Nietzsche POParts
Sind nicht Worte und Töne
Regenbogen und Schein-Brücken
zwischen Ewig-Geschiedenem?
Nietzsche
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Scheinbrücken

zwischen

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Geschiedenem
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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches





Artikel
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Bangladesch begehrt auf
Der Wille zur Revolution
Bangladesch begehrt auf
Der Wille zur Revolution


Für insgesamt 20 Jahre herrschte in Bangladesch ein eisernes, autoritäres Regime unter Sheikh Hasina, der Tochter des ersten Präsidenten seit der Unabhängigkeit des Landes von Pakistan, Sheikh Mujibur Rahman. Doch innerhalb kürzester Zeit brachen im Juli 2024 landesweite Aufstände von einer solchen Gewaltigkeit aus, dass sie Hasina nach nur einem Monat stürzten und ins Exil trieben. Wie kam es zu diesem Sieg von unten und wie helfen uns Nietzsches Wille zur Macht und seine Ausarbeitungen von Foucault und Deleuze weiter, um diesen historischen Moment zu verstehen?
In Gedenken an Abu Sayed und allen Namenlosen der Juli-Revolution 2024
I. Eine Chronik der Juli-Revolution
Nachdem Bangladesch, damals noch Ostpakistan, sich 1971 von seiner Kolonialmacht Pakistan unabhängig gekämpft hatte und zur souveränen Nation geworden war, etablierte die Regierung unter Rahman ein Quotensystem des Beamtensektors, das besonders Veteranen, die im Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatten, und einige Minderheiten bevorzugte. Das System blieb jahrzehntelang intakt – wenn auch mit Schwankungen – und wurde nach dem langsamen Sterben der ursprünglichen Freiheitskämpfer um deren Nachkommen erweitert. Der Beamtensektor, wie auch hier im Westen, geht selbstverständlich mit besseren Arbeitskonditionen und höheren Positionen einher, sodass im Effekt ganze Familien in privilegierte Stellungen innerhalb der bangladeschischen Gesellschaft aufrückten, während der Großteil der Bevölkerung sich in immer prekärere Arbeitsbedingungen gezwungen fand. Die öffentliche Kritik am Quotensystem wuchs und führte immer wieder zu Protesten in ganz Bangladesch, wurde jedoch in den autokratisch geführten und von Korruption durchzogenen Regierungsperioden der Premierministerin Sheikh Hasina (1996-2001 & 2009-2024), die der Partei ihres Vaters, der Awami League, zugehörte, vehement fortgesetzt. Nachdem Hasina unter dem Druck der Proteste versprach, das Quotensystem abzuschaffen, wurde dieses im Juni 2024 durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshof erneut eingesetzt.
Was dann geschah, dürfte wohl ganz Bangladesch und darüber hinaus überrascht haben, inklusive aller Involvierten selbst: Aus friedlichen Protesten einer studentischen Gruppe in Dhaka gegen die Gerichtsentscheidung wurde schnell eine nationale, studentisch geführte Aufstandsbewegung, die tausende Studierende auf die Straße trieb. Hasina reagierte auf die Proteste zunächst, indem sie alle Beteiligten als Razakars denunzierte – eine Miliz, die zur Zeit des Unabhängigkeitskriegs mit dem pakistanischen Militär zusammengearbeitet hatte – und also mit Verrätern des bangladeschischen Befreiungskampfes gleichsetzte. Was sich im weiteren Verlauf entwickelte, kann wohl als Pingpong bezeichnet werden zwischen auf der einen Seite den Mobilisierungen der widerständischen Kämpfe, angefangen von einzelnen bereits bestehenden studentischen Gruppen bis hin zu breiten Massen der Studierenden, und staatlich-polizeilicher Repression inklusive regimenaher, studentischer Kaderorganisationen auf der anderen Seite. Am 16. Juli wurde der Student Abu Sayed, einer der Organisatoren der Students Against Discrimination-Bewegung, mit offenen Armen auf der Straße stehend von der Polizei erschossen. Die Empörung über seine brutale Ermordung radikalisierte die Aufstände, die Menge der Protestierenden wuchs zu einem ausgereiften und bemerkenswert gut organisierten Netzwerk, das sich den Repressionen sowohl durch Polizei- und Milizgewalt als auch Schließung der Wohnheime, Ausgangssperren und des kompletten Shutdown des Internets bis schließlich hin zu Hasinas Shoot-on-Sight-Kommando, das zu mehreren Massakern führen sollte, widersetzen konnte. Hasina, die dem Druck der von der öffentlichen Meinung unterstützten Aufstände trotz brutaler Unterdrückungsversuche nicht mehr Stand hielt, erklärte sich zu Verhandlungen bereit. Die organisierte Menge, mittlerweile hatten sich auch große Teile der Arbeiterklasse z. B. aus der Textil- und Transportbranche angeschlossen, hatte zu diesem Zeitpunkt jedoch nur eine Forderung, nämlich den Rücktritt Hasinas und einen Neuaufbau der Regierung. Diese wehrte sich mit weiteren Tötungsmanövern bis schließlich am 4. August über eine Millionen Menschen zu Hasinas Residenz marschierten, dort jedoch nur ein leeres Haus vorfanden. Einen Tag später, am 5. August, trat Hasina nach über 15 Jahren an der Macht vom indischen Exil aus als Premierministerin zurück. Die Konsequenzen ihrer Führung in nur diesem einen Monat sind verheerend: die Todeszahl wird auf 1.400 Personen geschätzt – viele davon bis zur Unkenntlichkeit massakriert, sodass eine Identifizierung nicht möglich war – die Zahl der Verletzten liegt bei über 20.000. Dennoch: Bangladesch, trotz aller Verluste, jubelt, denn das Ende des Hasina-Regimes ist etwas, was sich viele nicht mehr in ihrer Lebenszeit erträumt hätten.
II. Der Wille zur Macht und das Revolutionäre
Die Geschwindigkeit und Spontanität der Ereignisse, das Ausmaß an Gewalt und Blutvergießen, die Dimension des organisierten revolutionären Widerstandes sowie sein schlussendlicher Erfolg sind bemerkenswert und bedürfen eines Erklärungsversuches. Im Sammelsurium Nietzscheanischer Konzepte fällt einem dort unmittelbar der Wille zur Macht ins Auge. Nietzsche, der die Welt weder dialektisch noch teleologisch verstand, geht vielmehr von materiellen Kräfteverhältnissen aus, denen „eine innere Welt zugesprochen werden [muss]“1 und die sich in allem Lebenden ausdrücken. Sie sind der Wille zur positiven, das heißt selbstbejahenden und immer schon vollständigen, kompletten, Macht. Als solchem fehlt es ihm an nichts, er ist sich selbst genügend, hat weder einen singulären Ursprung noch ein Äußeres, von dem er abhängen würde. Das bedeutet, dass sich die materiellen Kräfte in ihrer Äußerung und nur durch diese verwirklichen. „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem. Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem“2, um Nietzsche sprechen zu lassen. Doch dürfen wir uns von Nietzsches Jargon nicht in die falsche Richtung leiten lassen, der Wille zur Macht sollte sich nicht als gottesgleiche metaphysische Totalität vorgestellt werden, „er ist Prinzip der Synthesis der Kräfte. In dieser sich auf die Zeit beziehenden Synthesis durchlaufen die Kräfte dieselben Differenzen, in ihr reproduziert sich das Verschiedene“3. Wir haben es mit Differenz zu tun, die den quantitativen Kräften ihre jeweilige qualitative Verschiedenheit, also die Fülle bzw. Vielheit der materiellen Realität, zukommen lässt. In den Verhältnissen dieser Kräfte liegt das für das Lebendige Ausschlaggebende, aus ihnen geht das Leben hervor oder, akkurater, sie sind das Leben selbst. Denn wir dürfen nicht vergessen, der Wille ist ein innerer, der die realen Vielheiten aus sich selbst heraus reproduziert, ohne sich eine künstliche, ihm äußerliche Opposition schaffen zu müssen, von der er zu zehren hätte. Er ist in sich schöpferische Kraft, hört niemals auf zu produzieren, sich zu steigern, zu revolutionieren, angetrieben vom Begehren zu werden.
Was passiert, wenn dieser Wille zur Macht reaktionär, total, verneinend und repressiv wird, dem Stillstand unterliegt anstatt des ewigen Werdens, lässt sich in den materiellen Verhältnissen klar erkennen. Die Moderne des Menschen ist charakterisiert durch globale Ausbeutungsverhältnisse, die sich auch lange nach dem vermeintlichen Verschwinden des europäischen Kolonialismus nicht ausmerzen lassen. Vielmehr fließen sie zähflüssig im neokolonialen Hangover über den Globus, wo sie ihre eigenen raffinierten Mechanismen sowohl der materiellen als auch der kulturellen Ent- und Aneignung finden. Der sogenannte globale Süden wurde zur produktiven Fabrik, zum Ort der Mehrwertproduktion durch Exploitation für den Rest der Welt und, mehr noch, zum outgesourcten Kampfplatz geopolitischer Interessen. Die Folgen bekommen Milliarden von Menschen zu spüren: Umweltkatastrophen, Vertreibung und Enteignung, prekäre und lebensgefährliche Arbeits- und Lebensbedingungen, Hungertode, ungerechtfertigte, teilweise lebenslange Inhaftierungen, politische Repressionen, Folter und Kriege bis hin zu Genoziden. Wo Nietzsche die Welt durch den Willen zur Macht als grundlegend produktive, bereichernde, relativ freie und heterogene Kraft konzipiert, sieht man in ihr gewaltige Selbstzerstörung bis hin zur Vernichtung – man sieht den gegen sich selbst gekehrten Willen zum Nichts, der fleißig damit beschäftigt ist, sich beide Beine abzusägen.

III. Der bangladeschische Wille zur Befreiung
Für die Großmächte spielt Bangladesch eine zentrale Rolle in der Region und Hasinas Regime bot strategische Vorteile. Auf der einen Seite liegt Bangladesch zwischen den zwei in Konkurrenz stehenden Giganten Indien und China, die beide um die Kontrolle südasiatischer Gebiete kämpfen, auf der anderen Seite wiederum sind die USA auf Indien als Verbündeter gegen China angewiesen. Während Hasina mit ihnen allen liebäugelte, vor allem aber von Indien und den USA gestützt wurde, herrscht in der bangladeschischen Bevölkerung ein anderer Ton, denn für die Masse bedeuten jene Großstaaten in erster Linie um die Ecke lauernde Kräfte des Imperialismus, die sich in Konflikten um Wasserressourcen, antimuslimischer und -bangladeschischer Gewalt von Seiten Indiens unter dem rechten Premierminister Narendra Modi und der Vorherrschaft multinationaler, westlicher Konzerne äußern. Dass eine solche Lage in Bangladesch unter Hasina, einer Premierministerin berüchtigt für Wahlbetrug, Korruption und eine eiserne Hand gegen jede Form der Opposition, die also die eigene Bevölkerung unterdrückte und gleichzeitig das Land an imperiale Mächte verkaufte, zu immer stärkeren Revolten führen würde, dürfte nicht überraschen. Denn das Aufbegehren gegen Totalität liegt in der Natur des Willens zur Macht, ihm ist das Revolutionäre inhärent. Foucaults Überlegungen in seiner Analyse der Iranischen Revolution 1979 schließen sich dem an:
Aufstände gehören zur Geschichte, aber in gewisser Weise entkommen sie ihr. Die Bewegung, durch die ein Einzelner, eine Gruppe, eine Minderheit oder ein ganzes Volk sagt: „Ich gehorche nicht mehr“, und bereit ist, das Leben zu riskieren angesichts einer für ungerecht erachteten Macht, scheint mir irreduzibel zu sein. Das liegt daran, dass keine Macht in der Lage ist, sie absolut unmöglich zu machen.4
Immer wieder zeigt sich: Wo sich ein Machtverhältnis konsolidiert, bis keine bewegliche Differenz mehr möglich scheint, da eruptiert der Wille zur Macht wie heiße Lava, die den versteinerten Boden zum Schmelzen bringt. Jeder Versuch, das Leben zu verunmöglichen, führt zur Emergenz einer noch radikaleren Gegenkraft, die sich ihren Weg zur Befreiung bahnt. So auch in Bangladesch. Es mag wohl die Gerichtsentscheidung zur Weiterführung des Quotensystems als Auslöser gedient haben, als letzter Stoß, der das Magma über die Oberfläche hinausschießen ließ. In jedem Fall kam es im Juli 2024 zum entscheidenden Moment in der Geschichte, der die Mengen dorthin trieb, wo das Risiko des Todes dem Zwang des Gehorsams vorgezogen wurde und der Kampfgeist von vereinzelten Gruppen zur breiten Masse überschwappte. Denn, wie der palästinensische Schriftsteller und Widerstandskämpfer Ghassan Kanafani sagte, „unser Land zu befreien, Würde zu haben, Respekt zu haben, unsere bloßen Menschenrechte zu haben; dies sind Dinge so wesentlich wie das Leben selbst“5. Was den Kampfgeist provoziert ist also keineswegs eine einfache Frage des bloßen Überlebens, sondern dessen, was dem Leben einen Wert verleiht, ein Begehren so essenziell, dass es universal wirkt und ganze Bevölkerungen trotz, oder viel eher gerade aufgrund, ihrer Differenzen zu einem kollektiven Willen trägt. Schließlich ist es gerade die Differenz, für die es sich in einem totalitären, absoluten Regime zu kämpfen lohnt und so ist auch die revolutionäre Organisationsform „vielfältig, zögernd, verwirrt und obskur sogar für sich selbst“6. Die politische Landschaft Bangladeschs ist durchkreuzt von solchen divergenten Achsen unterschiedlicher Religionen, Ideologien und Klassen und entsprechend war das Netzwerk aus Gruppen und Bewegungen keine Vereinheitlichung, sondern ein Zusammentreffen getrieben von der kollektiv erfahrenen Unmöglichkeit der herrschenden Zustände.
Gilles Deleuze bezeichnet solche Organisationsformen des Begehrens als Rhizome, ein dezentralisiertes System aus Wurzeln, das in alle Richtungen wächst, „die unterschiedlichsten Formen annehmen [kann], von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung“7, und in dieser flexiblen Verbundenheit, die keine zentrale Führungsmacht kennt, liegt seine Potenz. Es wird bewegt weniger von einer utopischen Vorstellung eines Noch-Nicht, sondern ist vielmehr spontaner Ausbruch eines heterogenen Leuchtfeuers, das dem Unaushaltbaren Widerstand leistet und sich den repressiven Gegenreaktionen anzupassen weiß. An den Universitäten, in den Fabriken und auf den Straßen Bangladeschs schoss das Begehren für ein Leben in Würde und Respekt aus dem Boden, wie es für Graswurzelbewegungen üblich ist – denn eine wahrhaft befreiende Revolution kann nur von unten kommen, dort wo die materielle, reale Differenz operiert. Revolutionär kann nur die Minorität sein. Damit ist keine quantitative Unterzahl gemeint, sondern das außerhalb der dominanten Vorherrschaft Liegende, marginale Sub-Systeme, Abweichungen, das Verschiedene und es gilt die Majorität eines herrschenden Regimes zu minorisieren, ihr ihre Vorherrschaft zu nehmen und in den Prozess des Werdens zu überführen, wo sie selbst zum Sub-System wird. Eine Revolution ist niemals vollzogen, wenn eine Majorität durch eine andere ersetzt wird, sondern erst dann, wenn die Minorität zum inneren Prinzip der Gesellschaft wurde. In diesem Sinne müssen auch die Juli-Aufstände verstanden werden und in diese Sinne gehört Shadik Kayem, einem der führenden Studenten, das Schlusswort:
Wir wollten ein demokratisches Bangladesch aufbauen, in dem die Menschen in Freiheit und Würde leben können ... Wir haben gemeinsam Ideen entwickelt und uns gegenseitig geholfen, die Bewegung zu organisieren und die Studenten zu motivieren. Ich sage nicht, dass dieser oder jener der Vordenker der Bewegung ist. Ich sage, dass alle Studierenden und Massen, die uns geholfen und sich beteiligt haben, die Helden sind.8
Quellen
ABC’s Richard Carleton interviewing Ghassan Kanafani, 16. 10. 1970. Online: https://www.abc.net.au/news/2024-09-19/abc-richard-carleton-interviewing-ghassa/104368218.
Chandan, Khan & Md Shahnawaz: A chronicle of the July Uprising, o. J. Online: https://thegreatwave.thedailystar.net/news/a-chronicle-of-the-july-uprising.
Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie. Übersetzt von Bernd Schwibs. Reihe Passagen. München 1976.
Deleuzees & Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin 1992.
Ghamari-Tabrizi, Behrooz: Foucault in Iran. Islamic Revolution after the Enlightenment. Muslim International. Minneapolis 2016.
Bildquellen
Artikelbild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Abu_Sayed_holding_flag.png#
Abb. 1: https://www.newagebd.net/post/country/242084/yunus-to-visit-abu-sayeeds-family-in-rangpur
Fußnoten
1: Nachgelassene Fragmente 1885 36[31].
2: Nachgelassene Fragmente 1885 38[12].
3: Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, S. 56.
4: Ghamari-Tabrizi, Foucault in Iran, 70. Frei übersetzt von der Autorin.
5: ABC’s Richard Carleton interviewing Ghassan Kanafani. Frei übersetzt von der Autorin.
6: Ghamari-Tabrizi, Foucault in Iran, 61. Frei übersetzt von der Autorin.
7: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus, S. 16.
8: Khan Chandan & Md Shahnawaz, A chronicle of the July Uprising.
Bangladesch begehrt auf
Der Wille zur Revolution
Für insgesamt 20 Jahre herrschte in Bangladesch ein eisernes, autoritäres Regime unter Sheikh Hasina, der Tochter des ersten Präsidenten seit der Unabhängigkeit des Landes von Pakistan, Sheikh Mujibur Rahman. Doch innerhalb kürzester Zeit brachen im Juli 2024 landesweite Aufstände von einer solchen Gewaltigkeit aus, dass sie Hasina nach nur einem Monat stürzten und ins Exil trieben. Wie kam es zu diesem Sieg von unten und wie helfen uns Nietzsches Wille zur Macht und seine Ausarbeitungen von Foucault und Deleuze weiter, um diesen historischen Moment zu verstehen?
Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien II
Kambodscha
Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien II
Kambodscha


Unsere Autorin Natalie Schulte ist neun Monate lang in Südostasien mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und berichtet in einer kurzen Essayreihe von ihren Reiseerfahrungen mit und ohne Nietzsche. Diesmal geht es um die weite Ebene Kambodschas und die Tempelanlagen von Angkor mitten im Dschungel.

Über die Grenze
Bei Cửa Khẩu Quốc Tế Mộc Bài oder für Zungenfaule auch kurz „Moc Bai“ geht es über die Grenze nach Kambodscha. Früh sind mein Freund und ich aufgestanden, früher noch als sonst, falls es Verzögerungen beim Grenzübergang gibt. Am Himmel prangt tagtäglich die glühend gelbe Sonne, brennt uns bereits mittags darnieder und keinesfalls sollte man es so weit kommen lassen, dass sich das eigne „heisse[] Herz […] [n]ach himmlischen Thränen und Thau-Geträufel“1 verzehrt, daher wir gewöhnlicherweise 5 Liter Wasser auf unseren Gepäckträger geschnallt haben.
Man würde meinen, so eine menschengemachte Linie zwischen dem einen und dem anderen Land sei unsichtbar und abgesehen von dem großen Beamtenaufgebot beim Übergang würde sich nicht viel Welt ändern. Dem ist, wie wir überrascht feststellen, nicht so. Nach dem Hoch und Runter vietnamesischen Küstengebiets, den vielen aneinandergedrängten Dörfern und Städten, den aufragenden Bergen liegt das Land plötzlich weit und flach vor uns. Ein gigantischer Himmel streckt sich von Horizont zu Horizont im hellen Licht des anbrechenden Tages.

Aufwärts fließende Ströme
Was hätte Nietzsche wohl zu diesem flachen Land gesagt? Denn trotz der vielversprechenden Namen werden wir weder das Kardamomgebirge noch die Elefantenberge sehen. Das Land bleibt für uns ein Pfannkuchen, was immerhin für mehr als 2/3 des Landes zutrifft. Ein großer Teil liegt nur so wenige Meter über dem Meeresspiegel, dass zur Regenzeit der Fluss seine Fließrichtung ändert, nicht mehr zum Meer, sondern zum Tonle-Sap-See fließt, der prompt von schon nicht unbeachtlichen 2.500 km² auf bis zu 20.000 km² anschwillt. Der Bodensee zum Vergleich ist nur 536 km² groß.
Nietzsches Lust an Umkehrungen hätte also eine hübsche bildliche Entsprechung bekommen. Und wer weiß, welch lustig-göttlicher Geist da am Werk war, als er mit prächtiger Tatze Kambodschas Mitte flach drückte. Müsste sich da nicht auch ein Freigeist, Reisender und Abenteurer im nietzscheschen Sinne wohlfühlen, der „[m]it einem bösen Lachen [um]dreht […], was er verhüllt, durch irgend eine Scham geschont findet: [d]er versucht, wie diese Dinge aussehn, wenn man sie umkehrt“2? … Aber Nietzsche hat ja nun nicht gerade die Ebene geliebt.

Von Höhen und Herausforderungen
Die wäre ihm zu wenig kontrastreich gewesen, denn an landschaftlichen Gegensätzen konnte es ihm, wie auch seinem philosophischen Propheten Zarathustra nie genug sein: „Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger, sagte er zu seinem Herzen, ich liebe die Ebenen nicht und es scheint, ich kann nicht lange still sitzen.“3 So liegen auch die vielsagenden glückseligen Inseln, auf denen Zarathustra mit seinen Freunden weilt, nicht nur naturgemäß am Meer, sondern beherbergen einen ganzen Bergkamm und dazu noch einen „schwarze[n] traurige[n] See“ (ebd.). Von den höchsten Höhn soll’s in die tiefsten Tiefen gehen, denn das Leben in seiner ganzen Fülle erfährt nur der, der seine Spannweite zwischen den extremsten Gegensätzen aufzuspannen vermag. Wer sich dagegen bloß „behaglich“ in seinem Leben einrichten möchte, der hat nach Nietzsche eben nicht viel vom Glück verstanden: „Ach, wie wenig wisst ihr vom Glücke des Menschen, ihr Behaglichen und Gutmüthigen! – denn das Glück und das Unglück sind zwei Geschwister und Zwillinge, die mit einander gross wachsen oder, wie bei euch, mit einander – klein bleiben!“4
Wir ahnen, nach Nietzsche ist keine Herausforderung je groß genug und gäbe es keine hohen Berge, so müssten wir sie selbst zusammenschaufeln, um sie zu besteigen. Und in der Tat könnte dieses Zusammenschaufeln in einer gottlosen Welt von uns verlangt werden. Denn nachdem wir – ebenfalls Nietzsches Philosophie zufolge – den Schwamm nahmen, „um den ganzen Horizont wegzuwischen“5, liegt‘s jetzt an uns, fröhlich nach Pinseln zu greifen und Eilande mit Gebirgen an die hinterste Linie zu setzen.
Gebirge jedenfalls sehen wir Radelnden durch Kambodscha nicht. Wir sehen den großen See, dessen umliegende Holzbauten auf Pfählen im rotbraunen Matsch des Slumgebiets stecken. Wir sehen tropische Steppe, und „[b]oshaft abendliche Sonnenblicke“6, die durch schwarze Palmen blinzeln, wir sehen die gelbe, rote, grüne Stoppelsteppe und über uns die blaue Kuppel des Himmels. Nie habe ich so viel Himmel gesehen, so viele Sonnenaufgänge, so malerische Wolken.

Schiefe Ebene
Nein, uninspiriert, so kann man diese Landschaft nicht nennen. Also welche Worte hätte ein auf dem Fahrrad radelnder Nietzsche wohl verfasst, wenn nicht diese hier: „Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen, - er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? in’s Nichts? in’s ‚durchbohrende Gefühl seines Nichts‘?“7
Wollen wir einen Moment lang vergessen, dass einem das Fahrradfahren unter brennender Sonne selten das Gefühl vermittelt, abwärts zu rollen, es sei denn ins „Nichts“, dann dürfen wir voilà die schiefe Ebene „umdrehen“, das „Rollen“ durchs „Strampeln“ ersetzen und schon evozieren diese Zeilen in mir das Bild eines Radfahrenden in Kambodscha. Nietzsche schrieb übrigens in diesem Abschnitt nichts über Landschaften, sondern über die in ihrer Grandiosität von der Wissenschaft gekränkte Menschheit. Die Kränkungen sind seit Nietzsche noch berühmter geworden, er selbst gehört mitunter hinzu, ansonsten sind es herkömmlich, wenn wir denn Freuds leicht selbstverliebter Selbststilisierung zu folgen bereit sind, wie wir wissen: Kopernikus: ‚Wir sind nicht der Mittelpunkt des Sonnensystems‘, Darwin: ‚Wir sind kein Abbild Gottes, sondern nächster Verwandter des Menschenaffen‘ und Freud: ‚Wir sind nicht Herr unserer eigenen Psyche‘. Das Interessante ist nun Nietzsche zufolge weniger die Kränkung als solche, sondern, dass wir auf sie stolz sind. Dass wir ehrliche Achtung vor der Ehrlichkeit haben, die uns so herabwürdigt. Das ist ein äußerst erhabenes, religiöses Gefühl: ‚Wie klein der Mensch doch ist‘, was für ‚ein Nichts der Mensch ist‘. Wissenschaft und Religion eignet eine Gemeinsamkeit, ihre Wurzel im asketischen Ideal, welches das irdische, menschliche Leben verleugnet, geringschätzt und ablehnt.

Nirwana und Nihilismus
Und wo wir gerade bei dem ‚Nichts‘ und den Religionen angekommen sind: In Kambodscha ist der Buddhismus allerorts präsent. Die in das farbenprächtige Orange der Morgensonne getunkten Gewänder der Mönche springen einem sofort ins Auge. Mönche allein oder in Gruppen begegnen uns auf der Straße, in Cafés und natürlich, als hätte sie ein Künstler ins Bild gesetzt, auf den herben, grauen Mauern Angkor Wats. Nicht alle scheinen allerdings dem Leben so abgeneigt, zumindest nicht den irdischen Genüssen und Süchten, wie ein paar rauchende Mönche vermuten lassen. Trotzdem, so weisen die zahlreichen Benimmschilder Angkors uns an, sollte man es als Frau tunlichst meiden, einen von ihnen anzufassen, um ihn nicht zu verunreinigen. Nun ja, die Misogynie der Religionen, sei es Christentum, Judentum, Islam oder auch Buddhismus, sind wir ja gewöhnt, hüben wie drüben. Da fällt es mir als Frau ein wenig schwerer, zu bedauern, dass die Menschheit vor ein paar hundert Jahren damit begann, mit großem Schwamm über die Leinwand zu wischen …
Trotzdem kommt man nicht umhin, ein wenig Wehmut angesichts des Transzendenzverlustes zu verspüren, wenn man durch den Urwald und die Tempel von Angkor streift. Mehr als 1.000 Tempelanlagen befinden sich in dem rund 200 km² großen Gebiet. Angkor Wat selbst ist die größte Tempelanlage der Welt. Die ersten wurden um 700 n. Chr. gebaut, die letzten um das 13. Jahrhundert, als sich das Zentrum des Khmer-Reiches langsam nach Phnom Penh verschob.

Vergängliche Gottheiten
Kraxelt man die großen, schwarzen Stufen des Baksei Chamkrong hinauf, die wie für einen Riesen gemacht zu sein scheinen, kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, sich der Würde eines Gottes angemessen gezeigt zu haben, mag sich doch Shiva, dem der Tempel geweiht ist, seine Opfer unter auf den Steinstufen verunglückenden Pilgern bereits selbst gewählt haben. Von den Höhen von Phnom Bakheng blickt man auf die Wipfel der Urwälder, lauscht den Geräuschen der Tiere, bewundert die rauchigen Streifen von Sonnenlicht, die durch Geäst und Blätter wandern. Hohe Geistigkeit, Selbstdisziplin, Streben, die alten harten Mauern scheinen zu fordern, zu wispern, zu fragen: ‚Wer bist du, dass du meine Höhe erklimmen darfst?‘

Des Thaus Trosttropfen
Hoch oben stehe ich und meine mich von einem elitären Geist umflattert. Rings um mich her seh’ ich all die Touristen in ihrer quietschbunten „bin-im-Urlaub“-Gagarobe durch die heiligen Hallen der Grabstätte alter Götter strömen. Da fühle ich einen narzisstischen Moment lang mit Nietzsche, als er nur sich und seinesgleichen individuelle Freiheit zugestehen wollte: „[E]s ist eine Nothdurft ersten Ranges, welche hier gebietet und fordert. Wir Andern sind die Ausnahme und die Gefahr, – wir bedürfen ewig der Vertheidigung! – Nun, es lässt sich wirklich etwas zu Gunsten der Ausnahme sagen, vorausgesetzt, dass sie nie Regel werden will.“8
Nur fürchte ich, auch ich bin nicht des Geistes Kind, den er in seinem esoterischen Zirkel gern gesehen hätte. Nach sieben Tagen in den luftigen Höhen vergangener Zeit werden wir Fahrradfahrenden uns wieder auf die Drahtesel schwingen, weiter die bloße Ebene erkunden und uns nicht nach Bergen sehnen. Im allerersten Morgengrauen fahren wir los, es geht gen thailändische Grenze, bald ist es Zeit für einen neuen Übergang. Und siehe da, an diesem Morgen, als wir von Sieam Reap aufbrechen, liegt sanfter Nebel über den Feldern, als wollte uns Kambodscha darüber hinwegtrösten, dass es auch in diesem Land nur Grabmäler von Göttern gibt. Und mir ist, als hört ich leise eine Stimme flüstern:
Ein Tropfen Thau’s? Ein Dunst und Duft der Ewigkeit? Hört ihr’s nicht? Riecht ihr’s nicht? Eben ward meine Welt vollkommen, Mitternacht ist auch Mittag, –
Schmerz ist auch eine Lust, Fluch ist auch ein Segen, Nacht ist auch eine Sonne, – geht davon oder ihr lernt: ein Weiser ist auch ein Narr.9

Die Bilder zu diesem Artikel sind Photographien der Autorin.
Fußnoten
1: Also sprach Zarathustra, Das Lied der Schwermuth, 3.
2: Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede, 3.
3: Also sprach Zarathustra, Der Wanderer.
4: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 338.
5: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 125.
6: Also sprach Zarathustra, Das Lied der Schwermuth, 3.
Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien II
Kambodscha
Unsere Autorin Natalie Schulte ist neun Monate lang in Südostasien mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und berichtet in einer kurzen Essayreihe von ihren Reiseerfahrungen mit und ohne Nietzsche. Diesmal geht es um die weite Ebene Kambodschas und die Tempelanlagen von Angkor mitten im Dschungel.
„Musik als Fürsprecherin“
Nietzsche und die befreiende Kraft der Tonkunst
„Musik als Fürsprecherin“
Nietzsche und die befreiende Kraft der Tonkunst


Nachdem Christian Saehrendt im Juni letzten Jahres auf diesem Blog einen vor allem biographischen Blick auf Nietzsches Verhältnis zur Musik richtete (Link), konzentriert sich Paul Stephan in diesem Artikel auf Nietzsches inhaltliche Aussagen zur Tonkunst und kommt zu einem etwas anderen Resultat: Für Nietzsche hat die Musik eine befreiende Potenz durch ihre subjektivierende Kraft. Sie bestätigt uns in unserem Selbstsein und inspiriert uns zum Widerstand gegen repressive Normen und Moralen. Das vermag allerdings nicht jede Musik. Beim späten Nietzsche ist das nicht mehr diejenige Richard Wagners, sondern Georges Bizets Oper Carmen. Unser Autor erkennt eine ähnliche Haltung in Sartres Roman Der Ekel und in der schwarzen Populärmusik, in der es nicht um Trost oder Trauer, sondern Bejahung und Überwindung geht.
Liebe ich die Musik? Ich weiß es nicht: auch hasse ich sie zu oft. Doch liebt mich die Musik, und sobald Jemand mich verläßt, springt sie herzu und will geliebt sein.
(Nachgelassene Fragmente 1882)
„Ich habe Durst nach einem Meister der Tonkunst, sagte ein Neuerer zu seinem Jünger, dass er mir meine Gedanken ablerne und sie fürderhin in seiner Sprache rede: so werde ich den Menschen besser zu Ohr und Herzen dringen. Mit Tönen kann man die Menschen zu jedem Irrthume und jeder Wahrheit verführen: wer vermöchte einen Ton zu widerlegen?“
(Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 106)
I. Von der Kunst zum Leben
Einer der wohl bekanntesten Sätze Nietzsches lautet: „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum“1. Der Satz klingt erst einmal schön und taugt für Kalendersprüche, Memes und Konzertansagen. Er wirkt wie ein pathetisches Bekenntnis zur Musik, fast ein wenig kitschig; jedenfalls philosophisch wenig tief. Wer möchte ihm nicht zustimmen?
Doch wie so oft ist es wichtig, den Kontext zu berücksichtigen, in dem Nietzsche ihn äußert. Die komplette Sentenz lautet nämlich: „Wie wenig gehört zum Glücke! Der Ton eines Dudelsacks. – Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum. Der Deutsche denkt sich selbst Gott liedersingend.“ Die auf den ersten Blick relativ seichte Aussage gewinnt so an Komplexität und Vieldeutigkeit: Bei dem „Ton eines Dudelsacks“ handelt es sich doch schließlich um die geradezu trivialste Form des musikalischen Ausdrucks, weit entfernt von den komplexen Klanggefügen der Kompositionen Beethovens, Chopins, Wagners oder Bizets, für die sich Nietzsche sonst begeistert. „Glück“ ist für Nietzsche zumal ein höchst zweideutiges Lebensziel. „Wir haben das Glück erfunden“2, sagen die „letzten Menschen“ in Also sprach Zarathustra und repräsentieren damit einen selbstzufriedenen Hedonismus, der Nietzsche ein Graus ist. Lieber ein heroisches, „gefährliches“3 Leben als ein glückliches – das ist sein Leitspruch. Wenn man ferner bedenkt, wie wenig schmeichelhaft er sich, gerade in der Götzen-Dämmerung, über die Deutschen und ihre Borniertheit äußert, legt das eine geradezu umgekehrte Deutung dieses Aphorismus nahe, als man sie auf den ersten Blick erwarten würde: Nietzsche möchte sich hier möglicherweise über genau diese sentimentale Sichtweise lustig machen und den „liedersingenden“ Gott der Deutschen. Er möchte für eine „dionysische“ Welthaltung plädieren, die das Leben ohne den schalen Trost der Musik und anderer Narkotika zu bejahen weiß.4
Ganz in diesem Sinne nimmt er in dem Vorwort der Neuauflage seines Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik5 auch deren Musikemphase zurück, die ihm im Rückblick als zu pessimistisch erscheint, als schlechtes Erbstück seiner damaligen Idole Wagner und Schopenhauer. Für Schopenhauer ist die Musik die höchste Form der Kunst, die geradezu unmittelbare Offenbarung des Weltwillens – Wagner knüpfte an diese Sichtweise begierig an und der frühe Nietzsche folgte ihnen darin. „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum“ ist, für sich genommen, eher ein schopenhaurianischer als ein Nietzsche’scher Satz. Mit diesem Ästhetizismus bricht Nietzsche, nachdem er in der eher peinlich wirkenden und in der Wirkungsgeschichte völlig vernachlässigten Propagandaschrift Richard Wagner in Bayreuth noch ein letztes Mal aufflammte, ab Menschliches, Allzumenschliches systematisch. „Kunst“, „Genie“, „Trost“, selbst das „Dionysische“ und das „Apollinische“ – all das wird nie gänzlich aufgegeben, aber immer wieder umkonfiguriert, um sich weitestmöglich vom Romantizismus zu distanzieren. Entgegen einem hartnäckigen Vorurteil ist Nietzsche in seiner mittleren und späten Werkphase kein Ästhetizist, sondern im Gegenteil ein sehr skeptischer Beobachter des Treibens der Künstler. „[N]ur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“6 hießt es noch in seinem Debütwerk – der späte Nietzsche lehnt schon die Frage nach einer solchen ‚Großrechtfertigung der Welt‘ als metaphysisch ab. Erst als ein solcher Kritiker der Kunst bzw. des traditionellen Kunstverständnisses konnte er überhaupt zu einem der wichtigsten philosophischen Vordenker der ästhetischen Moderne werden, deren Protagonisten genau eint, die Kunst nicht mehr als außerhalb des Lebens stehende tröstende Macht anzusehen, sondern als Teil des Lebens selbst. Wenn sie noch eine tiefere Wahrheit beansprucht, möchte die avantgardistische Kunst nicht mehr trösten oder erbauen, sondern verstören und schockieren. Sie tendiert in Richtung Anti- und Nicht-Kunst. Auf Bizet und Wagner mag man die Konzeption von Musik als Trost noch anwenden können – spätestens ab der Wiener Schule errichtet die avancierte Musik systematisch verstörende Klangwelten, die eher herausschreien „Das Leben ist ein Irrtum“ als das Gegenteil. Mit Komponisten wie John Cage tendiert die „Neue Musik“ nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr in Richtung Geräusch und Schweigen. Eine Großtendenz, der sich selbst die radikaleren Strömungen der Pop-Musik (Punk, Metal, bestimmte Formen des Rap und Techno …) nicht zu entziehen vermögen.7
II. Ablenkender Trost, aufrichtiger Schein
Wird aus dem begeisterten Wagner-Enthusiasten und Amateurkomponisten Nietzsche also ein Musikverächter? Hier stoßen wir erneut auf das Problem, dass sich Nietzsche ab Menschliches, Allzumenschliches systematisch weigert, ein Systematiker zu sein, und das trifft sogar besonders sowohl auf seine Äußerungen zur Kunst im Allgemeinen als auch zur Musik im Speziellen zu. Eine regelrechte ‚Ästhetik‘ oder ‚Philosophie der Musik‘, wie er sie in der Geburt der Tragödie noch zu konzipieren versuchte, lassen sich diesen heterogenen Äußerungen kaum mehr entnehmen außer die erwähnte Großtendenz zur Kunstskepsis, die die Kunst ihrer enthobenen Stellung beraubt und in die größeren Tendenzen des Lebens zurückholt, die die „Kunst der Kunstwerke“8 durch „jene höhere Kunst, die Kunst der Feste“ (ebd.) ersetzen möchte.
Doch bleiben wir bei der Musik. In der Geburt der Tragödie erscheint sie noch als Urgewalt, die das Subjekt aus seiner Normalität herausreißt und in einen vorsubjektiven Zustand versetzt, als eine Gewalt der Befreiung. Im Musikgenuss lässt sich für Nietzsche die Ureinheit zwischen Mensch und Mensch, Tier und Mensch, Mensch und Natur erfahren.9 Das klingt sogar ein wenig sozialistisch; doch der frühe Nietzsche ist ein strikter Ästhetizist, insofern er diese Erfahrung unbedingt in den Bereich der Kunst verbannt sehen möchte. Sie soll sich dort sogar ausagieren, um die Normalität nicht zu gefährden. Die in der Musik erlebte temporäre Befreiung ermöglicht also geradezu die gesellschaftliche Versklavung und Entfremdung. Man darf sich hier also ‚gehen lassen‘, um dann im Alltag wieder funktionieren zu können – und daran hat der frühe Nietzsche nichts auszusetzen, sondern das ist der Grund für seine Hoffnungen in Wagners Bayreuth-Projekt. An die Stelle der ausgehöhlten „optimistischen“ Ideologien des 18. und bisherigen 19. Jahrhunderts, die alle darin versagen, die sozialen Probleme wirklich zu beheben, soll eine neue „pessimistische“ Kultur treten, die sich nicht mehr rational, sondern ästhetisch rechtfertigt. Große tragische Musik im Stile Wagners als Abwehrmittel gegen das Proletariat und die Frauenemanzipation – die UFA, Hollywood und die heutige Club-Kultur lassen grüßen … Die Musik eignet sich für diese reaktionäre Programmatik vor allem dadurch, dass sie ohne Sprache, ja, ohne Bilder fasziniert. Sie kann die Massen unmittelbar ergreifen und gerade dadurch erfolgreicher manipulieren als die anderen Künste.
Aus Sicht des freigeistigen Nietzsche stellt sich die Sache nun sehr anders dar. Die Kunst erscheint ihm nun – man denke nur an das Motto dieses Blogs – neben Philosophie und Religion als eine fälschende Kraft, nicht mehr als Aufdeckung einer tieferen Seinswahrheit. Sie ist eine Art und Weise, wie der Mensch sich die Welt zurechtmacht, um in ihr überhaupt einen Sinn finden zu können.10 Insofern steht sie der Wahrheit nicht näher als die anderen Modi der Verfälschung, auch wenn sich für Nietzsche die Fälschungspraxis der Kunst dadurch unterscheidet, dass sie ja bewusst erfolgt und insofern aufrichtiger ist als diejenige der Religion und der Philosophie, die von sich behaupten, eine höhere Wahrheit auszudrücken. Der Künstler lügt ohne Scham und der Kunstbetrachter genießt bewusst den Schein der Kunst. In diesem Sinne ist die Kunst wahrhaftiger als Religion und Philosophie, aber ihre Werke darum nicht wahrer.11
III. Carmen gegen Isolde
Die Musik hat auch in diesem Stadium bei Nietzsche jedoch weiterhin eine besondere Bedeutung, da sie der Leiblichkeit des Menschen am nächsten steht. Sie dient dem Ausdruck unmittelbarer leiblicher Affekte und kann solche zumal hervorrufen und verstärken. Insbesondere im Zarathustra wertet er darum die Musik gegenüber der Sprache und der Imagination ab: Töne können ihm zufolge die leibliche Dimension des Menschen besser ausdrücken als Worte und Bilder. Sein Held Zarathustra tritt immer wieder als Tänzer oder Sänger in Erscheinung12 – und das Buch selbst ist mit seinen drei bzw. vier Büchern sichtlich als eine Art Symphonie angelegt.
Als Beurteilungskriterium für Musik verbleibt somit, welcher Art von Affekten sie mithin Ausdruck verleiht und welche sie verstärkt oder gar hervorruft: Sind es weltverneinende Affekte, die uns trösten und von der Wirklichkeit des Lebens ablenken (Trauer, lähmende Erinnerungen, Ressentiment) – oder lebensbejahende, die uns mit der Wirklichkeit verbinden und zur Aktivität anfeuern (Freude, Übermut, Lachen, fröhliches Vergessen)?13 In seinen letzten Schriften erscheint Wagner als Vertreter der ersten Form der Musik. Seine komplexe, sich an die Grenzen der Tonalität vorwagende Harmonik erscheint Nietzsche nun als eine Musik der Betörung und Verhexung, die uns über das Leben imaginär heraushebt und einen faden Trost spendet. Vor diesem Hintergrund erscheint Wagners späte Hinwendung zum Christentum nur konsequent. Es ist eine Musik, die uns das Leid vergessen macht, aber nicht wirklich darüber hinauskommen lässt. Ihre Wirkung ist Faszination, nicht Befreiung.14
Anders hingegen die harmonisch vergleichsweise schlichtere, zugänglichere Musik Bizets, die heutigen Musikkennern als geradezu ‚populär‘ gilt. Seine leichte Oper Carmen konfrontiert Nietzsche polemisch mit Wagners schwülstigem „Bühneweihespiel“ Parsifal. Bizet ist ihm zufolge im Gegensatz zum dekadenten Tröster Wagner „das letzte Genie, welches eine neue Schönheit und Verführung gesehn“15 hat; er schrieb Musik für „gute Europäer“ (ebd.), entdeckte „ein Stück Süden der Musik“ (ebd.).
Was er in dieser Oper erblickt, könnte man vielleicht am ehesten als ‚fröhlichen Realismus der großen Leidenschaften‘ bezeichnen. Hier wird nicht dem Leben als „Irrthum“ entsagt, sondern das Leben in seinem ganzen Leid vielmehr als Irrtum bejaht und es werden lebensbejahende Affekte wie Stolz, Freude, Eifersucht und zum Wahnsinn gesteigerte Liebe dargestellt.16 Die Handlung ist nicht in einer mythologischen Parallelwelt angesiedelt, sondern in der Realität des 19. Jahrhunderts, es treten nicht nordische Helden, sondern Arbeiterinnen einer Zigarrenfabrik, Prostituierte, Soldaten, Schmuggler, Stierkämpfer auf die Bühne. Carmen ist eine selbstbewusste Frau, die die Männer bewusst manipuliert und ihrer Leidenschaft folgt. Im Vergleich zu Wagners ‚Maiden‘ geradezu eine Feministin, auch wenn sie am Ende einem ‚Femizid‘ zum Opfer fällt. Und sie verkörpert nicht zuletzt einen südlichen, außereuropäischen Typus, dem sich der „gute Europäer“ annähern soll, um sich „vom feuchten Norden“17 zu erlösen: „[I]hre Heiterkeit ist afrikanisch“ (ebd.). Es ist diese nicht betäubende, sondern belebende, nicht faszinierende, also desubjektiverende, sondern begeisternde, ermächtigende, Musik, die dem späten Nietzsche zufolge befreiend wirkt und die bassline der Philosophie vorzugeben vermag, sie verleiblicht, belebt, verwirklicht:
Hat man bemerkt, dass die Musik den Geist frei macht? dem Gedanken Flügel giebt? dass man um so mehr Philosoph wird, je mehr man Musiker wird? – Der graue Himmel der Abstraktion wie von Blitzen durchzuckt; das Licht stark genug für alles Filigran der Dinge; die grossen Probleme nahe zum Greifen; die Welt wie von einem Berge aus überblickt. – Ich definirte eben das philosophische Pathos.18
IV. Musik der Selbstbejahung
Mit dieser Position ist Nietzsche sehr fern vom elitären Gestus der Avantgarden und insbesondere der Neuen Musik. Mahler, Schönberg, selbst Cage, wären in diesem Sinne als Repräsentanten des ‚Typus‘ Wagner anzusehen, als Schöpfer einer lebensverneinenden Trauermusik, in der sich das untergehende Abendland selbst bemitleidet.
Nietzsche eher entsprechen dürfte der berühmte Schluss von Sartres Roman Der Ekel. Der Protagonist Antoine Roquentin hat sich dazu entschlossen, die Kleinstadt, in der er lebt, zu verlassen und nach Paris zu gehen, doch das Gefühl des Überdrusses und Weltschmerzes, der „Ekel“, bleibt. Er ist, mit Nietzsche gesprochen, in Ressentiment und Nihilismus gefangen, sieht keinen Sinn mehr in seiner Existenz. Beim Hören des Jazzsongs Some of These Days ereilt ihn eine Epiphanie: Dieser Song ist einfach da und repräsentiert ein Sein, das nicht fremd ist, das das Begehren nach Sinn nicht kalt zurückweist, sondern aus sich selbst heraus sinnvoll ist – einfach dadurch, dass es existiert. Diese Epiphanie ermöglicht es Roquentin, seine Sinnkrise zu überwinden. Er entschließt sich, selbst ein solches Werk zu schaffen, das für sich steht und dem absurden Sein trotzt:
Sie singt. Diese beiden sind gerettet: der Jude und die Negerin. Gerettet. […] [S]ie haben sich von der Sünde zu existieren reingewaschen. Nicht völlig natürlich – aber soweit ein Mensch es kann. […] Die Negerin singt. Man kann seine Existenz also rechtfertigen? Ein ganz klein wenig? […] Könnte ich nicht versuchen … Natürlich würde es sich nicht um ein Musikstück handeln … aber könnte ich nicht, in einer anderen Gattung …? Es müßte ein Buch sein […] Aber kein Geschichtsbuch: Die Geschichte spricht von dem, was existiert hat – nie kann ein Existierender die Existenz eines anderen Existierenden rechtfertigen. […] Eine andere Art von Buch. Ich weiß nicht so recht, welche – aber man müßte hinter den gedruckten Wörtern, hinter den Seiten etwas ahnen, das nicht existierte, das über der Existenz wäre. Eine Geschichte zum Beispiel, wie es keine geben kann, ein Abenteuer. Sie müßte schön sein und hart wie Stahl und müßte die Leute sich ihrer Existenz schämen lassen.19
In ganz ähnlicher Weise vernimmt der dem Norden überdrüssige Nietzsche in Carmens Gesang „die Logik in der Passion, die kürzeste Linie, die harte Nothwendigkeit“20. Es geht hier nicht um Trost, nicht um Sentimentalität, Romantik und Sehnsucht; weder die Auffindung eines tieferen Sinns in der Welt noch die endlose Trauer über seine Abwesenheit, sondern seine bewusste Schöpfung im Wissen darum, dass es eine Schöpfung ist, der in der Welt nichts entspricht. – Ganz in Nietzsches Sinne: „Und wie uns der maurische Tanz beruhigend zuredet! Wie in seiner lasciven Schwermuth selbst unsre Unersättlichkeit einmal Sattheit lernt!“ (Ebd.)
In dem Song, so melancholisch er sein mag, spürt Roquentin eine Selbstbejahung der aktiven Kraft des Menschen, sich mit der Absurdität der Welt nicht einfach abzufinden, sondern etwas aus sich zu machen. Diese Haltung ermöglicht es ihm, sich wieder ins Leben zu stürzen.
Diese Haltung hat eine nicht nur existentielle, sondern auch politische Dimension. Die affektive, begeisternde Kraft der Musik diente stets politischen Bewegungen aller Art, ihre Anhänger zu mobilisieren und zwischen ihnen eine Gemeinschaft zu stiften. Eine Kraft, die ‚jenseits von Gut und Böse‘ ist, insofern auch die verwerflichsten Bewegungen ihre niederen Affekte in Musik bannte. Doch man darf nicht vergessen, dass Wagner Reaktionär und Antisemit und Hitler und die Nazis begeisterte Verehrer des ‚Meisters aus Leipzig‘ waren. Auch hier war, gerade in der Musik, die Grundstimmung eine weltverneinende, eine Obsession für den Tod, das Nichts, eine Obsession für die Obsession in Gestalt einer ewig unbefriedigten Sehnsucht, die sich schließlich in der Praxis der Selbstzerstörung entlud. Der Zweite Weltkrieg als Inszenierung einer Wagner-Oper inklusive abschließendem Weltenbrand.
Wie anders klingen die heroischen Kampflieder der von Nietzsche missverstandenen revolutionären Bewegungen derselben Zeit. Hier drücken sich genau die Affekte aus, die er an Carmen bewundert. Kein Schwulst, keine Selbstverkleinerung, keine Faszination, sondern eine Musik der Selbstermächtigung. Als Beispiel hierfür kann der „Sound“ der schwarzen Emanzipationsbewegung dienen. Die selbst von antifaschistischen Avantgardisten wie Adorno als „N***-Musik“ missdeutete Musik der Schwarzen21 drückte stets den Unfrieden mit der Monotonie des Sklavendaseins und die Sehnsucht nach der Freiheit aus – doch dies in keiner ressentimenthaften Form, sondern selbst im Blues noch von einer tiefen Grundstimmung der Lebensbejahung getragen. Die Gesellschaft schubst mich herum, mein Mädchen verlässt mich, ich bin wieder auf der Straße „like a rolling stone“22, doch ich beiße trotzdem die Zähne zusammen und mache weiter.
In seinem Song Hurricane (1975) setzte Bob Dylan dem schwarzen Boxer Rubin „Hurricane“ Carter ein musikalisches Denkmal, der 1967, so Dylans Darstellung, zu Unrecht des dreifachen Mordes verurteilt wurde von einer nur mit Weißen besetzten Jury, einfach, weil es ja der „crazy n***“ gewesen sein musste. Der Text erzählt einfach nüchtern die Geschichte. Es geht nicht um Rache, es wird nicht weinerlich das Unrecht der Welt beklagt, es wird einfach nur gesagt, was der Fall ist, so dass es jeder versteht: Hier wurde jemand des Mordes verurteilt nur aufgrund seiner Hautfarbe. Während seine Ankläger, die wahren Kriminellen, am Strand Martinis trinken, muss er, der fast Weltmeister geworden wäre, in einer Gefängniszelle sitzen. Doch für Resignation, für Sentimentalität, für Romantik gibt es keinen Grund. Der nach vorne gerichtete, schnelle Sound des Songs macht es klar: Wir werden dieses Unrecht nicht vergessen, doch wir werden darum auch nicht in Trauer versinken – denn dann hätten die Ankläger ja gewonnen. Wir werden einfach damit weitermachen, die rassistischen „Idioten“ zu bekämpfen, wo wir nur können. „One time he coulda been / The champion of the world“ singt Dylan, „Eines Tages hätte er Weltmeister werden können“, doch es klingt fast wie „One time he‘s gonna be / The champion of the world“ – „Eines Tages wird er Weltmeister sein“. Keine Zeit, über verpasste Gelegenheit zu trauern.
In etwa derselben Zeit, 1976, war es der schwarze Sänger James Brown, der dieser ‚nietzscheanischen‘ Attitüde noch deutlicher Ausdruck verlieh, als er sein Publikum in dem ebenso betitelten Song aufforderte: „Get up offa that thing / And dance 'till you feel better“ – „Steh von dem Ding auf / Und tanze, bis du dich besser fühlst“. Mit Nietzsche müsste man hier von einem Aufruf zur „aktiven Vergesslichkeit“23 und zur „Selbstüberwindung“24 sprechen: Immer wieder den A*** hochkriegen und trotz der negativen Erfahrungen, die man macht, sich nicht in der passiven Haltung des Ressentiments einrichten, sondern aktiv bleiben, so dass man immer wieder sagen kann: „I‘m black and I‘m proud.“ – „Ich bin schwarz und und ich bin stolz.“
Die befreiende Kraft der Musik liegt für Nietzsche also in ihrer Potenz, uns vom „Geist der Schwere“25 zu lösen und nach oben zu ziehen – um aus dieser Erhebung die Kraft zu gewinnen, das kaputt zu machen, was uns kaputt macht: „Und mag doch Alles zerbrechen, was an unseren Wahrheiten zerbrechen – kann! Manches Haus giebt es noch zu bauen!“26
Das Artikelbild stammt von der Leipziger Künstlerin Toni Braun (Link). Der Titel lautet Celestial Urging. Paul Stephan schrieb über dieses teilweise mit KI generierte Werk bereits an anderer Stelle auf diesem Blog (Link). Herzlichen Dank an die Künstlerin. Photo: Konrad Stöhr (Ausschnitt)
Quellen
Sartre, Jean-Paul: Der Ekel. Roman. Reinbek b. Hamburg 2004.
Sloterdijk, Peter: Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus. Frankfurt a. M. 1986.
Stephan, Paul: Langeweile im Dauerexzess. Nietzsche, der Rausch und die Kultur der Gegenwart. In: Dominik Becher (Hg.): Brisantes Denken. Friedrich Nietzsche in Philosophie und Popkultur. Leipzig 2019, S. 217–250.
Ders.: Nietzsches Non-Ästhetik. Nietzsche als Kritiker der Trennung von Leben und Kunst. Online.
Vogt, Jürgen: „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“. Über einen Satz Nietzsches in musikpädagogischer Absicht. In: Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik, online.
Fußnoten
1: Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile, 33.
2: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 5.
3: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 283.
4: Für eine entsprechende Deutung dieser Sentenz vgl. auch Vogt, „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“.
5: Vgl. Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik.
7: Vgl. zu Nietzsches Wandlung vom Ästhetizisten zum „Non-Ästhetiker“ auch Stephan, Nietzsches Non-Ästhetik. Zu Nietzsche und Techno vgl. speziell Stephan, Langeweile im Dauerexzess.
8: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 89.
9: Vgl. insb. das Ende des ersten Abschnitts der Tragödienschrift (Link), deren ‚sozialistischen‘ Anklang etwa Sloterdijk in Der Denker auf der Bühne betont.
10: Vgl. etwa Also sprach Zarathustra, Auf den glückseligen Inseln.
11: Vgl. etwa Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede 4 & Aph. 361.
12: „[S]ind alle Worte nicht für die Schweren gemacht? Lügen dem Leichten nicht alle Worte! Singe! sprich nicht mehr!“, heißt es etwa an einer markanten Stelle (vgl. Die sieben Siegel, 7).
13: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 370.
14: Vgl. insb. Nietzsches letzte große Polemik gegen Wagner, Der Fall Wagner sowie meinen Artikel Menke facinirt auf diesem Blog (Link).
15: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 254.
16: „Endlich die Liebe, die in die Natur zurückübersetzte Liebe! Nicht die Liebe einer ‚höheren Jungfrau‘! Keine Senta-Sentimentalität! Sondern die Liebe als Fatum, als Fatalität, cynisch, unschuldig, grausam – und eben darin Natur! Die Liebe, die in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhass der Geschlechter ist!“ (Der Fall Wagner, Turiner Brief, 1)
17: Der Fall Wagner, Turiner Brief, 2.
18: Der Fall Wagner, Turiner Brief, 1.
19: Sartre, Der Ekel, S. 277 f.
20: Der Fall Wagner, Turiner Brief, 2.
21: Wobei es hier nicht, wie gleich deutlich werden wird, um die Hautfarbe der Musiker geht, sondern einen bestimmten musikalischen Stil.
22: Vgl. Bob Dylans bekannten Song.
23: Zur Genealogie der Moral, II, 1.
24: Vgl. Also sprach Zarathustra, Von der Selbst-Ueberwindung.
„Musik als Fürsprecherin“
Nietzsche und die befreiende Kraft der Tonkunst
Nachdem Christian Saehrendt im Juni letzten Jahres auf diesem Blog einen vor allem biographischen Blick auf Nietzsches Verhältnis zur Musik richtete (Link), konzentriert sich Paul Stephan in diesem Artikel auf Nietzsches inhaltliche Aussagen zur Tonkunst und kommt zu einem etwas anderen Resultat: Für Nietzsche hat die Musik eine befreiende Potenz durch ihre subjektivierende Kraft. Sie bestätigt uns in unserem Selbstsein und inspiriert uns zum Widerstand gegen repressive Normen und Moralen. Das vermag allerdings nicht jede Musik. Beim späten Nietzsche ist das nicht mehr diejenige Richard Wagners, sondern Georges Bizets Oper Carmen. Unser Autor erkennt eine ähnliche Haltung in Sartres Roman Der Ekel und in der schwarzen Populärmusik, in der es nicht um Trost oder Trauer, sondern Bejahung und Überwindung geht.
Auf bedenklichen Wegen …
Eine Skizze zu Nietzsches Begriff des Wanderns
Auf bedenklichen Wegen …
Eine Skizze zu Nietzsches Begriff des Wanderns


Vielleicht ist es Nietzsches philosophische Haupterrungenschaft, dass er das Denken als einen Vorgang beschrieb, der leibhaftig geschieht. Reflexion ist für ihn eine kooperative Spannung von Leib und Geist. Das Denken ist geerdet in der nervösen Weltoffenheit des Leibes. Nietzsches Umkehrung des Christentums: Das Fleisch wird Wort. Damit zeigt sich Denken in Gesten. Im Folgenden soll eine Skizze geliefert werden, die die Haupttypen dieser reflexiven Gestiken andeutet. Es soll dadurch verdeutlicht werden, was es heißt, wenn sich Nietzsche selbst immer wieder als ein Wanderer beschreibt. Ein intellektueller Rundgang, der vom Stehen und dem Sitzen als Grundmodi der traditionellen Philosophie hin zum Gehen, (Aus-)Wandern und halkyonischen Fliegen als Nietzsches alternativen Modi eines befreiten Denkens und Lebens führt.
Wir gehören nicht zu Denen, die erst zwischen Büchern, auf den Anstoss von Büchern zu Gedanken kommen – unsre Gewohnheit ist, im Freien zu denken, gehend, springend, steigend, tanzend, am liebsten auf einsamen Bergen oder dicht am Meere, da wo selbst die Wege nachdenklich werden.1
I. Stehen
Wer steht, hat etwas zu sagen. Zumindest sollte diese Haltung einem genauen Standpunkt entsprechen, der in der exponierten Lage des Aufrechtseins eine Geltung für sich beansprucht. Die Agora, der Versammlungsplatz der antiken Polis, ist der prototypische Ort der Standpunktvertretung. Wer steht, will Mitsprache. Hannah Arendt sah in einer öffentlichen Mitsprache die Realisierung der vita activa als wesentlicher Dimension des Humanen. Das Streben nach Ruhm durch eine gelungene Interaktion in der Öffentlichkeit legitimiert die Gebürtigkeit, die „Natalität“. Eine solche Interaktion versteht es, den Impuls des Neuen, das mit jedem Leben auf die Welt kommt, in das schon vorhandene Gewand des Üblichen erfolgreich so einzuflechten, dass auch in anderen der Impuls zu ihrer innovativen Mitsprache stimuliert wird. An die Stelle des liegenden „Seins zum Tode“ der Sterblichen, das ihr Lehrer und Liebhaber Martin Heidegger als den dominanten Seinsmodus annahm, tritt bei Arendt das um Mitsprache ringende Sein, das auf der Geburt der Stehenden gründet. Über die „Freiheit frei zu sein“ (Arendt) belehrt jeder Gang durch die Straßen und Plätze einer Stadt. Die Orte des Urbanen erinnern uns gleich einem verborgenen Pantheon an die ruhmvollen Vorfahren, nach denen sie benannt sind. Für das Stehen bedeutet das: Wir stehen in dem Licht der Berühmten auf, die vor uns erfolgreich aufgestanden sind.
II. Sitzen
Wer steht, versteht nicht. Er will wirken. Wer sitzt, will nicht wirken. Er will verstehen. Wer sitzt, vertritt keine Standpunkte, sondern denkt über sie nach, zumindest in den europäischen Traditionsräumen. Blickt man nach Asien, so gewinnt die nichttätige Tätigkeit des Nur-Sitzens – zum Beispiel diejenige des „Zazen“ aus der japanischen Zentradition – vor allem den Zug ins Nicht-Denken. Demgegenüber realisiert sich europäisches Zazen in einer geistigen Sammlung, die durchdachte Zusammenhänge in begrifflicher Kohärenz hervorbringt. Das Unmittelbare versinkt und ein Sinnieren setzt ein, das weitgefasste Themen umfassen lernt. Die Nähe des alltäglichen „Geredes“ (Heidegger) weicht einer Konzentration, die, so das Pathos des sitzenden Denkens, die wesentlichen Dinge ergründet. Das typische Utensil des sitzenden Denkens ist das Buch. Der Sitzende sitzt zumeist um zu lesen und zu schreiben. Lesendes Schreiben und schreibendes Lesen sind die elementaren Bewegungen des sitzenden Denkens.
Das Ergebnis der europäischen sitzenden Bedächtigkeit könnte, wenn das Wort nicht allzukomisch klänge, als „Sitzpunkt“ tituliert werden. Mit dem Sitzen gewinnt das Denken eine erste Transformation. Sie schafft eine außeralltägliche Entschleunigung und Konzentration, die durch den Dialog mit abwesenden Geistern, vermittelt durch das Buch, neue Abstraktionsebenen erfindet und entdeckt. Mit dem Sitzen beginnt die vita contemplativa. Philosophisch ist das Sitzen wie ein luzides Sterben inmitten des Alltags.
Wenn der Sitzende wieder aufsteht, kehrt er zurück in die Welt der Standpunkte. Er tut dies idealerweise nicht nur, um seine alten Ansichten mit neuem Schwung zu vertreten. Wer philosophisch vom Sitzen wieder aufsteht, steht auf mit einer bestärkten aufklärerischen Anteilnahme. Diese äußert sich traditionell durch eine ungeläufig komplexe Form der Rhetorik, die ihre reflexiven Differenzierungsgewinne mitteilen möchte. Durch das Sitzen kommt die Besonnenheit in das Stehen.
III. Gehen
Wer geht, vertritt keine Standpunkte, er denkt auch nicht bloß über sie nach, sondern er denkt über das Nachdenken nach, das über Standpunkte nachdenkt. Mit Nietzsches Ansatz einer leibhaftigen Reflexion erreicht das Denken erstmals den Modus eines wahrhaften Gehens. Seine Idee, Leib und Geist als eine reflexive Nervosität aufeinander zu beziehen, entsteht als ein Verdacht gegenüber der sitzenden Bedächtigkeit und ihrer Grundfarbe des Graus. Nietzsches These: Die Unbeweglichkeit des Sitzens verleitet zu der Hypertrophie einer Bedächtigkeit, die das Leben zu sehr vom geistesgegenwärtigen Geist entfernt:
So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden. – Das Sitzfleisch – […] die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.2
Sitzendes Denken ist für Nietzsche zu unvital, um sachlich über das Leben nachdenken zu können. Es fehlt der Übermut und die Reaktivität der Geistesgegenwart. In der Langsamkeit des besinnlichen Sitzens geraten so schnell die weiten Horizonte und überraschenden Zusammenhänge aus dem Blick. Vor allem fehlt es dem Sitzen an der lebendigen Präsenz. Vor seiner zuschauenden Reflexion verflüchtigen sich die Phänomene. Denken als ein nervöses Reflektieren, das seinen Stimmungen ein Mitspracherecht erteilt, ist für das sitzende Denken ein Affront, der als Irrationalität wegrationalisiert wird.
Demgegenüber weiß der gehende Denker: Das Denken denkt nicht. Es sind Zustände, die denken. Das sitzende Denken ist ein verklemmtes Denken, das alles Mögliche bedenkt, nur nicht seine eigene Steifheit. Nietzsche erweitert so die universelle romantische Ironie gegenüber dem starren Text zu einer physiologischen Ironie gegenüber einer denkenden Identität. Nur weil man auf eine vielfältige Weise da ist, kann man Vielfalt denkend sein. Er dreht Descartes’ „Cogito ergo sum“, „ich denke, also bin ich“, um: „Sum ergo cogito“.
Mit Nietzsche erlangt die Philosophie somit eine erweiterte Sachlichkeit als leibliche Kohärenz. Die gelungene Theorie ist ein Gehen, das in das Erfahren gerät und beweglich genug ist, um es sprachlich auszuloten und zu verdeutlichen. Nietzsches Definition der vita contemplativa ist damit konstruktiv. Die „Denkend-Empfindenden“3 erdichten und verdichten Wirklichkeit durch ihre „vis creativa“ (ebd.), ihre schöpferische Kraft. Idealerweise unterwegs als „Spazierengehen mit Gedanken und Freunden“4. Nietzsche träumt sogar von einer umherschweifenden Urbanität, die seine früheren Träume von einem musikmythischen Bayreuth ablöst. Nach seiner Wagnerjüngerschaft geht es ihm um eine Kultur der Aufklärung mit „stille[n] und weite[n], weitgedehnte[n] Orte[n] zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen Hallengängen […] [W]ir wollen in uns spazieren gehen, wenn wir in diesen Hallen und Gärten wandeln.“5
IV. Wandern als Auswandern
Nietzsches gehendes Denken erkannte in einer kulturtherapeutischen Perspektive, dass eine Gesellschaft, die keine spaziergängerische Intellektualkultur zu Stande bringt, von ressentimen Kompensationen verstimmt wird. Eine sitzende Aufklärung verfällt letztlich einer Agonie, die sich an Moralisierungen auf eine ungute Weise ermuntert, indem sie immer wieder, unterstützt von irrationalen Mythen, zu polarisierenden Standpunkten mobilisiert. Wer das Gehen nicht kultiviert, wird das Marschieren ertragen müssen. Es ist diese giftige Kompensation für eine fehlende moderne Mobilität des Geistes, die Elias Canetti 1960 zu einer tiefsinnigen Deutung des deutschen Wesens und seiner romantischen „Sympathie mit dem Tode“ (Thomas Mann) verleitete: Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. In keinem modernen Land der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland.6
Wer das Marschieren nicht ertragen möchte, wandert aus. Daher ist die Beweglichkeit der Aufklärung ein Wandern. Man wandert, um gehen zu können. Und erst im neuerreichten Gehen wird man fähig, aus den hartnäckig mitgereisten Verstimmungen auszuwandern. So wird der Philosoph als Wanderer, der sich doppelt distanziert – von den Sitten einer Öffentlichkeit und von seinen verinnerlichten Prägungen –, zum Hüter des hellen Seins. Während Hegel den von ihm so genannten „Weg der Verzweiflung“ nur formal andachte, wird dieser für Nietzsche zu einer existenziellen Wahrheit. Krisen der Verzweiflung führen zu Überwindungen, die aus Umstimmungen hervorgehen, sich in Umwertungen kristallisieren und letztlich den Habitus von Umbeseelungen annehmen sollen. Dialektik wird zu einer „Kunst der Transfiguration“7, die sich von der Last der „kommandirenden Werthurtheile[]“8 und ihrer in Fleisch und Blut verinnerlichten Lebensgefühle befreien will. Dazu gehört, dass die Eiseskälte der fehlenden sozialen Nähe ertragen werden kann, um eine neue Lebendigkeit zu erlangen. Wandern besitzt so für Nietzsche, weil es sich überwinden und auch aus sich auswandern muss, die Intensität eines Bergsteigens. Nietzsches Geburt des Gedankens eines übermenschlichen Humanismus entsteht aus dem Geiste eines Daseins in Eis und Hochgebirge, dessen Movens eine „Wanderung im Verbotenen“9 ist. Nietzsches Metaphorik für diese Dimension des wandernden Denkens ist alpin:
Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! wie frei man athmet! wie Viel man unter sich fühlt! – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge […].10
Nietzsches Akklimatisierung an die Höhenluft bedeutet eine strikte Selektion von Ernährung, Wohnort und Art der Erholung. Um sich von Schopenhauers Pessimismus, Wagners romantisierender Tragik, dem preußischdeutschen Militarismus und der Stimmungsmache für die „pathetische und blutige Quacksalberei“11 der Revolutionen zu lösen, hört der Lebenswanderer Nietzsche intensiv Bizet, reist nach Sils und Genua, hält eine strikte Diät ein – „Keine Zwischenmahlzeiten, keinen Café: Café verdüstert. Thee nur morgens zuträglich“12 –, lebt im Verborgenen. Nietzsches Philosophie als „Entschluss zum Lebensdienste“ (Thomas Mann) im Modus des Wanderns ist weniger eine „Arbeit am Begriff“ (Hegel) als eine Kultur des Leiblichen. Dabei verabscheut der Kulturpsychologe Nietzsche „die Hoffnung auf plötzliche Genesung“13 und votiert für einen allmählichen Wandel durch kleine Dosen. Lebensreform des eigenen Lebens statt politischer Revolution gegen das System:
Soll eine Veränderung möglichst in die Tiefe gehen, so gebe man das Mittel in den kleinsten Dosen, aber unablässig auf weite Zeitstrecken hin! Was ist Grosses auf Einmal zu schaffen! So wollen wir uns hüten, den Zustand der Moral, an den wir gewöhnt sind, mit einer neuen Werthschätzung der Dinge Hals über Kopf und unter Gewaltsamkeiten zu vertauschen, – nein, wir wollen in ihm noch lange, lange fortleben – bis wir, sehr spät vermuthlich, inne werden, dass die neue Werthschätzung in uns zur überwiegenden Gewalt geworden ist und dass die kleinen Dosen derselben, an die wir uns von jetzt ab gewöhnen müssen, eine neue Natur in uns gelegt haben.14
Aus Genua schreibt Nietzsche von den Erfolgen seiner postheroischen Einsamkeit:
Wenn die Sonne scheint, gehe ich immer auf einen einsamen Felsen am Meer und liege dort im Freien unter meinem Sonnenschirm still, wie eine Eidechse; das hat mehrere Male meinem Kopfe wieder aufgeholfen. Meer und reiner Himmel! Was habe ich mich früher gequält! Täglich wasche ich den ganzen Körper und namentlich den ganzen Kopf, nebst starkem Frottiren.15
V. Wandern als Überwinden
Durch seine Beweglichkeit der Wanderung kommt aber bei Nietzsche noch eine weitere Dimension zu dieser Kinetik des Denkens hinzu. Nur am Leben zu sein auf therapeutischer Wanderschaft und an seiner Resilienz zu arbeiten, ist zu wenig. Leben will Lebendigkeit. Um sich zu erhalten, muss es sich in seiner Munterkeit steigern. Gehendes Denken mag mutig sein, erst durch das Wandern wird es übermütig. Der Wanderer Nietzsche erkennt: Der Flaschensauerstoff des Philosophen in der einsamen Höhenluft ist Selbstenthusiasmierung als eine Lust an einem neuen Weltentdecken. Wandern wird ein existenzielles Bearbeiten von existenziellen Themen.
Da Nietzsche eine konstitutive Erdung des Geistes im Leib wahrnimmt und reflektiert, muss seine Philosophie eine Thematisierung seiner Existenzspannung sein. Philosophie kommt nicht aus der Haut heraus, die es denken lässt. Der „Perspektivismus“ von Nietzsche hat daher enge Grenzen. Er verläuft in den Bahnen der Grundstimmungen, in denen man lebt. Für Nietzsche heißt das, dass er die bipolare Vitalität seines Lebens philosophieren muss. Im Wechselspiel seiner minimalen und maximalen Vitalwerte kommt sein Denken zur Welt:
Von der Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen und Werthen, und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewissheit des reichen Lebens hinuntersehn in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts – das war meine längste Übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn irgend worin wurde ich darin Meister.16
Nietzsches Wandern meint, mit den Konstitutionsbedingungen eines erwanderten lebendigen Denkens zu experimentieren. Verzweiflungen werden nicht einfach aufgelöst, sie werden vielmehr aufgesucht. Nietzsches Ethos der gefährlichen Philosophie erfindet Sprachspiele, die aus Verzweiflungsspielen hervorgegangen sind. Anders als in Heideggers Der Feldweg – als Manifest des gewollt idyllischen Gehens in der „Weite und Weile“ der horizontalen Gegenden –, gewinnt Nietzsches wilde Besinnlichkeit Vertikalität. Nietzsches Wandern wird zu einer Art Laboratorium für Höhenexperimente, die danach forschen, wie weit man gehen kann. Sloterdijk weist in einer jüngeren Publikation darauf hin, dass vor allem das Phänomen der Vegetationsgrenze eine gewichtige Inspiration für Nietzsche gewesen sein müsste, um bei seinen „Randgängen der Lebendigkeit“ ein erweitertes Verständnis für die Natur und die menschliche Existenz zu erlangen.17 Gerade weil Nietzsche nicht mit beiden Beinen mitten im Leben steht, sondern immer auch jenseits des Lebens und diese Todeszone der Existenz immer wieder aufsucht, entdeckt sich für ihn das Leben neu. So wird aus der Notlage der Wanderschaft die Tugend einer präziseren Philosophie des Lebens. Eine gelungene Rezeption seiner Erkenntnisse und „wahre Ekstasen des Lernens“18 durch seine Philosophie, hält Nietzsche aber nur bei den Lesern für möglich, die seinen Spielraum der Höhen und Tiefen des Lebens nachvollziehen können, „denn ich komme aus Höhen, die kein Vogel je erflog, ich kenne Abgründe, in die noch kein Fuss sich verirrt hat“ (ebd.).
Den Gipfel erreicht Nietzsches gefährliche Meditation des Zwischenbereichs von absolut unwirtlicher Felsenhaftigkeit der Existenz und „unendliche[r] Lichtfülle und Glückstiefe“19 in seiner Idee von der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“, die in ihm nach eigener Aussage im August 1881 an dem Pyramidenfelsen von Surley kam. Nietzsche versucht mit dieser Idee eines modernisierten Kosmos die größte Herausforderung des aus dem Flachland ausgewanderten Wanderers zu bestehen, die darin liegt, dass das Wahre nicht mehr als das Schwere, Ernste, Tragische – man denke an die europäischen Megaprägungen durch Platons melancholisches Konzept der „Anamnesia“ und Augustinus’ düstere Idee der „Erbsünde“ – aufgefasst und passiv ertragen wird. Der Schmerz der Wahrheit und die Wahrheit des Schmerzes wird dabei nicht geleugnet. Der Schmerz wird aber nicht mehr substanzialisiert. Ja zu sagen zu einem Kosmos, der alles genauso noch einmal wiederkehren lässt, bejaht ein Leben als Wanderschaft mit einer unternehmerischen Leistungsbereitschaft zur aktiven Gestaltung der Oszillation von Ankommenlassen und Sichüberwinden als neue Grundform eines postmetaphysischen Lebens, das sich darum bemüht, sein Bestes zu geben. Ohne Erfolge ist das Leben ein Irrtum, aber Scheitern gehört zum Geschäft des Seins. Dabei sein, dabei bleiben, bewusster bezeugen ist alles:
Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins.
Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins.
In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.20
Nietzsches Idee einer ewigen Wiederkunft ist ein postmetaphysisches Gedankenexperiment, das in einer Epoche, die vom Tod Gottes geprägt ist, eine existenzielle Resilienz provoziert. Mit dieser verlieren die in der Moderne politisch so verheerenden Schmerzkompensationen vom erlösenden Ganz-Anderen und vom rettenden Advent, der erhofften Wiederkunft Christi, ihr Charisma.
Das leibliche Denken, das das Spüren in das Reflektieren einführte, muss sich jedoch eingestehen: Die Zeit für eine allgemeine postmetaphysische Beweglichkeit ist noch nicht erreicht. Zuviel verlautbarendes Stehen, larmoyantes Sitzen, entrüstetes Marschieren und verwundetes Auswandern dominiert. Noch herrscht das Ressentiment. Eine entmutigende Philosophie der kulturkritischen Verdächtigung gibt den Ton an.
VI. Wandern als Fliegen
Nietzsches Wandern lässt seine Zeit hinter sich, um erneut in sie eintauchen zu können. Die erschwerte Beweglichkeit, die das Wandern als ein Auswandern aus überlebten Prägungen erfordert, beflügelt das Denken genauso wie die Versuche das Wandern als ein Experiment zu betreiben, das anzeigt, wie weit man gehen kann. Das Resultat ist eine Art physiologischer Dialektik: Im Wandern wandelt sich das Leben, das denkt, und das Denken, das lebt. Nietzsche erkannte: Wandern, das sich in seiner Schwere selbst bejaht, verändert seinen Aggregatzustand. Nun läuft Denken nicht mehr Gefahr, nur die Form eines betulichen Flanierens oder einer frivolen Munterkeit anzunehmen. Das Denken gelangt als ein Über-sich-hinaus-denken zu einem fluiden Modus. Als Über-Denken wird Philosophie zu einem Tanzen und letztlich von der eigenen Thermik getragen zu einem Fliegen. Das Ziel des Wanderns ist das Fliegen. Aus dem Wanderer und seinem Schatten wird ein Flieger und sein Himmel. Wege werden Startbahnen. Im Rückblick kann Nietzsche sagen: „Und all mein Wandern und Bergsteigen: eine Noth war’s nur und ein Behelf des Unbeholfenen: – fliegen allein will mein ganzer Wille“21.
Aus dem Wandern entsteht ein Fliegen, das, wenn es gelingt, halkyonisch wird. Das letzte Denken ist Halkyonik. Die höchste Kinetik des Denkens wiederholt so die Ruhe des antiken Denkens als Schau auf eine reflektiertere Art und Weise. Hier ist kein vormoderner Gott und keine moderne Selbstenthusiasmierung mehr nötig. Dasein reicht. Die Kontingenz, die im modernen Existenzialismus als „Ekel“ (Sartre), als das „Absurde“ (Camus), als „Seinsverlassenheit“ (Heidegger) philosophisch emotionalisiert wird, zeigt sich beim Wanderer Nietzsche als „der Himmel Zufall“ (ebd.). Damit wird der physiologische Stimmungsgrund des Ressentiments trockengelegt. Wenn das Dasein nicht mehr „fundamentalontologisch“ gedeutet wird, als etwas, was von fahlen und absurden Grundstimmungen durchzogen ist, verlieren die tragischen Deutungen des Seins ihre Berechtigung. Wo Heidegger suggeriert, dass „eine tiefe Langweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin und herzieht“22 und den klaren Willen des Erzkonservativen erkennen lässt, aus diesem Phänomen einen neuen Notstand als „Not der Notlosigkeit“ herbeizuphilosophieren, so weist Nietzsches Halkyonismus auf die Unschuld der Kontingenz hin. Langeweile als Flaute des Lebens stellt vielmehr eine Phase da, die neuen Winden vorhergeht. Kein wabernder Nebel taucht das Dasein grundsätzlich in ein fahles Grau. Es liegt vielmehr immer wieder offen zu Tage wie ein weites Feld, auf dem wie im tiefen Licht von Spätsommertagen Weltspannungen auftauchen wie schwebende, silberne Spinnenfäden, die zu Ideen verdichtet werden können. Gedanken werden zu einer Art Luftplankton. Halkyonische Kontingenz entdeckt das Realitätsprinzip als unverhoffte Leichtigkeit. Die deutlichste Verdichtung der hohen Töne, die das denkende Sein preisen, findet sich vielleicht in dem Abschnitt „Vor Sonnenaufgang“ im Zarathustra. In ihm preist das wandernde Cogito den Raum, der es fliegen lässt. Die Höhe als Ferne zum sozialen Du entbirgt eine neue Nähe zum Himmel, als Bedingung der Möglichkeit der Freiheit. Nietzsches Denken, das sich frei gewandert hat, beginnt zu singen, wenn es auf und aus diesen Denkhöhen zu sprechen kommt:
Oh Himmel über mir, du Reiner! Tiefer! Du Licht-Abgrund! Dich schauend schaudere ich vor göttlichen Begierden.
In deine Höhe mich zu werfen – das ist meine Tiefe! In deine Reinheit mich zu bergen – das ist meine Unschuld! [...]
Wir sind Freunde von Anbeginn: uns ist Gram und Grauen und Grund gemeinsam; noch die Sonne ist uns gemeinsam.
Wir reden nicht zu einander, weil wir zu Vieles wissen —: wir schweigen uns an, wir lächeln uns unser Wissen zu. [...]
Zusammen lernten wir Alles; zusammen lernten wir über uns zu uns selber aufsteigen und wolkenlos lächeln: –
– wolkenlos hinab lächeln aus lichten Augen und aus meilenweiter Ferne, wenn unter uns Zwang und Zweck und Schuld wie Regen dampfen.
Und wanderte ich allein: wes hungerte meine Seele in Nächten und Irr-Pfaden? Und stieg ich Berge, wen suchte ich je, wenn nicht dich, auf Bergen?
Und all mein Wandern und Bergsteigen: eine Noth war’s nur und ein Behelf des Unbeholfenen: – fliegen allein will mein ganzer Wille, in dich hinein fliegen!23
Quellen
Canetti, Elias: Masse und Macht. Frankfurt a. M. 1980.
Heidegger, Martin: Grundbegriffe der Metaphysik. Frankfurt a.M. 2001.
Sloterdijk, Peter: Wer noch kein Grau gedacht hat. Berlin 2022.
Fußnoten
1: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 366.
2: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 1.
3: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 301.
4: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 329.
5: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 280.
6: Vgl. Canetti, Masse und Macht, S. 190 f.
7: Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede, Abs. 3.
8: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 380.
10: Ebd.
12: Ecce homo, Warum ich so klug bin, 1.
14: Ebd.
15: Brief an Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 8. Januar 1881.
16: Ecce Homo, Warum ich so weise bin, 1.
17: Vgl. Sloterdijk, Wer noch kein Grau gedacht hat, S. 207 f.
18: Ecce homo, Warum ich so gute Bücher schreibe, 3.
20: Also sprach Zarathustra, Der Genesene, 2.
21: Also sprach Zarathustra, Vor Sonnen-Aufgang.
22: Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, S. 119.
Auf bedenklichen Wegen …
Eine Skizze zu Nietzsches Begriff des Wanderns
Vielleicht ist es Nietzsches philosophische Haupterrungenschaft, dass er das Denken als einen Vorgang beschrieb, der leibhaftig geschieht. Reflexion ist für ihn eine kooperative Spannung von Leib und Geist. Das Denken ist geerdet in der nervösen Weltoffenheit des Leibes. Nietzsches Umkehrung des Christentums: Das Fleisch wird Wort. Damit zeigt sich Denken in Gesten. Im Folgenden soll eine Skizze geliefert werden, die die Haupttypen dieser reflexiven Gestiken andeutet. Es soll dadurch verdeutlicht werden, was es heißt, wenn sich Nietzsche selbst immer wieder als ein Wanderer beschreibt. Ein intellektueller Rundgang, der vom Stehen und dem Sitzen als Grundmodi der traditionellen Philosophie hin zum Gehen, (Aus-)Wandern und halkyonischen Fliegen als Nietzsches alternativen Modi eines befreiten Denkens und Lebens führt.
Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien I
Vietnam
Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien I
Vietnam


Unsere Autorin Natalie Schulte ist neun Monate in Südostasien mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. 5.500 km hat sie zurückgelegt durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. Mit im Gepäck zur Motivation und Auseinandersetzung war wie schon häufiger Also sprach Zarathustra. Aber auch jenseits dieses Werkes waren Gedanken Nietzsches häufig präsent. In ihrer kurzen Essayreihe erzählt sie von ihren Reiseerfahrungen mit und ohne Nietzsche.

Ankunft
Während ich im anschnalllosen, vor Schmutz starrenden und nach Rauch stinkenden Taxi durch die Straßen von Hanoi gefahren werde und durch die verschmierte Fensterscheibe (Öl, Butter?) nach draußen zu gucken versuche, bekomme ich leichte Zweifel, ob diese Verkehrszone eine glückliche Wahl gewesen ist. Nietzsche ist Wanderer gewesen, er hat herrlich verführerische Sätze über das Reisen zu Fuß geschrieben. Der Reiz des Wanderns hat mich allerdings nie ergriffen. Ich mag es nicht, Berge erst hoch- und dann wieder hinunterzutrotten. In den meisten Fällen blickt der Wandernde auch gar nicht nach oben zu all den farbenprächtigen, wogenden Baumwipfeln und dem azurblauen Himmel, sondern zu Boden. Zu den Steinen und Wurzelfallen, über die auch der außergewöhnlichste Vagabund nicht stolpern will. Noch viel schlimmer ist es, in Gesellschaft zu wandern oder auf gut besuchten Wanderpfaden. Immer den Blick auf den vorangehenden Wandererhintern frustriert mich dieses langsame Geeier bereits nach wenigen Minuten. Wandern in Gesellschaft bringt böse und misanthropische Gedanken hervor, die sich gegen die Schnelleren und Fitteren vor uns richten. Ich wäre auch nicht gern der Vordermann, wenn ich wüsste, dass jemand wie ich mit solchen Gedanken hinter mir ginge.
Wandern zu Aussichtspunkten an schönen Sommertagen erinnert mich an Ameisenkolonien, die in eine hoch gelegene Sackgasse laufen – was suchen sie da oben? Da ist nichts zu fressen –, sich einmal umschauen – „Oh ist das schön, das hat sich aber gelohnt, gell?“ –, um dann wieder den Pfad hinunterzuwuseln, wieder der Vorderfrau hinterher, dann in eine Herberge und am nächsten Tag auf einen anderen Hügel. Ein reichlich sinnloses Unterfangen von einer angenommenen Vogelperspektive aus betrachtet, die ich auf Dauer nicht empfehlen will.

Rollende Sprachfamilie
Reisen mag ich allerdings gerne. Rollendes Reisen auf Rädern, genauer auf einem Fahrrad. Damit bekenne ich mich zu einer relativ neuen deutschen Tradition. Ihr seht im Ausland – gewöhnlicherweise europäisches Ausland – Fahrradreisende, gewöhnlich zwei schnaufende, schwitzende Gestalten im Fahrraddress, mit quietschorangenen Fahrradtaschen, Wasserflasche an der Mittelstange und Handy am Lenker. Dann könnt ihr euch sicher sein, dies sind Deutsche. Wenn nicht, dann ist’s ein Schweizer, also sowas wie ein idealer Deutscher, seltener kann man auch einen Österreicher, Belgier oder Luxemburger auf dem Fahrrad vorfinden, nur jemandem aus Liechtenstein bin ich noch nie begegnet. Dennoch neige ich zur Ansicht, dass es da etwas in der Sprache geben muss, das zur steten, zähen und sicherlich auch etwas monotonen Bewegung verführt. Der deutschsprachige Waldschrat hat seinen Tannenwald verlassen, die gepolsterte Fahrradhose angezogen und den Asphalt erobert.
Nun wird man zugegeben müssen, dass man auch hin und wieder mit dem Fahrrad Berge wird hochfahren müssen, sich genauso wie beim Wandern eher langsam fortbewegt und, wenn man zu zweit reist, es wieder eine Vorderfrau oder so gibt. Ja, das gebe ich zu und ich mag die Berge auf Fahrradreisen lieber von unten und von der Ferne aus, da kann ich sie prächtig genießen. Wenn man sich aber einmal zwangsweise die olle Steigung hinauf gequält hat, dann darf man sie immerhin hinterher hinunterheizen und seine Gedanken frei fliegen lassen.

Fließender Verkehr
Vielleicht, so denke ich allerdings im Taxi, das hupend über eine rote Ampel fährt, hätte ich doch mehr auf Nietzsche hören und es nochmal mit dem Wandern probieren sollen, denn hanoianischer Verkehr verführt nicht gerade zur Selbstbeteiligung. Und ob es mir tatsächlich gelingen wird, lebend aus der Achtmillionen-Einwohner-Stadt mit dem Fahrrad herauszufahren, scheint mir keine Frage mehr zu sein, die ich unbedingt beantwortet haben möchte. Ampeln dienen eher dekorativen Zwecken, weit wichtiger ist das akustische Signal der Hupe: „Achtung hier komme ich“. Immerhin ist der Verkehr in der Innenstadt langsam, denn alles, was sich bewegt, egal ob Fußgänger (in der Regel Touristen), Fahrradfahrer (gewöhnlicherweise ärmere Händler), Rollerfahrer (die dominanteste und größte Menge), Autofahrer (privilegiert, aber leider zu wenig wendig, um sich gegen die Lückenfahrer durchzusetzen), bewegt sich auf der Straße. Es gibt zwar auch Bürgersteige in Hanoi, aber die dienen zum Parken und wenn sie nicht zugeparkt sind, werden sie von den dahintergelegenen Geschäften als zusätzlicher Verkaufs- und Sitzraum belegt. Möchte man eine Straße überqueren, halte man sich an folgende Regel: Laufe langsam und gleichmäßig in den fließenden Verkehr hinein, bleibe nicht stehen und kehre nicht um, der Verkehr wird einfach um dich herum weiter fließen und dich am Leben lassen (wahrscheinlich).

Verkehrsindividualisten und Geisterfahrer
Für Nietzsche herrschen in Asien die Regeln eines Ameisenstaates, in dem jeder seine Rolle und Stellung kennt, der voll ist von willfährigen, gleichgeschalteten Arbeitssklaven. Zwischen China und Vietnam und anderen asiatischen Staaten hat Nietzsche nicht unterschieden. Am liebsten schreibt er von China und der „Chineserei“, was soviel bedeutet wie Mittelmäßigkeit, Mangel an Individualität sowie Bescheidenheit und andere seiner Meinung nach verwerfliche Tugenden.1 Halten wir uns nicht mit der Tatsache auf, dass Nietzsche mitnichten ein Philosoph der politischen Korrektheit gewesen ist. Er wäre es heute nicht und sofern man sich vorstellt, dass es auch damals eine Stimmung gab, die diesem Begriff entsprochen hat, so hat Nietzsche auch zu seinen Lebzeiten den gesellschaftlich angepassten und anständigen Tonfall verpasst. Asien beginnt für ihn, so lassen einige Aphorismen vermuten, in Russland und dann hört Asien lange nicht auf. Viele Differenzen gibt es nicht. Asien ist eine Metapher und keine Realität. Würde Nietzsche das heutige Hanoi besuchen kommen, die Realität würde ihn überraschen. Das sich selbst als kommunistisch begreifende Land – und auch bei Kommunismus bzw. Anarchismus denkt Nietzsche an Gleichschaltung – besteht aus Verkehrsindividualisten. Jeder ist anders, jeder trifft seine Entscheidungen. Soviel Individualismus aushalten zu können, ist für einen Europäer schwer. Müsste man sich nicht zumindest über die „Geisterfahrer“ im Verkehr beschweren und sie lautstark zurechtweisen, diejenigen, die mit ihrem vollbeladenen Gefährt oder ihrem Motorroller einfach in die entgegengesetzte Richtung fahren, weil sie gleich links abbiegen wollen? Aber wie soll man schimpfen, wie sich beschweren, wenn die Hupe, jenes volltönende Instrument der Zurechtweisung, seines ursprünglichen Zweckes beraubt und zu einem bloß deskriptiven Hinweis degradiert wurde?

„heute dies, morgen jenes“
Individualistisch ist auch das Set an Berufen, das die Vietnamesen wählen können. Vormittags ist er Klempner in einer Motorrollerwerkstatt, abends ist er Koch. Sie arbeitet als Friseuse, aber nur ein paar Stunden, denn ihr Geschäft ist auch bestens ausgestattet, um hervorragend dem Beruf einer Schlosserin nachzukommen. Fußmassage im Hinterzimmer, Teeladen im Eingangsbereich, alles kein Problem. Vielfalt statt Einheit, das gilt umso mehr in kulinarischer Hinsicht. Es gibt endlose Stände vom am Abend aus dem Boden schießenden „Minirestaurants“. Aus irgendwelchen Geschäftsräumen in Hinterzimmern von Werkstätten, Kleiderläden, Schuhgeschäften werden Plastikstühle und -tische auf die Straße gestellt. Gaskocher, Töpfe, Lebensmittel und Zutaten desgleichen. Überall steigt Rauch und Dampf diverser exotischer Gerichte auf. Welche Formulare, Genehmigungen, Bescheide, Zertifikate und Sonderzulassungen müsste man sich im guten alten Europa besorgen, um sowohl Werkstatt als auch Restaurant sein zu dürfen? Eins davon ist kompliziert genug. Denn in einem Land, das aus seiner Normalbevölkerung Angestellte machen möchte, ist die „Kleinunternehmerin“ nicht gern gesehen. Wer hier wohl Steuern zahlt? Und wenn ja, für was? Was auf diese Art dem Staat entgeht, das möchte man in unseren Breiten auch nicht zur Selbsternährung tolerieren.

Phantasie ab dem ersten OG
Als Balanceakt zwischen Traumerfüllung und auf Dauer gestelltem Provisorium könnte man auch all die Privatbauten begreifen. Es gibt zwar eine typische Architektur, schmale, lange, hohe Gebäude, die sich, kollektivistisch gesehen, gut und gern in Reih und Glied anordnen ließen, die aber beständig durch ihre künstlerisch individuelle Gestaltung aus dem Gleichmaß heraustanzen wollen: Dort der schmiedeeiserne Balkon, hier eine in einen Erker eingelassene Jungfrau Maria, drüben das Marmorimitat, hüben die zimtfarbenen Säulen. Vor die sorgfältig und phantasievoll gestaltete Fassade ist im Erdgeschoss die hinsichtlich Vielseitigkeit und Hässlichkeit nicht zu überbietende Garage gestellt, der beständige Beweis dafür, dass „form follows function“ keineswegs zu einer ansprechenden Ästhetik führt. Pragmatismus auf der Erde, Phantasie ab dem ersten Ober- bis zum Dachgeschoss. Die vietnamesische Vertikale, hätte die vielleicht Nietzsche gefallen?

Brücken aus Konfekt
Es gibt, so muss ich einsehen, immer ein Problem beim Dialog mit Verstorbenen. Wie kann man sich denn sicher sein, dass er kein Selbstgespräch ist? Wo enden unsere Interpretationen und wo beginnen die Projektionen? Ich hätte gern eine Spezialistin gefragt. Und Vietnam wäre vermutlich ein geeignetes Land dafür gewesen. Denn die Kontaktpflege zu verstorbenen Ahnen mittels Altar und Opfergaben ist allgegenwärtig. Wenn die Brücke zwischen den Reichen Jenseits und Diesseits aus Obst, Dosentee und Süßigkeiten errichtet ist, vielleicht kann dann bei so viel genussreicher Materialität das Jenseits gar nicht zu einer schalen, blassen und unglaubwürdigen Illusion verkommen?! Der Junge der Händlerin kniet ehrfürchtig vor dem Altar, betet oder verhandelt. Dann nimmt er die Drachenfrucht vom Altar fort und reicht sie mir als Geschenk der Toten. Da habe ich schlicht nicht zu fragen gewagt.
Die Bilder zu diesem Artikel sind Photographien der Autorin.
Fußnoten
Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien I
Vietnam
Unsere Autorin Natalie Schulte ist neun Monate in Südostasien mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. 5.500 km hat sie zurückgelegt durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. Mit im Gepäck zur Motivation und Auseinandersetzung war wie schon häufiger Also sprach Zarathustra. Aber auch jenseits dieses Werkes waren Gedanken Nietzsches häufig präsent. In ihrer kurzen Essayreihe erzählt sie von ihren Reiseerfahrungen mit und ohne Nietzsche.