In allem lässt sich nunmehr etwas Interessantes finden. Die Vergeblichkeit des Verstehens wertet sich um zur Lizenz zum Poetisieren. Durch Kafkas Kunst wird der Rätselcharakter der Welt als Möglichkeit eines pluralen Dabeiseins in der Ausprägung einer hermeneutischen Diversität deutlicher. Freiheit kann sein, wenn das Verstehen durch sein Scheitern zu einem Spiel wird. Gerade ohne eine Königsbotschaft sind die individualisierten Kuriere der Moderne nicht mehr elend-sinnlos ihrem Gerede von Meldungen ausgeliefert. Nicht ein Diensteid verpflichtet sie zum Leben, sondern eine gesteigerte Disponierbarkeit für die unerhörten Begebenheiten verführt zum ermunternden Erzählen von der ewigen Novelle Welt und einem Neuengagement auf ihren Bühnen.
Diese Umwertung des unheimlichen Lebensprozesses zu einer unabsehbar interessanten Rätselhaftigkeit besitzt den Effekt einer kulturtherapeutischen Peripetie16. Kafka zeigt narrativ, wovon Nietzsche philosophiert. Inmitten der Fiktionalisierung von permanenten Selbstanklagen, die von einem unverständlichen Schuldgefühl (vgl. Der Prozess) und einer paranoiden Unsicherheit (vgl. Der Bau) inspiriert werden und der latenten Ahnung eines deprimierenden unaufhebbaren Abstandes zur Erfüllung (vgl. Das Schloss), finden sich hier und da bei Kafka unkafkaeske Stellen, die emanzipatorische Veränderungen der platonisch-augustinischen Mächte andeuten. Das Selbstgefühl, ein Niemand ohne Autorität von ganz oben zu sein, wird erlöst von dem Drang nach der Erlösung durch Gnade und Anerkennung, vom heroischen Siegenwollen und Revolutionen ganz zu schweigen. Kafkaesk könnte die Kontingenz der Existenz für einen redlichen „Willen zum Lebensdienste“ (Thomas Mann) werden, dem sich das Absurde als schöne Beliebigkeit und mögliche Anfänge von Siegen über die Banalität vermittelte. Nichts muss, alles kann. Angelus Silesius’ bekannte Losung gälte es umzukehren: Mensch, werde unwesentlich. Eine Ahnung von einer übermütigen Kontingenz, die den Zufall als Quelle der Gelegenheiten ehrt, vermittelt etwa Der Ausflug ins Gebirge:
„Ich weiß nicht“, rief ich ohne Klang, „ich weiß ja nicht. Wenn niemand kommt, dann kommt eben niemand. Ich habe niemandem etwas Böses getan, niemand hat mir etwas Böses getan, niemand aber will mir helfen. Lauter niemand. Aber so ist es doch nicht. Nur dass mir niemand hilft –, sonst wäre lauter niemand hübsch. Ich würde ganz gern – warum denn nicht – einen Ausflug mit einer Gesellschaft von lauter Niemand machen. Natürlich ins Gebirge, wohin denn sonst?“17
Auch für den paranoiden Maulwurf in Kafkas Der Bau gibt es Phasen, in denen er sich von seinen unablässigen „Verteidigungsvorbereitungen“ luzide distanziert: „Bis allmählich mit völligem Erwachen die Ernüchterung kommt, ich die Übereilung kaum verstehe, tief den Frieden meines Hauses einatme, den ich selbst gestört habe, […].“18
Am deutlichsten wertet Kafka in der Parabel Prometheus die Werte des Abendlandes um. Prometheus, ein antiker Christus am Kreuz, erlebt eine Auferstehung durch die heilende Macht der Zeit, wodurch „die ganze tragische Prometheia aller Erkennenden“19 verschwindet, wie am Meeresufer eine Sandburg in den Wellen. Keine Wunde lenkt mehr ab von dem Rätsel des bloßen Seins:
Die Sage versucht das Unerklärliche zu klären; […] Von Prometheus berichten vier Sagen. Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet und die Götter schickten Adler, die von seiner immer nachwachsenden Leber fraßen. […] Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler. Die Wunde schloß sich müde. Blieb das unerklärliche Felsgebirge.20
Quellen
Adorno, Theodor W.: Aufzeichnungen zu Kafka. In: Gesammelte Werke 10/1: Kulturkritik und Gesellschaft. Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt a. M. 1977.
Kafka, Franz: Erzählungen. Stuttgart 1994.
Ders.: Tagebücher. 1910-1923. Stuttgart 1967.
Oschmann, Dirk: Skeptische Anthropologie. Kafka und Nietzsche. In: Thorsten Valk (Hg.): Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne. Berlin 2009, S.129–146.
Fußnoten
1: Analog zu dem „Jargon der Eigentlichkeit“, den Adorno bei Heidegger und seinen Epigonen herausstellte.
2: Anm. d. Red.: „Gnosis“ meint die Überzeugung, dass die Welt, in der wir leben, nicht die Schöpfung Gottes, sondern eines untergeordneten, bösartigen „Demiurgen“ ist.
3: Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, S. 255.
4: Kafka, Tagebücher, S. 402 (21.Januar 1922).
5: Ebd., S. 236 (19.November 1913).
6: Ebd. (20. November 1913).
7: Ebd. S. 404 (24. Januar 1922).
8: Anm. d. Red.: Die Einnistung der aus der befruchteten Eizelle hervorgegangenen Frühform des Embryos in die Gebärmutterschleimhaut.
9: Kafka, Erzählungen, S. 202.
10: Vgl. Oschmann, Skeptische Anthropologie. Kafka und Nietzsche, S. 129.
11: Anm. d. Red.: Mystische Tradition des Judentums.
12: Kafka, Erzählungen, S. 235.
13: Anm. d. Red: Der Begriff „Advent“ bezeichnet neben der ersten Ankunft Christi seine Wiederkunft.
14: Die Geburt der Tragödie, Abs. 25.
15: Anm. d. Red.: „Autopoiesis“ bezeichnet den Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems.
16: Anm. d. Red.: In der Literaturtheorie der Umschlagspunkt einer Handlung.
17: Kafka, Erzählungen, S. 22.
18: Ebd., S. 468.
19: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 300.
20: Kafka, Erzählungen, S. 373.
Interessante Fremde
Bemerkungen zu Kafkas Werk
Vor 100 Jahren starb Franz Kafka. Der folgende Text ist ein Aktualisierungsversuch, der sich seinem Werk mit einer von Nietzsche inspirierten sozio-psychologischen Perspektive nähert. Seine These: Kafka zeigt erzählend, wovon Nietzsche philosophiert. Michael Meyer-Albert will dafür werben, in den als düster-surreal geltenden Fiktionen eines der bedeutendsten Autoren der Moderne die Logik einer nichtnaiven Weltaufhellung zu finden: Lebensbejahung statt Suizid.
Redaktioneller Hinweis: Einige schwierige Fachbegriffe haben wir in den Fußnoten erläutert.
Kafkas und Nietzsches vor dem Staat flüchtender Mensch
Oder: Frau-Werden nach Deleuze & Guattari
Kafkas und Nietzsches vor dem Staat flüchtender Mensch
Oder: Frau-Werden nach Deleuze & Guattari


Kafka und Nietzsche eint die Auseinandersetzung mit Staat und Bürokratie. Deleuze & Guattari, deren Werke sich auf beide stützen, entwickeln eine unpolitische Antwort auf die fatale politische Situation, nämlich Verwandlungen nach Kafka, ein über sich Hinauswachsen nach Nietzsche, was man als Fluchtlinien aus einer bevormundenden Gesellschaft verstehen kann.
I. Kafka, „der größte Theoretiker der Bürokratie“
Kafka sympathisierte mit den Sozialisten. Nietzsche träumte von einer Herrschaft eines politischen Genius, den er jedoch in seiner zeitgenössischen Politik vermisste, so dass man in seinem Werk viele staatskritische Stellen findet, vor allem im Zarathustra. Just dieses Buch schätzte Kafka, über den Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem monumentalen Werk Tausend Plateaus 1980 schreiben: „Kafka ist der größte Theoretiker der Bürokratie […].“1 Das zeigt sich vor allem in seinen beiden Romanen Der Prozess und Das Schloss.
Aber Kafka ist für Deleuze & Guattari kein Kritiker der Bürokratie. Vielmehr bemerken sie 1975 in ihrem Buch über Kafka: „Was Kafka so gefährlich macht, ist gerade die Kraft seiner Nicht-Kritik.“ (S. 84)
Ihr gemeinsames Werk hat Projekt-Charakter. Es beginnt 1972 mit dem Anti-Ödipus endet 1991 mit Was ist Philosophie?, dazwischen liegt Tausend Plateaus – und eben das wichtige Buch über Kafka: Für eine kleine Literatur. Kafka spielt hier auch generell eine wichtige Rolle, wie auch Nietzsche. Sie verbinden beide als Herausforderer des modernen Staates.
Sie sind wie Nietzsche scharfe Kritiker des Staates und wie Kafka wollen sie das nicht einfach begrifflich ausbuchstabieren, sondern in der Art und Weise darstellen, wie sie selbst schreiben; vor allem die Tausend Plateaus haben etwas Kafkaeskes, beschreiben etwas äußerst Skurriles, nämlich die Herrschaft des Staates, auf skurrile Weise. Am Anfang von Kafkas Der Prozess wird die Hauptfigur K. verhaftet, weiß aber nicht warum, verliert K. dadurch seine Bodenhaftung, bestimmt er nicht mehr über sich selbst, wird somit deterritorialisiert. Jeder Mensch im modernen Staat sieht sich einer Macht gegenüber, die ihn beherrscht; er gehört sich somit nicht selbst. Im Schloss heißt es: „Es begannen die sinnlosen Bittwege zum Vorsteher, zu den Sekretären, den Advokaten, den Schreibern, meistens wurde er nicht empfangen, und wenn er durch einen Zufall doch empfangen wurde […][,] wurde er äußerst schnell abgewiesen und nie wieder empfangen.“ (S. 239)
Man kann sich dafür Erklärungen ausdenken und sich damit abfinden. Aber das, was dem Menschen geschieht, lässt sich mit solchen Erklärungen nicht verständlich machen, mögen ihm die Juristen das Recht erklären oder Politiker ihr Tun umschreiben oder Soziologen die Gesellschaft darstellen. Dass man den Staat für selbstverständlich hält, ist nicht selbstverständlich. Wie bemerkt ein Staatsvertreter zum anderen über K.: „[…], er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht, und behauptet gleichzeitig, schuldlos zu sein.“2
Andererseits wird der Mensch von den politischen und sozialen Mächten zu einem bestimmten Funktionieren genötigt, das ihm in gewisser Hinsicht Halt gibt, so dass das Leben wie gewohnt weitergeht. K. kommt im Prozess nicht ins Gefängnis, sondern wird wieder zur Arbeit in der Bank genötigt und derart reterritorialisiert.
II. „aus dem Denken eine Kriegsmaschine machen“
Kafka führt damit die Absurdität des Lebens im modernen Staat vor, dem er sich selbst ausgeliefert sieht; das man gar nicht auf den kritischen Begriff bringen kann, das man derart nicht erfasst. Allein man muss es nüchtern – kafkaesk – vorführen, was für das Recht letztlich viel entlarvender ist. Wie erläutert im Prozess ein Geistlicher: „[M]an muss nicht alles für wahr halten, man muss es nur für notwendig halten.“ (S. 160)
Nietzsche sieht das ähnlich wie Kafka: „Lieber Nichts wissen, als Vieles halb wissen! Lieber ein Narr sein auf eigne Faust, als ein Weiser nach fremdem Gutdünken!“3 Nicht die Weisheit der Experten übernehmen, die durch wissenschaftliche Erzählungen die Absurditäten moderner Staatlichkeit vergessen lassen, sondern lieber sich selbst diverse Reime auf das Absurde machen.
Gegenüber dem herrschenden bürokratischen Denken bleibt für Deleuze & Guattari nur eins, nämlich „aus dem Denken eine Kriegsmaschine machen, das ist ein eigenartiges Unternehmen, dessen genaue Verfahrensweisen man bei Nietzsche studieren kann […].“4 Denn: „Das Schlimmste aber sind die kleinen Gedanken. Wahrlich besser noch bös getan, als klein gedacht!“5 Nietzsche ist ein Skeptiker moderner Wissenschaften, die die Natur höchstens anders interpretieren, aber nicht erklären können, weil Erklärung als solche nur eine Illusion ist, indem man eine Wirkung durch etwas anderes ersetzt, die Ursache, also schlicht eine Sache durch eine andere, auch wenn man sich noch so sehr darum bemüht, Verbindendes zwischen beiden zu finden.
Nietzsche hinterfragt die vermeintlichen Gewissheiten und erschüttert damit die politischen und sozialen Verbindlichkeiten. Das bezeichnen Deleuze & Guattari als Kriegsmaschine, die sie auch bei Kafka bemerken: „Bewusst zerstört Kafka alle Metaphern, alle Symbolismen, jede Bedeutung und jede Designation“6, damit die Bedeutungen, die jeder Staat regelmäßig durchsetzt, um das Denken seiner Untertanen lenken zu können. Wie schreibt Nietzsche im Nachlass: „Die meisten Menschen spüren gelegentlich, dass sie in einem Netz von Illusionen hinleben. Wenige aber erkennen, wie weit diese Illusionen reichen.“7
Das Szenario in Kafkas Erzählungen und Romanen zeigt die Absurdität der bürokratisch beherrschten Wirklichkeit. Was ein Verbrechen ist, bestimmt das Gesetz, beispielsweise in vielen Ländern immer noch Homosexualität oder Abtreibung, die auch in Deutschland nur unter bestimmten Bedingungen straffrei bleibt – exakt die absurde Situation im Prozess: „Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war?“ (S. 165) Und die meisten Menschen erkennen das an, ob als gerecht oder als positive Rechtsetzung.
Die Hinrichtungsmaschine in der Strafkolonie schreibt dem Opfer mit Nadeln das Urteil in die Haut, das das Opfer nach Stunden anfängt auf seiner Haut als Worte zu erkennen: „Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. […] Es geschieht ja nichts weiter, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund, als horche er. […] unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden.“ (S. 108) Nietzsches Zur Genealogie der Moral liefert dazu die Vorlage: „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtniss […].“8 Dann verdanken sich die Moral wie die wissenschaftliche Erkenntnis der Gewalt.
III. Nietzsche: „es gibt kein solches Allgemeines!“
Die wissenschaftliche Erkenntnis beruht darauf, dass sie die Welt sprachlich adäquat wiedergibt, ähnlich wie ein Bild einen Sachverhalt zeigt, wobei man dabei unterstellt, dass ein Bild den Sachverhalt nicht verfremdet oder ihm womöglich erst einen Sinn verleiht. Dem widersprechen Deleuze & Guattari: „Das Denken ist wie ein Vampir, es hat kein Bild, um daraus ein Modell oder eine Kopie zu machen.“9 Die Welt lässt sich nicht einfach sprachlich erfassen. Vampire haben bekanntlich kein Spiegelbild. Ob bei Kafka oder Nietzsche, die Sprache hat den ontologischen Status eines Phantoms: Sie sagt, was ist; doch damit sagt sie nicht das, was ist, sondern immer nur, was sprachlich sein soll. Sie macht aus dem, was ist, immer etwas anderes, etwas Sprachliches.
Für Deleuze & Guattari hat Kafka selbst einen vampirischen Charakter. Sie bemerken: „Er durchwacht die Nächte und schließt sich tagsüber in seinem Büro-Sarg ein […]. Kafka-Dracula hat seine Fluchtlinie in seinem Zimmer, auf seinem Bett […].“10 Die Eingangsszene aus Der Prozess spiegelt Kafkas Lebenssituation, sich durch Lohnarbeit freie Zeit zum Schreiben zu erarbeiten. So findet das Leben in der Nacht statt, der Tag ist dagegen ein Grab.
Der Staat bestimmt das Weltbild seiner Untertanen. Also sprach Zarathustra: So „[…] ist der Staat ein Heuchelhund; […] redet er gern mit Rauch und Gebrülle, – dass er glauben mache, […] er rede aus dem Bauch der Dinge.“11 Derart gibt der Staat vor, zu wissen, wie die Dinge sind, immer schon und heute umso mehr. Und Zarathustra spricht weiter: „Denn er will durchaus das wichtigste Thier auf Erden sein, der Staat; und man glaubt’s ihm auch.“ (Ebd.) Kafka glaubt es ihm nicht, schon gar nicht, dass der Staat „aus dem Bauch der Dinge“ spricht. Vielmehr spricht er die Sprache der Bürokratie.
Deleuze & Guattari buchstabieren aus, was Nietzsche aphoristisch andeutet:
Es mag sein, dass, ob geistig oder weltlich, tyrannisch oder demokratisch, kapitalistisch oder sozialistisch, es stets nur einen Staat gegeben hat, den Heuchelhund Staat, der mit Rauch und Gebrülle redet. Nietzsche spricht aus, wie dieser […] verfährt: kraft eines beispiellosen Terrors, demgegenüber das alte System der Grausamkeit, die primitiven Formen der Dressur und der Erziehung ein Kinderspiel darstellten. […] Die Erde wird am Ende ein Irrenhaus.12
Wie dem Staat das gelingt, ohne dass es die Untertanen bemerken, beschreibt Nietzsche um die Jahreswende 1887/88: Der Staat ist die
organisirte Unmoralität […] / wie wird es erreicht, dass er eine große Menge Dinge thut, zu denen der Einzelne sich nie verstehen würde? / – durch Zerteilung der Verantwortlichkeit – des Befehlens und der Ausführung / – durch Zwischenlegung der Tugenden des Gehorsams, der Pflicht, der Vaterlands- und Fürstenliebe […] / Die Kunstgriffe, um Handlungen, Maaßregeln, Affekte zu ermöglichen, welche, individuell gemessen, nicht mehr „statthaft“ sind, – auch nicht mehr „schmackhaft“ sind […].13
Indem der Staat die Funktionen des Anführens und des Ausführens teilt, haben die Ausführenden keine Verantwortung mehr für das, was sie tun, und begehen schreckliche Taten, die sie selbst nie verantworten könnten. Im Prozess heißt es: „Durch seinen Dienst auch nur an den Eingang des Gesetzes gebunden zu sein, ist unvergleichlich mehr, als frei in der Welt zu leben. Der Mann kommt erst zum Gesetz, der Türhüter ist schon dort.“ (S. 160)
Kafka führt vor, wie es möglich ist, dass die Menschen das nicht bemerken. So schreiben Deleuze & Guattari:
Die berühmten Texte im Prozess (dazu die Erzählungen In der Strafkolonie, Beim Bau der Chinesischen Mauer usw.) präsentieren das Gesetz als reine Leerform, ohne jeden Inhalt und ohne erkennbaren Gegenstand: Es erscheint nur als Urteilsspruch, und dieser wird nur in einer Strafe erkennbar.14
Das Gesetz begegnet den Menschen nur durch seine Wirkungen. Dabei behauptet der Staat von sich, das Allgemeinwohl zu verkörpern. Wie kommentiert das Nietzsche: „‚Das Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des Einzelnen‘ . . . aber siehe da, es gibt kein solches Allgemeines!“ 15
Jedenfalls gibt es keine inhaltlichen Bestimmungen des Allgemeinwohls oder der Allgemeinheit mehr. Universalismus lässt sich nur formal bestimmen. Dazu schreiben Deleuze & Guattari: „Kant […] zufolge entspringt das Gesetz nicht mehr einem präexistenten Guten, das ihm Inhalt verliehe, sondern es ist nur noch reine Form, die das Gute als solches bestimmt: Gut ist, was das Gesetz verkündet, und zwar in denselben formalen Bedingungen, unter denen es sich selbst verkündet.“16 Kants Rechtsprinzip beruht auf der allgemeinen Geltung von Gesetzen, was nur in ihrer Form und nicht an ihrem Inhalt liegt: Gesetze müssen allgemein gelten. Was sie inhaltlich aussagen, macht sie nicht zu Gesetzen. Gehorchen muss man ihnen nämlich, weil sie Gültigkeit haben, die sich auf Gewalt stützt, nicht weil sie richtig oder gerecht sind.
Was Nietzsche dazu schreibt, kann dann auch nicht mehr verwundern: „Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ‚Ich der Staat, bin das Volk.‘“17 Damit beansprucht der Staat, das Allgemeinwohl zu vertreten. Der Staat bestimmt, was das Volk ist. Dabei behauptet er, dass das Volk kein von ihm geschaffenes und bestimmtes Konstrukt ist, sondern naturgegeben.
IV. „Substitution der Liebe durch den Liebesbrief“
Doch für die staatliche Gewalt ist dessen Maschinenwesen verantwortlich. Die Bürokratie arbeitet wie eine Maschine, an der die Menschen angeschlossen werden. Deleuze & Guattari schreiben 1975: „Was einem bei Kafka Angst (oder Freude) macht, ist […] die amerikanische Technokratie-Maschine und die sowjetische Bürokratie-Maschine und die faschistische Totalmaschinerie.“18 Der Staat und die Maschinen, auf die er sich stützt, sind die Bedrohung für den Menschen. Im Zentrum steht neben der Bürokratie das Recht, das die Menschen nicht schützt, sondern diese bedroht. Im Anti-Ödipus heißt es: „Niemand hat eindrucksvoller als Kafka dargestellt, dass dem Gesetz nichts von einer immanenten, natürlich-harmonischen Totalität anhaftet, dass es vielmehr als enthobene formale Einheit wirkt, […].“ (S. 255) Auch der Rechtstaat macht einen kafkaesken Eindruck.
Das Individuum kann sich davor eigentlich nur zurückziehen. Nietzsche hat das bereits ähnlich gesehen: „Geht eure Wege! Und lasst Volk und Völker die ihren gehn! – dunkle Wege wahrlich, auf denen auch nicht Eine Hoffnung mehr wetterleuchtet!“19 Nietzsche fordert dazu auf, sich nicht an der Politik zu beteiligen, nicht zuletzt, weil deren Wege nur kafkaesk erscheinen. Deleuze & Guattari kommentieren das:
Die etablierten Mächte haben die Erde besetzt und Volksorganisationen geschaffen. Die Massenmedien und die großen Volksorganisationen wie Parteien oder Gewerkschaften sind Reproduktionsmaschinen […]. Die etablierten Mächte haben uns in einen zugleich atomaren, kosmischen und galaktischen Kampf getrieben. Vielen Künstlern ist diese Situation schon seit langem bewusst, zum Teil schon, bevor sie wirklich da war (zum Beispiel Nietzsche).20
In der Tat sagt Nietzsche für das kommende Jahrhundert den Kampf um die Erdherrschaft voraus. Und worauf das hinausläuft, weiß schon Zarathustra: „Staat, wo der langsame Selbstmord Aller – ‚das Leben‘ heißt.“ 21 Der schnelle Selbstmord findet auf den Schlachtfeldern statt, der langsame im Kontor oder in der Familie. Kafka wird von Frauen gleichermaßen angezogen wie abgestoßen; denn er fürchtet sich vor der Familie, ist die Ehe schließlich Gesetz, ein Vertrag, der die Grundlage aller Liebesbeziehungen im 19. Jahrhundert sein soll und der doch die Lust abtötet.
So flieht Kafka vor der Institution Ehe. Deleuze & Guattari bemerken: „Substitution der Liebe durch den Liebesbrief? Deterritorialisierung der Liebe. Substitution des gefürchteten Heiratsvertrags durch einen Teufelspakt.“22 Nicht zu heiraten, lieber zu schreiben, befreit die Liebe aus den Fesseln der Familie und damit auch aus der staatlichen Zwangsorganisation, die den Menschen in die Familie einbindet. Warum weint Gregors Schwester in Die Verwandlung? „Weil er nicht aufstand und den Prokuristen nicht hereinließ, weil er in Gefahr war, den Posten zu verlieren und weil dann der Chef die Eltern mit den alten Forderungen wieder verfolgen würde?“23
In Das Urteil (1913) gehorcht der Sohn und begeht auf Geheiß des Vaters Selbstmord. Die Familie erscheint in den Werken Kafkas als Ort der Unterwerfung, des Opfers und des Leidens. Wie kann man sich dem entziehen? Indem man nicht mehr so schreibt, wie es sozial anerkannt wird, sondern so, dass die Zusammenhänge sich nur schwer erschließen lassen, weil sie so verwickelt und absurd entworfen werden, wie sich die Realität dem kühlen Blick darbietet. Das Rhizom lässt sich als Labyrinth der sprachlichen Zeichen verstehen, so dass man nicht verstanden wird, aber jemanden in ein chaotisches Textgewebe verwickelt: Kafkas Geliebte, Kafkas Leser, Kafkas Feinde, nämlich Bürokraten und Wissenschaftler. So schreiben Deleuze & Guattari: „Die Briefe sind ein Rhizom, ein Netzwerk, ein Spinngewebe. […], und seine Kraftquelle liegt weit entfernt in dem, was seine Briefe ihm zutragen. Er fürchtet nur zwei Dinge: das Kreuz der Familie und den Knoblauch der Ehe.“24 Die Einleitung zu Tausend Plateaus hat den Titel Rhizom, ein Text, der auch separat erschienen ist.
V. Kafka: „Das Gericht will nichts von dir“
Auch Zarathustra propagiert den Menschen jenseits des Staates und damit auch jenseits der Familie, in denen er immer nur dienendes Rädchen im Getriebe ist, das sich auswechseln lässt. In Die Verwandlung stellt sich heraus, dass die Eltern vom Sohn gar nicht so abhängig sind, wie sie ihm vorgaukelten, um ihn zu fleißiger Arbeit zu motivieren. Der Übermensch entsteht nicht im Staat und nicht in der Familie. Nietzsche proklamiert:
Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise. Dort wo der Staat aufhört, – so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen?25
In der Gemeinschaft, und sei es nur die der Konzertbesucher, ist der Mensch nur Nächster, nicht einmalig und nicht unersetzbar, sondern einer unter vielen.
Wie gelangt man dorthin, wo man Mensch ist? Durch eine experimentelle Philosophie, wie diejenige Nietzsches, und dadurch, dass man sich mit Kafka verwandelt, nämlich Tier wird. Mensch sein bzw. Untertan sein, ist nicht ersprießlich. Deleuze & Guattari schreiben:
Wir glauben nur, dass Kafka Experimente protokolliert, dass er nur Erfahrungen berichtet, ohne sie zu deuten, ohne ihrer Bedeutung nachzugehen […]. Ein Mensch, der schreibt, ist niemals „nur ein Schriftsteller“: Er ist ein politischer Mensch, und er ist ein Maschinenmensch, und er ist ein experimentierender Mensch (der aufhört, Mensch zu sein, um versuchsweise Affe zu werden, oder Käfer, Hund, Maus, irgendein Tier […]).26
Gregor entzieht sich der Familie und der Arbeit, indem er sich in einen Käfer verwandelt. Er macht aus sich etwas anderes als das, was der Staat von ihm verlangt. Er übersteigt sich, indem er Chaos verbreitet, wie es Nietzsche fordert:
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren! Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.27
Kafka hat noch Chaos in sich, indem er kein Kritiker des Staates ist, sondern schlicht Berichterstatter, der nüchtern festhält, wie er auf die Menschen wirkt, welche Gedanken sich K. im Prozess oder Gregor in der Verwandlung macht. Die Verwandlung, das Tier-Werden ist für Deleuze & Guattari eine Flucht aus den sozialen Verhältnissen, ein politischer Akt, wenn Politik nur noch den Sinn hat, die Interessen des Staates durchzusetzen, wenn das aber keinen Sinn für den Menschen hat. Deleuze & Guattari begreifen Kafkas Schriften als eine politische Antwort: „Das Wesentliche am Tier ist für Kafka der Ausweg, die Fluchtlinie, auch ohne sich von der Stelle zu rühren, selbst wenn man im Käfig bleibt. Nicht die Freiheit, sondern ein Ausweg. Nicht ein Angriff, sondern eine lebendige Fluchtlinie.“28
Nietzsche hat diese Sachlage antizipiert: „Oh meine Brüder, ist jetzt nicht Alles im Flusse? Sind nicht alle Geländer und Stege in’s Wasser gefallen? Wer hielte sich noch an ‚Gut‘ und ‚Böse‘?“29 Es gibt keine obersten ethischen Werte mehr, nur noch solche die der Staat und das Gesetz erlassen, wodurch für die Menschen eine Situation entsteht, aus der sie nur fliehen können, und zwar dadurch, dass sie sich in Tiere verwandeln, weil die Menschen unter der Regie des Staates ja keine Menschen sind, die mit Nietzsche noch wesentlich wären. Sie sind unwesentlich, so dass man anders als sie werden muss.
Da bietet sich das Tier-Werden als Fluchtlinie an. Deleuze & Guattari schreiben:
Das Tier-Werden ist eine bewegungslose Wanderung auf der Stelle, die sich nur in Intensität erleben und begreifen lässt […]. Das Tier-Werden hat nichts Metaphorisches an sich. Es ist kein Symbolismus und keine Allegorie.30
Insofern hat es weder eine bürokratische noch eine wissenschaftliche Wahrheit. Nein, so etwas hat es doch nie gegeben! Oder Kafka beschreibt, was alltäglich der Fall ist, wenn die Menschen entweder krank oder verrückt werden, wie es Deleuze & Guattari in ihrem Projekt Kapitalismus und Schizophrenie vorführen. Verrückt-Werden erscheint als eine ähnliche Fluchtlinie wie Tier-Werden.
Es war die Zeit, als die zweite Frauenbewegung Fahrt aufnahm. Statt Tier-Werden besteht die Möglichkeit des Frau-Werdens, das für Kafka in Das Schloss eine andere Perspektive entwickelt. Deleuze & Guattari schreiben:
Alle gemeinsam bezeugen in ihrem Verlangen – in dem, das sie selber erfüllt, und in dem, das sie bei anderen wecken – die tiefe Identität von Justiz, Verlangen und junger Frau oder Mädchen. Das junge Mädchen gleicht dem Gericht: Es ist prinzipienlos, reiner Zufall. „Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst“[31]. Im Dorf unterm Schloss geht die Redensart: „Amtliche Entscheidungen sind scheu wie junge Mädchen“.32
Die Justiz ist unberechenbar wie kapriziöse junge Frauen, die sich ihren Verehrern notorisch entziehen, diesen ständig Schwierigkeiten bereiten.
Doch Deleuze & Guattari erkennen darin eine Fluchtlinie für Männer, das Frau-Werden, schon in der Zeit der bürgerlichen Frauenbewegung. Den männlichsten Literaten wie D. H. Lawrence oder Henry Miller attestieren sie just eine solche Neigung. Politik heißt dann nicht mehr Parteipolitik, auch nicht Bürgerprotest, sondern Fluchtlinien aus solchen Organisationen und sich verwandeln, um Verwirrung zu stiften: Frau-Werden! Oder heißt das Mensch-Werden, wenn aus feministischer Perspektive die Menschlichkeit eher von Frauen verkörpert wird als von Männern? Dafür spricht jenseits aller Kritik am Patriarchat, dass die Frauen die Kinder in die Welt setzen. Wenn Frauen liebesfähiger als Männer sind, sollten daher letztere ersteren nacheifern? Würde das Männer verwandeln?
Quellen
Deleuze, Gilles & Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie Bd. 1 (1972). Frankfurt a. M. 1979.
Dies.: Kafka. Für eine kleine Literatur (1975). Frankfurt a. M. 2019.
Dies.: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus (1980). Berlin 1992.
Kafka, Franz: Das Schloss (1926). Berlin 2010.
Ders.: Der Prozess (1925). Frankfurt a. M. 1960.
Ders.: Die Verwandlung (1915). Sämtliche Erzählungen, Frankfurt a. M. 1970.
Ders.: In der Strafkolonie (1919). In: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt a. M. 1970.
Fußnoten
1: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus, S. 291.
2: Kafka, Der Prozess, S. 11.
3: Also sprach Zarathustra, Der Blutegel.
4: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus. S. 518.
5: Also sprach Zarathustra, Von den Mitleidigen.
6: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 32.
7: Nachgelassene Fragmente 1870 5[33].
8: Zur Genealogie der Moral, Abs. II, 3.
9: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus, S. 519.
10: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 42.
11: Also sprach Zarathustra, Von den grossen Ereignissen.
12: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus, S. 247.
13: Nachgelassene Fragmente 1887 11[407].
14: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 60.
15: Nachgelassene Fragmente 1887 11[99].
16: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 60.
17: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.
18: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 18.
19: Also sprach Zarathustra, Tafeln, 21.
20: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus. S. 471.
21: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.
22: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 41.
23: Kafka, Die Verwandlung, S. 62.
24: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 42.
25: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.
26: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 12.
27: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 5.
28: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 49.
29: Also sprach Zarathustra, Tafeln, 8.
30: Deleuze & Guattari, Kafka. S. 50.
31: Kafka, Der Prozess, S. 161.
32: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 88.
Kafkas und Nietzsches vor dem Staat flüchtender Mensch
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Nietzsche im Kreuzfeuer des Kulturkampfs
Zwei aktuelle Perspektiven im Vergleich
Nietzsche im Kreuzfeuer des Kulturkampfs
Zwei aktuelle Perspektiven im Vergleich


Dass Nietzsche in seiner Wirkungsgeschichte quer durch alle politischen Lager hindurch gelesen und vereinnahmt wurde, ist hinreichend bekannt. Doch wie steht es mit unserer Gegenwart? Paul Stephan untersucht die Schriften von zwei Autoren, die in etwa so alt sind wie er selbst, Mitte/Ende 30, und deren Blickwinkel auf Nietzsche unterschiedlicher kaum sein könnte: Während der französische Publizist und Youtuber Julien Rochedy Nietzsche zum Vordenker eines rechten Kulturkampfs erklärt, bringt ihn der deutsche Philosoph und Politikwissenschaftler Karsten Schubert für eine linke Identitätspolitik in Anschlag. Unseren Autoren überzeugen beide Positionen nicht so recht, sie bewegen sich vielmehr ganz im Rahmen der herrschenden Simulation von Politik als Kulturkampf, der es die Besinnung auf die wirklich drängenden Lebensprobleme der gegenwärtigen Menschheit entgegenzusetzen gälte.
Zusammenfassung
Nietzsche verortete sich selbst in äußerst vielfältiger und widersprüchlicher Weise zu politischen Fragen. Es ist daher kein Wunder, dass sein Denken in der Folge von den unterschiedlichsten politischen Fraktionen vereinnahmt wurde, von Anarchisten bis hin zu Nazis. Daran hat sich bis heute wenig geändert, wie zwei kürzlich erschienene Publikationen unterstreichen: Nietzsche – der Zeitgemäße von Julien Rochedy (2020/2022) und Lob der Identitätspolitik von Karsten Schubert (2024). Während der ehemalige Front-National-Politiker und Publizist Rochedy in Nietzsche einen politisch unkorrekten Kritiker der linken Identitätspolitik und einen Vordenker der rechten erblickt, versteht ihn der erklärte „Linksnietzscheaner“ Schubert genau als einen Inspirator einer linken. Beide eint bemerkenswerterweise ihre starke Bezugnahme auf den späten Nietzsche und seine machttheoretische Analyse des Dualismus von „Herren-“ und „Sklavenmoral“ in der Genealogie der Moral, aus der allerdings vollkommen unterschiedliche Konsequenzen ziehen: Rochedy plädiert für eine neue Herrenmoral, Schubert gibt die Kritik an der Sklavenmoral preis.
Ausgehend von seiner eigenen Studie Links–Nietzscheanismus. Eine Einführung (2020), in der er selbst für einen linken Nietzscheanismus plädiert, vergleicht Paul Stephan diese beiden Ansätze und zeigt ihre jeweiligen Schwächen auf. Rochedy gelingt es trotz aller Bemühungen nicht, sich hinreichend vom historischen Faschismus und der Konservativen Revolution als dessen intellektuelle Avantgarde zu distanzieren, er bleibt vollends in einer partikularistischen Position verhaftet. Schuberts Gegenentwurf eines „partikularistischen Universalismus“ krankt indes daran, dass er zum rechten Partikularismus keine wirklich radikale Alternative aufzuzeigen vermag. Er verbleibt in derselben Logik identitätspolitischer Kulturkämpfe, der Simulation von Politik als Spektakel der Symbole, an der unsere Gegenwart krankt. Zeitgenössischer Rechts- wie Linksnietzscheanismus erweisen sich als unfähig, eine radikale Alternative zum bestehenden globalen Kapitalismus aufzuzeigen und die wesentlichen Zukunftsfragen der Menschheit auch nur zu stellen. Sie bleiben so hinter dem Niveau von Nietzsches „großer Politik“ am „Leitfaden des Leibes“ zurück. Politischer Realismus heißt heute, utopisch zu fühlen, zu handeln und zu denken und nicht, sich an der „ewigen Wiederkunft“ von „Herren-“ und „Sklavenmoral“ zu beteiligen.
Kompletter Artikel
I. Nietzsche zwischen den Stühlen der politischen Moderne
Nietzsche versucht in seinen Schriften bekanntlich, eine un-, ja, antipolitische Position einzunehmen. Egal ob Konservative, Sozialisten, Feministinnen, Liberale, Nationalisten, Antisemiten … alle bekommen gleichermaßen ihr Fett weg und werden als Opfer der „modernen Ideen“1 gebrandmarkt. Dies hält ihn allerdings nicht davon ab, immer wieder positive Vorschläge zur Lösung der drängenden politischen Fragen seiner Zeit zu unterbreiten oder wenigstens Ansätze politischer Utopien zu skizzieren, die allerdings vage und mithin in ihrem politischen Gehalt uneindeutig bleiben: vom „Übermenschen“ über wilde Phantasien von neuen sozialen Hierarchien, „einer neuen Sklaverei“2, bis hin zur Verklärung der polnischen Adelsrepublik der frühen Neuzeit zum anarchischen Idealstaat.3 Nietzsche wird so paradoxerweise für nahezu alle politischen Ideologien der Moderne höchst anschlussfähig: Weil er sich von allen gleichermaßen distanziert, projizieren alle ihre eigenen Vorstellungen in ihn. Man muss an eine begehrte – oder besser: sich begehrt machende – Frau denken; oder in den Worten, die Nietzsche der femininen Figur des „Lebens“ in den Mund legt: „[I]hr Männer beschenkt uns stets mit den eignen Tugenden – ach, ihr Tugendhaften!“4 Nietzsche als Verführer.
In jüngster Zeit dominiert die breite Debatte ein relativ „gemäßigtes“ Bild von Nietzsche als Individualisten und Kritiker aller Ideologien – was ihn allerdings auch wieder sehr dem gegenwärtigen postmodernen Zeitgeist anpasst, der die „großen Erzählungen“, von denen Jean-François Lyotard schon 1979 sprach,5 für abgeschafft erklärt und es lieber bei pragmatischer Realpolitik im Namen möglichst unverbindlicher Werte belässt. Nietzsche als „zahmes und civilisirtes Thier, […] Hausthier“6 des linksliberalen Mainstreams. Aus dem „Unzeitgemäßen“ von einst wurde der Zeitgemäße von heute.
Spannender – und womöglich: näher an Nietzsches eigenen Intentionen – ist es dagegen, Nietzsche für radikale politische Projekte in Anschlag zu bringen, die sich genau gegen diesen Mainstream wenden. Wie plausibel ist das? Welches Potential lässt sich Nietzsches Schriften in dieser Hinsicht entnehmen? Und führt uns Nietzsche in dieser Hinsicht eher nach rechts oder nach links?
Ich selbst habe 2020 ein zweibändiges Buch mit dem bescheidenen Titel Links–Nietzscheanismus. Eine Einführung publiziert, dass genau solche Fragen anhand einer Untersuchung von Nietzsches eigenen Schriften (Band 1) und seiner, rechten wie linken, Wirkungsgeschichte (Band 2) zu beantworten sucht. Dort halte ich mich mit einer eindeutigen Verortung Nietzsches eher zurück, doch verweise auf die Potentiale, die er für eine linke Theorie und Praxis der Gegenwart heute haben könnte, etwa in seinem Plädoyer für einen heroischen Individualismus, in seiner Akzentuierung der Leiblichkeit und der Naturabhängigkeit des Menschen, in seiner Kritik eines ressentimenthaften, kleingeistigen Linksseins in Gestalt der „Sklavenmoral“, in seiner Ermunterung zu Aufbruch und utopischem Denken (Stichwort: „Übermensch“), in seiner scharfen Diagnose des Nihilismus der modernen Kultur, in seiner Wertschätzung authentischer Leidenschaftlichkeit und unbekümmerter Kreativität. Und vieles weitere. „Links–Nietzscheanismus“ kann für mich keine Ideologie sein – daher auch der Gedankenstrich –, sondern eher eine Haltung, die Individualismus und Freigeistigkeit mit dem Kampf für universelle Werte – den Nietzsche oftmals, wenn auch nicht immer, ablehnt – verbindet („Universalismus“ – das heißt für mich im Kern: Links-Sein7). Eine Haltung, die, wie die Geschichte des Links–Nietzscheanismus zeigt, zu den unterschiedlichsten praktischen und theoretischen Konsequenzen führen kann, sei es in Gestalt der anarchistischen Ansätze Gustav Landauers und Emma Goldmans, des nietzscheanischen Marxismus Ernst Blochs und der Frankfurter Schule oder dem „Links-Dionysmus“ Georges Batailles und der Surrealisten. Zentral ist jedenfalls der Individualismus der links–nietzscheanischen Akteurinnen und Akteure, ihr Streben nach der Verbindung von individueller und kollektiver Befreiung, das sie immer wieder in Konflikt mit dem Mainstream der linken Parteien und Institutionen brachte.
In der Zwischenzeit sind zwei bemerkenswerte weitere Schriften zu derselben Thematik erschienen. Uns verbindet, dass wir in etwa derselben Generation angehören, auch wenn unser Werdegang ein sehr unterschiedlicher ist, und uns dieselbe Frage stellen: Was folgt in der heutigen gesellschaftlichen Situation aus Nietzsches Philosophie für die politische Theorie und Praxis? Und uns eint, dass wir uns um Antworten bemühen, die vom genannten linksliberalen Mainstream abweichen. Doch da hört die Gemeinsamkeit schon auf. Karsten Schubert fordert in seinem jüngst erschienen Buch Lob der Identitätspolitik auf der Basis seiner zahlreichen in den letzten Jahren zu diesem Themenfeld publizierten Artikel8 aus seinem „Linksnietzscheanismus“ (ohne Strich) heraus genau eine Parteinahme für das, was ich, jedenfalls in Teilen, als „Ressentiment-Linke“ bezeichnen würde. Für den französischen Publizisten, Julien Rochedy, zeitweise führendes Mitglied in der Jugendorganisation des Front National, ist in seinem Buch Nietzsche – der Zeitgemäße, erschienen im französischen Original schon 2020 und 2022 ins Deutsche übersetzt, klar, dass Nietzsche ein Rechter war und mithin ein Vordenker einer „Identitätspolitik“ ganz anderer Art.
II. Ein neuer rechtsradikaler Nietzsche aus Frankreich
Rochedys Buch ist eine recht kompakte Einführung in Nietzsches Denken, eine populärphilosophische Schrift, die weitgehend ohne Quellennachweise auskommt und an einigen Stellen auch sachliche Fehler enthält.9 Sie basiert auf dem dreistündigen Vortrag Nietzsche : vie et philosophie, den Rochedy 2019 auf YouTube hielt und der 1,5 Millionen Zuschauer erreichte (Link). Man sieht: Der ehemalige führende FN-Funktionär, der generell sehr stark auf den sozialen Medien präsent ist und in der Zwischenzeit weitere Bücher publizierte, ist kein intellektueller Einzelgänger, sondern im Milieu der jungen radikalen Rechten eine populäre und einflussreiche Gestalt, dessen Thesen man schon allein aus diesem Grund unbedingt zur Kenntnis nehmen sollte, selbst wenn man mit ihnen nicht einverstanden ist.
Das Buch liest sich flott und ist mitreißend geschrieben, zumal Rochedy immer wieder Anekdoten aus seinem Leben und starke Aussagen zu aktuellen Fragen einflicht. Er erzählt die wichtigsten Stationen in Nietzsches Leben nach und referiert den Inhalt seiner Schriften. Auffällig ist allerdings, dass er, von der Geburt der Tragödie abgesehen, die Schriften bis zur Fröhlichen Wissenschaft nur beiläufig streift. Mit dem dionysischen Ästhetizismus des Erstlingswerks kann er wohl noch etwas anfangen, doch wenig mit den Unzeitgemäßen Betrachtungen und mit dem aufklärerischen Pathos der drei ersten Aphorismenbände10, sie passen nicht recht in sein Nietzsche-Bild. So behauptet er sogar, Nietzsches Widmung des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches an Voltaire sei ironisch gemeint gewesen,11 die Unzeitgemäßen Betrachtungen tut er als „verfrühte Betrachtungen“ (S. 35) ab, die „fest im zeitlichen Kontext fußen und alles andere als ‚zeitlos‘ sind“ (ebd.). So richtig interessant wird Nietzsche für Rochedy erst ab der Fröhlichen Wissenschaft und vor allem in seinem Spätwerk, zu dem er dezidiert auch die von Nietzsches Schwester und ihren Mitarbeitern edierte umstrittene Collage Der Wille zur Macht zählt. Dieses sei Nietzsches, wenn auch „unvollendetes“, „Hauptwerk“ (S. 65), dem Rochedy eine „Metaphysik des Willens zur Macht“ (S. 68) entnimmt.12 Besonders ausführlich referiert er zudem die Kernthesen der Genealogie der Moral.
Rochedys Leitgedanke: Man soll den „Willen zur Macht“ als wesentliches Grundprinzip allen Seins anerkennen und auf dieser Grundlage eine machtbejahende Lebenshaltung entwickeln. „Antirassismus, Feminismus, Progressivismus und Sozialismus“ (S. 97) sind für ihn nichts weiter als „Degeneration[en] und Perversion[en]“ (S. 74) desselben, Ideologien, die eine herrschaftsfreie Gesellschaft zwar versprächen, aber notwendig stets neue Hierarchie einführen müssten. Er folgert daraus: Weg mit der Heuchelei – und fordert ein neues europäisches Machtbewusstsein, eine Ethik der Männlichkeit und Stärke, um den umliegenden Großmächten etwas entgegensetzen zu können und der „Dekadenz“ im Inneren zu entkommen.
Rochedy knüpft damit dezidiert an die Nietzsche-Interpretation der „Konservativen Revolution“ an, zu der rechte Intellektuelle gezählt werden, die während der Weimarer Republik bereits mit ähnlichen Argumenten gegen dieselbe gehetzt haben und mal mehr mal weniger offen für einen faschistischen Sturz der verhassten Demokratie eintraten wie Julius Evola, Martin Heidegger oder Ernst Jünger. Doch es finden sich auch deutliche Anspielungen auf Thomas Manns nationalistische Schriften während des Ersten Weltkriegs, Alfred Baeumler und nicht zuletzt Oswald Spengler, der ähnlich wie Rochedy den „Untergang des Abendlands“ prophezeite, wenn es nicht zu einer „lebensbejahenden“ Renaissance der „Herrenmoral“ käme13.
Freilich bemüht sich Rochedy um eine Distanzierung von der „alten Rechten“. Er wirbt für ein geeintes Europa – freilich in entschiedener Abgrenzung vom „dekadenten“ Projekt der EU – und kritisiert Imperialismus und Militarismus, spricht sogar von der „absurde[n] Gewalt in zwei Weltkriegen“ (S. 111). Rochedy möchte eine Alternative zum Kommunismus bzw. der linken Ideologie allgemein aufzeigen, aber auch zur Postmoderne, ohne darum eine faschistische Position zu vertreten.
Allerdings fällt diese Abgrenzung zum historischen Faschismus angesichts der offenkundigen ideologischen Nähe zu ihm eher halbherzig aus. Wie will Rochedy ihn auch kritisieren, wenn er alle Werte der Moderne – Menschenrechte, Demokratie, soziale Gerechtigkeit etc. – als Dekadenzphänomene und Auswüchse der „Sklavenmoral“ zurückweist? Er träumt von genau derselben Eruption der von der Zivilisation gebändigten Gewalt und archaischen Männlichkeit. Im „neuen Europa“ sollen eindeutig weiße heterosexuelle Männer an der Spitze stehen und allen anderen ein allenfalls inferiorer Status zugebilligt werden. Und wenn man dann Sätze liest wie „Ist […] ein sauber ausgeführter Uppercut an das Kinn des Gegners zwingend weniger ‚klug‘ als das verbale Gegenargument?“ (S. 154), kommen wirklich Zweifel an dem bürgerlich-seriösen Image auf, um das sich Rochedy in seiner öffentlichen Selbstdarstellung sichtlich bemüht. Sein „neues Europa“ muss man sich wohl als Kopie von Putins Russland vorstellen, eine autoritär gelenkte Demokratie, in der vielleicht basale Bürgerrechte – zumindest solche, die der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ökonomie dienen – und formal sogar demokratische Institutionen fortbestehen, in der jedoch in Wahrheit alles dafür getan wird, um eine kleine Elite von „Herrenmenschen“ an der Macht zu halten.
III. Nietzsche als Vordenker der linken Identitätspolitik
Es überrascht wenig, dass die linke Identitätspolitik und alles, was damit verbunden ist – political correctness, wokeness, cancel culture etc. – Rochedy ein besonderer Dorn im Auge ist. Nietzsche ist für ihn ein politisch Unkorrekter par excellence, dessen „Zeitgemäßheit“ sich gerade daraus ergibt, uns dabei zu helfen, uns gegen diese Ideologie zu immunisieren und eine entschlossene Gegenwehr zu organisieren. Ein von Rochedy immer wieder bedientes Feindbild ist dabei die gegenwärtige intellektuelle linksliberale postmoderne Elite, über deren vermeintliche Leibfeindlichkeit und körperliche Verwahrlosung er sich immer wieder lustig macht, wenn er etwa schreibt:
Heutzutage würden Typen wie Platon [der ein breitschultriger Athlet gewesen sein soll; PS] in Saint-Germain-des-Prés, an der Sciences Po oder in der Umgebung der Rue d’Ulm in Paris zweifellos mit abschätzigen Blicken bedacht, denn niemand vermag mehr zu glauben, dass die Gestalt eines Boxers aufgeklärter und klüger sein könnte als ein schmächtiger Soziologe oder schlabbriger Journalist mit Eierkopf.14
Spricht aus solchen Sätzen nicht selbst das Ressentiment? – Und dies ist nur eines von zahlreichen Beispielen für verbale Provokationen in Rochedys Buch.
Der promovierte Philosoph und Politologe Karsten Schubert dürfte Rochedy jedenfalls als mustergültiger Angehöriger dieser „Elite“ erscheinen (womit natürlich nicht gesagt werden soll, dass ich mich hier Rochedys Polemik auch nur im Ansatz anschließen möchte!15). Er hat bislang eine solide akademische Karriere hingelegt, arbeitet derzeit als assoziierter Forscher an der HU Berlin und dies mit dezidiert linken Positionen. Sein neustes Buch Lob der Identitätspolitik liest sich in jedweder Hinsicht als ein diametraler Gegenentwurf zu Rochedys Thesen.
Es fängt schon mit der Form an: Schuberts Buch ist recht trocken geschrieben. Es geht ihm nicht darum, den Leser mit Witz und Polemik mitzureißen, sondern mit guten Argumenten zu überzeugen. Schubert bemüht sich redlich um eine nüchterne Argumentation und verwendet in dem Buch viel Raum darauf, seine Begriffe klar zu definieren und die Positionen seiner Gegner fair wiederzugeben. Die Zielgruppe des Buches ist offenkundig ein akademisch gebildetes Publikum. Seine Laudatio fällt überraschend leidenschaftslos aus. Muss sich Rochedy den Vorwurf der Unsachlichkeit gefallen lassen, krankt Schuberts Monographie eher umgekehrt daran, durch ihren akademischen Stil vielfach allzu belehrend daherzukommen und ihren Zweck der Überzeugung so zu verfehlen.
Die Pointe von Schuberts Buch ist es nun, dass er zahlreiche auch von Rochedy dargelegten rechtsnietzscheanischen Argumenten aufgreift und sie in seiner Studie auch ausführlich referiert. Er wendet sie allerdings im Sinne eines erklärten „Linksnietzscheanismus“: Er stimmt der nietzscheanischen Kritik am Universalismus der Moderne partiell zu und bezieht sich ausgerechnet ebenso wie Rochedy vor allem auf die Genealogie der Moral und die machttheoretischen Überlegungen des späten Nietzsches – freilich stets aus der Brille Michel Foucaults, seines wohl wichtigsten Vordenkers, betrachtet –, doch greift diese Gedanken auf, um für eine Neubestimmung des Universalismus zu werben. Der klassische Universalismus der Aufklärungsphilosophie und des Liberalismus sei in der Tat zu blind für Machtbeziehungen und für die partikularen Standpunkte der Individuen gewesen. Diese Beschränktheit möchte Schubert nun durch einen „partikularistischen Universalismus“ überwinden, in dem es darum geht, den klassischen Universalismus zu „erden“, indem man immer wieder hinterfragt, inwiefern er seinem Anspruch wirklich gerecht wird und nicht in Wahrheit nur die bestehenden Privilegien machtvoller Gruppen unterstützt. Schubert gibt offen zu, dass es sich bei diesem „Linksnietzscheanismus“, im Gegensatz zum Rechtsnietzscheanismus, um eine eher lose Anknüpfung an Nietzsche handelt, ausgehend von den Klassikern der poststrukturalistischen Theorie.16
„Identitätspolitik“ bezeichnet für Schubert diesem Verständnis folgend das kontinuierliche und im Grunde unabschließbare Bemühen um die „Demokratisierung der Demokratie“. Immer neue unterdrückte Gruppen sollen im Sinne einer „radikalen Demokratietheorie“ ihren fairen Anteil am demokratischen Diskurs erhalten und so zu einer stetigen Transformation der demokratischen Institutionen beitragen, die immer inklusiver werden sollen. „Identitätspolitik“ ist also für Schubert durchaus der partikulare Kampf von bestimmten sozialen Gruppen (Frauen, Homosexuelle, Schwarze, queers etc.) um mehr demokratische Mitsprache und kulturelle Anerkennung, doch da es sich um die vom herrschenden Diskurs bislang vernachlässigten Gruppen handelt, ist in diesem Fall der partikulare Kampf zugleich universell. Für Schubert ist damit zugleich nicht jede Interessenpolitik gleich gut, er unterscheidet zwischen einer regressiven „Interessenpolitik“, die dem Ausbau und Erhalt der eigenen Privilegien dient – darunter würde auch die von Rochedy angestrebte Renaissance der „Herrenmoral“ fallen – und einer wahrhaften progressiven „Identitätspolitik“, die sich damit zugleich bestimmten normativen Maßstäben unterwirft, was ihre Ausgestaltung und ihre Strategie betrifft. Schubert möchte der realexistierenden Identitätspolitik mit seinem „Lob“ also dezidiert keine „carte blanche“ (S. 167) ausstellen, sondern vielmehr Kriterien entwickeln, wie sie ausgehend von ihrem eigenen Anspruch von innen heraus kritisiert werden kann – wobei zugleich klar ist, dass Schubert die meisten Formen realexistierender Identitätspolitik, inklusive Sprachregelungen (political correctness), cancel culture und anderen oft kritisierten Problemfeldern, gutheißt.
Gegen eine moralische Kritik an der so verstandenen Identitätspolitik führt Schubert genau ins Feld, dass die Identitätspolitik letztendlich einerseits eben doch moralischen Zwecken diene, andererseits jedoch eine entschlossene Machtpolitik nun einmal nötig sei, um die Anliegen der marginalisierten Gruppen auch gegen den Willen einer privilegierten Mehrheit durchzusetzen. Er macht dabei keinen Hehl daraus, dass Identitätspolitik in vielen Fällen bedeutet, dass Angehörigen von privilegierten Gruppen etwas weggenommen wird – doch dies sei eben im Sinne des Ziels der „Demokratisierung der Demokratie“ notwendig, um die viel schwerwiegendere Unterdrückung der benachteiligten Gruppen zu überwinden. Dass Identitätspolitik darum notwendig teils wütende Abwehrreaktionen, „Ressentiment“, der Privilegierten provozieren muss, reflektiert Schubert sehr klar.
Was Schubert in diesem Zuge erklärtermaßen aufgibt, ist die Kritik der „Sklavenmoral“, die für ihn auf einem falschen naturalistischen Verständnis von „Stärke“ und „Schwäche“ basiere und nur dazu diene, die Privilegien der Privilegierten zu legitimieren. Dasjenige, was Nietzsche „Sklavenmoral“ nennt, sei eigentlich kein Problem, sondern „bildet tatsächlich den generellen Kern des Politischen“ (S. 72). Es gebe in Wahrheit weder lebensbejahende Herren auf der einen noch lebensverneinende Sklaven auf der anderen Seite, sondern einfach nur nüchtern zu betrachtende Machtkonstellationen, auf deren Veränderung im Sinne einer vertieften Demokratie es ankomme – und wo gehobelt wird, fallen nun einmal Späne.
IV. Jenseits von korrekt und unkorrekt
Schuberts und Rochedys Herangehensweise an Nietzsche ähnelt sich in bemerkenswerter Weise. Sie interpretieren zunächst beide Nietzsche im Kern als Theoretiker der Macht, ausgehend vor allem von den Analysen des Spätwerks und nicht zuletzt der Genealogie der Moral. Gegen den Moralismus des Mainstreams und dessen durchschaute Illusionen plädieren sie für einen entschlossenen Machtkampf, um die eigene Identität zu pushen: Hier das weiße „Abendland“ mit klar definierten geschlechtlichen Rollenbildern, dort das „queere“ Anderssein. Freilich gibt es einen zentralen Unterschied: Schubert hält am Universalismus, am linken Projekt, dezidiert fest, Rochedy möchte von all dem nichts wissen. In Schuberts Analyse betreibt er eine regressive Interessen-, keine emanzipatorische Identitätspolitik.
So unterschiedlich, ja: entgegengesetzt, diese Sichtweisen auch sind, sie fußen doch auf einer geteilten Erfahrung, die ohne Zweifel auch diejenige des späten Nietzsche ist: die Entwertung aller Werte in einer als nihilistisch durchschauten Realität, vor deren Hintergrund die offiziellen Moralismen als Heuchelei erscheinen. Freilich ziehen dabei, auch darin mit Nietzsche einig, weder Schubert noch Rochedy daraus die Konsequenz des Zynismus: Sie wollen vielmehr beide an Werten festhalten, in dem einen Fall dezidiert partikularistische, in dem anderen Fall universalistische. Auch die „Herrenmoral“ ist eben eine Moral. In dieser allgemeinen Grundhaltung beanspruchen wohl beide zu Recht den Titel „Nietzscheaner“ und verleihen einem Lebensgefühl Ausdruck, das weit verbreitet sein dürfte. Ein Gefühl der Orientierungslosigkeit und der Suche nach neuer Orientierung – die aus der Sicht beider nur durch die Unterwerfung unter eine kollektive Ideologie gelingen kann und durch dem Teilhaben an einer Gemeinschaft. Den modischen Individualismus unserer Zeit und die entsprechenden Nietzsche-Ratgeber für den Hausgebrauch lehnen beide gleichermaßen ab.
Was ich nun selbst in meinem erwähnten Buch entwerfe, erscheint mir eine qualitativ verschiedene Alternative zu diesen beiden Ansätzen zu sein. Sowohl Schubert als auch Rochedy bewegen sich vollkommen im Denkkosmos des späten Nietzsche und seiner – wie experimentell und perspektivisch auch immer gebrochenen – Metaphysik der Macht. Beide bewegen sich realitätsnah in den Bahnen der bestehenden Gesellschaft, deren adäquater ideologischer Ausdruck diese Metaphysik ist. Sie vollziehen die ewige Wiederkehr des Kampfes von „Herrenmoral“ und „Sklavenmoral“. Ihr Kampf zielt letztendlich darauf ab, innerhalb des bestehenden Systems für die „eigenen Leute“ eine bessere Position innerhalb der Hierarchie klarzumachen: hier die anständigen europäischen Jungs und Mädels, dort die kosmopolitischen queers. Doch sind das nicht alles ausgetretene Pfade, role models, die uns von der Kulturindustrie selbst nahegelegt werden? Der woke Intellektuelle und der „mutige“ politisch Unkorrekte als Scheinkontrahenten, deren Spiegelfechtereien man nur entkommt, indem man den Kampf in eine ganz anders geartete Arena versetzt.
Was sowohl Schubert als auch Rochedy abgeht, ist die Einsicht in die ökonomischen Wurzeln der Entfremdung, mit einem Wort: Marx. In Rochedys Buch spielt er noch nicht einmal als Antipode eine Rolle, Schubert muss ihn als Linker irgendwie eingemeinden, doch ist in diesem Zuge gezwungen, aus dem Kapitalismuskritiker Marx den Vordenker einer Identitätspolitik der Arbeiterklasse machen, ihn also völlig umdeuten.17 Ebenso wenig interessieren sie, anders als Nietzsche, die materialistischen Fragen von Leiblichkeit und Ökologie.18 Sie sind, im schlechten Sinne, Kulturalisten und spiegeln damit das eigentliche Problem der gegenwärtigen Politik: Dass es eigentlich nie um die wirklich entscheidenden Fragen – ökonomische Verteilung, Eigentumsverhältnisse, Ökologie – geht, sondern mehr oder weniger an der Oberfläche kratzende Nebenschauplätze, um die sich dann aber der politische Diskurs einzig und allein dreht (Immigration, Gendersprache, Quotenregelungen, Normen der politischen Korrektheit …). Nietzsche selbst schrieb:
Alle Fragen der Politik, der Gesellschafts-Ordnung, der Erziehung sind dadurch bis in Grund und Boden gefälscht, dass man die schädlichsten Menschen für grosse Menschen nahm, – dass man die „kleinen“ Dinge, will sagen die Grundangelegenheiten des Lebens selber verachten lehrte…19
Damit soll nicht gesagt werden, dass die genannten Themen per se zweitrangig seien, doch es gelte sie eben, im Gesamtzusammenhang der kapitalistischen Weltgesellschaft zu analysieren und nicht vor dem Hintergrund der kulturalistischen Analyseraster „Nihilismus vs. Rettung des Abendlands“ (Rochedy) oder „Privilegierte vs. Nichtprivilegierte“ (Schubert), die in ihrer Grobschlächtigkeit wenig zu einem genauen Verständnis dieser Konflikte beitragen. Von der Unterdrückung der Frauen ist offensichtlich nicht nur eine kleine Minderheit betroffen, doch es gelte genau zu bestimmen, welchen ökonomischen Interessen die forcierte Öffnung des Arbeitsmarkts für Frauen dient und zu welchen Zusatzbelastungen diese führt, anstatt sich blindlings auf die Seite „Frauen zurück an den Herd“ vs. „Frauen auf den Arbeitsmarkt“ zu schlagen. Ähnlich verhält es sich mit den globalen Migrationsströmen, die nur als Bestandteil der nach wie vor fortbestehenden Ausbeutung des globalen Südens durch den Norden zu verstehen sind und dem gleichzeitigen „Heißhunger“ der Industrien der kapitalistischen Staaten nach Arbeitskräften. Verbleibt man in der Denkschablone „Grenzen zu“ vs. „offene Grenzen für alle“, verliert man auch hier die Möglichkeit einer differenzierten und nuancierten Analyse dieser Problematik – und erst recht der Entwicklung überzeugender realpolitischer Strategien in dieser Frage: Die rechte Perspektive blendet aus, dass die Massenimmigration eben durchaus einer gewissen ökonomischen Notwendigkeit entspricht und müsste erst einmal aufzeigen, wie sie sich eine Aufrechterhaltung des Wohlstands der westlichen Nationen ohne dieselbe überhaupt vorstellt; die Perspektive des radikalen Linksliberalismus verdrängt, dass sie eben durchaus bestimmten Kapitalinteressen dient, die es vor allen Fragen moralischer oder politischer Bewertung erst einmal zu verstehen gelte.
Diese kulturalistische Selbstverdummung ist notwendiger Ausdruck der scheinbaren Ohnmacht, in der wir uns befinden: Der allgemeine Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrer neoliberal eingerichteten Gestalt wird mehr oder weniger fraglos hingenommen,20 Handlungsmacht allenfalls noch angesichts solcher kulturellen Fragen und moralischer Scharmützel erlebt. Insofern müssen sich Schubert und Rochedy gleichermaßen vorwerfen lassen, ihren eigenen Anspruch, eine konsequente Machtpolitik anzuregen, zu verfehlen: Sie geben sich vielmehr mit der gesetzten „kleinen Politik“ zufrieden, ohne wirklich die Dimension der von Nietzsche eingeforderten „großen Politik“, der radikalen Utopien und Alternativen,21 in den Blick zu nehmen. Sie bleiben beide in dem stecken, was Nietzsche im Zarathustra als den „Lärm der grossen Schauspieler“22 bezeichnet und mahnt: „Hin zum Throne wollen sie Alle: ihr Wahnsinn ist es, – als ob das Glück auf dem Throne sässe!“23
Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um in genau dieser Entgegensetzung von „politischen Unkorrekturen“ und „Woken“ ein Spektakel zu erblicken, das letztendlich vor allem einem nutzt: den wirklich Mächtigen. Ein banales Beispiel: Der gegenwärtige Feminismus zerfleischt sich gerade in bitter ausgetragenen, oftmals bis zu körperlicher Gewalt ausartenden, Kleinkriegen zwischen Anhängern des queeren Feminismus und des traditionellen, der von einer biologisch determinierten Wurzel von Geschlechtlichkeit ausgeht. In diesen verortet sich, wie man vermuten wird, auch Schubert in sehr polemischer und einseitiger Weise auf Seiten des queeren Feminismus24 – und wenn sich Rochedy in diesem Konflikt überhaupt positionieren würde, dürfte seine Präferenz klar sein. Doch ohne dass dieser Streit künstlich zu diesem Zweck angezettelt worden wäre, ist doch klar, dass er objektiv nur darauf hinausläuft, die feministische Bewegung zu spalten, zu schwächen und handlungsunfähig zu machen. Und dieselben Mechanismen lassen sich in allen möglichen anderen Bereichen beobachten.
Was es dagegen in Anschlag zu bringen gelte, wären kreative und lebensbejahende Visionen eines nichtkapitalistischen (und natürlich auch: nichtpatriarchalen, nichtrassistischen, mit der Natur versöhnten …) Lebens, die stark und überzeugend genug sind, die Vereinzelung und die kulturelle Spaltung, die so kennzeichnend für unsere Zeit sind, zu überwinden und die uns dazu bringen, uns auf die wirklich wichtigen Fragen – die von Nietzsche so genannten „kleinen Dinge“ zu fokussieren. Nietzsche zählt zu ihnen: „Ernährung, Ort, Clima, Erholung, die ganze Casuistik der Selbstsucht“25, die für alle Menschen wichtigen „Grundangelegenheiten des Lebens“, die der globale Kapitalismus in der heutigen Zeit stärker bedroht als jemals in der Geschichte zuvor: Selbst in den kapitalistischen Kernstaaten wie den USA und Großbritannien werden Hunger und Mangelernährung – von dem absurderweise gleichzeitigen Problem der massenhaften Obesitas ganz zu schweigen – wieder zu massenhaften Problemen,26 für die gewaltsame Aufrechterhaltung der repressiven Grenzregime werden immer größere Ressourcen aufgewandt bei stetig anwachsendem Emigrationsdruck, die Folgen des Klimawandels werden immer deutlicher, die Kulturindustrie verlagert den kapitalistischen Leistungsdruck immer mehr in unsere schwindende Freizeit „hinein“, „Selbstsucht“ ist nur erwünscht, wenn es diejenige der Reichen ist …
Ich meine damit keine irgendwie geartete Bündnispolitik, sondern eher die kognitive und vor allem auch emotionale Fokussierung auf wichtigere Fragen, als sie uns von der linken und der rechten Identitätspolitik (ob letztere nun eine „echte“ Identitätspolitik ist oder nicht) vorgegeben werden. Von einer solchen Bewegung träume ich, die linken wie auch rechten Identitätspolitiker torpedieren sie gleichermaßen.
Nietzsche schreibt in der Fröhlichen Wissenschaft hellsichtig:
Denke ich an die Begierde, Etwas zu thun, wie sie die Millionen junger Europäer fortwährend kitzelt und stachelt, welche alle die Langeweile und sich selber nicht ertragen können, – so begreife ich, dass in ihnen eine Begierde, Etwas zu leiden, sein muss, um aus ihrem Leiden einen probablen Grund zum Thun, zur That herzunehmen. Noth ist nöthig! Daher das Geschrei der Politiker, daher die vielen falschen, erdichteten, übertriebenen „Nothstände“ aller möglichen Classen und die blinde Bereitwilligkeit, an sie zu glauben. Diese junge Welt verlangt, von Aussen her solle – nicht etwa das Glück – sondern das Unglück kommen oder sichtbar werden; und ihre Phantasie ist schon voraus geschäftig, ein Ungeheuer daraus zu formen, damit sie nachher mit einem Ungeheuer kämpfen könne. Fühlten diese Nothsüchtigen in sich die Kraft, von Innen her sich selber wohlzuthun, sich selber Etwas anzuthun, so würden sie auch verstehen, von Innen her sich eine eigene, selbsteigene Noth zu schaffen. Ihre Erfindungen könnten dann feiner sein und ihre Befriedigungen könnten wie gute Musik klingen: während sie jetzt die Welt mit ihrem Nothgeschrei und folglich gar zu oft erst mit dem Nothgefühle anfüllen!27
Nietzsches Schriften würde ich, davon ausgehend, für unsere Zeit die wesentliche Lektion entnehmen, uns – jeder und jede für sich und wir alle miteinander in Dialog und Streit – die Frage zu stellen, was für uns echte Notwendigkeiten sind. Es kann nicht um die autoritäre Setzung dessen gehen, was wesentlich und unwesentlich ist, sondern darum, überhaupt in diesen Prozess einzutreten und die Frage danach aufzuwerfen. Ich bin freilich zuversichtlich, dass ein solcher Prozess, wenn er überhaupt erst einmal in Gang käme, bestimmte Antworten zu Tage fördern würde, auf die wir uns alle einigen könnten; wesentliche Menschheitsprobleme, die ganz außerhalb dessen liegen, was uns der zeitgenössische Rechts- und Links-Nietzscheanismus gleichermaßen als „drängendste“ Fragen anzupreisen versuchen. Vielleicht wäre so eine Perspektive denkbar, die wirklich jenseits von Herren- und Sklavenmoral liegt; eine „Herrenmoral der Sklaven“.
Für den Hintergrund des Artikelbilds wurde diese Photographie verwendet.
Literatur
Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 2019.
Rochedy, Julien: Nietzsche – der Zeitgemäße. Dresden 2022.
Schubert, Karsten: Lob der Identitätspolitik. München 2024.
Stephan, Paul: Links–Nietzscheanismus. Eine Einführung. 2 Bd.e. Stuttgart 2020.
Fußnoten
1: Vgl. etwa Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 358.
2: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 377.
3: Vgl. zum letzteren Aspekt meinen entsprechenden Artikel auf diesem Blog.
4: Also sprach Zarathustra, Das Tanzlied.
5: Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen.
6: Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 11.
7: Eine Minimaldefinition, die auch Schubert und Rochedy teilen. – Im heutigen Sprachgebrauch werden die Begriffe „links“ und „rechts“ leider oftmals beliebig und ausgehend von bloßen Lifestylefragen verwendet – und dann natürlich, nachdem sie bis zur Unkenntlich entleert wurden, für obsolet erklärt.
8: Ich werde auf diese Artikel nicht im Einzelnen eingehen, da das Buch in wesentlichen Teilen auf ihnen basiert. Auf der Internetseite des Autors sind sie aufgelistet.
9: So teilt Rochedy etwa unkritisch die Nietzsche’sche Familienlegende von der polnischen Herkunft des Namens (vgl. S. 22 f. & mein in Fn. 3 erwähnter Artikel), behauptet, Richard Wagner habe sich erst 1872 zum „Nationalisten, Antisemiten und christlichen Reaktionär“ (S. 35) gewandelt und stellt es so dar, dass die akademische deutsche Philosophie noch in den 1870er Jahren vom Hegelianismus und nicht etwa vom Neu-Kantianismus dominiert worden sei (vgl. S. 38).
10: Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft.
11: Vgl. S. 38.
12: In Wahrheit brach Nietzsche die Arbeit an jenem „Hauptwerk“ ab und die Verfälschungen der Schwester sind weit gravierender als Rochedy einräumt. Vgl. die entsprechenden Hinweise hier.
13: Vgl. den entsprechenden Artikel von Christian Saehrendt auf diesem Blog.
14: S. 47.
15: Wieso soll es überhaupt besonders „leibesbejahend“ sein, sich krampfhaft um die Figur eines Boxers zu bemühen? Und die gegenwärtige kulturelle Elite scheint sich mir anders als in Rochedys Darstellung eher durch ihr extremes Bemühen um „Fitness“ und Hedonismus auszuzeichnen. Wirklich leibesbejahend ist es doch wohl, sich von solchen Körperbildern frei zu machen. – Und dass Nietzsche Rochedys Idealtypus eines boxenden Intellektuellen eher nicht entsprach, ist ohnehin offensichtlich. Ein leidenschaftlicher Boxer war übrigens ausgerechnet der linke Antifaschist Jean-Paul Sartre.
16: Vgl. S. 69.
17: Vgl. S. 25. Am Ende des Buches plädiert er dann für eine Erweiterung der Identitätspolitik um die Achse class (vgl. S. 183–187).
18: Bei Schubert kommen diese Themen nur am Rande vor bzw. der Leib nur aus dem beschränkten Blickwinkel der Foucault’schen Analytik der Macht, die sein vorgesellschaftliches Eigenleben notwendig leugnen muss (vgl. auch seine erwähnte Ablehnung der Psychologie). – Rochedy spricht zwar viel von einer Rückkehr zur Leiblichkeit, doch hat damit nur den „starken“, trainierten Leib im Sinne, selbst wenn er sich von einem allzu naiven Körperkult alla Arno Breker distanziert (vgl. S. 143). Auf ökologische Themen kommt er kurz zu sprechen (vgl. S. 156 f.), doch wichtiger als eine Erwähnung des Klimawandels ist ihm dabei eine Kritik der gesundheitsschädlichen Folgen der „sogenannte[n] Antibabypille“ (S. 157).
19: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 10.
20: Rochedy bezieht sich an einer Stelle sogar lobend auf die US-amerikanische Autorin Ayn Rand, eine der wichtigsten Vordenkerinnen des radikalen Neoliberalismus (S. 142).
21: Vgl. Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 1.
22: Von den Fliegen des Marktes.
23: Vom neuen Götzen.
24: Vgl. S. 169 f.
25: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 10.
26: Im Juni 2023 waren 17 % aller Haushalte im Vereinigten Königreich von moderater bis schwerer Nahrungsunsicherheit betroffen (Quelle), in den USA 2023 13,5 % aller Haushalte von Hunger (Quelle).
27: Aph. 56.
Nietzsche im Kreuzfeuer des Kulturkampfs
Zwei aktuelle Perspektiven im Vergleich
Dass Nietzsche in seiner Wirkungsgeschichte quer durch alle politischen Lager hindurch gelesen und vereinnahmt wurde, ist hinreichend bekannt. Doch wie steht es mit unserer Gegenwart? Paul Stephan untersucht die Schriften von zwei Autoren, die in etwa so alt sind wie er selbst, Mitte/Ende 30, und deren Blickwinkel auf Nietzsche unterschiedlicher kaum sein könnte: Während der französische Publizist und Youtuber Julien Rochedy Nietzsche zum Vordenker eines rechten Kulturkampfs erklärt, bringt ihn der deutsche Philosoph und Politikwissenschaftler Karsten Schubert für eine linke Identitätspolitik in Anschlag. Unseren Autoren überzeugen beide Positionen nicht so recht, sie bewegen sich vielmehr ganz im Rahmen der herrschenden Simulation von Politik als Kulturkampf, der es die Besinnung auf die wirklich drängenden Lebensprobleme der gegenwärtigen Menschheit entgegenzusetzen gälte.
Der Wille zum Kommentar
Ein Bericht über die diesjährige Tagung der Nietzsche-Gesellschaft
Der Wille zum Kommentar
Ein Bericht über die diesjährige Tagung der Nietzsche-Gesellschaft


Der fast vollständig vorliegende Freiburger Nietzsche-Kommentar ist mittlerweile zu einem unverzichtbaren Werkzeug der Nietzsche-Forschung geworden. In akribischer Kleinstarbeit trugen die Autoren jahrelang nützliche Hinweise zu nahezu allen Aspekten von Nietzsches Werken (Entstehungsgeschichte, Quellen, Anspielungen, Rezeptionen, Interpretationen …) zusammen und kommentierten sie Passage für Passage, mitunter Satz für Satz und Wort für Wort. Auf der Seite des de Gruyter-Verlag sind fast alle der bisher erschienen Bände kostenlos abrufbar (Link). Auch Laien finden hier einen wahren Schatz von Hintergrundinformationen und Erläuterungen. Die drei federführenden Mitarbeiter des Projekts – sein langjähriger Leiter Andreas Urs Sommer, Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann – nahmen seinen Abschluss zum Anlass, um dem Thema „Nietzsche kommentieren“ die diesjährige Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft zu widmen. Sie blickten dabei nicht nur zurück, sondern auch nach vorne.
I. Frühling im Herbst
Obwohl nun schon Mitte Oktober ist, hat sich für die Dauer des diesjährigen internationalen Nietzschekongresses in Naumburg an der Saale Frühlingswetter eingestellt. In diesem Jahr steht die fünftägige Veranstaltung unter dem Motto „Nietzsche kommentieren“. Auf dem Flyer (siehe das Artikelbild): Nietzsche sitzend und lesend; auf der Spitze eines Bücherberges, der nur durch eine Leiter erklimmbar ist. Das Bild stammt von dem Hallenser Künstler Michael Girod, der seit 2006 fast sämtliche Plakate der Jahrestagungen gestaltet hat.
Die Veranstaltung stand unter der wissenschaftlichen Leitung der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Sebastian Kaufmann und Prof. Dr. Katharina Grätz sowie des Philosophen Prof. Dr. Andreas Urs Sommer, die alle dem Nietzsche-Forschungszentrum der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angehören. Alle drei sind in zentralen Funktionen am Freiburger Nietzsche-Kommentar, der an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften angesiedelt ist, beteiligt. Sommer ist zudem Direktor der Nietzsche-Stiftung.
Der Kongress ist eine Kooperationsveranstaltung der Friedrich-Nietzsche-Stiftung, der Nietzsche-Gesellschaft und des erwähnten Forschungszentrums. Veranstaltungsort war das sowohl moderne und zugleich beschauliche Nietzsche-Dokumentationszentrum, das direkt an das mit Weinranken gezierte Nietzsche-Haus angrenzt, deren Blätter in diesem Herbst wunderbar grell-rötlich schimmern. Hier ist Nietzsche zwar weder geboren noch gestorben, doch verbrachte hier seit 1858 seine Jugend und einige Jahre während seiner geistigen Umnachtung.1 Heute liegen direkt in der Nähe, neben dem historischen Stadtkern, ein Spielplatz und eine KiTa.
Zur Einstimmung des Kongresses, der vom Mittwoch, dem 16. 10. 2024 bis Sonntag, dem 20. 10. 2024 stattfand, hielt Renate Müller-Bruck einen Vortrag über ihr im Sommer erschienenes Büchlein „… zitternd vor bunter Seligkeit“. Nietzsche in Venedig. Müller- Bruck ist profilierte Nietzsche-Kennerin und war unter anderem Mitarbeiterin bei Mazzino Montinari. Montinari initiierte ab Mitte der 60er zusammen mit Giorgio Colli die Kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken, Nachlassfragmenten und Briefen, die die Grundlage für die in den 80ern publizierte Kritische Studienausgabe bildet. Montinari ist mithin eine, wenn nicht die wesentliche Figur der kritischen Editionsgeschichte der Schriften Nietzsches. Der Kongress wurde am Donnerstag mit verschiedenen Grußworten, unter anderem vom Naumburger Oberbürgermeister Armin Müller, Sommer und Prof. Dr. Marco Brusotti, dem Vorsitzenden der Nietzsche-Gesellschaft eröffnet. Die Einleitung übernahm, nach dem Programm, Katharina Grätz.
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II. Der (un)populäre Philosoph
Noch vor dem Kongress, im Gespräch mit einem mir bekannten belgischen Wirtschaftsmanager, taucht die Veranstaltung als Thema auf. Der gutvernetzte Manager fragt, ob Nietzsche in Deutschland sehr bekannt sei. Also wie bekannt. Bekannt wie etwa … Sigmund Freud?! In Belgien sei man mit Freud wohl vertrauter, schätzt er ein. – Nietzsche ist für ihn ein Philosoph, nicht mehr, nicht weniger. Darüber hinaus kann er nichts sagen. Kennt keine der Schriften, ist vage vertraut mit dem Begriff „Übermensch“ und schätzt ihn korrekt ins 19. Jahrhundert. – Ähnlich wird es dem Durchschnittsbürger gehen: Schon mal gehört, ein Titel und ein, zwei Begriffe lassen sich vielleicht richtig erraten.
Für Liebhaber ist diese Vorstellung ernüchternd. Nichtsdestotrotz gehört Nietzsche wohl zu den großen Philosophen, die auch im Ausland und der Popkultur ihren festen Platz im Pantheon der Denker und Schriftsteller eingenommen haben – seine Zitate sind Gemeinplätze und Bonmots geworden. Insofern lebt er weiter, wenngleich Nietzsche sich nie ganz so als Posterboy eignete wie etwa Che Guevara, Karl Marx oder Jesus.
Es ist eine traurige Wahrheit, dass er für den Großteil unserer heutigen modernen Mitbürger mehr oder weniger eine Randnotiz geblieben sein wird. Das hat er mit den meisten Größen der Literatur- und Philosophiegeschichte gemein.
Zwar bleibt die Marke Nietzsche in gewisser Hinsicht ein Bildungs- und Intellektuellenphänomen, doch gilt gerade für Nietzsche, dass diese Sphäre sich immer wieder als porös erweist. Im Internet feiert er als Thema von Videos, als Ikone mit dem Schnurbart oder Referenzfigur für die verschiedensten Prominenten und Interpreten oder diejenigen, die sich für solche halten, Erfolge. Das Internet kommentiert Nietzsche und das nur selten so, wie die Wissenschaft es sich wünscht. Aber später mehr zu der Frage seiner Digitalisierung. Für die postmoderne Philosophie ist seine Bedeutung enorm, ebenso für die modernen Künstler und in ihrem Anhang die Popkultur, was sicher auch mit dem provokativen und anstößigen Charakter seiner Schriften zu tun hat. Immer wieder pflegte er mit romantischem Ganzheitsanspruch die künstlichen Grenzen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen zu überschreiten. Für die Veranstaltung möchte ich mir die Vorträge, die eine gewisse Popularität versprechen, ansehen und Nietzsche getrost dem Prinzip Zufall überlassen, man nimmt es mir hoffentlich nicht übel.
III. Destruktionen, Aufklärungen, Editionen
Der erste Vortrag, den ich am Freitag anhöre, überrascht durch seine Jovialität. Der Nachwuchswissenschaftler Milan Wenner spricht über den Freiburger Nietzsche-Kommentar. Bereits der Langtitel des Kommentars deute eine Spannung zwischen historischer und kritischer Edition an. Anders, als es der Titel des Vortrags Von der Destruktion zur Dekonstruktion? Der Freiburger-Nietzsche-Kommentar als wissenschaftsgeschichtliches Phänomen vermuten lässt, geht es hier weder um Martin Heidegger noch um Jacques Derrida, sondern um die Frage, wie die Editionswissenschaft sich von ihren stark philosophisch gefärbten Anfängen – dazu später mehr – hin zu einer mehr analytischen, textwissenschaftlichen Ausrichtung entwickelt hat: „Das Subjekt [Nietzsche] ausscheiden“ aus dem Text, heißt Dekonstruktion bei Wenner, das technische „lyrische Ich“ und die „Texte als Gewebe vieldeutiger Stimmen“ freizulegen.
Gleich der zweite Vortrag, an dem ich teilnehmen möchte, ist mir nicht möglich in seiner vollen Länge anzuhören, da sich an den Vortrag Wenners derart lebhafte Diskussionen in dem ohnehin überfüllten Raum entspannen, dass für mich nichts anderes übrigblieb, als zu bleiben. Die Stimmung ist allgemein heiterer und offener als von einem wissenschaftlichen Kongress zu erwarten gewesen wäre. Die Kürze der Sektionsvorträge von 20 Minuten mitsamt 10-minütiger Diskussion geben der Veranstaltung ein angenehmes Tempo. Auch das Publikum ist diverser als man vermuten könnte: Interessierte (ich spreche mit einem Musiker, einer Yoga-Lehrerin, einem Mechaniker), Experten, Professoren, Lehrer, Wissenschaftler und solche, die es werden wollen, aus einer Vielzahl verschiedener Länder und jeden Alters.
Am Nachmittag folgt eines der Herzstücke. Dr. Sarah Bianchi, ebenfalls eine junge Wissenschaftlerin, die sich in ihrer Forschung sowohl mit Mikropolitiken bei Adorno und Foucault als auch kritisch mit den Implikationen des sogenannten Digital Enhancement beschäftigte, hält einen Vortrag mit dem Titel Essayistisch lesen. Macht, Aufklärung und experimentalphilosophische Geschichte nach Nietzsche. Kommentieren, so Bianchi, sei bereits eine Aufklärungspraxis und – mit Nietzsche gesprochen – nicht nur eine Frage der Subjektivität essayistischen Künstlertums, sondern auch eine der Genealogie. Eine durchaus kontroverse Ansicht, da, wie später auch aus dem Publikum eingeworfen, sich die Frage stellt, ob Nietzsches und ihm folgend die Methode Foucaults nicht gerade in einer Unterminierung der Aufklärungsphilosophie und ihrer Subjektivitätsnarrative bestünde. Bianchi bezieht sich auf aktuelle französische Romanciers, u. a. Annie Ernaux und Édouard Louis. Es ginge darum, durch essayistisches Schreiben Diskursräume für Marginalisiertes zu schaffen und damit zur „Entlarvung von Ideologien“ beizutragen. Sowie zur Möglichkeit von „affekt- und machtsensiblen“ Positionen jenseits der „digitalen Perfektionslogik“ beizutragen, die im Gegensatz zu der oft prädisponierten Selbsthilfe- beziehungsweise Ratgeber-Literatur „kein therapeutisches oder naturalistisches, also triebbasiertes Verständnis, sondern ein machtbasiertes“ der Subjekte eröffneten.
Anschließend an den Vortrag Bianchis folgt eine Laudatio und Podiumsdiskussion mit Sommer, Kaufmann, Müller-Bruck und Grätz. Mit vor schweizerischem Charme und sanfter Ironie nur so spritzender freier Rede – dazu in druckreifen Lettern – erinnert Sommer an Prof. Dr. Karl Pestalozzi und Prof. Dr. Annemarie Pieper. Ersterer war unter anderem Präsident der Stiftung des Nietzsche-Hauses in Sils Maria2 und beteiligt an der Weiterführung der Kritischen Gesamtausgabe, letztere ihres Zeichens Mitherausgeberin der Kritischen Gesamtausgabe der Briefe und des Jahresbuchs der Nietzsche-Gesellschaft. In seiner Laudatio memoriae schildert Sommer Pestalozzi als integren und unwahrscheinlich gebildeten Repräsentanten der Universität Basel. Pieper hingegen als feministische und unangepasste Vorkämpferin in der Philosophie, deren akademiekritischen Roman Die Klugscheißer GmbH er mit einem langen Schmunzeln nicht unerwähnt lässt. Pieper verstarb im Februar diesen Jahres, Pestalozzi bereits im Sommer des vorherigen.
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Aus der an den Vortrag anschließenden Podiumsdiskussion mit einem Titel, der auf den berühmten Essay Nietzsches rekurriert, Vom Nutzen und Nachteil des Nietzsche-Editierens für das (akademische) Leben, entschlüsselt sich, so erzählt mir auch Grätz beiläufig, das Motto des Kongresses. Es handelt sich um das Projekt einer „neuen kritischen Edition des Nachlasses“, das von Kaufmann näher erläutert wird. Mit einer digitalen genetischen Edition, für die Prof. Dr. Paolo d‘Iorio in Form der Website nietzschesource.org bereits einen Prototyp vorlegte, soll an die Vorarbeiten Montinaris und Collis angeschlossen werden. Die neue Ausgabe soll sich noch näher an den Originalen bewegen und eine digitale zitierfähige Quelle schaffen. Wie Kaufmann darlegt, beruhen Teile der Colli-/Montinari-Ausgabe auf Konjekturen – also herausgeberischen Eingriffen –, die den heutigen editionswissenschaftlichen Standards nicht mehr entsprächen. Dazu gehören stilistische „Korrekturen“, die nicht ohne interpretatorische Momente seitens der Editoren auskamen, sowie Probleme mit dem kritischen Apparat, die zu beheben das Projekt sich vornimmt.
In vielen Vorträgen nicht unerwähnt blieben auch die exemplarischen Jahre misslungener Editionspraxis seitens des Nietzsche-Archives unter der Ägide Elisabeth Förster-Nietzsches, deren Verwaltungspraktiken man, wenngleich sie nicht ohne Breitenwirkung blieben, als durchaus missbräuchlich bezeichnen kann. Eine nichtzitierfähige Quelle sei und bleibe – auch wenn sie in Teilen des internationalen Publikums noch immer unkritisch als genuines Werk Nietzsches gelte und als solches publiziert werde – das Buch Der Wille zur Macht, herausgegeben von der Schwester selbst und Nietzsches engem Vertrauten Heinrich Köselitz alias Peter Gast. Wie alle Redner nicht müde werden zu betonen: ein editorisches Konstrukt, eine sehr freie Interpretation der Editoren. Zugespitzt: Ein „philologischer Mumpitz“, der unter „falscher Flagge [dem Namen ‚Nietzsche‘]“ segelte, heißt es in einer der Reden an diesem Abend; und noch nicht einmal der einzige seiner Art.
Die Kritik lasse sich aber, so Kaufmann, auch auf heute übertragen. So entstand aus dem ungeordneten Sammelsurium der „Mythos des vermeintlichen Nachlasses“, der auch durch Colli und Montinari weiter befeuert wurde. Es stelle sich die ganze Palette editionswissenschaftlicher Fragen: Wie steht es mit der Reihenfolge, der Autorisierung; aber auch der korrekten Aus- und Bewertung z. B. der Frage, ob der Nachlass überhaupt als gleichrangiges Werk zu beurteilen sei? Selbst die Colli-/Montinari-Ausgabe unterliege so einer Interpretationsgeschichte und einem Filterungsprozess, den die neue Nachlass-Ausgabe auszugleichen suche und um die Möglichkeiten digitaler Editionsarbeit erweitern möchte. Das Projekt konnte bisher allerdings keinen Finanzier finden.
III. Geistesgegenwärtige Blütenlesen
Der Samstag ist noch frühlingshafter und wärmer, eine angenehme Brise weht – wieder: die Schönheit der roten Weinranken des Nietzsche-Hauses.
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In dem Vortrag Die Blütenlese – ein unendlicher Kommentar stellt Dr. Catarina Caetano da Rosa, stellvertretende Leiterin des Dokumentationszentrums, ein Projekt vor, in dem sie Fundstellen über Nietzsche in der Sekundärliteratur und Hinweise auf solche penibel exzerpierte. Eine Sammlung aus Zitaten zweiter Hand, Bildern und Erwähnungen, die auf der Website des Dokumentationszentrums zu finden ist. Da Rosa erinnert dazu an die Liste von fantastischen Tiergruppen, die Michel Foucault in seiner Ordnung der Dinge von Jorge Luis Borges zitiert. Kurz gesagt handelt es sich zwar um mehr als ein eigenwilliges Kunstprojekt, vorläufig jedoch auch noch um kein rezeptionswissenschaftliches Vorhaben im strengen Sinne. Die experimentelle Sammlung veranschauliche ein „fragmentiertes Profil“ des Philosophen und den „Impulsgeber“ Nietzsche. In dem Raum im ehemaligen Studierzimmer im ersten Stock des Nietzsche-Hauses hängen einige poppige T-Shirts, die wie ein Querschnitt der Ikonografie des Philosophen wirken. Sie unterstreichen noch einmal seinen popkulturellen Einfluss, der sich nicht immer mit der Realität oder den historischen Kontexten decken muss.
Am Abend wird die große Verleihung des Internationalen Friedrich Nietzsche-Preises an Prof. Dr. Renate Reschke, eine Koryphäe der Nietzsche-Forschung, die insbesondere als eine der wenigen in der DDR zu Nietzsche forschte, gefeiert. Dotiert ist der Preis mit 15.000 €. Sie erhält Glückwünsche, Grußworte und Geschenke ihren Kollegen und dem Bürgermeister. Abgerundet wird der Festakt mit einer Laudatio von Prof. Dr. Christoph Türcke. Der Abend wird musikalisch mit einer Darbietung der Kompositionen Nietzsches mit Gesang und Klavier untermalt.
Reschkes eigener Vortrag unter dem Titel Vom Dilemma der Geistesgegenwart und dem fehlenden Sinn für Geschichte. Zur fortgesetzten Aktualität Nietzscheanischer Kulturkritik kennzeichnet eine wunderbar pessimistische Gegenwartsdiagnose – im Sinne von Nietzsches Zeit, aber auch unserer eigenen. Eigentlich, so Reschke, hätte sie lieber über das Thema „Warum ich keine Nietzscherianerin bin“ gesprochen, hatte sich aber dann doch für das vorliegende entschieden. Reschke setzt sich kritisch mit dem Begriff der „Geistesgegenwart“ und seinem Verhältnis zur Historie auseinander. Den enorm dichten und in Teilen polemischen Vortrag zusammenzufassen, erscheint mir an dieser Stelle weder möglich noch zielführend, vielmehr sei Reschkes wunderbar natürlicher Stil hervorgehoben, der ohne große Allüren auskommt. Nur selten wird sie ganz konkret: Aus ihr spricht das Philosophische, insofern bleibt ihr Vortrag in gewisser Hinsicht enigmatisch und im Raum der Abstrakta. Ihre Kritik richtet sich nicht nur gegen die Massenkultur moderner Medien, die eher dazu neigten, Gegenwart erstarren zu machen (Maschinenkultur, Beschleunigung usw.), sondern auch gegen das eigene Milieu, wobei auch die (politische) Rolle Nietzsches im vergangenen Ost-West-Konflikt, in dem er lange (für beide Systeme) als enfant terrible galt, nicht unberührt bleibt. Schöner konnte es wahrscheinlich nur Nietzsche selbst ausdrücken: „Nein, wir lieben die Menschheit nicht“3.
IV. Zwei Geister
Was sich am Ende des Kongresses glasklar darstellt, ist, wie eng Interpretation, Kritik und Editionswissenschaften beieinander liegen. So spielen, wie insbesondere der Streit um Elisabeth Förster-Nietzsches Verwaltung des Nachlasses anzeigt, immer wieder politische, ökonomische, aber auch private Interessen eine Rolle.
Für den Schluss ein letztes Bild: Zwei Gespenster, in Form zwei sich ausschließender methodologischer Lager, schienen den Kongress immer wieder heimzusuchen. Das eine, das an dem Konzept, der Figur und Persönlichkeit, einem authentischen Nietzsche sowie einer ihm eigenen Philosophie festhalten will, und das andere, dem es um die wissenschaftliche Analyse, technische Strukturen sowie die historischen und geistesgeschichtlichen Einflüsse in seinem Denken geht. Das Bild vom Kampf der wissenschaftlichen Liebe zur Wahrheit mit der theatralen Liebe zum Schein will man am Schluss nicht bemühen. Lieber verweile ich noch einen Moment beim Sonnenlicht und dem Wandel der Farben des Herbstes.
Jonas Pohler wurde 1995 in Hannover geboren. Er studierte Germanistik in Leipzig und schloss das Studium mit einem Master zum Thema „Theorie des Expressionismus und bei Franz Werfel“ ab. Er arbeitet jetzt in Leipzig als Sprachlehrer und engagiert sich in der Integrationsarbeit.
Bis auf das Artikelbild sind die Bilder zu diesem Artikel Photographien des Autors.
Fußnoten
1: Anm. d. Red.: Vgl. zum Nietzsche-Haus und seiner Geschichte auch diesen Artikel von Lukas Meisner auf diesem Blog.
2: Anm. d. Red.: Vgl. dazu den Artikel von Christian Saehrendt auf diesem Blog (Link).
3: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 377.
Der Wille zum Kommentar
Ein Bericht über die diesjährige Tagung der Nietzsche-Gesellschaft
Der fast vollständig vorliegende Freiburger Nietzsche-Kommentar ist mittlerweile zu einem unverzichtbaren Werkzeug der Nietzsche-Forschung geworden. In akribischer Kleinstarbeit trugen die Autoren jahrelang nützliche Hinweise zu nahezu allen Aspekten von Nietzsches Werken (Entstehungsgeschichte, Quellen, Anspielungen, Rezeptionen, Interpretationen …) zusammen und kommentierten sie Passage für Passage, mitunter Satz für Satz und Wort für Wort. Auf der Seite des de Gruyter-Verlag sind fast alle der bisher erschienen Bände kostenlos abrufbar (Link). Auch Laien finden hier einen wahren Schatz von Hintergrundinformationen und Erläuterungen. Die drei federführenden Mitarbeiter des Projekts – sein langjähriger Leiter Andreas Urs Sommer, Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann – nahmen seinen Abschluss zum Anlass, um dem Thema „Nietzsche kommentieren“ die diesjährige Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft zu widmen. Sie blickten dabei nicht nur zurück, sondern auch nach vorne.