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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches

Der Wille zum Kommentar

Ein Bericht über die diesjährige Tagung der Nietzsche-Gesellschaft

Der Wille zum Kommentar

Ein Bericht über die diesjährige Tagung der Nietzsche-Gesellschaft

21.11.24
Jonas Pohler

Der fast vollständig vorliegende Freiburger Nietzsche-Kommentar ist mittlerweile zu einem unverzichtbaren Werkzeug der Nietzsche-Forschung geworden. In akribischer Kleinstarbeit trugen die Autoren jahrelang nützliche Hinweise zu nahezu allen Aspekten von Nietzsches Werken (Entstehungsgeschichte, Quellen, Anspielungen, Rezeptionen, Interpretationen …) zusammen und kommentierten sie Passage für Passage, mitunter Satz für Satz und Wort für Wort. Auf der Seite des de Gruyter-Verlag sind fast alle der bisher erschienen Bände kostenlos abrufbar (Link). Auch Laien finden hier einen wahren Schatz von Hintergrundinformationen und Erläuterungen. Die drei federführenden Mitarbeiter des Projekts – sein langjähriger Leiter Andreas Urs Sommer, Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann – nahmen seinen Abschluss zum Anlass, um dem Thema „Nietzsche kommentieren“ die diesjährige Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft zu widmen. Sie blickten dabei nicht nur zurück, sondern auch nach vorne.

Der fast vollständig vorliegende Freiburger Nietzsche-Kommentar ist mittlerweile zu einem unverzichtbaren Werkzeug der Nietzsche-Forschung geworden. In akribischer Kleinstarbeit trugen die Autoren jahrelang nützliche Hinweise zu nahezu allen Aspekten von Nietzsches Werken (Entstehungsgeschichte, Quellen, Anspielungen, Rezeptionen, Interpretationen …) zusammen und kommentierten sie Passage für Passage, mitunter Satz für Satz und Wort für Wort. Auf der Seite des de Gruyter-Verlag sind fast alle der bisher erschienen Bände kostenlos abrufbar (Link). Auch Laien finden hier einen wahren Schatz von Hintergrundinformationen und Erläuterungen. Die drei federführenden Mitarbeiter des Projekts – sein langjähriger Leiter Andreas Urs Sommer, Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann – nahmen seinen Abschluss zum Anlass, um dem Thema „Nietzsche kommentieren“ die diesjährige Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft zu widmen. Sie blickten dabei nicht nur zurück, sondern auch nach vorne.

I. Frühling im Herbst

Obwohl nun schon Mitte Oktober ist, hat sich für die Dauer des diesjährigen internationalen Nietzschekongresses in Naumburg an der Saale Frühlingswetter eingestellt. In diesem Jahr steht die fünftägige Veranstaltung unter dem Motto „Nietzsche kommentieren“. Auf dem Flyer (siehe das Artikelbild): Nietzsche sitzend und lesend; auf der Spitze eines Bücherberges, der nur durch eine Leiter erklimmbar ist. Das Bild stammt von dem Hallenser Künstler Michael Girod, der seit 2006 fast sämtliche Plakate der Jahrestagungen gestaltet hat.

Die Veranstaltung stand unter der wissenschaftlichen Leitung der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Sebastian Kaufmann und Prof. Dr. Katharina Grätz sowie des Philosophen Prof. Dr. Andreas Urs Sommer, die alle dem Nietzsche-Forschungszentrum der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angehören. Alle drei sind in zentralen Funktionen am Freiburger Nietzsche-Kommentar, der an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften angesiedelt ist, beteiligt. Sommer ist zudem Direktor der Nietzsche-Stiftung.

Der Kongress ist eine Kooperationsveranstaltung der Friedrich-Nietzsche-Stiftung, der Nietzsche-Gesellschaft und des erwähnten Forschungszentrums. Veranstaltungsort war das sowohl moderne und zugleich beschauliche Nietzsche-Dokumentationszentrum, das direkt an das mit Weinranken gezierte Nietzsche-Haus angrenzt, deren Blätter in diesem Herbst wunderbar grell-rötlich schimmern. Hier ist Nietzsche zwar weder geboren noch gestorben, doch verbrachte hier seit 1858 seine Jugend und einige Jahre während seiner geistigen Umnachtung.1 Heute liegen direkt in der Nähe, neben dem historischen Stadtkern, ein Spielplatz und eine KiTa.

Zur Einstimmung des Kongresses, der vom Mittwoch, dem 16. 10. 2024 bis Sonntag, dem 20. 10. 2024 stattfand, hielt Renate Müller-Bruck einen Vortrag über ihr im Sommer erschienenes Büchlein „… zitternd vor bunter Seligkeit“. Nietzsche in Venedig. Müller- Bruck ist profilierte Nietzsche-Kennerin und war unter anderem Mitarbeiterin bei Mazzino Montinari. Montinari initiierte ab Mitte der 60er zusammen mit Giorgio Colli die Kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken, Nachlassfragmenten und Briefen, die die Grundlage für die in den 80ern publizierte Kritische Studienausgabe bildet. Montinari ist mithin eine, wenn nicht die wesentliche Figur der kritischen Editionsgeschichte der Schriften Nietzsches. Der Kongress wurde am Donnerstag mit verschiedenen Grußworten, unter anderem vom Naumburger Oberbürgermeister Armin Müller, Sommer und Prof. Dr. Marco Brusotti, dem Vorsitzenden der Nietzsche-Gesellschaft eröffnet. Die Einleitung übernahm, nach dem Programm, Katharina Grätz.

Blick auf den Balkon des Nietzsche-Hauses.

II. Der (un)populäre Philosoph

Noch vor dem Kongress, im Gespräch mit einem mir bekannten belgischen Wirtschaftsmanager, taucht die Veranstaltung als Thema auf. Der gutvernetzte Manager fragt, ob Nietzsche in Deutschland sehr bekannt sei. Also wie bekannt. Bekannt wie etwa … Sigmund Freud?! In Belgien sei man mit Freud wohl vertrauter, schätzt er ein. – Nietzsche ist für ihn ein Philosoph, nicht mehr, nicht weniger. Darüber hinaus kann er nichts sagen. Kennt keine der Schriften, ist vage vertraut mit dem Begriff „Übermensch“ und schätzt ihn korrekt ins 19. Jahrhundert. – Ähnlich wird es dem Durchschnittsbürger gehen: Schon mal gehört, ein Titel und ein, zwei Begriffe lassen sich vielleicht richtig erraten.

Für Liebhaber ist diese Vorstellung ernüchternd. Nichtsdestotrotz gehört Nietzsche wohl zu den großen Philosophen, die auch im Ausland und der Popkultur ihren festen Platz im Pantheon der Denker und Schriftsteller eingenommen haben – seine Zitate sind Gemeinplätze und Bonmots geworden. Insofern lebt er weiter, wenngleich Nietzsche sich nie ganz so als Posterboy eignete wie etwa Che Guevara, Karl Marx oder Jesus.

Es ist eine traurige Wahrheit, dass er für den Großteil unserer heutigen modernen Mitbürger mehr oder weniger eine Randnotiz geblieben sein wird. Das hat er mit den meisten Größen der Literatur- und Philosophiegeschichte gemein.
Zwar bleibt die Marke Nietzsche in gewisser Hinsicht ein Bildungs- und Intellektuellenphänomen, doch gilt gerade für Nietzsche, dass diese Sphäre sich immer wieder als porös erweist. Im Internet feiert er als Thema von Videos, als Ikone mit dem Schnurbart oder Referenzfigur für die verschiedensten Prominenten und Interpreten oder diejenigen, die sich für solche halten, Erfolge. Das Internet kommentiert Nietzsche und das nur selten so, wie die Wissenschaft es sich wünscht. Aber später mehr zu der Frage seiner Digitalisierung. Für die postmoderne Philosophie ist seine Bedeutung enorm, ebenso für die modernen Künstler und in ihrem Anhang die Popkultur, was sicher auch mit dem provokativen und anstößigen Charakter seiner Schriften zu tun hat. Immer wieder pflegte er mit romantischem Ganzheitsanspruch die künstlichen Grenzen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen zu überschreiten. Für die Veranstaltung möchte ich mir die Vorträge, die eine gewisse Popularität versprechen, ansehen und Nietzsche getrost dem Prinzip Zufall überlassen, man nimmt es mir hoffentlich nicht übel.

III. Destruktionen, Aufklärungen, Editionen

Der erste Vortrag, den ich am Freitag anhöre, überrascht durch seine Jovialität. Der Nachwuchswissenschaftler Milan Wenner spricht über den Freiburger Nietzsche-Kommentar. Bereits der Langtitel des Kommentars deute eine Spannung zwischen historischer und kritischer Edition an. Anders, als es der Titel des Vortrags Von der Destruktion zur Dekonstruktion? Der Freiburger-Nietzsche-Kommentar als wissenschaftsgeschichtliches Phänomen vermuten lässt, geht es hier weder um Martin Heidegger noch um Jacques Derrida, sondern um die Frage, wie die Editionswissenschaft sich von ihren stark philosophisch gefärbten Anfängen – dazu später mehr – hin zu einer mehr analytischen, textwissenschaftlichen Ausrichtung entwickelt hat: „Das Subjekt [Nietzsche] ausscheiden“ aus dem Text, heißt Dekonstruktion bei Wenner, das technische „lyrische Ich“ und die „Texte als Gewebe vieldeutiger Stimmen“ freizulegen.

Gleich der zweite Vortrag, an dem ich teilnehmen möchte, ist mir nicht möglich in seiner vollen Länge anzuhören, da sich an den Vortrag Wenners derart lebhafte Diskussionen in dem ohnehin überfüllten Raum entspannen, dass für mich nichts anderes übrigblieb, als zu bleiben. Die Stimmung ist allgemein heiterer und offener als von einem wissenschaftlichen Kongress zu erwarten gewesen wäre. Die Kürze der Sektionsvorträge von 20 Minuten mitsamt 10-minütiger Diskussion geben der Veranstaltung ein angenehmes Tempo. Auch das Publikum ist diverser als man vermuten könnte: Interessierte (ich spreche mit einem Musiker, einer Yoga-Lehrerin, einem Mechaniker), Experten, Professoren, Lehrer, Wissenschaftler und solche, die es werden wollen, aus einer Vielzahl verschiedener Länder und jeden Alters.

Am Nachmittag folgt eines der Herzstücke. Dr. Sarah Bianchi, ebenfalls eine junge Wissenschaftlerin, die sich in ihrer Forschung sowohl mit Mikropolitiken bei Adorno und Foucault als auch kritisch mit den Implikationen des sogenannten Digital Enhancement beschäftigte, hält einen Vortrag mit dem Titel Essayistisch lesen. Macht, Aufklärung und experimentalphilosophische Geschichte nach Nietzsche. Kommentieren, so Bianchi, sei bereits eine Aufklärungspraxis und – mit Nietzsche gesprochen – nicht nur eine Frage der Subjektivität essayistischen Künstlertums, sondern auch eine der Genealogie. Eine durchaus kontroverse Ansicht, da, wie später auch aus dem Publikum eingeworfen, sich die Frage stellt, ob Nietzsches und ihm folgend die Methode Foucaults nicht gerade in einer Unterminierung der Aufklärungsphilosophie und ihrer Subjektivitätsnarrative bestünde. Bianchi bezieht sich auf aktuelle französische Romanciers, u. a. Annie Ernaux und Édouard Louis. Es ginge darum, durch essayistisches Schreiben Diskursräume für Marginalisiertes zu schaffen und damit zur „Entlarvung von Ideologien“ beizutragen. Sowie zur Möglichkeit von „affekt- und machtsensiblen“ Positionen jenseits der „digitalen Perfektionslogik“ beizutragen, die im Gegensatz zu der oft prädisponierten Selbsthilfe- beziehungsweise Ratgeber-Literatur „kein therapeutisches oder naturalistisches, also triebbasiertes Verständnis, sondern ein machtbasiertes“ der Subjekte eröffneten.

Anschließend an den Vortrag Bianchis folgt eine Laudatio und Podiumsdiskussion mit Sommer, Kaufmann, Müller-Bruck und Grätz. Mit vor schweizerischem Charme und sanfter Ironie nur so spritzender freier Rede – dazu in druckreifen Lettern – erinnert Sommer an Prof. Dr. Karl Pestalozzi und Prof. Dr. Annemarie Pieper. Ersterer war unter anderem Präsident der Stiftung des Nietzsche-Hauses in Sils Maria2 und beteiligt an der Weiterführung der Kritischen Gesamtausgabe, letztere ihres Zeichens Mitherausgeberin der Kritischen Gesamtausgabe der Briefe und des Jahresbuchs der Nietzsche-Gesellschaft. In seiner Laudatio memoriae schildert Sommer Pestalozzi als integren und unwahrscheinlich gebildeten Repräsentanten der Universität Basel. Pieper hingegen als feministische und unangepasste Vorkämpferin in der Philosophie, deren akademiekritischen Roman Die Klugscheißer GmbH er mit einem langen Schmunzeln nicht unerwähnt lässt. Pieper verstarb im Februar diesen Jahres, Pestalozzi bereits im Sommer des vorherigen.

Katharina Grätz spricht über die Geschichte der Editionen des Weimarer Nietzsche-Archivs. Im Vordergrund von links nach rechts: Andreas Urs Sommer, Sebastian Kaufmann, Renate Müller-Bruck.

Aus der an den Vortrag anschließenden Podiumsdiskussion mit einem Titel, der auf den berühmten Essay Nietzsches rekurriert, Vom Nutzen und Nachteil des Nietzsche-Editierens für das (akademische) Leben, entschlüsselt sich, so erzählt mir auch Grätz beiläufig, das Motto des Kongresses. Es handelt sich um das Projekt einer „neuen kritischen Edition des Nachlasses“, das von Kaufmann näher erläutert wird. Mit einer digitalen genetischen Edition, für die Prof. Dr. Paolo d‘Iorio in Form der Website nietzschesource.org bereits einen Prototyp vorlegte, soll an die Vorarbeiten Montinaris und Collis angeschlossen werden. Die neue Ausgabe soll sich noch näher an den Originalen bewegen und eine digitale zitierfähige Quelle schaffen. Wie Kaufmann darlegt, beruhen Teile der Colli-/Montinari-Ausgabe auf Konjekturen – also herausgeberischen Eingriffen –, die den heutigen editionswissenschaftlichen Standards nicht mehr entsprächen. Dazu gehören stilistische „Korrekturen“, die nicht ohne interpretatorische Momente seitens der Editoren auskamen, sowie Probleme mit dem kritischen Apparat, die zu beheben das Projekt sich vornimmt.

In vielen Vorträgen nicht unerwähnt blieben auch die exemplarischen Jahre misslungener Editionspraxis seitens des Nietzsche-Archives unter der Ägide Elisabeth Förster-Nietzsches, deren Verwaltungspraktiken man, wenngleich sie nicht ohne Breitenwirkung blieben, als durchaus missbräuchlich bezeichnen kann. Eine nichtzitierfähige Quelle sei und bleibe – auch wenn sie in Teilen des internationalen Publikums noch immer unkritisch als genuines Werk Nietzsches gelte und als solches publiziert werde – das Buch Der Wille zur Macht, herausgegeben von der Schwester selbst und Nietzsches engem Vertrauten Heinrich Köselitz alias Peter Gast. Wie alle Redner nicht müde werden zu betonen: ein editorisches Konstrukt, eine sehr freie Interpretation der Editoren. Zugespitzt: Ein „philologischer Mumpitz“, der unter „falscher Flagge [dem Namen ‚Nietzsche‘]“ segelte, heißt es in einer der Reden an diesem Abend; und noch nicht einmal der einzige seiner Art.

Die Kritik lasse sich aber, so Kaufmann, auch auf heute übertragen. So entstand aus dem ungeordneten Sammelsurium der „Mythos des vermeintlichen Nachlasses“, der auch durch Colli und Montinari weiter befeuert wurde. Es stelle sich die ganze Palette editionswissenschaftlicher Fragen: Wie steht es mit der Reihenfolge, der Autorisierung; aber auch der korrekten Aus- und Bewertung z. B. der Frage, ob der Nachlass überhaupt als gleichrangiges Werk zu beurteilen sei? Selbst die Colli-/Montinari-Ausgabe unterliege so einer Interpretationsgeschichte und einem Filterungsprozess, den die neue Nachlass-Ausgabe auszugleichen suche und um die Möglichkeiten digitaler Editionsarbeit erweitern möchte. Das Projekt konnte bisher allerdings keinen Finanzier finden.

III. Geistesgegenwärtige Blütenlesen

Der Samstag ist noch frühlingshafter und wärmer, eine angenehme Brise weht – wieder: die Schönheit der roten Weinranken des Nietzsche-Hauses.

Nietzsches ehemaliges Studierzimmer mit ihm gewidmeten T-Shirts.

In dem Vortrag Die Blütenlese – ein unendlicher Kommentar stellt Dr. Catarina Caetano da Rosa, stellvertretende Leiterin des Dokumentationszentrums, ein Projekt vor, in dem sie Fundstellen über Nietzsche in der Sekundärliteratur und Hinweise auf solche penibel exzerpierte. Eine Sammlung aus Zitaten zweiter Hand, Bildern und Erwähnungen, die auf der Website des Dokumentationszentrums zu finden ist. Da Rosa erinnert dazu an die Liste von fantastischen Tiergruppen, die Michel Foucault in seiner Ordnung der Dinge von Jorge Luis Borges zitiert. Kurz gesagt handelt es sich zwar um mehr als ein eigenwilliges Kunstprojekt, vorläufig jedoch auch noch um kein rezeptionswissenschaftliches Vorhaben im strengen Sinne. Die experimentelle Sammlung veranschauliche ein „fragmentiertes Profil“ des Philosophen und den „Impulsgeber“ Nietzsche. In dem Raum im ehemaligen Studierzimmer im ersten Stock des Nietzsche-Hauses hängen einige poppige T-Shirts, die wie ein Querschnitt der Ikonografie des Philosophen wirken. Sie unterstreichen noch einmal seinen popkulturellen Einfluss, der sich nicht immer mit der Realität oder den historischen Kontexten decken muss.

Am Abend wird die große Verleihung des Internationalen Friedrich Nietzsche-Preises an Prof. Dr. Renate Reschke, eine Koryphäe der Nietzsche-Forschung, die insbesondere als eine der wenigen in der DDR zu Nietzsche forschte, gefeiert. Dotiert ist der Preis mit 15.000 €. Sie erhält Glückwünsche, Grußworte und Geschenke ihren Kollegen und dem Bürgermeister. Abgerundet wird der Festakt mit einer Laudatio von Prof. Dr. Christoph Türcke. Der Abend wird musikalisch mit einer Darbietung der Kompositionen Nietzsches mit Gesang und Klavier untermalt.

Reschkes eigener Vortrag unter dem Titel Vom Dilemma der Geistesgegenwart und dem fehlenden Sinn für Geschichte. Zur fortgesetzten Aktualität Nietzscheanischer Kulturkritik kennzeichnet eine wunderbar pessimistische Gegenwartsdiagnose – im Sinne von Nietzsches Zeit, aber auch unserer eigenen. Eigentlich, so Reschke, hätte sie lieber über das Thema „Warum ich keine Nietzscherianerin bin“ gesprochen, hatte sich aber dann doch für das vorliegende entschieden. Reschke setzt sich kritisch mit dem Begriff der „Geistesgegenwart“ und seinem Verhältnis zur Historie auseinander. Den enorm dichten und in Teilen polemischen Vortrag zusammenzufassen, erscheint mir an dieser Stelle weder möglich noch zielführend, vielmehr sei Reschkes wunderbar natürlicher Stil hervorgehoben, der ohne große Allüren auskommt. Nur selten wird sie ganz konkret: Aus ihr spricht das Philosophische, insofern bleibt ihr Vortrag in gewisser Hinsicht enigmatisch und im Raum der Abstrakta. Ihre Kritik richtet sich nicht nur gegen die Massenkultur moderner Medien, die eher dazu neigten, Gegenwart erstarren zu machen (Maschinenkultur, Beschleunigung usw.), sondern auch gegen das eigene Milieu, wobei auch die (politische) Rolle Nietzsches im vergangenen Ost-West-Konflikt, in dem er lange (für beide Systeme) als enfant terrible galt, nicht unberührt bleibt. Schöner konnte es wahrscheinlich nur Nietzsche selbst ausdrücken: „Nein, wir lieben die Menschheit nicht“3.

IV. Zwei Geister

Was sich am Ende des Kongresses glasklar darstellt, ist, wie eng Interpretation, Kritik und Editionswissenschaften beieinander liegen. So spielen, wie insbesondere der Streit um Elisabeth Förster-Nietzsches Verwaltung des Nachlasses anzeigt, immer wieder politische, ökonomische, aber auch private Interessen eine Rolle.

Für den Schluss ein letztes Bild: Zwei Gespenster, in Form zwei sich ausschließender methodologischer Lager, schienen den Kongress immer wieder heimzusuchen. Das eine, das an dem Konzept, der Figur und Persönlichkeit, einem authentischen Nietzsche sowie einer ihm eigenen Philosophie festhalten will, und das andere, dem es um die wissenschaftliche Analyse, technische Strukturen sowie die historischen und geistesgeschichtlichen Einflüsse in seinem Denken geht. Das Bild vom Kampf der wissenschaftlichen Liebe zur Wahrheit mit der theatralen Liebe zum Schein will man am Schluss nicht bemühen. Lieber verweile ich noch einen Moment beim Sonnenlicht und dem Wandel der Farben des Herbstes.

Jonas Pohler wurde 1995 in Hannover geboren. Er studierte Germanistik in Leipzig und schloss das Studium mit einem Master zum Thema „Theorie des Expressionismus und bei Franz Werfel“ ab. Er arbeitet jetzt in Leipzig als Sprachlehrer und engagiert sich in der Integrationsarbeit.

Bis auf das Artikelbild sind die Bilder zu diesem Artikel Photographien des Autors.

Fußnoten

1: Anm. d. Red.: Vgl. zum Nietzsche-Haus und seiner Geschichte auch diesen Artikel von Lukas Meisner auf diesem Blog.

2: Anm. d. Red.: Vgl. dazu den Artikel von Christian Saehrendt auf diesem Blog (Link).

3: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 377.

„Der höchste Gegenspieler“

Daniel Tutt und Henry Holland im Gespräch

„Der höchste Gegenspieler“

Daniel Tutt und Henry Holland im Gespräch

13.11.24
Henry Holland & Daniel Tutt

Nach zwei vorherigen Beiträgen zu Nietzsche in der Anglosphere für diesen Blog, interviewte Henry Holland den US-Amerikanischen Denker Daniel Tutt über seine Perspektive auf Nietzsche als wichtigsten Antagonisten der Linken. Dabei kam das Gespräch unter anderem auf Huey Newton, Anführer der Black Panthers in den 1970er-Jahren, und was dessen „parasitische“ Art Nietzsche zu lesen bewirkte. Eine unredigierte und ungekürzte Fassung dieses Interviews, im englischsprachigen O-Ton, ist auf dem Youtube-Kanal von Tutt anzuhören und anzuschauen (Link).

Nach zwei vorherigen Beiträgen zu Nietzsche in der Anglosphere für diesen Blog, interviewte Henry Holland den US-amerikanischen Denker Daniel Tutt über seine Perspektive auf Nietzsche als wichtigsten Antagonisten der Linken. Dabei kam das Gespräch unter anderem auf Huey Newton, Anführer der Black Panthers in den 1970er-Jahren, und was dessen „parasitische“ Art Nietzsche zu lesen bewirkte. Eine unredigierte und ungekürzte Fassung dieses Interviews, im englischsprachigen O-Ton, ist auf dem Youtube-Kanal von Tutt anzuhören und anzuschauen (Link).

Zusammenfassung

Das Gespräch kreist um Daniel Tutts Buch How to Read Like a Parasite. Why the Left Got High on Nietzsche, das Ende 2023 erschien. Henry Holland spricht Tutt zunächst auf seine Herkunft aus der Arbeiterklasse an, die Tutt in dem Buch immer wieder zum Thema macht. Tutt berichtet davon ausgehend von seiner ersten begeisterten Nietzsche-Lektüre als Jugendlicher und wie ihn Nietzsches Individualismus von der Entwicklung eines Klassenbewusstseins im marxistischen Sinne abbrachte. Er möchte aus diesem Grund an die marxistische Nietzsche-Kritik, wie sie etwa Georg Lukács und Domenico Losurdo artikulierten, anknüpfen. Holland fragt ihn dann nach seiner Einschätzung des Linksnietzscheanismus. Hierfür dient der in dem Buch auch thematisierte Huey Newton (1942-1989) als Beispiel, der in den 60er Jahren in den USA die Black Panther Party mitbegründete und in der Folge einer ihrer führenden Köpfe war; eine Organisation, die sich in radikaler Form für die Emanzipation der Schwarzen einsetzte. Das Gespräch kreist in der Folge darum, inwiefern die nietzscheanische Suche nach der Realisierung eines „höheren Selbst“ mit einer marxistischen Gesellschaftskritik und einem entsprechenden Engagement nicht doch kompatibel ist im Sinne einer „parasitären“ Lesart von Nietzsches eigentlich elitären und gegen die Arbeiterbewegung gerichteten Ideen. Unter kritischer Aufgreifung der Polemiken des zeitgenössischen Rechtsnietzscheaners Costin Alamariu begreifen Tutt und Holland Nietzsche als politisch vieldeutigen Verteidiger der individuellen wie kollektiven Überschreitung herrschender Normen.

Vollständiges Gespräch

I. Nietzsche und die Arbeiterklasse

Henry Holland: Einen großen Dank, Daniel – Daniel Tutt –, dass du bei uns sein kannst, für dieses Blog- und Video-Interview. Eher zufällig stieß ich auf dein neues Buch, nachdem Micky Wierda vom Repeater-Verlag mir das Werk für eine Besprechung nahelegte. How to Read Like a Parasite. Why the Left Got High on Nietzsche kam als Taschenbuch und E-Book Ende 2023 heraus. Es nimmt Lesende auf einer intellektuellen Reise mit über eine riesige Steppe der modernen Ideengeschichte, in der auch politische Wendepunkte – sei es etwa die Russische Revolution 1917, seien es die Tumulte von 1968 – stets präsent sind. Auf dieses faszinierende, aber auch bisweilen entsetzliche Territorium entführt, erfahren Lesende auch die Geschichten außerordentlicher nietzscheanischer Akteure. Und zu guter Letzt, mittendrin in dieser großen Historie, forcieren auch die Einblicke in deine Autobiographie, die du immer wieder einstreust, vielfach Perspektivwechsel. Kannst du an dieser Stelle kurz rekonstruieren, wie deine Biographie dich zu Nietzsche führte und erklären, warum deine Herkunft aus der Arbeiterklasse eine Schlüsselrolle in deinen Argumenten spielt?

Daniel Tutt: Zuerst auch ein Dank meiner Seite, es ist eine Ehre mit dir in einen Dialog zu treten. Wie du andeutest, las ich Nietzsche zum ersten Mal als sehr junger Student, Jenseits von Gut und Böse – und ich verstand fast gar nichts. Aber wie bei allen Texten Nietzsches – und weil es mit seinem anziehenden Stil doch etwas auf sich hat –, fühlte ich mich geradezu gezwungen, weiterzulesen und zu recherchieren, was eigentlich in diesem äußerst dynamischen Material vor sich geht. Es war also etwas vollkommen anderes als die übliche angloamerikanische analytische Philosophie, die ich an der Uni studierte. Und ich habe mich auch für Geschichte und Lyrik interessiert, das passte gut zusammen.

Ich hatte also diese Figur, die in mein Leben trat, die irgendwie alle meine fachlichen Interessen befriedigte und auch einen sehr tiefgründigen Kommentar zum modernen Leben, zur modernen Existenz abzugeben hatte. Nietzsche hat mich umgehauen, wie nur er es eben vermag, und ich glaube, er sprach auch ein Gefühl der rastlosen Erregung bei mir an, die ich nicht genau benennen oder lokalisieren konnte.

Du hast von der „Arbeiterklasse“ gesprochen: Das trifft sich. Es gehört zu den besonderen Absurditäten unseres gegenwärtigen Kapitalismus, dass im Verständnis vieler Spezialisten, Soziologen und sogar Philosophen so etwas wie die „Arbeiterklasse“ gar nicht mehr existiert. Diese Entwicklung bahnte sich in den letzten vier Generationen seit dem Zweiten Weltkrieg an. Infolge dieser Entwicklung ist allein die Kundgabe, dass man selbst aus dieser „Arbeiterklasse“ stammt, an sich schon ein Skandal. Damit betrachtet man seine Existenzweise aus der Perspektive eines bestimmten Antagonismus, der vom Status quo verdrängt wird. Denn der Status quo will die Welt nicht in Klassen sehen. Der Status quo will die Dinge in Bezug auf individuelle singuläre Agenten oder Agierende sehen, die versuchen, sich über ihre Beziehung zum Markt zu bestimmen. Dort wollen sie auch die „höchste“ Version ihrer eigenen „Marke“ – laut dieser Perspektive mit ihrem höchsten Selbst identisch – verwirklichen.1 Nietzsche machte mich aber nicht klassenbewusster. Eher glaube ich, dass die Lektüre Nietzsches mich damals von jedweder Formulierung eines Klassenbewusstseins abbrachte; dafür stattete sie mich aber mit dem nötigen Rüstzeug aus, um die Verwirklichung eines höheren und singulären Selbst zu versuchen. Und deshalb lautet der Titel meines ersten Kapitels: „Wir leben in Nietzsches Welt“. Genau deswegen halte ich sein Denken für so aktuell. Peter Sloterdijk spricht davon, dass es Nietzsches Anspruch war, uns das fünfte Evangelium zu bringen.2 Nietzsche kann also, laut Sloterdijk, als Prophet unserer heutigen Welt angesehen werden. Und damit aktualisiert auch Nietzsche die sokratische Maxime von der Erweiterung der Selbsterkenntnis.3 Er fügt aber diesem wichtigen Zusammenhang etwas Entscheidendes hinzu: Diejenigen, die sich um ein höheres Selbst bemühen, müssen einen gefährlichen Weg einschlagen, um weiterzukommen. Anders formuliert: Dieser Weg ist nur für wenige bestimmt. Das war für mich als junger Mensch der Reiz der Nietzsche-Lektüre, nämlich dass ich mein höheres Selbst erreichen und auch Teil dieser nietzscheanischen Community sein wollte, die aus außergewöhnlichen Persönlichkeiten bestand. Und damit kommen wir zum anderen großen Erzählstrang des Buches: Nietzsche – ausgerechnet er – als gemeinschaftsbildender Philosoph.

Falls man meiner Argumentation soweit folgen mag, denn muss man auch zugeben, dass es so etwas wie den Nietzscheanismus gibt, dass Nietzsche mehr als lediglich ein Philosoph der Gedankenexperimente oder ein Kritiker der Metaphysik gewesen ist. Und auch mehr als ein Philosoph, der wie ein reiner Einsiedler jenseits der Politik wirkt, der aus dem gesellschaftlichen Leben „subtrahiert“ werden kann und der unzeitgemäß ist.4 Und mein Buch stellt schließlich auch die Frage nach der Rückkehr zu Nietzsche, nachdem man sich schon einmal mit ihm vertraut gemacht hat. Dabei greife ich auf das zurück, was ich für eine lange vernachlässigte marxistische Kritik an Nietzsche halte.

II. Individualismus und sozialistische Bedrohung

Der Linksnietzscheaner Huey Newton 1967 in der Zeitschrift The Black Panther (Bd. 1, Aus. 6). Photographie von Blair Stapp (Bildquelle).

HH: Ja,  Georg Lukács‘ marxistische Kritik5 und Domenico Losurdos fast enzyklopädische neuere Schriften bilden tragende Säulen deines Buches.6 Unter den vielen verlockenden Faden, die du gerade ausrollst, lasst uns zuerst Nietzsches „Gemeinschaftsbildungsprojekt“ herausgreifen. Denn es gibt diese dir ja bekannte und sich penetrant am Leben haltende Debatte: Besitzen Nietzsches Schriften einen nennbaren Kern, ein definierbares Zentrum? Oder sind sie rettungslos dezentriert? Und hier nimmst du klare Stellung für ein „Zentrum“, für einen springenden Punkt in Nietzsches Philosophie, von dem alles andere ausgeht. Oder, präziser gefasst, für einen Kern von von Nietzsche absichtlich verbundenen springenden Punkten. Du führst vor, wie Nietzsches Denken im Kern auf den Aufbau einer elitären Community intellektueller Aktivisten abzielt, eine exklusive Intelligenzija, die wiederum realen Einfluss auf die Politik ausüben soll. Ein weiterer Teil dieses Kerns ist deiner Ansicht nach, dass Nietzsche Rangordnungen um jeden Preis beibehalten will, auch wenn das bedeutet, dass die Arbeiterklasse unterdrückt und in ihre Schranken gewiesen werden muss. Kurz gesagt, er will die bestehenden Tabus bezüglich eines Sich-Identifizierens mit der Arbeiterklasse, oder gar eines Klassenbewusstseins aufrechterhalten. Gerade vor diesem Hintergrund wäre es sinnvoll, über den einen oder anderen sogenannten „Linksnietzscheaner“ zu sprechen, die du im Buch anführst. Denn diese haben offensichtlich von einem „Klassenbewusstsein“ gesprochen im Zuge ihrer eigenen Bemühungen darum, intellektuelle Gemeinschaften aufzubauen. Wahrscheinlich ist die frappanteste Figur, die du in deinem Buch in dieser Hinsicht behandelst, Huey Newton (1942-1989). Newton, vor allem bekannt als einer der Mitbegründer der Black Panthers, kam aus einer völlig peripheren gesellschaftlichen Position, um plötzlich eine Führungsrolle innerhalb der radikalen Linken und vor allem der schwarzen Communities in den späten 60er und frühen 70er Jahren einzunehmen. Du beschreibst, wie Newton diesen Sprung schaffte: Durch eine „kreative Fehldeutung“ von Nietzsches Thesen über den Willen zur Macht.7 Das fand fast zeitgleich mit einem kulturellen Ereignis statt: 1968 erschien eine außerordentlich einflussreiche Neuübersetzung von Der Wille zur Macht, dieser verfälschenden Edition der Nachlassfragmente Nietzsches durch seine Schwester und ihre Mitarbeiter, übertragen von Walter Kaufmann und R. J. Hollingdale. Du stellst wiederum fest, dass Nietzsche, ab etwa 1971, eine stetige Größe in Newtons Denken war. Könntest du diese Zusammenhänge näher erörtern?

DT:  Sehr gerne. Ich entnehme deinen Ausführungen zwei Fragen. Eine davon betrifft Nietzsches Verhältnis zur Arbeiterklasse. Die zweite zielt darauf ab, wie ich Nietzsches sogenannten „Kern“ verstehe.

Wenn wir nun überhaupt die Behauptung wagen, dass Nietzsches Denken einen solchen „Kern“ besitzt, dann verstößt dies zunächst gegen die fest etablierte akademische Orthodoxie der French Theory8. Aber auch, wenn man sich zum Beispiel die US-amerikanischen Nietzsche-Interpretationen von Maudemarie Clark9 bis hin zu Brian Leiter10 anschaut, und das sind überwiegend analytisch geprägte nietzscheanische Ansätze, dann bestehen diese Denker ebenso darauf, dass wir es bei Nietzsche mit einem dezentrierten Denker zu tun haben. Auch wenn sie dies mit ganz anderen Argumenten begründen als etwa Derrida, Deleuze und Foucault, beharren sie doch auf demselben Punkt. Und dann existieren außerdem noch die verschiedenen Perspektiven auf Nietzsche, die eine genuin linke Nietzsche-Interpretation leiten könnten. Es ist in dieser Hinsicht von entscheidender Bedeutung klarzustellen, dass Nietzsche der plebejischen oder sogar der Arbeiterklasse nicht mit besonderem Hass entgegentritt. Es geht vielmehr darum, Nietzsches Begriffsbildung zu dieser Frage durch das Brennglas seiner breiteren Kritik der Sklavenmoral hindurch zu verstehen.  

Ich möchte in diesem Zusammenhang betonen, dass aus Nietzsches Sicht der Zustand der Arbeiterklasse nach der Französischen Revolution und nach der Entstehung des industriellen Kapitalismus ab den 1830er Jahren äußerst problematisch wurde. Er diagnostiziert, dass das Bewusstsein der Arbeiterklasse in dieser Periode mit Ideen der „Sklavenmoral“ durchtränkt wurde. Diese „Sklavenmoral“ ist vor allem deswegen problematisch, so Nietzsche in seinem Frühwerk, weil sie eine „optimistische Weltanschauung“ impliziert. Eine solche Einstellung beeinträchtige die Fähigkeit einer Kultur, individuelle „Genien“ hervorzubringen.

Wenn wir uns mit Nietzsches Frühschrift Schopenhauer als Erzieher auseinandersetzen, dann sehen wir eine Sache, die sich im Kielwasser Goethes bewegt: eine Abkehr von einem bestimmten Verständnis des Intellektuellen und von einem bestimmten Verständnis von Größe. Nietzsche bezeichnet Individuen, die eine solche Größe noch in sich tragen, als „höhere“ oder „werthvollste Exemplare“. Diesen gegenüber stellt Nietzsche die Philosophie des Ressentiments und der Sklavenmoral, welche Judaismus, Christentum und moderner Sozialismus miteinschließt und welche, laut diesem Verständnis, auf einer vulgären Auffassung von Gleichheit beharrt. Dadurch wird die volle Blüte der gerade erwähnten Form menschlicher Größe verhindert. Diese verhinderte Form nennt Nietzsche, im Gegensatz zur „optimistischen“, die tragische Weltanschauung. Schopenhauer ist nach dieser Leseart ein Philosoph, der das große Individuum nur in Begriffen der Kontemplation, nicht aber in Begriffen der Handlung denkt. Nietzsche legt also großen Wert auf die Notwendigkeit, die Sklavenmoral durch eine politische Praxis zu bekämpfen, die darauf bedacht ist, diesen möglichen Mann der Tat und des Genies zu erhalten. Denn die Bewegungen der Nivellierung, insbesondere der Sozialismus, scheinen diese Möglichkeit zu beseitigen. Und das ist bei Nietzsche eine Quelle tiefer Melancholie. Wir sollten auch anerkennen, dass Nietzsche selbst ein frühreifes Genie war, oder zumindest auf diese Weise betrachtet wurde, indem er mit nur vierundzwanzig Jahren auf so außergewöhnliche Weise eine ordentliche Professur erhielt.

III. Faustkämpfe mit dem Philosophen der Überschreitung

HH: Da sind einige heiße und gesprächswürdige Themen im Raum, die ich gerne aufgreife. Fangen wir mit der biographischen Perspektive an. Wiederholt empfinde ich Nietzsches Biographie als schlichtweg zu chaotisch, dass er, in seinem ozeanischen Werk, das er kaum zügeln konnte, ein kohärentes Zentrum hätte hinein gestalten können. Man denke nur an seine großen gesundheitlichen Einschränkungen, die sich bei ihm als gerade Erwachsenen einstellten und nicht weggingen. Man kommt in die Versuchung, seine eigenen krassen Worte, die er wiederholt gegen die wehrlosesten Teile der Bevölkerung gnadenlos richtete, auf ihn selbst anzuwenden. Ganz objektiv, also vor allem physiologisch gesehen, war er eine „kranke Natur“, und welchen Realitätsbezug haben die Aussagen einer solchen? „Das, was die Menschheit bisher ernsthaft erwogen hat, sind nicht einmal Realitäten, blosse Einbildungen, strenger geredet, Lügen aus den schlechten Instinkten kranker, im tiefsten Sinne schädlicher Naturen heraus“12. Solche schelmischen Versuchungen beiseite, aber dennoch vor dem gleichen Hintergrund: Bis zu welchem Grad willst du Nietzsche eine durchgeplante Absichtlichkeit in seinem Wirken zuschreiben? Gleichzeitig würde ich gerne auf Huey Newton zu sprechen kommen. In früheren Gesprächen zwischen uns empfahlst du nämlich einen faustkampfartigen Umgang mit Nietzsche. Kurzgefasst, du behauptest, wir können am meisten von „Nietzsches Politik“, „Nietzsche’s politics“, wie du es selbst formulierst, lernen, wenn wir diese im Zentrum seines Gesamtwerkes verortet sehen – und dabei Nietzsche wie einen Sparringpartner behandeln.

Und Newton ging auch faustkampfartig bei seiner Nietzsche-Lektüre vor. Bildhaft gesprochen, fand sie da draußen auf der Straße und bei Konfrontationen statt, es ging nicht um nette Lesegruppen von „Gutmenschen“, bei denen die Frage, wer jetzt beim Vorlesen dran wäre, den größtmöglichen Streitgegenstand bildet. Und in diesem Zusammenhang will ich auch die Frage der Transgression oder strafbaren Überschreitung nachgehen. Denn ich schlage vor, dass der Grund für Nietzsches Attraktion für so viele Lesende, einschließlich so viele Lesende aus der Arbeiterklasse13, darin liegt, dass er den Weg frei macht, so dass Individuen „berechtigten Transgressionen“ nachgehen können: So könnten wir solche Handlungen nennen.

In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, dass Newtons Mitführung der Black Panthers von diversen Überschreitungen der bürgerlichen Ordnung gekennzeichnet war, Transgressionen, die insgesamt emanzipatorisch auf ihre Protagonisten wirkten, selbst wenn sie immer wieder gewalttätig waren. Er wurde tatsächlich erst zu einer bundesweiten Führungsfigur in den USA, nachdem er im Oktober 1967 in tödliche Schüsse auf einen Polizisten involviert war. Nach diesem Todesfall, wofür er wegen Mordes angeklagt wurde – im Falle eines Schuldspruches hätten die Behörden ihm hingerichtet –, organisierte sich in den USA eine bundesweite „Free Huey“-Kampagne, an der eine Reihe entrechteter Gruppen beteiligt waren, darunter die Young Lords oder die sogenannten Latin Panthers. Diese Gruppen erkannten die rassistisch motivierte staatlicher Gewalt in dem, womit Newton konfrontiert war. In den Anklagepunkten gegen ihn wurde er aber nicht für schuldig befunden und konnte deswegen, und sozusagen ausgezeichnet durch die leibliche Erfahrung mit der Ahndung einer Transgression, eine Führungsrolle in seinen Organisationen übernehmen.14

Zuletzt will ich diese Frage bezüglich der berechtigten Überschreitung bei und mit Nietzsche mit einer Perspektive aus dem zeitgenössischen „Rechts–Nietzscheanismus“ verbinden und dich auch um deinen Standpunkt zum letzteren bitten. Es geht um das neue Buch von Costin Alamariu, den viele Menschen nur unter seinem draufgängerischen Social-Media-Pseudonym kennen: Bronze Age Pervert. Augenscheinlich geht es Alamariu um das Inszenieren und Herbeiführen von Transgressionen: Ob diese „berechtigt“ sind, ist aber eine andere Frage. Alamariu zufolge postulierte Nietzsche einen „glücklichen Moment“ in geschichtlichen Zyklen, in dem eine politische Schwäche eintritt, die zuvor erzwungene Homogenität zusammenbricht und eine lang in Regimen aufgestaute Spannung sich entlädt. (Kontra Alamariu denke ich an dieser Stelle auch an die repressive Homogenität des Arbeitslebens im Spätkapitalismus, die berührend in deinem Buch beleuchtet wird, Daniel.) Darüber hinaus behauptet Alamariu, dass diese Homogenität durch eine „tropische Vermehrung“ monströser Typen ersetzt wird, die meisten von ihnen schwach und/oder mangelhaft, aber einige wenige glücklicherweise stark und „wohlgeraten“. Und nun möchte ich Alamariu direkt zitieren: „Die Qualitäten oder Tugenden, die inneren Zustände, die das Ergebnis aristokratischer Erziehung und Erziehung sind, sind jetzt frei, um ihren Weg in neue, unerwartete Richtungen zu gehen. […] Man kommt auf neue Geschmäcker: auf das Neue als solches und auf eine Vorliebe für Überschreitung, eine Langeweile mit dem Gesetz ...“15

Selbst wenn ich wenig von Alamarius Polemik als Ganze halte, resoniert seine Schilderung an dieser Stelle stark mit den Kampagnen von Newton und weiteren linkspolitischen Akteuren in den Sechzigern und Siebzigern. Du stellst wiederum fest, Daniel, dass „Nietzsche die Krisen des Kapitalismus und die von ihnen aufgewirbelte Dekadenz offen verfocht“, denn diese „bieten eine Chance, die in ihnen offengelegte Brutalität [noch weiter] zu beschleunigen“16. Offensichtlich glaubst du nicht an einen Zusammenbruch unserer jetzigen politischen Ordnung, der sich emanzipatorisch für die meisten Menschen in der Arbeiterklasse auswirken würde: Und in dieser Gruppe siehst du auch die große Mehrheit der Weltbevölkerung. Würdest du dich dennoch dafür einsetzen, dass mehr Menschen auf den Geschmack der Überschreitung im positiven Sinne kommen?

DT: Das ist eine komplexe Frage, ich kann aber deinem Gedankengang folgen. Lass mich versuchen, die Frage auszupacken. Zunächst einmal: Warum glaube ich, dass Nietzsche für die Beschleunigung der Dekadenz war? Das ist eine Behauptung, die sich übrigens von denjenigen Interpretationen unterscheidet, die im Zeitraum unmittelbar nach dem Tod des Denkers im Umlauf waren, zum Beispiel von Stefan Georges Deutungen und denjenigen der anderen frühen Nietzsche-Kulte. Und wir können auch über das sprechen, was Nietzsche als den Wert transgressiver Gemeinschaften erkannte, nämlich dass sie als Versuchskaninchen für die Elastizität der Sitten der Sklavenmoral dienen könnten. Diese Strategie hat Nietzsche in den Augen vieler zu einem antibürgerlichen Denker qualifiziert. Und bis zu einem gewissen Grad stimmt auch diese Einstufung. Ich behaupte nicht, dass Nietzsche leicht als Anhänger der bürgerlichen Macht zu verstehen ist. Lukács hingegen wird argumentieren, dass Nietzsches Anti-Moral, Nietzsches Theorie der Überschreitung und so weiter, oder sogar die Gemeinschaft, die Nietzsche aufzubauen versucht, die Elemente bilden, die als militante Ästhetik zugunsten des Erhalts von bürgerlichen Macht zu begreifen sind.17 Die Wertesphäre der bürgerlichen Macht ist selbst als eine Art elastische Sphäre zu verstehen, in der Überschreitungen ihrer eigenen Werte nicht zwangsläufig eine tödliche Bedrohung für ihren Status als Klassenmacht darstellen. 1968 kehrte Nietzsche zurück, aber – und im Gegensatz zu den 1930ern – kehrte er dieses Mal auf der Seite der Linken zurück. Diese Umstellung entsetzte Lukács, der den Aufstieg der Nazis miterlebt hatte und Nietzsche Komplizenschaft mit demselben vorgeworfen hatte. Aber so war’s eben: Nietzsche kehrte unter Linken zurück, und der Fokus liegt auf der Counterculture, weil die Wertesphäre Nietzsches, in der Praxis umgesetzt, in erster Linie in der Kultur liegt. Bleibt nun die Frage: Was ist der Nutzen oder die Stärke von Nietzsches Kritik am Kulturwert?

Da gibt es eine Menge zu sagen. Huey Newton bietet eine interessante, nennen wir es eine „parasitäre“ Lesart. Denn Newton erkennt durchaus an, dass Nietzsche reaktionäres Gepäck mit sich schleppte, aber er liest dennoch einen bestimmten Text von Nietzsche, der ihn sehr beeinflusst: Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne.18 Diese äußerst überzeugende kurze Frühschrift kann man als Vorläufer dessen bezeichnen, was später Diskurstheorie wurde. Sprache ist Nietzsche zufolge die Heimat von Werten, die in Worten manifestiert sind; Worte haben daher eine politische Wertigkeit.

Parallel dazu hat Newton Nietzsches Kritik der Arbeiterklasse wahrgenommen: Die Bedingungen des modernen Lebens haben sie ruhiggestellt, sie eines gewissen Vitalismus beraubt. Daher sind Menschen in der Arbeiterklasse teilweise nicht mehr in der Lage, sich mit der Art von Aktivität zu beschäftigen, durch die ihr höheres Selbst letztendlich verwirklicht werden kann. Das ist eigentlich, glaube ich, Henry, ein wahrer Punkt Nietzsches. Wir sollten nicht so tun, als gäbe es da nichts. Und ich glaube, Huey Newton hat das Gleiche gesehen. Ja, dass man sich in einem Zustand der Passivität befindet, ist, wenn man aus der Arbeiterklasse kommt oder einem Leben in Armut ausgesetzt ist, eine der Dinge, die es zu erkennen gilt. Die Frage wird dadurch wesentlich: Wie kann man diese Unterdrückung umstellen und sie von ihrer Verflechtung mit der um sich greifenden Passivität lösen? Für Newton war die Antwort eine sprachliche und publikumswirksame Operation, von den Panthers vorangetrieben, welche die Polizei im Bewusstsein vieler neu bestimmt hat. Die Neudefinition der Polizei, wortwörtlich als „Schweine“, ermöglichte es auch den Panthers, sich und ihre Beziehung zum Staat neu zu erfinden, und hier wird es interessant.

Denn das bedeutet, dass Newton im Grunde das Klassenbewusstsein durch die Lektüre Nietzsches fördern konnte. Auch wenn das, glaube ich, das Gegenteil von Nietzsches Absichten ist. Nietzsche ist ein militanter Bürgerlicher, der für die Überschreitung sein mag, aber nicht unbedingt für eine Gesellschaftsordnung, die sich in einem ständigen revolutionären Moment der Agitation befände. Nietzsche ist Antirevolutionär. Das heißt nicht, dass wir ihm nicht etwas entlocken können, und das führt uns auf das Faustkämpferische zurück. Ja, falls du ein linker Mensch bist und dir die Beendung der Ausbeutung eine Herzenssache ist, kannst du Nietzsche so lesen. Ich denke, das wird für euch am produktivsten sein, oder? Und wenn du ihn so liest, dann wirst du dich mit diesem sehr berühmten Satz Nietzsches identifizieren können, der fast wie ein Gebet für seine Feinde wirkt: „Ihr müsst stolz auf euern Feind sein: dann sind die Erfolge eures Feindes auch eure Erfolge.“19

Daniel Tutt (geb. 1981) wuchs an der US-amerikanischen Westküste auf, in einer Familie aus der Arbeiterschicht, die mehrmals auseinanderfiel. Er arbeitete, seit er ein junger Teen war, im Baugewerbe, zuerst als Zuarbeiter für Maurer („hod carrier“ im Englischen), und verdiente auch nach seinem ersten Universitätsabschluss sein Geld in der Baubranche. 2014 promovierte er zum Thema „Political Community in Badiou, Laclau, Nancy, and Žižek“. Tutt gibt auf seiner Webseite an, dass ihm den Übergang zum „bürgerlichen“ Beruf des Philosophen vor allem deswegen gelang, weil er die finanzielle Unterstützung eines Geschäftsmannes in der Übergangsphase genoss. Seitdem lehrt er in Gefängnissen und an Universitäten und setzt sich in zahlreichen Veröffentlichungen mit der Schnittstelle von Psychoanalyse, Politik und Marx’scher Philosophie auseinander.  

Henry Holland (geb. 1975) ist Literaturübersetzer, aus dem Deutschen ins Englische, und lebt in Hamburg. Darüber hinaus schreibt und forscht er zur Ideen- und Kulturgeschichte und veröffentlichte 2023 zu Ernst Bloch und Rudolf Steiner in German Studies Review. Zusammen mit dem Religionswissenschaftler Aaron French (Universität Erfurt), arbeitet er an einer kritischen, englischsprachigen Steiner-Biographie. Mehr zu Hollands wissenschaftliche Arbeit und Kulturpolitik erfährt man auf seinem Blog, German books, reloaded, oder in Print-Zeitungen. Er ist Mitglied und im Vorstand vom Hamburger writers’ room: Der Arbeitsraum für literarisch Schreibende in Europa.

Quellen

Alamariu, Costin: Selective Breeding and the Birth of Philosophy. New York 2023.

Clark, Maudemarie: Nietzsche on Truth and Philosophy. Cambridge 1991.

Doggett, Peter: There’s A Riot Going On. Revolutionaries, Rock Stars And the Rise And Fall Of ʽ60s Counter-Culture. Edinburgh 2007.

Leiter, Brian: Nietzsche on Morality. London 2014.

Losurdo, Domenico: Nietzsche, der aristokratische Rebell. Berlin 2012.

Lukács, Georg: Die Zerstörung der Vernunft. Berlin 1960.

Sloterdijk, Peter: Über die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches fünftes „Evangelium“. Rede zum 100. Todestag von Friedrich Nietzsche. Frankfurt a M. 2000.

Tutt, Daniel: How to Read Like a Parasite. Why the Left Got High on Nietzsche. London 2024.

Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Griechisch-deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Peter Jaerisch. Düsseldorf & Zürich 2003.

Fußnoten

1: Vgl. Nietzsches Idee der „Treue“ eines Individuums zu „seinem höheren Selbst“ in Richard Wagner in Bayreuth, Abs. 3.

2: Vgl. Peter Sloterdijk, Über die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches fünftes „Evangelium“. Sloterdijk greift auf Nietzsches Beschreibung von Also sprach Zarathustra I zurück, wie sie einem Brief an seinen Verleger Ernst Schmeitzner zu entnehmen ist: „Es ist eine ‚Dichtung‘, oder ein fünftes ‚Evangelium‘ oder irgend Etwas“ (Brief vom 13. 2. 1883).

3: Vgl. u. a. den Bericht von Sokrates’ Schüler Xenophon, der einige Aussagen Sokrates zum Thema Selbsterkenntnis sammelte: Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, S. 199-201.

4: An dutzenden Stellen seiner Schriften inszeniert Nietzsche sich als „einen Unzeitgemässe“: In dieser Hinsicht sind die vier Bände seiner Unzeitgemässen Betrachtungen, zwischen 1873 und 1876 veröffentlicht, am bekanntesten. Aber auch ein Kapitel der Spätschrift Götzen-Dämmerung betitelt Nietzsche „Streifzüge eines Unzeitgemässen“ (Link).

5: Vgl. Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft.

6: Vor allem: Domenico Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell.

7: Vgl. Daniel Tutt, How to Read Like a Parasite, S. 193.

8: Anm. d Red.: Als „French Theory“ wird in der internationalen Debatte vor allem der Poststrukturalismus bezeichnet (vgl. auch die entsprechenden Bemerkungen dazu hier).

9: Vgl. u. a. Maudemarie Clark, Nietzsche on Truth and Philosophy.

10: Vgl. Brian Leiter, Nietzsche on Morality.

11: Vgl. Schopenhauer als Erzieher, Abs. 6.

12: Vgl. Ecce homo, Warum ich so klug bin, Abs. 10.

13: Vgl. etwa eine Umfrage, die 1897 für die Leipziger Arbeiterlesesaal durchgeführt wurde, bezüglich des Leseverhaltens von Arbeiterinnen und Arbeitern, von der auf diesem Blog bereits die Rede war (Link).

14: Vgl. Doggett, There’s a Riot Going On, S. 128-130.

15: Alamariu paraphrasiert und direkt zitiert aus Chapter Four von Costin Alamariu, Selective Breeding and the Birth of Philosophy.

16: Tutt, How to Read Like a Parasite, S. 278.

17: Lukács schreibt in Die Zerstörung der Vernunft etwa: „Bei Nietzsche entsteht […] die Konzeption einer Instinktenfesselung: die niedergehende Bourgeoisie muß alles Schlechte, Bestialische in den Menschen entfesseln, um militante Aktivisten für die Rettung ihrer Herrschaft zu gewinnen“ (S. 305). In der sogenannten „Expressionismus-Debatte“ betonte er schon in den 1930er Jahren die Affinität einer nietzscheanischen Ästhetik und der faschistischen Bewegung.

18: Vgl. http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/WL. Diese Schrift von 1873 wurde allerdings erst posthum veröffentlicht.

19: Also sprach Zarathustra, Vom Krieg und Kriegsvolke.

Ein Tag in Nietzsches Zukunft

Bericht über die Tagung Nietzsches Zukünfte in Weimar

Ein Tag in Nietzsches Zukunft

Bericht über die Tagung Nietzsches Zukünfte in Weimar

5.11.24
Paul Stephan

Vom 7. bis 11. Oktober 2024 fand in Weimar die von der Klassik Stiftung Weimar organisierte Veranstaltung Nietzsches Zukünfte. Global Conference on the Futures of Nietzsche statt. Unser Stammautor Paul Stephan war am ersten Tag vor Ort und gibt einen Einblick in den gegenwärtigen Stand der akademischen Diskussionen um Nietzsche. Seine Frage: Wie ist es um die Zukunft der akademischen Nietzsche-Forschung bestellt, wenn man sie aus der Perspektive von Nietzsches eigenem radikalen Verständnis von Zukunft heraus betrachtet?

Vom 7. bis 11. Oktober 2024 fand in Weimar die von der Klassik Stiftung Weimar organisierte Veranstaltung Nietzsches Zukünfte. Global Conference on the Futures of Nietzsche statt. Unser Stammautor Paul Stephan war am ersten Tag vor Ort und gibt einen Einblick in den gegenwärtigen Stand der akademischen Diskussionen um Nietzsche. Seine Frage: Wie ist es um die Zukunft der akademischen Nietzsche-Forschung bestellt, wenn man sie aus der Perspektive von Nietzsches eigenem radikalen Verständnis von Zukunft heraus betrachtet?

„Die Zukunft, das Wunderbar-Unbekannte der Zukunft ist der einzige Gegenstand des Nietzscheschen Festes.“1

Das Tagungsbild wurde mit Hilfe von KI generiert.

Zusammenfassung

Nietzsche ist einer der großen Denker der Zukunft. „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ lautet der Untertitel von Jenseits von Gut und Böse und schon in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung konzipiert Nietzsche die Zukunft als primäre Zeitform, von der her sich Vergangenheit und Gegenwart erst adäquat verstehen lassen.

Was liegt also näher als „Nietzsches Zukünften“ – ein Plural, den er auch immer wieder selbst gebraucht – eine eigene Konferenz zu widmen? Ich wohnte dem ersten Tag der Tagung Nietzsches Zukünfte bei, veranstaltet von der Klassik Stiftung Weimar. Sie dauerte vom 7. bis zum 11. Oktober und versammelte erwiesene Nietzsche-Expertinnen und -experten aus der ganzen Welt, die aufgefordert waren, ihre jeweilige Perspektive auf Nietzsches Zukunft aus dem Kontext der Erfahrung ihres Heimatlandes heraus darzulegen.

Nach Grußworten von Ulrike Lorenz, der Präsidentin der Stiftung, und Helmut Heit, Leiter des Kollegs Friedrich Nietzsche, der die Konferenz gemeinsam mit seinen Assistentinnen Corinna Schubert und Evelyn Höfer organisiert hatte, folgte ein Panel, bei dem die Nietzsche-Forscher David Simonin aus Frankreich, Hans Ruin aus Schweden und Martine Prange aus den Niederlanden als Repräsentanten ihrer jeweiligen Herkunftsländer über die beiden gestellten Fragen sprachen. Im nächsten Panel referierten die südafrikanische Forscherin Vasti Roodt und Willow Verkerk aus Kanada. Den Abschluss des ersten Konferenztages bildete ein Panel, bei dem die vier Herausgeber der Nietzsche-Studien, des vielleicht wichtigsten Organs der internationalen akademischen Nietzsche-Forschung, Christian Emden, Helmut Heit, Vanessa Lemm und Claus Zittel, miteinander diskutierten.

Weitgehend einig waren sich die meisten Vortragenden, dass Nietzsches Zukunft in der Weiterführung der poststrukturalistischen Nietzsche-Interpretation liege und in philologischen, textimmanenten Zugangsweisen.2 Man müsse sich auf die Texte Nietzsches einlassen, um ihr radikales Potential zu erfahren, das vor allem in der Destruktion bestehender Wahrheiten und Gewissheiten bestehe. Immer wieder wurde die Vieldeutigkeit, Rätselhaftigkeit und Komplexität von Nietzsches Werk betont, das man keinesfalls auf bestimmte „Lehren“ reduzieren könne.

Mich überzeugte diese Sichtweise nur bedingt. Handelte es sich hier wirklich um einen Ausblick in Nietzsches Zukunft oder eher ein Resümee der letzten 20 Jahre Nietzsche-Forschung? Ist Nietzsche wirklich einfach nur ein Ironiker, Maskenspieler und Fallensteller – oder begeistert er nicht gerade immer wieder durch seine inhaltlich bestimmten Aussagen, die es neben allem Widersprüchlichen und Doppeldeutigem doch auch gibt – und von denen während der Tagung durchaus auch immer wieder die Rede war?

I. Nietzsches Zukünfte

Nietzsche ist einer der großen Denker der Zukunft. „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ lautet der Untertitel von Jenseits von Gut und Böse und schon in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung konzipiert Nietzsche die Zukunft als primäre Zeitform, von der her sich Vergangenheit und Gegenwart erst adäquat verstehen lassen: Wir brauchen eine Vorstellung davon, was sein wird, um zu verstehen, was war und was ist. – Ein wichtiger, um nicht zu sagen: zukunftsweisender, Gedanke, den später Heidegger in Sein und Zeit aufgreifen würde.

Nicht zuletzt der „Übermensch“ ist eine offene Utopie, deren philosophischen Gehalt man fast übersetzen könnte als „Zukunft um jeden Preis“. Nietzsches Einsicht: Der Mensch ist wesentlich ein Tier, das in der Zukunft lebt, das eine Vorstellung von ihr so sehr benötigt wie das täglich Brot, das zwischen Angst und Hoffnung schwankt. Doch er will den Menschen keine konkrete Zukunft vorschreiben, er denkt sie bewusst als radikal offen. Kein Wunder, dass er von ihr wiederholt im Plural spricht, wenn er etwa schreibt: „Hinaus, hinaus, mein Auge! Oh welche vielen Meere rings um mich, welch dämmernde Menschen-Zukünfte! Und über mir – welch rosenrothe Stille! Welch entwölktes Schweigen!“3

Nietzsche wendet sich damit gegen die gesamte von Platon her stammende Tradition in der Philosophie, die Wahrheit wesentlich als Wiedererinnerung, als Re–Konstruktion von etwas Vergangenem versteht. Für ihn ist Wahrheit wesentlich etwas, das aktiv mit Mut geschaffen werden muss, etwas, das noch nicht ist: „Muthig, unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig – so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann“4.

Jede Generation, jeden Einzelnen fordert Nietzsche immer wieder dazu auf, sich diese Wahrheit zu schaffen, das Unerhörte hörbar zu machen, das Ungesehene sichtbar, das Undenkbare denkbar. Kein Wunder, dass er der vielleicht wichtigste philosophische Vordenker der Avantgarden und radikaler politischer Bewegungen aller Art ist. Hegel wollte noch die Gegenwart begreifen und diese als Resultat der gesamten Weltgeschichte: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ Nietzsche hingegen ist der Philosoph der Morgenröte und des Aufbruchs – für ihn hat, wie zur selben Zeit für Marx, die eigentliche Geschichte noch gar nicht erst begonnen.

Mit dieser Philosophie des „Noch nicht“ inspirierte Nietzsche vor allem den unorthodoxen Marxisten Ernst Bloch, der diesen Aspekt von Nietzsches Denken so konsequent wie kein anderer Denker aufgriff und weiterdachte, zu einem ganzen System der Hoffnung und der Utopie ausbaute. Sicher gibt es auch Elemente in Nietzsches Werk – dies ist keine Überraschung – die dieser Betonung der Zukünftigkeit widersprechen: der Mythos der „ewigen Wiederkunft“, der keine echte Zukunft kennt, da es ja alles schon einmal gab; die eigenartige nostalgische Fixierung auf die „Herrenmoral“ als rückwärtsgewandter „Utopie“, die doch keine ist. Doch dieser Nietzsche hat eben keine Zukunft, gegen ihn gilt es den radikalen Abenteurer zu verteidigen, der hinaus aufs „offene Meer“5 und alle „Schatten“6 des toten Gottes hinter sich lassen wollte. Sicher kann man fragen, ob er nicht ‚zu weit‘ geht, ob das Neue nicht stets Elemente des Alten enthalten und in sich aufheben muss; doch das Pathos des Neuen ist es, das wesentlich ist, und das Nietzsche immer wieder gerade für junge Leserinnen und Leser interessant macht, die in seinen Schriften einen Katalysator ihres eigenen Aufbruchswillens erblicken.

Wie steht es mit diesen Gedanken in einer Zeit, die anscheinend „No future“ zu ihrem Slogan erkoren hat und die von schalen Heilsversprechen, Erschöpfung und Relativismus – Nietzsche würde sagen: Nihilismus – gekennzeichnet ist? In der sich die Jungen als „letzte Generation“ fühlen und die Alten schon allein aus demographischen Gründen immer mehr Macht haben und echten Fortschritt scheinbar blockieren? Gibt es noch eine Zukunft? Und wenn Nietzsche und Heidegger Recht haben, würde eine verneinende Antwort bedeuten: Dann gibt es auch keine Gegenwart und keine Vergangenheit. Und worin könnte in einer solchen posthistorischen Welt Nietzsches Zukunft bestehen?

Der Tagungsort: Das Kulturzentrum mon ami am Goetheplatz.

II. „Nietzsches Zukünfte“ in Weimar

Mit der Erwartung, auf diese Fragen wenn nicht Antworten, so doch Fingerzeige zu erhalten, fuhr ich nach Weimar, um dem ersten Tag der Tagung Nietzsches Zukünfte beizuwohnen, veranstaltet unter den Fittichen von niemand geringerem als der Klassik Stiftung Weimar, einer der größten Kulturinstitutionen Deutschlands. Sie ging vom 7. bis zum 11. Oktober und versammelte erwiesene Nietzsche-Expertinnen und -experten aus der ganzen Welt, die aufgefordert waren, ihre jeweilige Perspektive auf Nietzsches Zukunft aus dem Kontext der Erfahrung ihres Heimatlandes heraus darzulegen.

Die Präsidentin der Stiftung, Ulrike Lorenz, verortete in ihrer Begrüßung die Tagung im Kontext ihres gesamten Wirkens und betonte, dass es sich um die Abschlussveranstaltung des Themenjahrs „Aufbruch“ handelte. Dieses habe man bewusst in das Jahr der Thüringer Wahlen gelegt, um, so ihre unausgesprochene Aussage, dem dann ja auch eingetretenen Wahlsieg der AfD etwas entgegenzusetzen.

In ihrem Grußwort betonte die Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar zu Recht die Ambivalenz des „Erbes Weimar“.

Ein weiteres Grußwort sprach Helmut Heit, Leiter des Stabsreferats Forschung der Stiftung sowie des ihr ebenfalls angegliederten Kollegs Friedrich Nietzsche, eine Einrichtung, die sich eigens der Pflege und Fortführung der Weimarer Nietzsche-Tradition widmet. Er hat die Konferenz gemeinsam mit seinen Assistentinnen Corinna Schubert und Evelyn Höfer organisiert. Heit betonte, dass Weimar der Ausgangspunkt des „Ereignis Nietzsche“ gewesen sei, auch wenn der Philosoph hier nur seine letzten drei Lebensjahre, umnachtet und gepflegt von seiner Schwester, verlebt habe. Die mit der Schwester und ihrer umstrittenen Edition einiger Nachlassfragmente Nietzsches als Wille zur Macht verbundene Schattenseite dieses Erbes verschwieg er nicht, betonte jedoch zu Recht, dass die Weimarer Nietzsche-Rezeption bis zum Ersten Weltkrieg unter progressiven Vorzeichen stand und eng mit der kulturellen Avantgarde jener Zeit, vor allem dem Jugendstil, verbunden war. Ebenso wies er darauf hin, dass sich die Klassik Stiftung Weimar darum bemüht, Nietzsches hier zu einem Großteil lagernden Nachlass auf die Liste des immateriellen Weltkulturerbes der UNESCO setzen zu lassen. Über den diesbezüglichen Antrag sei jedoch noch nicht befunden worden.

Helmut Heit, u. a. der Leiter des Kollegs Friedrich Nietzsche, verortete in seiner Begrüßung Nietzsche im Kontext der Weimarer Moderne um 1900.

Für die fortgesetzte Weiterwirkung jenes „Ereignisses“ machte Heit folgende Faktoren verantwortlich: dass Nietzsche immer wieder neue Multiplikatoren wie etwa die erwähnte Elisabeth Förster-Nietzsche, Georg Brandes, Lou Salomé, den chinesischen Schriftsteller Lu Xun, Heidegger, Foucault oder Judith Butler gefunden habe; die stilistische und inhaltliche Vielfalt von Nietzsches Philosophie; die Ästhetik seines Stils, die insbesondere Künstler immer wieder auf ihn aufmerksam gemacht habe; dass er immer wieder wichtige Fragen von wiederkehrender Relevanz auf anregende Weise angesprochen habe; dass er als radikaler Kritiker immer wieder die Jugend anspreche und Innovationen beflügele. Nietzsches Gegenwart sei noch immer unsere Zeit und Nietzsche habe sie kritisch auf den Begriff gebracht.

Es folgte ein Panel, bei dem die Nietzsche-Forscher David Simonin aus Frankreich, Hans Ruin aus Schweden und Martine Prange aus den Niederlanden als Repräsentanten ihrer jeweiligen Herkunftsländer über die beiden gestellten Fragen sprachen. Es zeichnete die Konferenz generell wohltuend aus, dass durch die Fokussierung auf diese beiden Probleme – Nietzsches Wirkung in den verschiedenen Kulturkreisen und seine Zukunft in ihnen – der rote Faden der Beiträge immer gut erkennbar war und sie sich stets klar aufeinander bezogen.

David Simonin betonte, wie früh, schon in den 1870ern, Nietzsche in Frankreich entdeckt worden sei, auch wenn er erst ab den 1960ern im Zuge des Poststrukturalismus – im Laufe der Konferenz meist als „French Theory“ bezeichnet7 – Einzug in die akademische Forschung erhalten habe. Er unterschied dabei drei Perspektiven auf Nietzsche in der heutigen französischen Diskussion: polemische, die Nietzsche und vor allem seine linken Interpreten teils vehement kritisieren; dialogische, die Nietzsche im Lichte gegenwärtiger kultureller Probleme interpretieren und aneignen; sowie philologische – er bezog sich hierbei besonders auf das Projekt nietzschesource.org –, die sich Nietzsche aus einer eher historisierenden, kontextualisierenden und werkimmanenten Sicht nähern. Die Zukunft Nietzsches läge aus seiner Sicht in letzterem Ansatz, zu dem er sich auch selbst bekannte. Er sprach davon, dass es bald vielleicht möglich sein könnte, Nietzsches Leben mit Hilfe von Virtual Reality-Technologien direkt und in 3D nachzuerleben und ihn etwa auf einer Zugfahrt durch die Schweizer Alpen zu begleiten.

Hans Ruin zeigte eines der ikonischsten Nietzsche-Gemälde überhaupt.

Hans Ruin stellte die skandinavische Nietzsche-Rezeption vor. Diese sei bis weit in das 20. Jahrhundert hinein sehr fruchtbar und wichtig für die skandinavische Kultur gewesen, wobei Nietzsche vor allem als Vordenker progressiver und avantgardistischer – so genannter „kulturradikaler“ – Positionen angeeignet worden sei. Bis in die 1980er Jahre hinein habe es in Schweden jedoch keine Diskussion über Nietzsche gegeben, er verglich die damalige Situation sogar mit der Zensur in der DDR. Die schwedischen Übersetzungen von Nietzsches Werken seien bis auf diejenige des Zarathustra vergriffen gewesen. Nietzsches Einfluss auf die skandinavische Kultur sei verdrängt worden, Ruin sprach von einem „verborgenen Erbe“, das erst ab den 90er Jahren durch Forscher wie ihn selbst und Thomas H. Brobjer wiederentdeckt worden sei, die auch eine Neuübersetzung von Nietzsches Werken ins Schwedische bewirkt hätten. In den Nuller Jahren sei es in diesem Zuge zu einem Aufschwung der schwedischen Nietzsche-Forschung gekommen. Ruin bezeichnete es als Zeichen für die Gesundheit einer Kultur, wenn sie in der Lage sei, Nietzsches Texte zu lesen, zu verdauen und mit ihnen zu sprechen.

Martine Prange schließlich legte dar, dass Nietzsche für die Kultur und vor allem die Philosophie ihres Landes eine nur untergeordnete Rolle gespielte habe. Diese führte sie neben der generell geistfeindlichen, sehr „krämerischen“ Mentalität des Landes vor allem auf die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende „Amerikanisierung“ der niederländischen Kultur und Philosophie zurück, die mittlerweile so weit gehe, dass das Niederländische als Wissenschaftssprache durch das Englische fast vollständig verdrängt worden sei. Ebenso sei das niederländische Forschungssystem in den letzten Jahren extrem kompetitiv und marktförmig strukturiert worden, so dass für Forschungen zu geistesgeschichtlichen Themen kaum noch Fördermittel vergeben würden, überall gebe es nur angewandte Ethik. Die neue rechte Regierung habe die ohnehin knappen Forschungsmittel nun noch einmal gekürzt und malträtiere nun „Langzeitstudenten“ mit Strafgebühren, so dass Prange sich sehr pessimistisch zeigte, jedenfalls, was die akademische Nietzsche-Forschung in den Niederlanden betrifft. Sie betonte den engen Zusammenhang zwischen Forschung und Politik und verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass Trump nicht wiedergewählt werde. Mit dieser deutlichen Anklage der schlechten politischen Rahmenbedingungen für geistesgeschichtliche Forschung traf Prange einen Nerv und erhielt viel Zuspruch. Ruin sprach in der Diskussion gar von der Amerikanisierung Europas als kultureller „Dekadenz“.

Im nächsten Panel sprachen die südafrikanische Forscherin Vasti Roodt und Willow Verkerk aus Kanada. Roodt vertrat die Auffassung, dass Nietzsche kein politischer Denker gewesen sei in dem Sinne, dass seiner Philosophie kein Beitrag für den Aufbau einer gerechten demokratischen Gesellschaft zu entnehmen sei. Er sei ein Denker, der vor allem über persönliche Probleme spreche, indem er immer wieder auf die unseren expliziten Wertungen zu Grunde liegenden impliziten Hintergrundwertsetzung hinweise und zum unendlichen Projekt einer Kritik dieser Vorurteile aufrufe. Sie griff Nietzsches Unterscheidung von bloßer Gelehrsamkeit, die ihre Zwecke nicht selbst setzen könne, und echter zwecksetzender Philosophie auf und warnte vor der Dominanz der ersteren. Nietzsche rufe auch heute noch zu einem „rendezvous at questions and question marks“ auf.

Ihr Vortrag provozierte seinerseits einige kritische Rückfragen. Insbesondere blieb offen, wieso Nietzsches Kritik unserer unbewussten Wertsetzungen nicht auch auf politische Wertsetzungen angewandt werden könne. Roodt relativierte ihre Einschätzung in der Folge in der Diskussion auch ein wenig und betonte, dass sie aus der Perspektive einer instabilen Demokratie spreche, die noch in den Kinderschuhen stecke.

Nietzsche als alma mater der modernen Philosophie. Zeichnung von Farzane Vaziritabar.

Willow Verkerks Vortrag war vor allem deswegen spannend, weil sie über eine breite internationale Erfahrung verfügt und unter anderem in Belgien, Kanada, Großbritannien und Japan geforscht hat. Sie unterschied zwischen einer eher europäischen Herangehensweise an Nietzsche, die in etwa dem entspricht, was Simonin „philologische“ Interpretation genannt hatte und einer eher englischsprachigen, die sie als „toolboxing Nietzsche“ bezeichnete, also ein in philologischer Hinsicht eher oberflächliches Herausgreifen einzelner Textstellen des Philosophen, um sie zur Unterfütterung eigener Überlegungen zu verwenden. Sie selbst verortete sich als feministische Forscherin, deren Hauptanliegen es sei, diese europäische Methode nach Kanada zu importieren.

Ein solches „toolboxing“ hätten schon Heidegger und die Vertreter der French Theory betrieben und aus dieser Brille näherten sich auch ihre Studenten Nietzsche meist, wobei sie besonders stark von Gilles Deleuzes und marxistischen Nietzsche-Interpretationen inspiriert seien. Als relevante Kernkonzepte Nietzsche benannte sie vor allem seine genealogische Methode, insbesondere in ihrer Weiterentwicklung durch Michel Foucault, den radikalen Feminismus Judith Butlers und die Critical Race Studies; seine Diagnose des Nihilismus bzw. des „letzten Menschen“, die in der jüngeren Zeit vielfach als Anklage des umweltbezogenen bzw. ökologischen Nihilismus verstanden werde; seine Kritik der Metaphysik und den daraus folgende Perspektivismus; seine Kritik des „souveränen Individuums“, dessen Autonomie ein Resultat von Disziplinierung sei, in der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral; und schließlich Nietzsches Auffassung vom Selbst als Verkörperung des Willens zur Macht, die Nietzsche zu einem Vordenker der Phänomenologie, speziell derjenigen Maurice Merleau-Pontys, und der Psychoanalyse mache. Als weitere Problemfelder, die mehr Aufmerksamkeit einer künftigen Nietzsche-Forschung verdienten, benannte Verkerk Nietzsches Einfluss auf den frühen Feminismus und Anarchismus. Sie verwies zudem darauf, dass Nietzsches Kritik des Mitleids in jüngster Zeit zustimmend in den Disability Studies aufgegriffen werde.

In der folgenden Diskussion wurde von verschiedenen Forschern betont, dass die intensive Vertiefung in Nietzsches Schriften an sich, unabhängig von allen Inhalten derselben, ein transformatives Bildungserlebnis sei, das bei einer rein instrumentellen Annäherung an sie verlorengehe. Verkerk berichtete etwa von den starken emotionalen Reaktionen, die Nietzsches Texte bei ihren Studenten immer wieder hervorriefen8 und die dazu einlüden zu hinterfragen, woher sie eigentlich rührten.

Die Herausgeber der einflussreichen Nietzsche-Studien, von links nach rechts: Christian Emden, Helmut Heit, Vanessa Lemm, Claus Zittel.

Zum Abschluss des offiziellen Teils des ersten Tages der Konferenz diskutierten noch die vier prominenten Nietzsche-Forscher Christian Emden aus den USA, Helmut Heit, Vanessa Lemm aus Großbritannien und Claus Zittel aus Stuttgart direkt zur Frage „Hat Nietzsches Philosophie eine Zukunft?“. Es handelte sich nicht zuletzt deswegen um eine illustre Runde, da es sich um die aktuellen Herausgeber der Nietzsche-Studien, des wahrscheinlich wichtigsten internationalen Organs der akademischen Nietzsche-Forschung, handelt.

Vanessa Lemm betonte, dass Nietzsche für ein ganz neues Verständnis von Philosophie und einen neuen philosophischen Lebensentwurf stehe. Er betrachte die Philosophie als grundsätzlich relationales Unterfangen, sei ein Denker der Relation. Claus Zittel stimmte ihr darin zu, dass Nietzsche ein Kritiker jedwedes absoluten Wahrheitsanspruchs gewesen sei. Diese perspektivistische und relativierende Denk- und Schreibmethode Nietzsches mache in einer Zeit grassierender ‚Absolutismen‘ seine große Aktualität aus. Er sei ein Denker der „Differenz“ (womit Zittel eines der Hauptschlagworte der poststrukturalistischen Philosophie aufgriff), der uns immer wieder zur Relativierung der eigenen Positionen bis zur radikalen Konsequenz auffordere, zur stetigen Selbstaufhebung. Er schärfe unser Bewusstsein dafür, dass Positionierungen immer nur transitorisch sein können, und diagnostiziere in seinen Schriften unterschiedliche Verfallslogiken, ohne eine Gegenposition zu artikulieren, treibe ein Spiel mit Mehrdeutigkeiten, Rätseln und Masken, das man nur recht verstände, wenn man Nietzsche im Original lesen könne.

Christian Emden pflichtete Zittel bei, dass Nietzsche keine Botschaft oder Lehre vermittele, sondern er vor allem ein Kritiker sei und darin sein Potential liege. Ähnlich wie zuvor Verkerk benannte er die genealogische Methode und die Diagnose des Nihilismus – verstanden als radikale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Werten überhaupt – als zentrale relevante Themen seines Denkens. Sie ergänzte noch die Frage nach dem Verhältnis von Normativität und Natur, wie sie das posthumanistische Denken bzw. der Neue Materialismus aufwerfe und die Frage danach, was Philosophie überhaupt sei.

Alle vier Herausgeber waren sich somit weitgehend einig darin, eine eher philologische, werkimmanente Lektüre Nietzsches zu favorisieren – Zittel warnte etwa vor einer „Flucht aus dem Text“ – und Interpretationen abzulehnen, die Nietzsches Texten Positionen entnehmen möchten. Nietzsche wolle scheitern und kein System schaffen, so Heit; das Scheitern sei die große Konstante in Nietzsches Leben, so Emden; Nietzsche habe erkannt, dass in der Moderne nur noch „falsche Götter“ möglich seien und die Lüge ihre Unschuld verloren habe, so Zittel. Sein berüchtigtes Spätwerk Ecce homo etwa sei eine reine Parodie, so Zittel weiter. Lemm sprach von der Gefahr politisierender Interpretationen Nietzsches und vom philologischen Ansatz als wichtigstem Gegenmittel gegen dieselben, als zentralem Fortschritt der Nietzsche-Forschung der letzten Jahrzehnte, der sich, wie Zittel ergänzte, um 2000 vollzogen habe. Wichtig an Nietzsche sei also vor allem seine Schreibweise, nicht so sehr, was er im Einzelnen schreibe – wobei die Herausgeber der Nietzsche-Studien einhellig zustanden, dass sie in ihrer Zeitschrift keine allzu experimentellen Texte abdrucken möchten.

Nietzsche erscheint so als Vordenker des „Antihumanismus“ und des Neuen Materialismus – so Lemm, die sogar davon sprach, dass die menschliche Intelligenz durch KI ersetzt werden sollte –; nicht als Überwinder des Nihilismus, sondern selbst als Nihilist, so Zittel und Emden, auch wenn er zugleich, so Emden und Heit, die Notwendigkeit von, wenn auch nie absoluten, Wertsetzungen für unsere menschliche Existenz betone.

Zuletzt wurde aus dem Publikum die Frage aufgeworfen, wo denn Nietzsches Philosophie nun eigentlich noch eine Zukunft habe. An der Universität? Diesbezüglich äußerten sich die Herausgeber der Nietzsche-Studien eher verhalten. Zittel empfahl, nicht aus Karrieregründen ein Forschungsthema zu wählen, das nicht zu einem passe, Lemm plädierte dafür, eine stärkere innerakademische und kulturelle Wertschätzung der Philosophie offensiv einzufordern.

Nietzsches Bart als Maske. Zeichnung von Farzane Vaziritabar.

III. Und nun?

Es handelte sich bei der Veranstaltung um ein Stelldichein des Mainstreams der aktuellen akademischen Nietzsche-Forschung, eine wechselseitige Bestätigung der eigenen Überzeugungen in familiärer Atmosphäre, die sich etwa darin zeigte, dass man sich meist duzte und mit Vornamen ansprach. Von den etwa 70 Zuhörern waren nahezu alle aus professionellen Gründen dort, selbst nach Studenten der umliegenden Universitäten suchte man vergebens. Kritisch könnte man sagen: linksliberale Anhänger des Postmodernismus unter sich. Aus der Sicht der anwesenden Forscher liegt die „Zukunft“ Nietzsches vor allem in der unbeirrten Fortsetzung der Gegenwart, einer textimmanenten, philologischen Lektüre Nietzsches in Anknüpfung an die Klassiker der „French Theory“ wie Foucault, Deleuze, Jacques Derrida, Butler oder jüngst Bruno Latour, den wichtigsten Verfechter des Neuen Materialismus.  

Dagegen ist erst einmal nichts einzuwenden. Man möchte sich nicht ausmalen, wie eine Nietzsche-Konferenz aussähe, die von Ideologen der stärksten Partei Thüringens organisiert würde – man würde fast meinen, dass von zwei unterschiedlichen Philosophen die Rede sei. Nietzsche als radikaler Kritiker und Relativierer aller, vor allem rechter, Ideologien und „Wahrheiten“: Gerne! Mehr davon!

Besonders gut veranschaulichten diesen Blick auf Nietzsche die die Tagung visuell begleitenden Zeichnungen der deutsch-iranischen Künstlerin Farzane Vaziritabar. In einem karikaturhaften Stil hinterfragen sie immer wieder aufs Neue den Nietzsche-Kult vergangener Dekaden und seine (Selbst-)Heroisierung, ohne ihn darum jedoch ins Lächerliche zu ziehen. Er erscheint auf ihnen als Maskenspieler und Religionskritiker, als Vordenker der kritischen Philosophen des 20. Jahrhunderts von Sigmund Freud über Theodor W. Adorno und Jean-Paul Sartre bis hin zur „French Theory“. Als Titelbild der Tagung wurde indes, ganz dem Plädoyer Lemms entsprechend, ein KI-generierter Pop-Nietzsche gewählt.

Nietzsche als Schöpfer seines eigenen Mythos. Zeichnung von Farzane Vaziritabar.

Und doch sind Zweifel angebracht. Nietzsche kritisiert Skeptizismus, Nihilismus und nicht zuletzt die philologische Forschung in seinen Texten selbst immer wieder – auch wenn diesbezüglich natürlich wie stets das berühmte spöttische Diktum Kurt Tucholskys gilt: „Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen“. Wie Natalie Schulte, Tucholskys Bonmot aufgreifend, auf diesem Blog kürzlich betonte, sind Nietzsches Texte zwar mehrdeutig und oftmals verrätselt, aber darum auch nicht beliebig ausdeutbar. Seinen Perspektivismus verknüpft er mit der Aufforderung, eine „Rangordnung der Werthe zu bestimmen“9. Er ist nicht einfach nur Maskenspieler und Ironiker, sondern kritisiert an zahllosen Stellen die Maskerade und die Beliebigkeit der Moderne.10 Er möchte, dass sich Europa, dass sich die Welt, eine neue, selbstbestimmte Zukunft gestaltet,11 auch wenn er vage wird, wenn es um deren konkrete Gestalt geht. Ein Aufruf, der ja nicht bedeuten kann, es bei einem allgemeinen Hinweis auf die Relativität jeder Positionierung zu belassen, sondern der darauf hinausläuft, im Angesicht ihrer Relativität entschieden und mutig Positionen zu beziehen. Zukunft ist nicht zuletzt etwas, das ist Heidegger, Nietzsche und Bloch gleichermaßen zu entnehmen, das uns nicht einfach wie ein Gegenstand gegeben ist, sondern dass wir aufgerufen sind, aktiv zu gestalten: Wir sind es, die Nietzsche eine Zukunft geben oder nicht und es liegt an uns, als seinen Lesern und Interpreten, sie in verantwortungsvoller Weise zu gestalten, ohne dabei durch irgendeine Vergangenheit oder Gegenwart determiniert zu sein. Diese erhalten ihren Sinn vielmehr erst im Lichte dieses Entwurfs.

Diese Eindeutigkeit Nietzsches, die es in vielerlei Hinsicht neben aller „Differenz“ eben auch gibt, anzuerkennen, darin würde eher die Zukunft einer Nietzsche-Forschung liegen, die auch jenseits des eigenen Dunstkreises als relevant erschiene. Doch diese Anerkennung ist womöglich schwieriger und schmerzhafter als die ewig selbe Leier von Vieldeutigkeit, Ambiguität, Relativität etc., verweist sie doch nicht zuletzt auf Nietzsches problematisches politisches Erbe, auf das eingangs Heit und später vor allem, wenn auch eher subtil, Roodt hinwies. Die traurige, so von Roodt nicht ausgesprochene, aber doch überdeutlich angedeutete, Wahrheit: Womöglich wäre Nietzsche selbst eher ein Befürworter von politischen Projekten wie dem südafrikanischen Apartheidsregime als ihr Kritiker gewesen.

Es bräuchte nach Jahrzehnten der Philologisierung und Relativierung Nietzsches also wahrscheinlich eine erneute „inhaltistische“ – um einen Begriff Andreas Urs Sommers aufzugreifen, der bei der Konferenz ebenfalls sprach12 – Wende der Nietzsche-Forschung, die mit einer unzweideutigen politischen Positionierung im Sinne der politischen Ideale der Moderne, auf die Roodt hinwies, einhergeht. Sie sollte die mit diesen Idealen unvereinbaren Positionierungen Nietzsches schonungslos aufdecken und kritisieren, aber zugleich eben auch auf die wichtigen und zukunftsträchtigen Aspekte seines Denkens hinzuweisen, die diesen Positionierungen widersprechen und die bei der Konferenz zu Recht immer wieder benannt wurden. Denn belässt man es bei der reinen Skepsis, unterminiert man damit ja alle, auch die emanzipatorischen, Positionierungen; man unternimmt im Sinne der Emanzipation nur die halbe Arbeit der Kritik.

Dafür spricht zumal, dass während der Konferenz trotz aller Beteuerung von Nietzsches Vieldeutigkeit, Rätselhaftigkeit etc. es immer wieder die Inhalte seiner Schriften – wie etwa seine Einsichten zur Psychologie – waren, die auch von den Forschern selbst in den Vordergrund gerückt wurden. Ganz kann der „Textismus“ – so Sommers Ausdruck – dieses Moment also offensichtlich nicht tilgen, möchte er auch nur ein Körnchen lebensweltlicher Relevanz retten. Hic rhodus, hic salta! – Hier blüht die Rose eines erneuerten Nietzscheanismus, hier tanzt, ihr Forschenden!

Superhirn und Superbart. Zeichnung von Farzane Vaziritabar.

Dieses Umdenken ist umso notwendiger, weil die Zukunft Nietzsches sonst wohl unweigerlich von anderen Kräften geschrieben werden wird als sich die Teilnehmer der Konferenz unisono wünschen würden. Nur am Rande wurde auf die Gefahr eines erneuerten Rechtsnietzscheanismus hingewiesen.13

Dies soll alles nicht die Verdienste der philologischen Nietzsche-Interpretation schmälern. Es soll vielmehr darauf hingewiesen werden, dass es, im Sinne eines hegelianischen Dreischritts, wohl an der Zeit ist, auf die zahllosen Vereindeutigungen Nietzsches, die bis in die 70er Jahre erfolgten, und die sukzessiven Veruneindeutigungen seiner Philosophie einen neuen Weg zu finden im Sinne einer informierten Vereindeutigung, die die Ergebnisse der philologischen Forschungen nicht ignoriert, sondern aufgreift, um einer erneuten Auseinandersetzung mit den Inhalten von Nietzsches Denken den Weg zu bereiten. Das von Verkerk erwähnte wachsende Interesse ihrer Studenten an marxistischen Nietzsche-Interpretationen – genauso wie an feministischen, rassismuskritischen oder solchen innerhalb der Disability Studies – erweckt Hoffnung, dass sich diese Entwicklung, als Antwort auf den erneuerten Rechtsnietzscheanismus, dessen Renaissance jenseits der universitären Nietzscheforschung schon längst stattfindet, ebenso unweigerlich vollziehen wird. Und ebenso notwendig wird sich der anscheinend noch unentschlossene Mainstream der akademischen Nietzsche-Forschung in dieser Hinsicht positionieren müssen. Ein erneuerter aufgeklärter Humanismus, wie ihn etwa Bloch in seiner spezifischen Synthese von Marx und Nietzsche verfocht, könnte die Frucht dieser Bemühungen sein, vielleicht gar ein kollektiver kultureller Aufbruch wie derjenige, der sich um 1900 in Weimar und ganz Europa, angespornt nicht zuletzt von Nietzsches Ideen – die damals ganz „naiv“ verstanden wurden – vollzog.

Auf dem Weg zur Tagung – hier trifft sich wohl das „normale“ Weimar.

IV. Anekdotisches Nachspiel

Während der Pausen hielt ich mich immer wieder vor dem Tagungsort, dem Kulturzentrum mon ami im Herzen Weimars, auf. Passanten kommen und gingen und begutachteten neugierig, was dort heute denn los sei. Manche fragten auch einfach nur nach der Toilette, niemand blieb. Einer zitierte aus dem Kopf eine der zahllosen misogynen Stellen aus Jenseits von Gut und Böse14 und meinte feist: „Das ist frauenfeindlich – na und?“ Ob er wohl ein paar Wochen zuvor Höcke gewählt hat? Ob ihn die Teilnahme an der Konferenz im Sinne des erhofften „Aufbruchs“ vom Gegenteil überzeugt oder ihn zumindest zu einer Relativierung seiner Position gebracht hätte?

Auf der Heimfahrt begegnete ich dann einem Einheimischen, der sich als Dichter von recht originellen Rätselversen zu erkennen gab. Sie erinnerten mich teilweise ein wenig an Nietzsches Aphorismen. Stolz zeigte er mir auf dem Smartphone einen Fernsehbericht von einer seiner Lesungen und erzählte mir, dass er von seinen Büchern schon mehrere tausend Stück verkauft hatte. Ich schwieg lieber über die Verkaufszahlen der meinen und wahrscheinlich überbot er in Sachen Verkaufserfolg so gut wie alle der Forscher, die heute gesprochen hatten. Und noch nicht einmal das Weimarer Lokalfernsehen hat sich in Nietzsches Zukünfte verirrt.

Wie die Einsichten der Philosophie populär machen, ohne sie zu popularisieren? Das war vielleicht die eigentliche Hintergrundfrage der Konferenz und die schwindenden Forschungsgelder sind ja nur ein Ausdruck dieses Problems. Welche Zukunft hat die Philosophie? Hat die Philosophie als akademische Disziplin?

Doch vielleicht ist die Frage so auch falsch gestellt. Die Philosophie wird, sofern sie irgendeinen Wert hat, immer eine Zukunft haben. Wenn sie ihn nicht hat, müsste man mit Nietzsche darüber nicht trauern, sondern einsehen: „[W]as fällt, das soll man auch noch stossen! Das Alles von Heute – das fällt, das verfällt: wer wollte es halten! Aber ich – ich will es noch stossen!“15 Nietzsche wird immer seine Leserinnen und Leser finden, solange wir in einer Kultur leben, die der seinigen gleicht. Er, Platon, Hegel, Kant, so viele andere: Sie alle sind zu etwas vorgedrungen, das vielleicht sogar ewig gilt, solange es Menschen gibt. Selbst wenn es nicht so wäre, so müssen doch wir, als Philosophen, die sich selbst ernst nehmen, daran glauben. Und ebenso ist es mit der Zukunft des Humanum, mit der Zukunft der Demokratie bestellt. Hoffnung ist ein Prinzip, ein Prinzip, das sich selbst erfüllend Zukunft ermöglicht. Das Denken, das Hoffnung und Glauben vergiftet, kann keine Zukunft haben. Oder, in den Worten des frühen Nietzsche, gegen die Philologie gerichtet, einen bedeutenden Humanisten aus Weimar zitierend:

Historie aber, die nur zerstört, ohne dass ein innerer Bautrieb sie führt, macht auf die Dauer ihre Werkzeuge blasirt und unnatürlich: denn solche Menschen zerstören Illusionen, und „wer die Illusion in sich und Anderen zerstört, den straft die Natur als der strengste Tyrann.“16
Der schlafende Nietzsche. Zeichnung von Farzane Vaziritabar.

Die Photographien zu diesem Artikel stammen von Paul Stephan. Das Artikelbild ist eine Zeichnung von Farzane Vaziritabar (Link zur Homepage der Künstlerin mit den kompletten Reihe Ecce Nietzsche).

Literatur

Bataille, Georges: Nietzsche und die Faschisten. In: Wiedergutmachung an Nietzsche. München 1999.

Sommer, Andreas Urs: Was bleibt von Nietzsches Philosophie? Berlin 2018.

Fußnoten

1: Georges Bataille, Nietzsche und die Faschisten, S. 164.

2: Auf der Tagung wurde mehr oder weniger davon ausgegangen, dass diese beiden Interpretationsstränge letztendlich ein Strang seien. Bzw. es wurde unterstellt, dass beide Stränge letztendlich auf dieselbe Interpretation hinausliefen. Ich sehe hier allerdings durchaus eine gewisse Spannung, die man vertieft hätte diskutieren müssen. Der Begriff der „Philologie“ wurde zudem synonym mit „textimmanenter Lektüre“ gebraucht, was man auch bezweifeln könnte angesichts der Vielfalt philologischer Methoden.

3: Also sprach Zarathustra, Das Honig-Opfer.

4: Also sprach Zarathustra, Vom Lesen und Schreiben.

5: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 343.

6: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 108.

7: Wobei Simonin betonte, dass diese Theorieströmung mittlerweile gar nicht mehr so „french“ sei.

8: So sei ein männlicher Student bei der Diskussion einer scheinbar misogynen Passage in Tränen ausgebrochen und er habe verzweifelt gefragt „Wie kann man so etwas nur denken?“, während ein Kommilitone begeistert gemeint habe, dass Nietzsche doch vollkommen Recht habe in seiner Kritik des Feminismus.

9: Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 17.

10: Man denke nur an den berühmten Abschnitt Vom Lande der Bildung im Zarathustra. Einer seiner letzten Sätze lautet: „So liebe ich allein noch meiner Kinder Land, das unentdeckte, im fernsten Meere: nach ihm heisse ich meine Segel suchen und suchen“. Hans Ruin wies darauf hin, dass die schwedische Feministin Ellen Key einen fast gleichlautenden Satz aus einem anderen Abschnitt des Buches ihrem Hauptwerk Das Jahrhundert des Kindes voranstellte.

11: Heit verwies zu Recht auf die wichtige Stelle aus Ecce homo: „Meine Aufgabe, einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen grossen Mittag, wo sie zurückschaut und hinausschaut, wo sie aus der Herrschaft des Zufalls und der Priester heraustritt und die Frage des warum?, des wozu? zum ersten Male als Ganzes stellt“ (Morgenröthe, Abs. 2). – Hier berühren sich Nietzsche und Marx, hier wagt sich selbst noch der späte Nietzsche ganz weit in das Niemandsland der Utopie vor, orientiert sich ins Blaue hinein, von dem wenige Jahrzehnte später Bloch schrieb. Es ist keine fröhliche, sondern eine traurige Wissenschaft, in derartigen Lichtblicken eine reine „Parodie“ zu erblicken.

12: Vgl. Sommer, Was bleibt von Nietzsches Philosophie?, S. 28–41.

13: Simonin etwa sprach nur in einem Nebensatz von einigen französischen „Youtubern“, die neuerdings für eine rechte Nietzsche-Interpretation werben würden. Wenn er damit jedoch Autoren wie Julien Rochedy meint, deren Videos zu Nietzsche bisweilen Hunderttausende, wenn nicht Millionen, von Klicks erreichen – seiner Nietzsche-Interpretation werden wir in Kürze einen eigenen Artikel auf diesem Blog widmen –, dann wirkt das wie eine gehörige Untertreibung; Simonin dürfte froh sein, mit einem seiner zweifellos wissenschaftlich fundierteren Artikel auch nur ein paar Hundert Leser zu erreichen.

14: Es war, wenn ich mich recht entsinne, der 145. Aphorismus.

15: Also sprach Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 20.

16: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Abs. 7.

Eine philosophische Serenade über das Grau

Ein Sommerabend mit Sloterdijk im Gütchenpark zu Halle

Eine philosophische Serenade über das Grau

Ein Sommerabend mit Sloterdijk im Gütchenpark zu Halle

28.10.24
Michael Meyer-Albert

Einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart, Peter Sloterdijk (Jahrgang 1947), war Anfang Juli zu Gast in Halle. Der stark von Nietzsche beeinflusste Denker gab dort einen Abend lang seine Gedanken zum „Grau“ zum Besten und zeigte eindrucksvoll, auf welche Höhen sich die Philosophie aufschwingen kann.

Einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart, Peter Sloterdijk (Jahrgang 1947), war Anfang Juli zu Gast in Halle. Der stark von Nietzsche beeinflusste Denker gab dort einen Abend lang seine Gedanken zum „Grau“ zum Besten und zeigte eindrucksvoll, auf welche Höhen sich die Philosophie aufschwingen kann.

I. Sommerabendphilosophie

Müßiggang ist aller Philosophie Anfang. Keine Anstrengung der Argumente und kein analytisches Kopfzerbrechen zeichnet relevantes Denken aus. Zu Beginn von einem der klassischen Texte der Philosophie wird daher für die Rast im Schatten unter einer Platane geworben, um sich den großen Themen angemessen widmen zu können:

PHAIDROS: Nun, siehst du dort jene höchste Platane?
SOKRATES: Wie sollte ich nicht?
PHAIDROS: Dort ist sowohl Schatten als auch ein mäßiger Luftzug, auch Rasen, um uns niederzusetzen oder, wenn wir lieber wollen, uns niederzulegen!
SOKRATES: So magst du nur zugehen!1

Dieses Motiv der Philosophie als Kunst der Pause hat sich auch in der Moderne erhalten. So votiert Nietzsche in scherzhaften Versen für eine Outdoor-Philosophie, die von gegenseitiger Sympathie getragen ist:

Schön ist’s, mit einander schweigen,
Schöner, mit einander lachen, —
Unter seidenem Himmels-Tuche
Hingelehnt zu Moos und Buche
Lieblich laut mit Freunden lachen
Und sich weisse Zähne zeigen.2

Das Philosophieren im schützenden Grau des Schattens als der Ort, an dem die Zeit in Gedanken gefasst werden kann, widerspricht der von Hegel in Umlauf gebrachten Haltung der Philosophie als einer Arbeit des Begriffs. Dennoch ließe sich auch eine Textstelle bei dem Meisterdenker des 19. Jahrhunderts finden, die einen Einspruch gegen das brütende Reflektieren andeutet. So endet die berühmte Vorrede zu seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1821 mit den Worten: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“3

Es sind diese Gedanken, mit denen im Juli 2024 eine philosophische Serenade im Gütchenpark zu Halle zwischen Peter Sloterdijk und Stefano Vastano – organisiert vom Literaturhaus Halle – ihren Anfang nahm. Sie spielen auf ein Thema an, dass Sloterdijk, der in seinem Schaffen immer wieder darauf hinwies, dass er maßgeblich von Nietzsches Denken beeinflusst ist, in seinem vor zwei Jahren erschienenen Buch Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre ausführlich entfaltete. Während am bedenklich grauen Sommerabendhimmel die Schwalben ihre jahreszeitlichen Kapriolen vollführten und von Zeit zu Zeit ein dumpfes Geraune aus der Stadt hörbar wurde, das von der gleichzeitig stattfindenden Europameisterschaft im Fußball herrührte, lauschten die rund 80 überwiegend rentierhaft ergrauten Teilnehmer dem etwa 90-minütigen Gespräch. Interessant zu beobachten war das Zusammenspiel von Vastano und Sloterdijk. Ersterer unterbreitete in stark italienischem Akzent dem am 26. Juni 77 Jahre alt gewordenen, hünenhaft gebeugten Philosophen Sätze wie Melodievorschläge, woraufhin Sloterdijk wie ein selbstspielendes Klavier in freier Fortführung improvisierte und in himmlischen Längen weite Kontexte vergegenwärtigte, während der Tag zur Neige ging.

II. Graue Theorie

Sloterdijk erläuterte, dass das Grau eigentlich die basale Farbe der westlichen Philosophie sei. Gleich zu Beginn der Philosophie bei Platon nämlich komme es im Höhlengleichnis zu der einflussreichen Unterscheidung von wirklichem Wesen und vordergründigem Erscheinen, was durch eine Art cineastische Betrugstheorie geschildert wird. Im siebten Buch der Politeia lässt Platon Sokrates philosophisch die Wirklichkeit als eine Art unfreiwillige Kinoveranstaltung konstruieren. Demnach sei die Masse der Menschen innerhalb einer dunklen Höhle gefesselt, in der sie befangen sind von einem Schattenspiel, das durch ein Kerzenlicht hinter ihnen, vor dem unerkennbare Träger Dinge entlangführen, auf die Höhlenwand vor ihnen projiziert wird. Das, was die meisten für die eigentliche Realität halten und das, was sie demnach in Atem versetzt, sind so gesehen nur Illusionen. Für Platon besteht die Wahrheit darin, aus der Höhle zu klettern und das Licht der Wirklichkeit zu schauen. Der Unterschied von Platon und Sloterdijk liegt nun darin, dass Sloterdijk bei seinem Referat auf die Unterscheidungen aufmerksam macht, die durch die grauen Schatten auf der grauen Höhlenwand entstehen. Es gäbe Differenzen im Grau in Grau. So entsteht die Welt der Erscheinungen aus den Graunuancen zwischen Schatten und Wand. Für diese Wahrheit ist kein Ausbrechen nötig.

Insofern, so ließe sich spekulieren, folgt Sloterdijk hier Nietzsches Projekt, den Platonismus umzudrehen. Anstatt für einen Exodus aus der Höhle ans Licht zu werben und sich für den Schwarz-Weiß-Unterschied stark zu machen, thematisiert postplatonische Philosophie die Dämmerung. Darin steckt die Umkehrung des mächtigsten abendländischen Vorurteils. Es ist nicht alles nicht Gold, was nicht glänzt. Würde nicht ein ganz anderes Licht auf die Wirklichkeit fallen, wenn das Wesen der Ontologie darin läge, dass die Essenz des Seins seine Erscheinung wäre? Weniger die Reflexion und die Idee als die Aufmerksamkeit für die Objekte und die Atmosphären, in denen sie sich zeigten, würde so zentral werden. Das Licht der Aufklärung, die die Idee über ihr Ideenmachen aufgab und die Höhlen nicht mehr als Scheinwelten diffamiert, leistet keine klare und deutliche Definition der glasklaren Tatsachen mehr. Was sie allenfalls leisten kann, ist eine bessere Beschreibung des Graus, der Uneindeutigkeit, des Ambivalenten, der komplexen Mischungen des Möglichen. Kein „Lichtzwang“ (Celan) verlangt eine schattenlose Ausleuchtung von allem und jedem als massiv vorhandenes Objekt. Das Explizieren wird vorsichtiger. So steht die postplatonische Theorie als ein gutes Erwachen der Aufklärung zu sich selbst in dem Zwielicht einer Utopie: Zwischen dem Hellen und dem Dunklen öffnet sich die Vielfalt des Grauen als die wahre Buntheit des Lebens. Im Grau lassen sich noch Welten genug entdecken. Damit werden Platons und Hegels Gedanke als konzeptionelle Höhlen denkbar, aus denen das Denken sich zu befreien hat: Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann lässt sich mitunter das Leben wieder in einer neuen Gestalt erkennen und verstehen, die es verjüngen kann.

III. Spannende Langweile

Wenn die vollends aufgeklärte Welt nicht mehr, wie es die kritische, allzuselbstunkritische Theorie zu Beginn der Dialektik der Aufklärung gegen die Vernunftkultur der Moderne gewendet dozierte, im Zeichen triumphalen Unheils erstrahlen muss, öffnet sich die Chance, den Strukturwandel der modernen Lebensgefühle genauer zu analysieren. Folgerichtig zeigte Sloterdijk dann an Heideggers Meditationen zur Langweile aus seiner Wintersemestervorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik – vielleicht die beste Vorlesung des, wie Emmanuel Levinas einmal sagte, „leider größten Denkers des 20. Jahrhunderts“ – aus dem Jahren 1929/30 die Grundstimmung des Graus genau auf. Nur der Mensch kann ein Tier sein, das sich langweilt, weil er offen ist zu einer Welt, die einen angehen kann. Der Stein ist „weltlos“, das Tier ist „weltarm“. Erst durch die Wahrnehmung und Teilnahme am Weltreichtum entsteht das Wesen, das, erstaunlich aktivistisch konnotiert für Heidegger, „weltbildend“ sein kann. Fällt diese Weltbildung aus, so fällt das Selbst aus, das dafür offen steht und so fällt man sich selbst auf als ein penetrantes Fehlen. Langweile ist die ernüchternde Selbsterkenntnis als Emotion: Ich bin Nebel, also bin ich. Aber auch hier versucht Sloterdijk, wiederum Nietzsches Projekt folgend, eine Umwertung der Schwere. Wo Heidegger suggeriert, dass „eine tiefe Langweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender  Nebeln hin und herzieht“4 und den klaren Willen des Erzkonservativen erkennen lässt, aus diesem Phänomen einen neuen Notstand herbeizuphilosophieren, bemüht sich Sloterdijk in dem Fehlen der intrinsischen Initiative eine vorfunkelnde Freiheit zu erkennen. Wen nichts angeht, wer sich selbst in der Langeweile verliert, der ist radikal dispositionierbar für alles Mögliche. In der grauen Muße wächst die Fähigkeit „unalarmiert aufmerksam“ (Sloterdijk) die Welt an sich herankommen zu lassen. Und es wächst darin die Fähigkeit, die Appelle des Dringlichen an sich abperlen zu lassen. Sloterdijk wies hierbei auf Melvilles Figur Bartleby hin, der seine Umwelt damit zur Weißglut brachte, dass er sich mit einem notorischen „I would prefer not to“ – Sloterdijk übersetzte ad hoc mit „Lieber nicht“ – den Zumutungen entzog, mit dem man ihm konfrontierte. (Der Verfasser kann allerdings die Anwendung dieses Spruches nur bedingt empfehlen, angesichts der unmittelbaren und für den Verlauf des Abends nachhaltig negativen Wirkung, die sie machte, als seine Begleiterin bei der Veranstaltung den Wunsch äußerte, ob er so freundlich wäre, ihr noch ein Glas Wein zu holen.)

IV. Politik des Grau

Über eine Anspielung auf die Figur der „grauen Eminenz“ machte Sloterdijk zuletzt auf die politischen Implikationen aufmerksam, die seine Gedanken berühren. Dazu schreibt er in seinem Buch: „[D]ie zur Durchmischung einladende Liberalität der Moderne kann die erwünschte Regenbogengesellschaft nicht erzwingen. Zugleich ist es für Entmischung und reinfarbige Identitäten zu spät.“5  Daraus folgert Sloterdijk, dass das Grau die politisch rationalste Farbe der Zeit sei. Das Grau ist das Schicksal. Die toxischen Dualismen von wahr und falsch, gut und böse lösen sich in ihrer Unbedingtheit auf. Aus dem epochalen, utopischen Aufbruch in bessere Welten durch die rotbraunen oder die braunroten Mobilisierungen taucht der Horizont auf, der ein besseres Wohnen in dem nunmehr interessanteren Grau des Alltags in Aussicht stellt. Grau ist die Vermittlung der Extreme, das Zwielicht des Konsenses, die wunderbar unaufdringliche Langweile der Mitte, deren Lebensdramatiken nicht mehr den Kampf auf Leben und Tod brauchen, um etwas zu fühlen. Damit unterstützt Sloterdijk durch seine chromatischen Spekulationen die These von Francis Fukuyama, dass die Geschichte des Geschichtemachens an ein Ende gekommen sei. Nach der Geschichte, das heißt nach dem archaischen Heroismus, der immer den starken Kontrast eines Schwarz-Weiß-Denkens brauchte, um seine Intensitäten zu legitimieren. Viel Feind, viel Ehr’, viel unnötiges Blutvergießen.

Dennoch bleibt die Dimension des Thymos – das „Muthafte“ –, so Sloterdijk, weiterhin bedeutungsvoll als der Seelenteil, der laut Platon für die Regungen der Kränkung, Anerkennung und des Stolzes zentral ist. In der grauen Geschichte seien es nicht mehr die Heldenepen der Krieger und die Missionsprojekte der Priester, die die Epoche färbten. Ein postheroischer Heroismus gehe in der Moderne von den Unternehmern, Künstlern und Sportlern aus. Sie sind es, die nach dem Tod Gottes die heiligen Spiele erfinden, die einerseits einen neuen Trost geben können, die andererseits aber auch die thymotischen Energien neu ritualisieren. Weniger die unsichtbare Hand des Marktes, als die unsichtbaren Hände einer neuthymotischen Sittlichkeit regeln wie erweiterte checks and balances das Gemeinwesen. Die Prestigekämpfe um das profitablere Geschäft, das erfolgreichere Werk, die neue Rekordmarke domestizieren den Überschuss des strebenden Seelenteils, der das, was ist, übersteigen will, ohne das, was ist oder ihn daran hindert, vernichten zu müssen. Aus Feinden müssen keine Freunde werde. Es reicht, wenn sie sich als Gegner, Mitbewerber, Kontrahenten gegenübertreten. Das immer wieder anschwellende diffuse Gejubel aus der Stadt, das während des Gesprächs anbrandete und dem zeitgleich stattfindenden Spiel der deutschen Nationalmannschaft galt, wies eindrücklich auf den etablierten Strukturwandel des Heroischen in der modernen Welt hin.

Gelingt eine zivile Integration des Thymotischen nicht, etwa indem das Thymotische zu unterkomplex gleichgesetzt wird mit dem Kriegerischen und als toxische Männlichkeit weggecancelt werden soll, so gewinnt das Phänomen des Zynismus ein neues Charisma. Sloterdijk zitiert hier ein Bonmot von Rochefoucauld, wonach die Heuchelei eine Verbeugung des Lasters vor der Tugend sei. Zynismus mache sich diese Mühe nicht mehr. Er imponiere, indem er seine amoralische Enthemmung offen zur Schau stelle. Die paradigmatische Szene dafür liefere Napoleon, der sich 1804 selbst zum Kaiser krönte. Dieser Rückfall in die Monarchie geschah in Frankreich, der Zweitheimat von Sloterdijk, seit 1789 immerhin vier Mal. Die bedenklichen Entwicklungen in den USA weisen aktuell auf die virulente Dimension des wilden Thymos als Trumpismus hin, der sich in seinem Zynismus selbst feiert und die rechtlichen Graubereiche unverschämt zu seinen Gunsten ausnutzt.

Den Abend beendete Sloterdijk in einer Mischung von Heiterkeit und Sorge mit den Worten, man hoffe doch, man habe sein Pensum erfüllt. Die Schwalben schwiegen, der Tag ergraute und der letzte Meisterdenker fuhr, nachdem rasch noch ein paar Bücher signiert waren, mit dem Wagen zum Zug nach Berlin.

Quellen

Adorno, Theodor W. & Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 2022.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Grundlinien einer Philosophie des Rechts. Frankfurt a. M. 2002.

Heidegger, Martin: Grundbegriffe der Metaphysik. Frankfurt a. M. 2001.

Platon: Phaidros. Hamburg 2005.

Sloterdijk, Peter: Wer noch kein Grau gedacht. Eine Farbenlehre. Frankfurt a. M. 2022.

Vorlage für das Artikelbild

https://www.wikiwand.com/de/Peter_Sloterdijk#Media/Datei:Peter_Sloterdijk,_Karlsruhe_07-2009,_IMGP3019.jpg

Fußnoten

1: Platon, Phaidros, 229 3a.

2: Menschliches, Allzumenschliches I, Nachspiel 1.

3: Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 28.

4: Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, S. 119.

5: Sloterdijk, Wer noch kein Grau gedacht, S. 18.

Seht, ich lehre euch den Transhumanisten

Friedrich Nietzsche als Personal Trainer des Extropianismus

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Friedrich Nietzsche als Personal Trainer des Extropianismus

23.10.24
Jörg Scheller

Nachdem Natalie Schulte in der vergangenen Woche über den Widerhall von Nietzsches „Übermenschen“-Idee in der Gründerszene berichtete (Link), widmet sich der Schweizer Kunstwissenschaftler Jörg Scheller in dieser Woche ihrem Fortleben im Extropianismus, einer Unterform des Transhumanismus, der es darum geht, die menschliche Evolution auf individueller wie auch auf Gattungsebene künstlich zu beschleunigen mit den Mitteln der modernen Technik. Dem physikalischen Gesetz der „Entropie“, wonach in geschlossenen Systemen die Tendenz besteht, alle Energiegefälle auszugleichen, bis sich ein Gleichgewichtszustand hergestellt hat – auf das Universum bezogen ein Zustand des völligen Erkaltens –, setzen die Verfechter dieser Strömung das Prinzip der „Extropie“, der zunehmenden Vitalität eines Systems, entgegen.

Nachdem Natalie Schulte in der vergangenen Woche über den Widerhall von Nietzsches „Übermenschen“-Idee in der Gründerszene berichtete (Link), widmet sich der Schweizer Kunstwissenschaftler Jörg Scheller in dieser Woche ihrem Fortleben im Extropianismus, einer Unterform des Transhumanismus, der es darum geht, die menschliche Evolution auf individueller wie auch auf Gattungsebene künstlich zu beschleunigen mit den Mitteln der modernen Technik. Dem physikalischen Gesetz der „Entropie“, wonach in geschlossenen Systemen die Tendenz besteht, alle Energiegefälle auszugleichen, bis sich ein Gleichgewichtszustand hergestellt hat – auf das Universum bezogen ein Zustand des völligen Erkaltens –, setzen die Verfechter dieser Strömung das Prinzip der „Extropie“, der zunehmenden Vitalität eines Systems, entgegen.

In den Schriften des Transhumanismus zählt Friedrich Nietzsche zu den meisterwähnten Philosophen.1 Diese Feststellung mag zunächst banal erscheinen. In welchem Bereich, so ließe sich etwas polemisch fragen, zählt Nietzsche denn nicht zu den meisterwähnten Philosophen? Ob in Texten zu Black Metal2 oder Bodybuilding, ob in den Songlyrics der Dandy Warhols, im Oi-Punk der Skinflicks oder in den die internationalen Bücherregale überwuchernden Bartratgebern – auf Nietzsche wird überall Bezug genommen, bietet sich sein vielstimmiges, eklektisches Werk doch als Kalendersprucharchiv für alle und keinen an.

Gerade für jene Menschen, die es mit Kontextsensibilität und Genealogien des Denkens nicht so genau nehmen, ist der aphoristische Stil Nietzsches, der den fiebrigen Salvensprech auf Twitter/X & Co. vorweg nahm und lange vor Pop schon Pop war, verführerisch. Dampfplauderer lechzen nach Hammerphilosophen. Mal kurz ein PDF der gesammelten Werke nach Schlagwörtern abgesucht, schon hat man einen knalligen Spruch, mit dem sich alles Mögliche philosophisch pimpen lässt. Da hat man’s mit Immanuel Kant oder Friedrich Wilhelm Joseph Schelling schwerer. Ob Manager oder Hausbesetzer – wenn es schnell gehen muss und ein bisschen nach Dynamit riechen soll, greift das Zitariat lieber zu Nietzsche.

Wenig verwunderlich also, dass es sich mit Transhumanisten nicht anders verhält. Und doch ist die ewige Wiederkehr Nietzsches im Transhumanismus alles andere als beliebig. Dass gerade jene, die den Menschen überwinden und seine profane Auffahrt in den Himmel des „Posthumanen“ beschleunigen wollen, eine besondere Affinität zum Begriff und Konzept des „Übermenschen“ haben, ist naheliegend. Ob ihr Verständnis des Übermenschen aber auch dem Verständnis Nietzsches entspricht, soll im vorliegenden Text mit Blick auf eine Unterform des Transhumanismus, den Extropianismus, untersucht werden.

I. Wider den entropischen „Religionismus“

In Max Mores Transhumanism. A Futurist Philosophy (1990), einem der prägenden Texte des Transhumanismus, spielt Nietzsche eine wichtige Rolle als Stichwortgeber. Der Autor, seines Zeichens Philosoph und CEO der Alcor Life Extension Foundation von 2010 bis 2020, versteht sich als „Extropianist“ und vertritt damit eine Strömung des Transhumanismus, die unmittelbar auf die (Lebens-)Praxis und die beschleunigte – grenzenlose, immerwährende – psychophysische Transformation des Menschen vermittels neuester Technologien abzielt (Kryonik, Biotechnologie, Künstliche Intelligenz, Nanotechnologie, etc.).

Extropianisten ist es darum zu tun, den Menschen, als Gattung wie auch als Individuum, schnell und effektiv über seinen aus ihrer Sicht deplorablen Ist-Zustand hinauszuführen. More kontrastiert den Typus des Extropianisten mit demjenigen des „Religionisten“, dessen Glauben hemmend wirke. Hier kommt Nietzsche ins Spiel: „Der Religionist hat keine Antwort auf die extropische Herausforderung, die uns Nietzsches Zarathustra stellt: ‚Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?‘“3. Und weiter heißt es bei More: „Ich stimme mit Nietzsche (in Der Wille zur Macht) überein, dass der Nihilismus nur ein Übergangsstadium ist, das aus dem Zusammenbruch einer falschen Interpretation der Welt resultiert. Wir verfügen heute über genügend Mittel, um den Nihilismus hinter uns zu lassen und eine positive (aber sich ständig weiterentwickelnde) Wertperspektive zu bejahen“.

Für Extropianisten gilt es, alle ethisch valablen (hier: die Menschenwürde des Individuums respektierenden) Ressourcen zur Optimierung zu nutzen, da ihnen die Akzeptanz des menschlichen Status Quo als Ausdruck von Defätismus erscheint. In der einen oder anderen Form zieht sich diese Prämisse durch die vielfältigen anderen, zwischen Liberalismus, Libertarismus, Sozialdemokratie, Sozialdarwinismus und weiteren Ismen oszillierenden Strömungen transhumanistischer Philosophie und Lebenspraxis, auch durch differenziertere und skeptischere Ansätze als den radikaloptimistischen von Max More, etwa den von Stefan Sorgner. Der deutsche Philosoph hält „die beständige Selbstüberwindung für zentral zur Förderung meiner eigenen Lebensqualität. Auch den Bereich der wissenschaftlichen und biotechnologischen Forschung erachte ich für enorm wichtig und plädiere dafür, ihn verstärkt zu fördern“4. Auch aus Sorgners Sicht ist Nietzsche elementar für den Transhumanismus: „Bei einer Auseinandersetzung mit dem Transhumanismus fällt sofort die Ähnlichkeit transhumanistischer Grundsätze mit denen von Nietzsches Philosophie auf“ (ebd., S. 111). In Sorgners Buch Transhumanismus. „Die gefährlichste Idee der Welt!?“ ist Nietzsche als einzigem Philosophen ein eigenes Kapitel gewidmet. An anderer Stelle plädiert er direkt „für einen Nietzscheanischen Transhumanismus“5.

Während Sorgner in Anlehnung an seinen Doktorvater Gianni Vattimo jedoch einen dezidiert „schwachen Transhumanismus“ verficht, positioniert sich More – auf nachgerade klischeehaft kalifornische Weise – als starker Transhumanist, der sich der radikalen Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten unter den Vorzeichen eines undialektischen, dogmatisch gesetzten „Positiven“ verschrieben hat. Extropianismus wird geboren als Tod der Tragödie, in deren Schatten Nietzsches Wille zur Bejahung doch unabweislich steht.

II. Transzendenz und neuer Glaube

Mores Beispiel macht auf überspitzte Weise deutlich, wie sehr der Transhumanismus in der anglo-amerikanischen Philosophie und Theorie verwurzelt ist; wie stark er mit Utilitarismus, Humanismus, Liberalismus, Individualismus und Aufklärung verbunden ist; wie sehr er auf dem typisch westlich-modernen, prometheischen Nexus von Wissenschaft, (Zweck-)Rationalität, Selbstvervollkommnung basiert – „vom Schicksal zum Machsal“, um ein Bonmot von Odo Marquard zu gebrauchen. Unsterblichkeit gilt als realistisches Ziel, Altern als heilbare Krankheit. Bezeichnend ist, dass die erste Konzeption des Transhumanismus auf den zukunftsfrohen atheistischen Eugeniker und ersten UNESCO-Generaldirektor Julian Huxley zurückgeht, der in seinem Artikel Transhumanism (1957) postulierte:

Die menschliche Spezies kann, wenn sie will, sich selbst transzendieren – nicht nur sporadisch, ein Individuum hier auf die eine, ein Individuum dort auf die andere Weise, sondern in ihrer Gesamtheit, als Menschheit. Wir brauchen einen Namen für diesen neuen Glauben. Vielleicht ist Transhumanismus der richtige Begriff: Der Mensch bleibt Mensch, aber er transzendiert sich selbst, indem er neue Möglichkeiten seiner menschlichen Natur und für seine menschliche Natur verwirklicht[.]6

Eine eigenständige Bewegung in Theorie und Praxis wurde Transhumanismus jedoch erst in den 1980er Jahren mit Vertretern wie FM 2030, Max More oder seiner Ehefrau Natasha Vita-More (die selbst gewählten Nachnamen sind buchstäblich zu verstehendes transhumanistisches Programm). Genau dann beginnen sich auch die Nietzsche-Bezugnahmen zu häufen, insbesondere auf den Übermenschen, der in den Rang des „Posthumanen“ befördert wird. Julian Huxleys schöne neue Welt (ja, es handelt sich um den Bruder des ungleich zukunftsskeptischeren und technologiekritischeren Autors Aldous Huxley…) kam noch ohne Nietzsches Beistand aus.

In ihrer Euphorie wandeln die Extropianisten nicht nur in die Offenheit der Zukunft, wo sie die frontier menschlicher Existenz immer weiter pushen, sondern auch in den alten Fußspuren des von sich selbst berauschten Bürgertums der Moderne, wie es Peter Sloterdijk in Erinnerung an die schöne Politik (2000) porträtiert: „Man ahnt, verwundert, vielleicht sogar neidisch, wie sehr die bürgerlichen Menschen jener Zeit noch geborgen waren in ihrem Vermögen, vor dem Realen ins Hymnische auszuweichen. Wie kurz waren damals die Wege vom Klavierduo zur Menschheit, wie schnell stieg man vom Punsch zur Gattung auf“7. Im Unterschied zum moderneskeptischen europäischen, insbesondere deutschen Bildungsbürgertum bejahen und nutzen Transhumanisten jedoch moderne Technologie und (Natur-)Wissenschaft auf enthusiastische Weise.

III. Der selektive Übermensch

Nietzsches Übermensch aus dem Zarathustra ist eine naheliegende Referenz, wenn es um Selbstüberschreitung und Ablösung von überkommener, mutmaßlich einengender Moral geht. Doch Extropianisten wie More und weitere Transhumanisten pflegen einen selektiven und tendenziösen Umgang mit Nietzsches wohl bekanntester Figur. Zwar ist unbestreitbar, dass man auf der inhaltlichen Ebene viele Parallelen zwischen Nietzsches Werk und Transhumanismus finden kann – die Kritik am Christentum (Stichwort „Sklavenmoral“), die Orientierung an (natur)wissenschaftlicher Forschung und Technik statt an religiöser Moral, die grundsätzliche Bejahung der Weiterentwicklung und der Selbstüberschreitung. Doch bei Nietzsche ist der Inhalt nicht ohne die Form und den Stil zu denken, ja Form und Stil sind, stärker als bei den meisten anderen Philosophen, selbst der Inhalt.

Während Transhumanisten ihre Texte meist in einem rationalen, durchaus voraussetzungsreichen, aber doch verständlichen, auch akademische Konventionen berücksichtigenden Duktus verfassen und technische Machbarkeit anstreben (Nick Bostrom hat ein nutzerfreundliches „Transhumanistisches FAQ“ verfasst8), grätschen beim Künstlerdenker Nietzsche der fiebrige Tonfall, die expressiven Formulierungen, die das eigene sprunghaft-essayistische Denken mimetisch nachvollziehende Dramaturgie der Sätze unablässig in die sich formierende ideologische Ordnung. So entsteht auf der Ebene von Nietzsches Stil selbst dort nicht der Eindruck, es handle sich um nüchterne Wissenschaft, wo nüchterne Wissenschaft gelobt wird. Und wenn sich banales Machbarkeitsdenken als Konsequenz des Ganges auf den letzten Gipfel zeichnet, leuchtet der Stil wie eine Warnlampe auf. Wer Nietzsche abzüglich des Stiles liest, liest nicht Nietzsche.

Ein weiteres Problem betrifft die Semantik. Was bei Nietzsche immer sowohl Problem als auch Potenzial ist, die schier unendlichen Entwicklungsmöglichkeiten nach dem Tod Gottes, gibt für Extropianisten wie Max More auf ziemlich undialektische Weise Anlass zur Hoffnung. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen optimistischer Affirmation und tragischer Bejahung. Für More gilt es, jenseits die Entwicklungsspielräume einengender Metaphysiken den Menschen vermittels Wissenschaft und diverser Techniken, von in Maschinen sich manifestierenden artes mechanicae bis hin zu handlungsorientierten Kultur- und Anthropotechniken, so lange zu optimieren, bis der alte Mensch überwunden ist und eine neue Ära der Evolution anbricht. Was der neue „posthumane“ Mensch (?) sein wird, wissen die Extropianisten zwar nicht so genau zu sagen, aber seltsamerweise nehmen sie an, dass er – oder es, oder sie – irgendwie besser sein wird. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der normativen Dimension des „Positiven“ dieser Optimierung unterlässt More wohlweislich – und weicht darin von seinem philosophischen personal trainer Nietzsche ab, dessen Werk doch auch als unablässiges Hadern, Hinterfragen, ja, als ein mitunter in paradoxe Bejahung umschlagendes Verzweifeln an den Möglichkeiten der Moderne verstanden werden kann.

IV. Extropianisten als letzte Menschen

Während sich Nietzsche dem Abgrund aussetzt und seine Kälte einatmet, schüttet More ihn mit neuen, wärmenden Gewissheiten zu. Dass „Wissen, Freiheit, Intelligenz, langes Leben und Weisheit“ inhärent gut sind, liegt seinem Konzept des Transhumanismus als dogmatische Setzung zugrunde. Warum aber etwa das von Extropianisten ersehnte lange Leben per se gut sein sollte, bleibt unklar. Zwar wird die verlängerte Lebensdauer stets an die Auflage gekoppelt, länger gesund zu bleiben. Doch artikuliert sich darin nicht eher die spießige Sehnsucht des „letzten Menschen“: möglichst alt werden, möglichst gesund bleiben, möglichst zufrieden sein? Dass menschliche Kulturleistungen auch aus Schwäche und Schmerz, aus Krankheit und Verlust, aus Scheitern und Verhängnis erwachsen, spielt für More eine untergeordnete Rolle. Diese Einsicht ist bei Nietzsche indes noch präsent, etwa im Ecce Homo: „Ich bin ein froher Botschafter, wie es keinen gab, ich kenne Aufgaben von einer Höhe, daß der Begriff dafür bisher gefehlt hat; erst von mir an gibt es wieder Hoffnungen. Mit alledem bin ich notwendig auch der Mensch des Verhängnisses“9.

Während More die Werte von Humanismus, Aufklärung und Moderne als konstruktive affirmiert, präsentiert sich die Stimme aus Ecce Homo auch als „Vernichter“, nämlich von Werten, und als „Immoralisten“, nicht zuletzt auch als „Hanswurst“: „Ich habe eine erschreckliche Angst davor, daß man mich eines Tags heilig spricht: man wird erraten, weshalb ich dies Buch vorher herausgebe, es soll verhüten, daß man Unfug mit mir treibt... Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst…“ (ebd.). Der Übermensch ist bei Nietzsche keine Lichtgestalt: „Des Übermenschen Schönheit kam zu mir als Schatten“10. Jene Extropianisten hingegen, die für ihr Übermenschenprojekt immer auch (überwiegend utilitaristische) Ethik, Werte, Moral in Anschlag bringen und letztlich das Gute versprechen (anders lässt sich auch kaum erfolgreich Fundraising für transhumanistische Experimente betreiben…), stehen damit eher in der Tradition jener, die im Ecce Homo als „die Guten, die Wohlwollenden, Wohltäthigen11 denunziert werden: als kryptoreligiöse Idealisten. Die vorgeblichen Religionskritiker des Extropianismus sind vielleicht auf ähnliche Weise religiös, wie die den Cäsar kritisierenden Christen cäsarisch waren – und bald ja auf dessen Thron saßen. Hatten Religionen, genauer gesagt: politische Theologien wie das Christentum das Leid instrumentalisiert, um Menschen klein zu halten (Stichwort Hiob) und ihnen den Übermenschen zu verwehren, so instrumentalisieren Extropianisten das Leid ex negativo. Sie heiligen die Optimierung des Machsals auf eine ähnliche Weise, wie die „Religionisten“ das Sich-ins-Schicksal-Fügen heiligen.

V. Transhumanismus vs. Posthumanimus

Im Unterschied zum moderneskeptischen Posthumanismus, der den Menschen nicht mehr als „Krone der Schöpfung“ (Wolfang Welsch) anerkennt, sondern ihn als Abgeordneten politischer Ökologie in das „Parlament der Dinge“ (Bruno Latour) schickt oder ihn im „heißen Komposthaufen“ (Donna Haraway) die Demut multispeziesistischer Kollaboration lehrt, knüpft der extropianistische Transhumanismus an den futurozentrischen und anthropozentrischen Exzeptionalismus der Moderne an, ironischerweise indem er den (bisherigen) Menschen überwinden möchte – das Menschlichste am Menschen ist eben der Versuch, den Menschen zu überwinden. Kein Eichhörnchen versucht, das Eichhörnchen zu überwinden. Kein Kaktus versucht, den Kaktus zu überwinden. Kein Kieselstein versucht, den Kieselstein zu überwinden. Nur der Mensch versucht, den Menschen zu überwinden – darin drückt sich seine Menschlichkeit am reinsten aus. Und nur dort, wo der Anthropozentrismus in voller Blüte steht, erscheint das diffuse „Posthumane“ als erstrebenswerter Zustand. Die eigene Stärke ist so sehr gewachsen, dass Schwächung attraktiv erscheint, vergleichbar mit materiell gesättigten Menschen, die „Minimalismus“ als erstrebenswertes Ziel ansehen.

In diesem Zusammenhang muss streng zwischen Trans- und Posthumanismus unterschieden werden. Bei den Posthumanisten ist das Posthumane paradoxerweise das, was bereits, ja immer schon der Fall ist, aber nicht anerkannt, ja verdrängt und ideologisch bekämpft wird, nämlich die existenzielle „Verwobenheit“ (Haraway), das irreduzible Angewiesensein von uns Menschen auf ein „Netzwerk“ (Latour) aus Anderen und Anderem, menschlichen wie auch nicht-menschlichen Wesen. Posthumanismus lässt sich dahingehend als Akt der Explikation verstehen. Man findet wieder, was implizit schon der Fall ist. Bei den Transhumanisten hingegen ist das Posthumane ein erst noch zu erreichender Zustand: Der Übermensch muss hergestellt werden. Die Dualismus-Kritik der Posthumanisten, die aus binären Schemata wie Natur/Kultur herausfinden möchte, ist für den Transhumanismus nicht entscheidend. Allein die viel zitierte Vision des „Mind-Uploading“, also des technologischen Outsorcings des eigenen Bewusstseins auf ein Trägermedium, zeugt davon, dass für Transhumanisten, trotz der naturalistisch-materialistischen Grundierung ihrer Philosophie, eine kategorielle Differenz zwischen Körper und Geist besteht. Das konkrete „Mind“ ist angeblich nicht an einen konkreten „Body“ gekoppelt. Doch ist es nicht ein konkreter Körper, der einen konkreten Geist überhaupt erst ermöglicht, und ist nicht der „Leib“ (Helmuth Plessner) die Einheit ihrer Differenz, die sich nicht aufspalten lässt? Ein Geist, der unabhängig von einem konkreten Körper existierte, wäre nicht der Geist eines Menschen, sondern spukte durch ein platonisches Wolkenkuckucksheim. In Nietzsches Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben hingegen ist die Kritik am humanistischen Körper-Geist-Dualismus entscheidend, geht es doch um die Anerkennung der eigenen, irreduziblen Körper- und Tierhaftigkeit – eine Tierhaftigkeit, die durch kein „Übertier“ überwunden werden muss. Die Geschichts- und Moralferne des Tieres soll dem Menschen vielmehr ein Korrektiv sein: „So lebt das Thier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne daß ein wunderlicher Bruch übrigbleibt, es weiß sich nicht zu verstellen, verbirgt nichts und erscheint in jedem Momente ganz und gar als das, was es ist, kann also gar nicht anders sein als ehrlich“12.

VI. Extropianismus ist Marx als Musk

Transhumanisten, und insbesondere die Extropianisten unter ihnen, leben weiterhin in Menschenmoral und Menschengeschichte, ja sie wollen das grandioseste Kapitel dieser Geschichte selbst schreiben, indem sie den Gipfel des Menschlichen besteigen, eben das – nur vordergründig paradoxe – Posthumane. Kompatibel ist der extropianistische Transhumanismus somit weniger mit Nietzsche in all seiner Tragik und Zerrissenheit als vielmehr mit der linkshegelianischen Tradition einerseits, deren revolutionäres Geschichtsverständnis von der Veränderbarkeit aller Verhältnisse durch menschliches Tun ausgeht, mit der liberalkapitalistischen Tradition andererseits, die sich ewigem Fortschritt, ewiger Optimierung, ewigem Wachstum verpflichtet sieht. Extropianismus ist Marx als Musk.

Bei More und anderen Extropianisten könnte man das Posthumane als Äquivalent des Hegel’schen Endes der Geschichte interpretieren. Doch weil die potenziell unendliche Perfektionierung des Menschen – oder des Postmenschen – kein Ende haben kann, kann sie auch keinen Anfang haben. In seinem Versuch, den Lauf der Geschichte zu bestimmen, prozessiert der Extropianismus selbstbezüglich, durchpulst von optimistischer Leere, außerhalb der Geschichte vor sich hin – und kippt so zurück in genau jene u–topische religiöse Metaphysik, die er doch eigentlich, schenkt man More Glauben, überwinden will:

Unsere Spezies verharrt in alten konzeptionellen Strukturen und Prozessen, die den Fortschritt behindern. Eine der schlimmsten ist das religiöse Denken. In diesem Aufsatz werde ich zeigen, wie die Religion als entropische Kraft wirkt, die unserem Fortschritt zur Transhumanität und unserer Zukunft als Posthumane entgegensteht[.]13

Mit der Zukunft ist das so eine Sache. Wie der durchschnittliche Messias neigt sie zu Verspätungen. Und kommt sie dann endlich an, wird sie nicht als solche erkannt, ja sie ist im Moment des Erscheinens schon veraltet. Der Messias der Zukunft verendet stets am Kreuz gestiegener Erwartungen an ihn. FM-2030, ein 1930 geborener iranisch-amerikanischer Autor, Dozent, Berater, olympischer Athlet und Wegbereiter des Transhumanismus, sagte für das Jahr 2030 eine „magische Zeit“14 voraus – alle Menschen würden dann alterslos sein und hätten eine exzellente Chance, für immer zu leben. Der transhumanistische Technologie-Enthusiast Ray Kurzweil sekundierte ihm im Jahre 2016 (Link). Evident ist der religiöse Subtext. Im Jahr 2000 starb FM-2030 an Krebs. Ob er 2024 noch immer so optimistisch gewesen wäre? Die sich verdüsternde Weltlage und ein merklich gealterter Kurzweil zeigen uns Heutigen, dass die neuen extropianistischen Propheten nicht zwingend zuverlässiger sind als ihre alten religionistischen Vorgänger mit ihren notorisch unzutreffenden Apokalypse-Vorhersagen. Und selbst wenn ihre Propheizungen eintreffen würden, wären die Nutznießer sofort unzufrieden mit ihnen: Wie bitte, man speist uns mit ein bisschen Unsterblichkeit und Alterslosigkeit ab!? Wir hätten mehr verdient! Das Posthumane wird wohl menschlich, allzu menschlich werden. Oder, in den Worten des Philosophen Leszek Kołakowski: „Im Punkte der Explosion, die das Erbe zu sprengen scheint, stammt der Sprengstoff immer schon aus ererbten Beständen“15.

Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und Gastprofessor an der Kunsthochschule Poznań, Polen. Er schreibt regelmäßig Beiträge unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung, DIE ZEIT, Artforum und ist Kolumnist der Stuttgarter Zeitung sowie von Psychologie Heute. Bereits als 14-Jähriger stand er mit einer Metalband auf der Bühne. Heute betreibt er einen Heavy Metal-Lieferservice mit dem Metal-Duo Malmzeit. Nebenbei ist Scheller zertifizierter Fitnesstrainer. 2015 organisierte er mit Martin Jaeggi die Konferenz Pop! Goes the Tragedy. The Eternal Return of Friedrich Nietzsche in Popular Culture an der ZHdK. Er twitterXt unter https://x.com/joergscheller1.

Bibliographie

Campa, Riccardo: Nietzsche and Transhumanism. A Meta-Analytical Perspective. In: Studia Humana, Bd. 8/4 (2019), S. 10–26.

Huxley, Julian: Transhumanism. In: Ders.: New Bottles for New Wine. London 1957, S. 13–17.

Kołakowski, Leszek: Die Gegenwärtigkeit des Mythos. München 1973.

Krüger, Oliver: Virtual Immortality. God, Evolution, and the Singularity in Post- and Transhumanism. Bielefeld 2021.

More, Max: Transhumanism. Towards a Futurist Philosophy, online abgerufen auf: https://www.ildodopensiero.it/wp-content/uploads/2019/03/max-more-transhumanism-towards-a-futurist-philosophy.pdf

Sloterdijk, Peter: Erinnerung an die schöne Politik. In: Ders.: Der ästhetische Imperativ. Hamburg 2007, S. 29–49.

Sorgner, Stefan: Transhumanismus. „Die gefährlichste Idee der Welt“!?. Freiburg, Basel & Wien 2016.

Ders.: (2019): Übermensch. Plädoyer für einen Nietzscheanischen Transhumanismus. Basel 2019.

Quellenangabe zum Artikelbild

Nietzsche von Luke Mack, 2010 (Link)

Fußnoten

1: Für eine quantitative Analyse vgl. Riccardo Campa, Nietzsche and Transhumanism.

2: Anm. der Redaktion: Vgl. den Artikel zu Nietzsche Rezeption im Heavy Metal von Christian Saehrendt auf diesem Blog (Link).

3: Vgl. Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3. Alle englischsprachigen Zitate in diesem Artikel wurden vom Autor ins Deutsche übersetzt.

4: Sorgner, Transhumanismus, S. 33.

5: So der Untertitel seines Buches Übermensch.

6: S. 17.

7: S. 39.

8: Vgl. https://nickbostrom.com/views/transhumanist.pdf.

9: Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 1.

10: Ecce homo, Also sprach Zarathustra, 8.

11: Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 4.

12: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Abs. 1.

13: Transhumanism.

14: Zit. n. Oliver Krüger, Virtual Immortality, S. 71.

15: Leszek Kołakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, S. 38.

Darts & Donuts
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Ich empfinde alle Menschen als schädlich, welche dem, was sie lieben, nicht mehr Gegner sein können: sie verderben damit die besten Dinge und Personen.

(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

Nietzsche sagt: „ChatGPT ist dumm.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

Nietzsche sagt: „Man soll den Computern misstrauen, sie haben ein Hirn, eine Hand, einen Fuß und ein Auge, aber kein Herz.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.

(ChatGPT auf die Bitte hin, einen Aphorismus im Stile Nietzsches zu verfassen)

Werk. – Es gibt keine irreführendere und falschere Ansicht als die, dass das Schreiben oder das Werk lustvolle Angelegenheiten seien. Es ist ganz das Gegenteil! Das Werk ist einer der größten Gegner und schlimmsten Feinde. Und wer aus Freiheit und nicht aus Gewohnheit schreibt, vermisst an ihm Umgangsformen und Gewissen – der ist ein Schwein!

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Gefährliche Wahrheit. – Viele psychische Pathologien machen ihren Wirt ultrasensibel. Sie bekomme Antennen für die kleinsten seelischen Regungen ihres Gegenübers, sehen den kleinsten Verrat, die kleinste Inkongruenz, den kleinsten Reißzahn, den hässlichsten Hund im Menschen. Als Feind des Menschengeschlechts zückt der Arzt seinen Notizblock und ruft also „die Pfleger“ herein.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Glück: Keinen mehr nötig zu haben und so rückhaltlose Zuwendung sein können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 44)

Dein Rechthaben nicht offen zur Schau stellen. Nie der Weg sein. Dem, der Recht hat, will man leicht Unrechttun und man fühlt sich gemeinsam im Recht dabei, weil das Gefühl für Gleichheit ständig trainiert wird und die Übung der Freiheit eine Seltenheit geworden ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 43)

Wahre Liebe: Durch den Anderen hindurch lieben.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 42)

Zusammensein wollen: Weil es leichter ist? Weil es bereichert? Weil man keinen Willen kennt, der lange Wege allein gehen kann?

(Neue Sprüche und Pfeile, 41)

Helfen wollen: Weil es sichgehört? Weil einem Gleiches widerfahren kann? Weil man hat und gerne gibt? Weil einem nicht die aktuelle Armut betroffen macht, sondern die Schande, dass Chancen ungenutzt bleiben müssen?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 40)

Keine Größe ohne ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten. Aus dem Schein zu einem Mehr an Sein. Aus den Erfolgen der Sprünge in eine Rolle, in der man sich nicht kannte, entsteht der Glaube anein Können, das mehr aus einem machen kann.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 39)

Wem die Stunde schlägt. – Wer sich einen Termin macht, etwa ein Date in zwei Wochen, freut sich, trifft allerlei Vorbereitungen, fiebert darauf hin, hält durch und überlegt, was er sagen soll und so weiter. – Dann ist der Tag da. In der Zukunft glänzte alles noch, fühlte sich anders an. Man denkt sich: Es ist alles ganz wie vorher. Alles, was ich getan habe, war nur Selbstzweck, man erwartete das Warten und Vorstellen und nicht die Sache selbst, nicht den Kairos, den man nicht erwarten kann.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Niederes und höheres Bewusstsein. – Bin ich vor die Wahl gestellt, entweder erdrückt zu werden, tot zu sein und zu schweigen oder zu lästern und ungläubig zu sein – Gift in meinen Drüsen mir zu sammeln, wie mir angeboren, Reptil, das ich bin –, ich würde immer das Zweite wählen und mich niedrig, schlecht, negativ und ungebildet nennen lassen. Lieber will ich mich von meinem Gift befreien als es mir zu Kopf steigen zu lassen. Tritt einer dann in meine Pfützen, sei’s so – gebeten hat man ihn nicht!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Schwere und die Sinnlosigkeitder Dinge. – Wer einmal den unbegründeten Wunsch verspüren sollte, sich über die wesentlichen Dinge Gedanken zu machen, das Sein der Dinge und die Zeit, der ist besser beraten, es zu unterlassen. Der Verstand tendiert dazu, solche Dinge zäh und schwer zu machen. Am Ende findet man sich beim Denken und Überlegen dabei wieder, das Ding selbst nachzuahmen und denkt den Stein, das Stein-Seins, verfällt in gedachte Inaktivität.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Nichts. – In der Indifferenz ist noch alles und jedes zu ersaufen. Der größte Mut, der Hass, die Heldentaten, die Langeweile selbst verschlingt sich und die große Dummheit, Eitelkeit.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Für Franz Werfel. – Ein Autor, der dir sagt: „Ach, meine Bücher…, lass dir Zeit, lies erst dies ein oder andere. Das kann ich dir empfehlen: Ich liebe Dostojewski.“ – Das ist Größe und nicht die eitle Schwatzerei derjenigen, die ihre eigene Person und die Dringlichkeit der eigenen Ansichten vor sich hertragen.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Illusions perdues. – Wieso ist es so,dass das schönste, romantischste, bewegendste, rührendste, herzaufwühlenste Buch gegen die blasseste Schönheit von zweifellos hässlichem Charakter keine Chance hat und so attraktiv wie eine uralte Frau wirkt?

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Wider einfache Weltbilder. – Wir sind ein krankendes Geschlecht; schwitzend, von Bakterien übersät. Wir haben Bedürfnisse, geheimen Groll, Neid; die Haare fallen uns aus, die Haut geht auf mit Furunkeln; wir vertrauen, langweilen uns, sind vorlaut; pöbeln, sind übertrieben schüchtern, schwätzen Unsinn, konspirieren, sind erleuchtet, sind verblendet, eitel, machthungrig, einschmeichelnd, kriecherisch – jenseits von Gut und Böse.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vom Unglauben getragen. – Wie könnte man es nicht anbeten, das großartige formlose Unding, welches das Sein ist? Monströs wie allerfüllend. Das große Nichts, das die Alten die Hölle nannten, qualmt und beschenkt uns mit den schönsten Schatten.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Das herzliche Lachen der Literatur. – Hat jemals ein Mensch, der vor einem Buch saß, sich den Bauch und die Tränen vor Lachen halten müssen? Ich schon; aber nur in der Vorstellung – und aus Schadenfreude über solche Idiotie.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Ananke. – Weil die Literatur, obzwar sie die dümmste, platteste, schlechteste Grimasse der Zeit darstellt, doch von ihr den kleinsten Kristallsplitter Reinheit enthält, ist sie unerbittlich erbarmungslos und erschreckend in ihrer Folge. Wir wissen nur eins: Sie wird kommen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Kind in der Bibliothek. – Die Mutter muss dem Kind verbieten: „Nein, wir gehen nicht da rein!“ Das Kind sagt: „Da!“, und will ein Regal hochklettern. Bücherregale sind Klettergerüste. Weil es das nochnicht gelernt hat, läuft es wie ein Betrunkener nach seiner Mutter.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Authentisch sein wollen: Weil es sich schickt? Weil man die Halbwahrheiten satt hat? Weil man einsah, dass nur ein Eingestehen zu tieferen und offeneren Bindungen führt?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 38)

Herausragend sein wollen: Weil man Bewunderer will? Weil man es den Mittelmäßigen zeigen möchte? Weil man das Banale nicht mehr aushält?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 37)

Weil die Kritik zunehmend nicht widerlegen, sondern vernichten will, ist die gute Moral der Moderne die kategorische Revisionierbarkeit. Sein ist Versuch zum Sein. Daher bemisst sich kompetente Urteilskraft an der Distanz zum guillotinenhaften Verurteilen. Korrekte Korrektheit ist selbstironisch.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 36)

Wer nicht von sich auf Andere schließt, verpasst die Chance zu einer Welt genauso wie jemand, der von Anderen nicht auf sich schließt. Im revidierbaren Mutmaßen lichtet sich das Zwielicht des Miteinanders ein wenig und es erhöht sich die Möglichkeit zu einem halbwegs zuverlässigen Versprechen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 35)

Im Gehen wird das Denken weich und weit. Wer die Welt um sich hat, für den wird das Rechthaben zu einer unschönen Angewohnheit. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, laufen einem die Sätze wie angenehme Begegnungen über den Weg, die einen überraschen mit der Botschaft, wie wunderbar egal man doch ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 34)

Ohne Erfolge wäre das Leben ein Irrtum. Die Karriere ist die Musik des Lebens, auch für die, die sich für thymotisch unmusikalisch halten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 33)

Schonungslose Ehrlichkeit belügt sich selbst, weil es ihr nicht um Wahrheit geht, sondern um den Effekt des Entblößens als bloße Intensität des Auftrumpfens. Sie will nicht aufzeigen, sie will es den Anderen zeigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 32)

Abhängigkeit macht angriffslustig. Man will sich selber beweisen, dass man etwas ist und attackiert die lebenswichtigen Helfer, als wären sie Meuterer. Dabei ist man selbst derjenige, der meutert. Für das klassikerlose Tier gilt: Es gibt ein falsches Leben im richtigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 31)

Sich Zeit lassen, wenn die Zeit drängt. Panik macht ungenau. Fünf vor zwölf ist es immer schon für diejenigen, die überzeugt sind, genau zu wissen, was zu tun ist, ohne dass sie die Komplexität der Lage je verstanden hätten. Es ist die Tragödie des Weltgeistes, dass seine selbsternannten Apostel erst einen überwältigenden Eindruck mit ihrer Entschiedenheit machen und dann einen schockierenden Eindruck mit den Wirkungen ihrer Entscheidungen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 30)

Ein Schreibfehler. – Was heißt erwachsen werden? – ...die kindlichen Züge anlegen ...!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Geschlechterkampf. – Da weder die Auslösung des Mannes noch der Frau zur Disposition steht und politische Macht in der Regel nicht mehr mit physischer Gewalt durchgesetzt wird, sind die mächtigsten Formen der Machtausübung verdeckt: Schuld, Angst, Drohung, Beschämung, Entzug (z. B. von Liebe und Solidarität), Zurschaustellung. Sie alle operieren mit Latenzen und unsichtbaren Scheingebilden, entfesseln dieFantasie.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Gewissensqual über das Gewissen: Das Gewissen, das sich nicht selber beißen lernt, wird zum Mithelfer der Gewissenlosigkeit. Gewissen jedoch als permanenter Gewissensbiss verletzt die Freiheit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 29)

Die erzwungene Höflichkeit provoziert die Lust zur Unhöflichkeit. Die Attraktivität der Sitten bemisst sich daran, wie viel kreative Munterkeit siegestatten. Sitten, die Recht haben wollen, werden unweigerlich zu Unsitten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 28)

Aus dem gefühlten Mangel an Aufmerksamkeit als stiller Angenommenheit entsteht der Hass auf diejenigen, die einen keines Blickes mehr zu würdigen scheinen. Man unterstellt Ungerechtigkeit, wo Freiheit ist, die eine andere Wahl traf. Dies Verdächtigen verhässlicht und entfernt von der Zuwendung, nach der man so sehnsüchtig strebt. Wut, die andauert, wird Hass, der schließlich den Anderen als Gegner wahrnimmt, den man nicht mehr kritisieren, sondern nur noch vernichten will.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 27)

Schatten über der rechten Hand. – Ist der Todesengel derselbe wie der der Liebe? – Erkennen wir nicht den Schatten aneinander, überall?

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Die Freiheit in der Literatur. – Kein Mensch wird geboren und liest „die Klassiker“.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Immerhin. – Man hat als Mensch genug Zeit bekommen, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Respekt. – Da duzt man die Leute undschon verlieren die allen Respekt – Demokratie!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vorsicht. – Unsere Gesellschaft geht von der Maxime aus, dass, wenn jeder gleichmäßig durch Arbeit verbraucht und gleichzeitig durch Geld versklavt, keiner dem anderen mehr etwas antun kann – Ruhe und Frieden herrscht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

 2023. – Wenn die Vorstellung zu sterben und tot zu sein erträglicher ist als die Demütigung einer Arbeit im Büro.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Dada. – Das Heute schafft noch aus dem unsinnigsten Blödsinn eine Ideologie zu machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Das Beständige. – Wenig auf dieser Erde ist ewig und bleibt über die Zeit hinweg erhalten. Bildung nicht, Geschichte nicht, Bräuche nicht, Sitten nicht. Ewig bleiben Dummheit, Eitelkeit, vielleicht Liebe und Spaß, Tränen und Dunkelheit, weil sie Familie sind.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Theater. – Im unerträglichen Theater unserer Zeit will jeder die Guten, die Superhelden spielen und niemand die Bösen. Ihre Zahl ist deswegen zu klein und die der Guten zu hoch. Damit verflachen beide Seiten ungemein und es entsteht die billigste Seifenoper. Wären wir nicht musikalisch begleitet, wir wollten nach Hause gehen, an den Schreibtisch und unsere Charaktere nochmal gründlich überdenken und -arbeiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Mädchen mit einem Korb Erdbeeren. – Das Wetter ist schön. Ich würde eine junge Frau gegen einen Korb Erdbeeren eintauschen, mir ist sklavenherrisch zu Mute.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Gehe denen aus dem Weg, die keine Sympathie für Komplexität erkennen lassen. Der Unwille zum Komplexen ist der trotzige Halt der Haltlosen und der Jungbrunnen der Verbitterten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 26)

Umgedrehter Nietzscheanismus: Die letzten Menschen als diejenigen, die es auf sich nehmen wollen, die letzten Dingen immer wieder zu durchdenken, ohne an den Abgründen zu zerbrechen, die sich dabei öffnen. Ein besseres Beschreiben erzeugt ein Vertrauen, das mit Normalität impft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 25)

Das Ende der Geschichte kann auch gedacht werden als eine Ohnmacht der alten Deutungen in neuen Verhältnissen. Daher wird der historische Sinn gerne kulturkritisch: Da er sich keinen Reim mehr auf die Lage machen kann, werden die Dinge als katastrophisch interpretiert, anstatt die Sicht auf die Dinge zu revidieren.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 24)

Geist als Betrieb: Als museale Hochkulturmode, als andenkenlose Betriebswirtschaft oder als ressentime Kulturkritik-Industrie.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 23)

Wenn man wieder kreativ sein muss. – Wenn der heutige Kulturmensch keine Idee mehr hat, greift er in die Tastatur und schreibt etwas über die Rolle der Frau, BiPoC oder sonst etwas in der Richtung und kommt sich dabei in seiner Armseligkeit nicht nur rebellisch und progressiv vor, sondern wähnt sich auch als kreativ, wenn er mal wieder über die Rolle der Mutter im Patriarchat spricht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fitness. – Ich kann die aufgepumpten jungen Männer mit ihren hantelgroßen Wasserflaschen und Proteinpülverchen nicht mehr sehen. Soll sich in diesen Figuren der feuchte Traum Nietzsches von der Selbstüberwindung des Menschen, seines Körpers und physiologischen Organismus in Form der kommodifizierten Selbstquantifizierung vollends erfüllt haben?

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Sichtbar durch Agitation. – Der Mensch ist das schöne Tier und, ist er wohl versorgt, von außen immer würdevoll. Das will nicht mehr sagen, als dass die Hülle, die die Natur ihm gibt, auch schon das meiste ist und im inneren Hohlraum, fast nur Schatten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Wissenschaftliche Erlösung: Nach einer neuen Erkenntnis der Gehirnforschung ist es unmöglich, zugleich Angst zu haben und zu singen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 22)

Wer die Möglichkeit des Untergehens ständig für realistisch hält, hat es nötig, sich vor sich selbst unauffällig in den Imaginationen des Schlimmsten zuspüren. Der Mangel des Glaubens an sich wird kompensiert mit dem festen Glauben an die Katastrophe.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 21)

Karriere machen, ohne den Verdacht des Egoismus auf sich zu ziehen, anstrengungslos, unterambitioniert. Aber doch das Verlangen, gesehen zu werden in der bemühten Mühelosigkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 20)

Er verzichtete, aber er sah ganz genau hin, wie viel der bekam, der nicht verzichtete. Der schielende Verzicht hat die schärfsten Augen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 19)

Sinn ist der Ersatz für fehlende Initiative. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, wird offen für die Erfindung von Gründen, wer an seinem Zustand schuld sein soll. Die Langeweile der Haltlosen wird zum Verbrechen der Vitalen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 18)

Philologe sein. – Permanentes Standgericht.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Weil es Mut braucht, sich Künstler zu nennen. –  Kunst ist das Gegenteil von Angst.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Leipzig. – Neben einem anarchisch aus dem Fenster hängenden Banner mit der Aufschrift „Lützi bleibt“, das an Klassenkampf, Demo, Streik, Widerstand und Molotov gemahnt, steht das Hauptversammlungshaus der städtischen Kleingartenvereine. Noch zwei Häuserblöcke weiter, ein Yoga-Studio.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Kreative ist nicht apolitisch. Er interessiert sich nicht einmal für Politik. Erst wenn die Räume enger werden, die ihn animieren, beginnt er sich politisch zu engagieren aus apolitischen Motiven.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 17)

Der Verlierer denkt: „Die Wahrheit, die meinen Sieg verhindert, muss Lüge sein!“ Der Sieger denkt: „Solange ich den Sieg nötig habe, habe ich noch nicht gewonnen.“

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 16)

Wer lange genug allein ist, will sich selber nicht mehr verstehen. Darin liegt die Möglichkeit einer reifen Gedankenlosigkeit. Man treibt dann noch Philosophie wie man Jahreszeiten erlebt. Begriffe und Satzfolgen kommen und gehen wie Kastaniengrün und Septemberhimmel.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 15)

Im gelingenden Bewundern überwindet man sich zu sich. Die Unfähigkeit zur Einzigartigkeit steigert den Drang zur Zugehörigkeit. Wenn Konsens zum Kommando wird, wird Freiheit zur Ungerechtigkeit. Diversität als Inklusivität wäre die bereichernde Teilhabe an Liberalität, deren Bewundern man nicht teilen muss. Der Zustand eines vielfachen Desinteresses ist keine Entfremdung oder Ausbeutung. Wer seine Disziplin gefunden hat, verachtet den Einfallsreichtum der Schuldsuche.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 14)

Früher entsprach der Wahrnehmung der Schönheit das Kompliment. Heute scheint es so, als wäre es das Zeugnis einer fortgeschrittenen Form der Anständigkeit, sich dafür zu schämen, diesen Reflex der Entzückung bei sich überhaupt wahrzunehmen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 13)

Die Freudlosen werden leicht die strengen Apostel eines Sinns des Lebens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 12)

Das Gewissen wächst im Horchen auf das Bewirkte. Es formt sich als Ohr der Reue.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 11)

Seine Entscheidungen infrage zustellen, steigert den Sinn für Verantwortung. Man weiß nie, was man alles getan hat. Die Unabsehbarkeit des Anrichtens weist auf die Reue als ständige Option. Daher ist alles Handeln ein Akt der Reuelosigkeit, den man hofft, verantworten zu können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 10)

Hilflosigkeit: Der letzte Stolz.

(Michael Meyer-Albert, Neue Pfeile und Sprüche, 9)

Die Krise lehrt weite Gedanken oder sie verleiht die zweifelhafte Stärke zu einer unschönen Exzentrik.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 8)

Im fehlerhaften Menschen genießt Gott seine Unfehlbarkeit. Im unfehlbaren Gott erträgt der Mensch seine Fehlbarkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 7)

Wer das wilde Leben nötig hat, denkt nicht wild genug. Golden, treuer Freund, ist alle Theorie. Und fahl des Lebens grauer Baum.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 6)

Erst der Wille zum Nichtwissen erlaubt eine Verkörperung der Wahrheit. Das Wort darf nicht ganz Fleisch werden.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 5)

Poesie. –  Eine Definition: Die Summe all’ dessen, was keine öffentliche Redaktion, die auf ihren Ruf, ihr Image und Inserate achten will, veröffentlichen würde.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Fortschritt. – Wenn die Städter auf das Land und seine der Vergangenheit Zeit entstammenden primitiven Sitten süffisant herabblicken, blickt die Zukunft gehässig auf sie, die Idioten, herab.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Glaube daran, dass es keine Wahrheit gäbe, ist selbst wieder eine Wahrheit, die es auf Dauer nicht mit sich aushält. Zweifel wird dogmatisch, depressiv oder paranoid.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 4)

Die Einsamkeit des Philosophen ist seine gute Gesellschaft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 3)

Wissen ist Ohnmacht. Die Mutigsten beherrschen die Kunst des Vergessens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 2)

Von nichts kommt nichts? Wäre dann der, der nichts tut, schuldloser?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 1)

Nietzsche. – Es geht darum Zündkerzen in den Zeitgeist zu setzen. Entzünden sollen sie andere! Wie im menschlichen Körper ein winziger, brennender, strahlender, leuchtender Kristallsplitter Wahrheit in ein System eingesenkt reicht, um ein Gerinnsel und einen Schlaganfall auszulösen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Rotten, Tribalismus. – Der*Die Deutsche ist Neurotiker*In und chronifiziert, staatlich anerkannt feige. Talent ist in Deutschland rar gesät.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Ablehnung. – Man darf nicht vergessen, dass selbst in dem „je te déteste“ oder „tu me détestes“ eine Form von Beziehung steckt. Sie ist nicht Indifferenz, sondern eine Form von Wille, Wunsch oder Velleität des Dialogs.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Schlagfertigkeit. – Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welche geringen Anlässe die Menschen benutzen, um einer den anderen zu demütigen oder auch nur sein kleines Mütchen am anderen abzukühlen. Dennoch: Auch aus der Ablehnung kann noch eine Lust über das eigene Wachstum, eine Lust an der Ablehnung entspringen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Smalltalk. – Aus oberflächlich und anfänglichen Gesprächen lernt man manchmal Leute kennen (oder erzeugen diese Gespräche ihre Menschen?), die, wenn man ihnen zuhört, genau demjenigen Menschenbild der Konkurrenz entsprechen, von dem die Lehrbücher der Ökonomie scheiben, und es gruselt einen. – Ein Scherz, bitte ein Scherz, nur einen, fleht man innerlich! Und zeig mir, dass es ein Mensch ist! – Man einigt sich auf einige Statusmodalitäten der Berufswahl und stellt einige politische Ansichten zur Schau.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Im Dreck spielen. – Im menschlichen Verkehr liegt doch etwas Dreckiges. Die ganze Summe aus Verlogenheit, Untreue, Illoyalität und Machtspielen, die ihn so unappetitlich, aber gleichzeitig schmerzlich wie unerlässlich machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Kleinlichkeit. – Am Ende des Tages – und man glaubt es kaum – kommt es genau auf die Frage an: Willst du Kaffee oder Tee trinken? – Daran entscheidet sich alles! Ich habe mal eine Frau kennengelernt,die nicht mit der Gewohnheit vertraut war, morgens einen Tee oder Kaffee zu trinken. Sie machte sich schlicht keine Gedanken darum, trank vielleicht mal ein lauwarmes Glas Wasser. Sie ist mir dadurch unheimlich und suspekt geworden. – Einen Tag nachdem ich das geschrieben hatte ging mir mein Wasserkocher kaputt. (Höchste göttliche Ahnung!)

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fähigkeit der Vision. — Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man der Vision — das heisst einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen“ — gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

(Nietzsche, Morgenröthe, 66)

„Alle Wahrheit ist einfach.“ — Ist das nicht zwiefach eine Lüge? —

(Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 4)

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