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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches





Artikel
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Diskurs, Macht, Wahn
Michel Foucaults Nietzsche-Interpretation revisited
Diskurs, Macht, Wahn
Michel Foucaults Nietzsche-Interpretation revisited


Jüngst erlebte die geisteswissenschaftliche Szene eine kleine Sensation: Im Nachlass Michel Foucaults (1926–1984), eines der bedeutendsten Vertreter des Poststrukturalismus, stießen seine Herausgeber auf ein ausgearbeitetes Buchmanuskript mit dem Titel Le discours philosophique, an dem der bekennende Nietzscheaner 1966 gearbeitet hatte. 2024 erschien es bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung. In dieser umfassenden Analyse des philosophischen Diskurses seit Descartes kommt Nietzsche eine entscheidende Rolle zu. Paul Stephan nimmt dieses Ereignis zum Anlass, sich die bis heute einflussreichste Nietzsche-Interpretation des 20. Jahrhunderts noch einmal genauer anzusehen.

I. Foucault – der Denker unserer Zeit
Daran, dass Foucault ein Nietzscheaner war, besteht kaum ein Zweifel. So hält Jan Rehmann in der ersten Auflage seiner kürzlich neu erschienenen und auch ins Englische übersetzten1 Studie Postmoderner Links-Nietzscheanismus fest: „Foucault hat sich von Beginn bis zum Ende seines Schreibens so durchgängig und häufig als Nietzscheaner bekannt, dass sein ‚fundamentaler Nietzscheanismus‘ in der Literatur kaum umstritten ist.“ (S. 19) Er untermauert dies anhand folgender Collage von Foucaults Selbstbekenntnissen in Sachen Nietzsche:
„Nietzsche war eine Offenbarung für mich“ (1982), „wir brauchten seine Figuren […] des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr, um aus dem Schlaf der Dialektik und der Anthropologie aufzuwachen“ (1963), „eine Einladung, die Kategorie des Subjekts in Frage zu stellen und es ihm selbst zu entreißen“ (1978), seine Ankündigung des Endes des Menschen „hat für uns einen prophetischen Wert angenommen“ (1966), seine „Präsenz ist immer wichtiger“ (1975), „Nietzsche und Heidegger, das war der philosophische Schock“, „aber schließlich hat sich ersterer durchgesetzt“ (1984).2
Ähnliche Huldigungen könnte man auch den Werken von Foucaults philosophischen Mitstreitern Jacques Derrida und Gilles Deleuze entnehmen, die sich gleichermaßen am Projekt des „Poststrukturalismus“ beteiligten, doch Foucaults Interpretation ist es, die den geläufigen Blick nicht nur auf Nietzsche, sondern auch die Welt, weit über den akademischen Diskurs hinaus am entscheidendsten beeinflusst hat. Der beste Beweis: Die Allgegenwart des von ihm federführend mitgeprägten, wenn auch in den verschiedenen Phasen seines Schaffens höchst unterschiedlich definierten, Worts „Diskurs“ selbst.
Foucault gab nicht zuletzt 1966 gemeinsam mit Deleuze die französische Übersetzung von Giorgio Collis und Mazzino Montinaris Neuedition von Nietzsches Schriften heraus, die heute als wissenschaftlicher Standard und Meilenstein in der „Entnazifizierung“ Nietzsches gilt.3 Sie machte insbesondere Nietzsches vermeintliches Hauptwerk Der Wille zur Macht, aus dem Deleuze in seiner Studie Nietzsche und die Philosophie von 1962 noch exzessiv zitiert hatte, als Fiktion Elisabeth Förster-Nietzsches und ihrer Mitarbeiter kenntlich und ersetzte es durch eine heterogene Pluralität zahlloser Nachlassfragmente. Besonders wirkmächtig war jedoch Foucaults Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie von 1971, eine Art Programmschrift seiner Nietzsche-Interpretation wie auch seines eigenen philosophischen Projekts: Nietzsche wird hier als radikaler Kritiker aller fixen Sinngefüge dargestellt, als fröhlicher Nihilist, der insbesondere dem Mythos eines einheitlichen Subjekts qua seiner Auflösung in kontingente historische Kräftespiele ein Ende bereitet habe.
Ich habe in den letzten Jahren wiederholt Seminare zu Foucaults Schriften und vor allem seiner Nietzsche-Interpretation an unterschiedlichen Hochschule und Universitäten unterrichtet und stieß dabei immer wieder auf einen bemerkenswerten Sachverhalt: Trotz der offenkundigen Leerstellen in seiner Theorie – wie insbesondere, wie er diese Theorie selbst aus dem Mahlstrom der Macht zu retten vermag, und ob er nicht implizit selbst normative Maßstäbe, einen Begriff von Wahrheit und sogar von Subjektivität voraussetzt –, werden seine Thesen von den Studenten meist ohne größere Einwände, wenn auch ohne regelrechte Begeisterung, „geschluckt“ und gegen die von mir oft vorgebrachte Kritik verteidigt. Und mir geht es – nach jahrelanger Beschäftigung mit Foucault – auch selbst so: Obwohl ich rational einsehe, dass er als Philosoph zweitrangig ist – in hoffnungslosen Selbstwidersprüchen befangen und in allem Originellen eigentlich nur ein Adept Nietzsches und Heideggers –, verspüre ich bei der Lektüre seiner Schriften eine eigentümliche Vertrautheit, die in einem merkwürdigen Kontrast zu Foucaults radikaler Rhetorik steht, und die nicht bloß das Resultat meiner Lektüre ist.
Wir leben, zumal, wenn wir uns im Diskurs – dieses verfluchte Wort! – der Sozial- und Kulturwissenschaften und von allem, was sich irgendwie als „kritisch“ und „links“ versteht, bewegen, in einem Dispositiv – also einer strategischen Diskursformation, so nennt’s der Meister –, das von Foucault so grundlegend wie von wohl keinem anderen Denker geprägt worden ist. Niemand entwickelte eine so reine, mit der Alltagsintuition so kompatible Version des „Postmodernismus“, der das kulturelle Klima bis in die Gegenwart bestimmt. Niemand, außer vielleicht die erwähnte Schwester, erreichte, im Guten wie im Schlechten, so viel für die Popularisierung Nietzsches und sein Fortwirken; und das, nachdem ihn seine Vereinnahmung durch die Nazis und Faschisten nach 1945 eigentlich so grundlegend desavouiert hatte. Wenn wir Nietzsche lesen, lesen wir ihn stets durch die Brille Foucaults – ja, wir gehen durch die Welt mit Foucaults Augen, er ist derjenige Theoretiker, der wie kein zweiter unsere Zeit definiert.
Das ist nicht unbedingt im Sinne eines Kausalzusammenhangs gemeint. Foucault war vor allem ein guter Diagnostiker, der in geradezu chamäloenhafter Weise, in dieser Hinsicht dem „Seismographen“ (Ernst Jünger) Nietzsche nicht unähnlich, die Grundstimmungen seiner Zeit erfasste und auf, zumindest halbwegs, plausible Begriffe brachte; Begriffe wie „Diskurs“, „Macht“, „Wahn“, „Genealogie“, „Dispositiv“ und viele andere, die nicht primär aufgrund ihrer theoretischen Kohärenz oder philosophischen Tiefe plausibel wirken, sondern eben genau, weil sie jenen Stimmungen entsprechen. Und es sind eben jene Stimmungen einer erschöpften, ihrer einstigen Ideale überdrüssig gewordenen Moderne, die unsere Zeit bis heute bestimmen, selbst wenn wir seit einigen Jahren ein gewisses Revival der objektiven Wahrheit jenseits des referenzlosen Flimmerns der Diskurse (Stichwort: Klima und Corona) und der von Foucaults Mitstreiter François Lyotard so genannten „großen Erzählungen“, deren Ende das „postmoderne Wissen“ definierten, erleben – man denke nur an den neu entdeckten Stolz auf den „freien Westen“ oder die Wiederbelebung längst tot geglaubter nationalistischer und imperialistischer Narrative. Wir leben sicherlich nach der Postmoderne, doch über dieses „Danach“ wurde noch nicht final entschieden. Gerade deswegen lohnt es sich, Foucaults „neues Buch“ einmal genauer in den Blick zu nehmen.

II. Zwischen System und Rausch – Eine eigenwillige Philosophiegeschichte
Foucault verfasste das über 400 Seiten lange unvollendete Manuskript Der Diskurs der Philosophie laut den Herausgebern im Jahr 1966. Es ist schon gespenstisch, das „neue Buch“ eines Toten in den Händen zu halten, der sich zumal, ähnlich wie Kafka, gegen jede posthume Edition seines Nachlasses verwehrte. Gespenstisch ist es allerdings vor allem deswegen, weil es so vertraut wirkt, gerade so, als hätte man es schon einmal gelesen. Das liegt nicht bloß daran, dass Foucault in ihm natürlich frühere Thesen aufgreift und spätere vorwegnimmt; es hat vor allem den Grund, dass er dort seinerseits eine „große Erzählung“ entwirft – dass man offenbar „großer Erzählungen“ bedarf, um das Ende derselben zu untermauern, gehört zu den oft thematisierten Grundparadoxien der Postmoderne –, die 1966 radikal, provokant und skandalös gewesen sein mag, doch 2025 längst Konsens ist, fast ein wenig langweilig und bieder wirkt, jedenfalls abgedroschen.
Langeweile stellt sich beim Lesen zumal ein, da das Buch für Foucaults Verhältnisse – seine Schriften überzeugen nicht zuletzt durch ihre polemisch, witzige und ausgeklügelte Rhetorik, mit der er die erwähnten Stimmungen bewusst mobilisiert und seine intellektuellen Unsauberkeiten übertüncht – äußerst technisch und trocken geschrieben ist. Meine persönliche Hypothese: Vielleicht wollte sich der damals noch nicht „angekommene“ Foucault damit gewissermaßen um einen permanenten Lehrstuhl für Philosophie bewerben. Von Gesellschaftskritik und insbesondere der späteren durchaus mit emanzipatorischen Anliegen zu vereinbarenden Machtkritik, die man heute mit Foucault im Allgemeinen verbindet, enthält das Buch kaum eine Spur, man hat, der Form wie dem Inhalt nach, eher das Gefühl, einen der spröden Wälzer des Systemtheoretikers Niklas Luhmann in den Händen zu halten und bisweilen klingt Foucault hier eher wie Hegel als Nietzsche.
Aufgrund des mitunter sehr technischen und für Laien kaum zugänglichen Charakter des Buches hier nur einige seiner Leitgedanken: Um 1640 – Stichwort: „Cogito ergo sum“ (Descartes) – entwickelte sich eine neue Ordnung des Wissens, innerhalb der die Philosophie eine völlig neue Rolle spielte. Eigentlich kann man Foucault zufolge die Philosophie vor und nach Descartes überhaupt nicht miteinander vergleichen, da beide Diskurse zwar über dieselben Gegenstände sprächen, dies aber in einem ganz anderen Modus täten: Die Philosophie sei vor Descartes Subdisziplin eines einheitlichen Kosmos des Wissens gewesen, nun trete sie Literatur und Wissenschaft als eigenständiger Modus der Wissensproduktion gegenüber. Diese neue „klassische“ Philosophie versuchte, universelle Wahrheit und partikulare Position eines Subjekts zu verbinden. Sie unternahm dies auf unterschiedliche Weisen, wobei Foucault, der vor allem in seinem Spätwerk immer wieder nachzuweisen versucht, wie unterschiedliche Diskurse interagieren und Teil von übergreifenden Machtgeflechten sind, überraschenderweise postuliert, dass sich diese Weisen logisch und notwendig aus Descartes’ Leitsatz ergäben und es keinerlei Wechselwirkung zwischen der Philosophie und den anderen Diskursen gegeben habe.
Von Descartes bis Husserl hätten die Philosophen versucht, eine universelle Wahrheit zu artikulieren, die zugleich die individuelle Wahrheit eines einheitlichen Subjekts ist. Dieses Projekt sei nach nur 300 Jahren an sein Ende gekommen: Das „Ereignis Descartes“ sei durch das „Ereignis Nietzsche“ abgelöst worden. Wenn es um die genaue Definition dieses Ereignisses geht, kippt Foucault von seinem sonst sehr technischen in einen sehr pathetischen und blumigen Stil, wie man ihn aus seinen Schriften eher gewohnt ist. Er beruft sich auf Georges Bataille, einen seiner wichtigsten „Lehrmeister“, und den Erfinder des „Theaters der Grausamkeit“, Antonin Artaud, beide überzeugte Nietzscheaner, und preist Nietzsche als eine Art Messias eines „radikale[n] Neuanfang[s]“ (S. 202), eines „zweite[n] Morgen[s]“ (ebd.) der Philosophie. Er bezieht sich vor allem auf Ecce homo und erblickt in Nietzsches Schriften ein Denken, in dem das einheitliche Subjekt durch eine „Vielheit von Subjekten“ (S. 212), einen „große[n] Pluralismus“ (S. 213), „eine nicht entzifferbare Vielheit von Masken oder Gesichtern“ (ebd.) ersetzt werde, in dem sich Philosophie und Literatur, Philosophie und Wahnsinn und sogar Philosophie und Religion aneinander annäherten: „[I]n diesem Sinne wird der philosophische Diskurs vom religiösen Diskurs nicht so weit entfernt sein: aber keine Exegese; das Wort Christi selbst.“ (S. 208)
Nüchterner fährt Foucault dann damit fort, dieses Projekt in den Kontext des allgemeinen linguistic turn – also die ab 1945 in den Geisteswissenschaften bestimmende Wendung vom Bewusstsein hin zur Sprache – zu stellen und versucht sich darin, die Methodologie einer „Archäologie“ als Analyse des „Diskurs-Archivs“ einer Kultur zu entwickeln, die er freilich abbricht. Vielleicht ist ihm selbst aufgefallen, dass zwischen einer solchen „Archäologie“ als minutiöser, seriös daherkommender Diskursanalyse und einem an Bataille und Artaud anknüpfenden Lob der Desubjektivierung und des anarchischen Mythos Welten liegen. Und wie erwähnt ist hier auch von „Macht“ noch keine Rede: Es waren womöglich erst die Ereignisse von 1968, die Foucault dazu brachten, seine Diskursanalyse entsprechend zu (re)politisieren und wieder stärker an seine ersten Werke Wahnsinn und Gesellschaft (1961) und Die Geburt der Klinik (1963) anzuknüpfen.

III. Was kommt nach der Postmoderne?
Freilich sind diese drei Grundtendenzen – Diskursanalyse, Kritik der Macht, Lob der Desubjektivierung – in Foucaults Denken ohnehin nicht besonders gut vermittelt. Doch das macht vielleicht genau seinen Erfolg aus. Ganz wie bei Nietzsche kann sich jeder seinen Foucault zusammenbasteln und er selbst scheint sich, wie man unschwer erkennen kann, wenn man seine zahlreichen Interviews betrachtet, in der Rolle des vieldeutigen Theoriedandys und schillernden Provokateurs auf dem schmalen Grat zwischen edginess und Machtposition im akademischen Betrieb gefallen zu haben. Im Mainstream wirkt er vor allem als Stichwortgeber einer „unideologischen“ Kulturwissenschaft ohne existenzphilosophischen, marxistischen oder psychoanalytischen Ballast, in linken Kreisen als – vielleicht sogar anarchistischer – Kritiker an repressiven Machtstrukturen, Künstlern und Künstlerphilosophen gilt er als Fortsetzer Batailles.
Die Grundstimmung, der Foucault Ausdruck verleiht: Man will kritisch sein und weist „repressive“ Ideologien zurück, doch möchte sich darum ebenso wenig mit allzu viel „metaphysischem“ Ballast bepacken, wie es noch die letzten großen „Systemlebauer“ des 20. Jahrhunderts in der Generation vor Foucault wie Adorno, Sartre, Bloch und Heidegger taten, in wie gebrochener Form auch immer. Foucault entpuppt sich so als recht präziser Vordenker dessen, was man heute als „linksliberalen Mainstream“ bezeichnet und ermöglicht in seiner Vieldeutigkeit je nach Bedarf mal mehr mal weniger radikale Anknüpfungen. Sein weitgehender Verzicht auf starke, nicht bloß ästhetisch motivierte, Werturteile lässt es ohnehin zu, seine Analysen stets sowohl als bloße Beschreibungen als auch als Kritiken zu lesen, selbst wenn von seinem Tonfall meist eine gewisse Wertung impliziert wird. Ein bisschen Kritik, ein bisschen Zynismus; ein bisschen Liberalität, aber bloß keine Systemkritik; individuelle „Lebenskunst“, aber bitte keine anspruchsvolle Ethik der Authentizität; Faszination an der Desubjektivierung, aber bitte nur in Kunst und Literatur … Foucault: Der führende Ideologe des juste milieu unserer Zeit.
Wie kommen wir nun über diese Ideologie hinaus und durchschauen sie, vielleicht sogar von Foucault selbst inspiriert, ihrerseits als Dispositiv der Macht, das uns unterdrückt und in unseren Lebensmöglichkeiten beschneidet? Was kommt nach der Postmoderne? Und sollten wir uns überhaupt nach „nachpostmodernen“ Zuständen sehnen? Vielleicht werden wir die Postmoderne als die Ära Foucaults und Deleuzes einmal mit ebenso viel sentimentaler Wehmut betrachten wie Nietzsche bisweilen das 18. Jahrhundert Rousseaus und Voltaires …4 Erst, wenn die faszinierten Pfaffen wieder die Waffen für die Kriege eines neuen Imperialismus segnen werden,5 werden wir den fröhlichen Nihilismus der Postmoderne vielleicht wieder zu schätzen wissen, doch dann mag es zu spät sein …
Oder ist ein anderer Ausweg möglich, der jenseits der Alternative von repressiven „großen Erzählungen“ und großer Erzählung über das Ende der großen Erzählungen liegt? Ein Weg dorthin mag eine unbefangene Relektüre der Schriften Nietzsches sein. Wenn Nietzsche etwa im Zarathustra verkündet: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch“6, ist das nicht im Sinne einer Reartikulation und vielleicht sogar Radikalisierung des klassischen Humanismus zu verstehen anstatt im Sinne eines „Tods des Menschen“, wie ihn Foucault Nietzsches Schriften als Diagnose wie Appell entnehmen zu können glaubte? Und der „letzte Mensch“, den Zarathustra dem Übermenschen gegenüberstellt, ist das nicht genau der selbstzufriedene, ohne „große Erzählungen“ lebende „Postmensch“ der Postmoderne? Sind sie nicht diejenigen, von denen es heißt: „[F]rech in kurzen Lüsten, und über den Tag hin warfen sie kaum noch Ziele“7, und sind sie nicht „die Buntgesprenkelten […][,] die ihr Gemälde seid von Allem, was je geglaubt wurde“8, Maskenmenschen ohne Identität, für die gerade der späte Nietzsche nur Verachtung übrig hatte? In Ecce homo scheint er gerade nicht die Desubjektivierung zu predigen, sondern sich im Gegenteil geradezu krampfhaft um eine „Selbstvertheidigung“9 als Abwehr des einsetzenden Wahns zu bemühen und ein kühnes Programm zu verkündigen, das geradezu antipostmodernistisch wirkt:
Meine Aufgabe, einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen grossen Mittag, wo sie zurückschaut und hinausschaut, wo sie aus der Herrschaft des Zufalls und der Priester heraustritt und die Frage des warum?, des wozu? zum ersten Male als Ganzes stellt –, diese Aufgabe folgt mit Nothwendigkeit aus der Einsicht, dass die Menschheit nicht von selber auf dem rechten Wege ist, dass sie durchaus nicht göttlich regiert wird, dass vielmehr gerade unter ihren heiligsten Werthbegriffen der Instinkt der Verneinung, der Verderbniss, der décadence-Instinkt verführerisch gewaltet hat.10
Auch der späte Nietzsche möchte nicht, wie Foucault in besagtem Essay behauptet, ein Wissen, das bloß dem Zerschneiden, jedoch nicht dem Verstehen dient (vgl. S. 180), sondern seine zerschneidende Kritik ist an ein primär bejahendes Projekt rückgekoppelt, das durchaus als Fortsetzung von demjenigen der Aufklärung begriffen werden kann: Die Menschen sollen sich in moralischen Fragen nicht mehr der bevormundenden Herrschaft von Natur und Ideologie unterwerfen, sondern endlich auf der Grundlage der Einsicht in ihre natürlichen Triebkräfte eine menschenfreundliche autonome Moral entwickeln. Man mag mit der konkreten Ausgestaltung dieser Moral in Nietzsches Spätwerk nicht einverstanden sein, doch dieses – ja bewusst offen formulierte – Programm bleibt zukunftsweisend. Es zeugt von wenig interpretatorischer Redlichkeit, darin bloß den Ausdruck eines ironisch-satirischen Maskenspiels zu erblicken, selbst wenn Nietzsches Gestus in Ecce homo grotesk wirken mag. Vielleicht wirkt er ja nur bizarr und größenwahnsinnig aus der Perspektive unserer eigenen Kleingeistigkeit und aufgrund der Verkümmerung unserer utopischen Phantasie?
Mit anderen Worten: Eine auf Nietzsche gestützte Neomoderne statt Postmoderne, das wäre vielleicht eine Alternative zu den ideologischen Radikalisierungen, die sich zu allem Überfluss auch noch auf Nietzsche berufen, und dem fortgesetzten postmodernen Skeptizismus, der ihnen gegenüber ohnmächtig bleibt? Oder handelte es sich dabei nicht nur wieder um ein neues „Dispositiv der Macht“, aus deren Fängen es ja, so der späte Foucault, ohnehin kein Entrinnen gäbe? Eine Frage, die wir nicht der Welt stellen, sondern die sie uns stellt …

Quelle des Artikelbilds: https://www.flickr.com/photos/kongniffe/5340624604
Literatur
Foucault, Michel: Der Diskurs der Philosophie. Berlin 2024.
Ders.: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Schriften. Dits et Ecrits. Bd. 2. Hg. v. Daniel Defert & François Ewald. Frankfurt a. M. 2002, S.166–191.
King, Matthew & Matthew Shape: On Jan Rehmann’s Deconstructing Postmodern Nietzscheanism: Foucault & Deleuze. In: Historical Materialism, online.
Rehmann, Jan: Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion. 1. Aufl. Bonn 2004.
Ders.: Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion. 2. Aufl. Kassel 2021.
Fußnoten
1: Vgl. für eine umfangreiche Rezension und Würdigung dieser Übersetzung Matthew King & Matthew Shape, On Jan Rehmann’s Deconstructing Postmodern Nietzscheanism (Link).
2: Ebd.
3: Vgl. dazu auch die Anmerkungen Jonas Pohlers in seinem Bericht über die vergangene Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft auf diesem Blog (Link).
4: Vgl. etwa Jenseits von Gut und Böse, Aph. 245.
5: Und eigentlich ist ja schon längst so weit …
6: Vorrede, 5.
7: Also sprach Zarathustra, Vom Baum am Berge.
8: Also sprach Zarathustra, Vom Lande der Bildung.
10: Ecce homo, Morgenröthe, 2.
Diskurs, Macht, Wahn
Michel Foucaults Nietzsche-Interpretation revisited
Jüngst erlebte die geisteswissenschaftliche Szene eine kleine Sensation: Im Nachlass Michel Foucaults (1926–1984), eines der bedeutendsten Vertreter des Poststrukturalismus, stießen seine Herausgeber auf ein ausgearbeitetes Buchmanuskript mit dem Titel Le discours philosophique, an dem der bekennende Nietzscheaner 1966 gearbeitet hatte. 2024 erschien es bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung. In dieser umfassenden Analyse des philosophischen Diskurses seit Descartes kommt Nietzsche eine entscheidende Rolle zu. Paul Stephan nimmt dieses Ereignis zum Anlass, sich die bis heute einflussreichste Nietzsche-Interpretation des 20. Jahrhunderts noch einmal genauer anzusehen.
Der Abdruck des Erziehers
Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches II
Der Abdruck des Erziehers
Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches II


Nachdem Tom Bildstein im ersten Teil dieses Artikels (Link) darlegte, wie sich Nietzsche im Laufe der 1870er Jahre vom Schopenhauer-Verehrer zum -Kritiker wandelte, untersucht er im Folgenden genauer, wie der reife Nietzsche Schopenhauers Pessimismus überwinden und ihm eine „lebensbejahende“ Philosophie entgegensetzen möchte. Schopenhauers „Wille zum Leben“, den der Misanthrop asketisch verneint sehen möchte, soll dem „Willen zur Macht“ weichen als Grundprinzip allen Lebens, das sich nicht widerspruchslos verneinen lässt.
Teil II: Nietzsches Schopenhauer-Kritik
V. Der Kampf gegen den nihilistischen Pessimismus
Der Wille stellt für Schopenhauer das monistische Weltprinzip dar, auf das alle Welterscheinungen zurückgeführt werden können. Es ist das metaphysische Wesen, das dem kantischen Ding an sich zugrunde liegt, das, was „das innere Wesen der Dinge ausmacht“15. Nietzsche setzt sich mit dem Schopenhauerschen Willensbegriff intensiv auseinander und betrachtet ihn als eine metaphysische Hypothese, die es zu widerlegen gilt, um eine das Leben konsequent bejahende Philosophie aus der Taufe heben zu können. Der Kampf gegen die Schopenhauersche Willensthese verwandelt sich bei Nietzsche zu einem Kampf gegen den nihilistischen Pessimismus.
Der Pessimismus an sich ist für Nietzsche eigentlich nicht das Hauptproblem: „Nicht der Pessimismus (eine Form des Hedonismus) ist die große Gefahr […] [,] [s]ondern die Sinnlosigkeit alles Geschehens!“16. Schopenhauers Begriff des Willens zum Leben, der die verschiedenen Manifestationen des ewigen Willens in der Stufenleiter der Natur unter einen einheitlichen Ausdruck eines „blinden Drangs“ bringt, der alle Lebewesen unermüdlich zur Sättigung des egoistischen Überlebenstriebs treibt und die Welt somit zum „Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen“17 macht, hat eine in Nietzsches Augen lebensgefährliche Abwertung des Daseins zur Folge. In Der Antichrist (1888) macht er deutlich: „Schopenhauer war lebensfeindlich: deshalb wurde ihm das Mitleid zur Tugend“18.
Nietzsche spielt mit seiner Aussage auf die im vierten und letzten Hauptteil der Welt als Wille und Vorstellung vorgetragene Mitleidsethik an. Der Schopenhauersche Begriff des Willens zum Leben birgt in sich schon das Moment seiner Negation. Diese nihilistische Moral der Selbstaufhebung des Willens führt ins Nichts, das bezeichnenderweise dem Schlusswort des Schopenhauerschen Hauptwerks entspricht. Diese von Schopenhauer selbst auch als Askesis verstandene Moral der Willensnegation präsentiert er als „die selbstgewählte büßende Lebensart und Selbstkasteiung zur anhaltenden Mortifikation des Willens“19. Diesen Lebensstil und seinen vernichtenden Umgang mit dem Willen zum – negativen – philosophischen Ausgangspunkt seines eigenen Mammutprojektes, der „Umwertung aller Werte“, machend, entwickelt sich Nietzsche schrittweise zum Anti-Schopenhauerianer.
VI. Wille zum Leben oder Wille zur Macht?
Seinen Begriff des Willens zur Macht konzipiert Nietzsche als einen doppelten Gegenentwurf zum Schopenhauerschen Willen zum Leben. Dieses Antimodell ist insofern doppelt, als es aus einer zweifachen, „ethischen“ und „metaphysischen“ – zwei Termini, die strenggenommen nicht mehr zu Nietzsches Philosophieverständnis passen – Opposition gegen die Schopenhauersche Philosophie erwächst. Der Begriff des Willens zum Leben spiegelt die multiplen physio-psychologischen Kämpfe, die die Wirklichkeit von innen her strukturieren, in Nietzsches Augen unzureichend wider. 1882 trifft er die Aussage: „Wille zum Leben? Ich fand an seiner Stelle immer nur Wille zur Macht“20.
Der Wille zur Macht ist ein verwickelter Begriff: Der Sinn und die zentrale Rolle, die Nietzsche ihm zuerteilt, sind schwierig zu entschlüsseln. Es ist nicht ganz klar, ob es sich, wie bei Schopenhauer, um einen Begriff mit metaphysischem Anspruch oder vielmehr um ein regulatives Prinzip einer neuen Lebensführung handelt. Denn man findet in Nietzsches Schriften Stellen, die sowohl die eine als auch die andere Hypothese bestätigen. In einem Nachlassfragment von 1885 trifft er beispielsweise eine stark an die Schopenhauersche Metaphysik erinnernde Aussage: „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“21. Später heißt es jedoch in einem Fragment, das den Titel „Wille zur Macht als Erkenntniss“ trägt – eine Idee, die Martin Heidegger zum Hauptgegenstand seiner Vorlesung vom Sommersemester 1939 an der Universität Freiburg machen wird22 –, dass es ihm mit seinem Begriff des Willens zur Macht weniger darum geht, die wahre Erkenntnis des Weltwesens zu offenbaren, als „dem Chaos so viel Regularität und Formen auf[zu]erlegen, als es unserem praktischen Bedürfniß genug thut“23.
Sicher ist, dass Nietzsche mit seiner Lehre vom Willen zur Macht den Versuch einer alternativen Auslegung und Bewertung des Lebens stellt, die einer neuen, gegen Schopenhauer gerichteten Lebensführung den Weg bereiten soll. Ziel ist es, mit anderen Worten, sich der nihilistischen Grundvorstellung zu widersetzen, wonach der Hauptantrieb des Menschen einem „blinden Drang“ zum Leben entspricht, der ihn dazu verleitet, ohne Grund an der Erhaltung seines Daseins festzuhalten – und im Gegenzug zu beweisen, dass der Mensch in Wahrheit nicht nach seinem (Über-)Leben, sondern nach Macht strebt.
VII. Ja oder nein?
Die gegensätzlichen Lebens- und Weltauslegungen beider Denker – als Spiegelbild des Willens zur Macht oder des Willens zum Leben – gehen mit gegensätzlichen Vorstellungen vom Sinn des Lebens einher. Die Schopenhauersche Daseinsauffassung als Manifestation des blinden, unersättlichen Willens zum Leben führt zwangsläufig zu seiner völligen Selbstverneinung. Im vierten Buch des ersten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung macht Schopenhauer deutlich, „daß das Leiden dem Leben wesentlich ist und daher nicht von außen auf uns einströmt, sondern jeder die unversiegbare Quelle desselben in seinem eigenen Inneren herumträgt“24. Der Schopenhauerschen Beantwortung der „Sinn-des-Lebens-Frage“ liegt also eine doppelte These zugrunde: Erstens, dass Leben und Leiden wesentlich zusammengehören, und zweitens, dass das Leiden sinnlos ist und somit vermieden werden sollte. Die Leidensvermeidung als Lebensaufgabe, die Schopenhauer nicht im hedonistischen Sinne eines Strebens nach Sinnenlust versteht – denn alles Glück ist negativer Natur und besteht nur in einer kurzen Unterbrechung der einzig „positiven“ Mangelerscheinung – kann nur durch eine asketische Negation dessen, wovon das ewige Leid seine Nahrung erhält, vom Willen zum Leben, geschehen. Die Schopenhauersche Philosophie, die man durchaus mit Rudolf Malter25 als eine Soteriologie26 verstehen kann, reagiert demzufolge mit einem entschiedenen „Nein!“ auf den egoistischen Willen zum Leben, um nicht nur dem individuellen, sondern auch dem Leid in der Welt allgemein ein Ende zu setzen.
Nietzsche reagiert ganz anders auf das Problem des Leidenscharakters des Lebens. Das neue Leben, das er mit der Idee des Willens zur Macht zu denken sucht, setzt eine gewisse Leidensbereitschaft des Menschen, einen gewissen Willen zum Leiden voraus. „Der Wille zum Leiden ist sofort da, wenn die Macht groß genug ist“27, schreibt Nietzsche 1883 in sein Notizbuch. Sein „wahrer“ Pessimismus kommt mit diesem Begriff des Willens zum Leiden zur Geltung. Seine alternative Vorstellung des Pessimismus, die er ebenfalls als einen „Pessimismus der Stärke“ oder als einen „klassischen Pessimismus“ bezeichnet, richtet Nietzsche gegen den „romantischen“ Pessimismus, den in seinen Augen nicht nur Schopenhauer, sondern auch Alfred De Vigny, Fjodor Dostojewski, Giacomo Leopardi, Pascal und alle Weltreligionen vertreten.
Gegen diese Vertreter des romantischen Pessimismus, vor allem aber gegen Schopenhauers Negation des Willens zum Leben, soll „ein höchster Zustand der Daseins-Bejahung concipirt [werden], in dem sogar der Schmerz, jede Art von Schmerz als Mittel der Steigerung ewig einbegriffen ist: der tragisch-dionysische Zustand“28. Mit seinem tragisch-dionysischen Pessimismus antwortet Nietzsche somit auf die Frage nach dem In-Kauf-Nehmen des Leids für das Leben im genau entgegensetzten Sinne zum Schopenhauerschen „Nein!“ mit einem überzeugten, durchaus kämpferischen und neuen „Ja!“.
VIII. Atheismus und Amoralismus
Seit Schopenhauer muss die Philosophie auf eines ihrer ältesten und stärksten Argumente zur Erklärung dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, verzichten: Gott. Die Wirklichkeit verlangt nun nach einer atheistischen Auslegung ihrer selbst; sie will als solche, d. h. nicht mehr als bloßes Geschöpf eines unerreichbaren Schöpfers wahrgenommen werden. Der Anspruch, den Schopenhauer an die Philosophie stellt und der darin besteht, das Wesen der Welt ohne den Rückhalt einer ultimativen Gottesthese zu deuten, imponiert Nietzsche. In seinen Augen war Schopenhauer „als Philosoph der erste eingeständliche und unbeugsame Atheist, den wir Deutschen gehabt haben“29.
An den Schopenhauerschen, für eine neue, anti-transzendente Methode richtungsweisenden Atheismus, wird Nietzsche mit seiner Philosophie unmittelbar anknüpfen. „Der Atheismus war das, was mich zu Schopenhauer führte“30, erklärt er in Ecce Homo (1889). Auch in diesem Zusammenhang wird Nietzsche mehr die Diagnose, die Schopenhauer vom Zustand der Metaphysik macht, als das von ihm vorgeschlagene Therapeutikum wertschätzen. Denn Gottes Tod führt bei Schopenhauer, anders als bei Nietzsche, nicht gleichzeitig zum Untergang der moralischen Werte. Atheismus und Amoralismus gehen für Schopenhauer nicht miteinander einher. Obwohl er der christlichen Gotteslehre nicht folgt, bleibt er der philanthropischen Moral des Christentums nichtsdestotrotz treu. Die Menschenliebe (caritas), die als erstes vom Christentum „theoretisch zur Sprache gebracht und förmlich als Tugend, und zwar als die größte von allen, aufgestellt“31 wurde, erkennt Schopenhauer als das allerwichtigste Prinzip der in einem engen Zusammenhang mit seiner Metaphysik stehenden Moral an. Er bleibt somit Christ im Herzen, wenngleich er die christliche Gotteslehre mit seiner Vernunft verwirft.
Nietzsche geht insofern einen bedeutenden Schritt weiter als sein Erzieher. In seinen Augen war dieser noch viel zu sehr Moralist, um die Notwendigkeit der Ankunft eines neuen mächtigen, lebensbejahenden Menschen zu erkennen. „Schopenhauer war nicht stark genug zu einem neuen Ja“32, heißt es in einem nachgelassenen Fragment aus dem Jahre 1887. Dieses neue „Ja“, zu dem er seine Leser gegen seinen Erzieher erziehen will, setzt eine Überwindung der Moral voraus. Um die Moral zu überwinden, muss der Mensch den Hang zum Mitleid gegenüber seinen Mitmenschen, den Nietzsche im Gegensatz zu Schopenhauer nicht als „natürlich“, sondern als kulturell erschaffen betrachtet, vehement bekämpfen. „Die Überwindung des Mitleids rechne ich unter die vornehmen Tugenden“33, wird Nietzsche somit in Ecce Homo schreiben. Doch wer ist dieser Überwinder der Moral, der am Ende als das Ideal der Selbsterziehung des Menschen vor Nietzsches Augen steht?
IX. Der „Buddha von Frankfurt“ gegen das „umgekehrte“ Zarathustra-Ideal
Schopenhauers Denken wurde nachhaltig von seinen antagonistischen Jugenderlebnissen der übermannenden Schönheit der Natur und dem niederschmetternden Elend des Menschen- und Tierreichs geprägt. In einem Rückblick auf seine Jugend schreibt der zu diesem Zeitpunkt schon in der Mitte seiner Vierzigerjahre stehende Privatgelehrte: „In meinem 17ten Jahre, ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte“34. Die nicht nur für seine eigene Philosophie, sondern auch für sein Selbstverständnis als Mensch eine zentrale Rolle spielende Buddha-Figur wird Schopenhauer sogar über seinen Tod hinaus begleiten. Bis heute geben manche seiner aufmerksamen Leser:innen ihm den Beinamen „der Buddha von Frankfurt“.
Auch Nietzsche nennt Schopenhauer und Buddha in einem Atemzug. Das Ziel seiner Philosophie besteht jedoch darin, sich über die schopenhauerianisch-buddhistische Anschauung des Lebens hinwegzusetzen, um einem neuen Propheten eine Bühne zu bieten. Es geht ihm darum, dass die Menschheit, vermittelst eines neuen „Hellsehers“, eine neue „frohe Botschaft“ erhält, wonach das Leben „nicht mehr, wie Buddha und Schopenhauer, im Bann und Wahne der Moral“35 betrachtet werden muss. Nietzsche will uns die Augen für ein „umgekehrte[s] Ideal“ öffnen, nämlich „für das Ideal des übermüthigsten[,] lebendigsten und weltbejahendsten Menschen“ (ebd.).
Der Prophet dieser radikalen Affirmation der Welt und des Lebens heißt Zarathustra. Allerdings hat die Figur, die man in Nietzsches Werken wiederfindet, anders als die Buddha-Referenz im Schopenhauerschen Denken, nicht viel mit der historisch übermittelten Lehre des Gründers des Zoroastrismus zu tun. Nietzsches Zarathustra vermittelt seinen Jüngern eine bis dahin noch nie ausgesprochene Lehre: jene des Übermenschen, mit welcher er „der Menschheit das grösste Geschenk gemacht, das ihr bisher gemacht worden ist“36. Dieses Geschenk besteht in Nietzsches Augen darin, die Menschheit vom traditionell überlieferten Laster des schlechten Gewissens, des erlahmenden Selbstmitleids und der überzeugten Selbstkasteiung befreit zu haben.
Der Zarathustra Nietzsches erkennt, wie der Buddha Schopenhauers, den immerwährenden Kreislauf des Seins, doch er zieht aus dieser Erkenntnis einen anderen Schluss; Ziel des Lebens ist es nicht, diesen ewigen Kreislauf wie im Buddhismus zu durchbrechen, sondern „die ewige Wiederkunft des Gleichen“ zu wollen:
Zarathustra ist ein Tänzer –; wie der, welcher die härteste, die furchtbarste Einsicht in die Realität hat, welcher den „abgründlichsten Gedanken“ gedacht hat, trotzdem darin keinen Einwand gegen das Dasein, selbst nicht gegen dessen ewige Wiederkunft findet, — vielmehr einen Grund noch hinzu, das ewige Ja zu allen Dingen selbst zu sein, „das ungeheure unbegrenzte Ja- und Amen-sagen.“37
X. Fazit: Rosenkrieg und Patrizid
Aus unseren überblickenden Betrachtungen der Werke und nachgelassenen Fragmente Nietzsches lässt sich zweifelsohne schließen, dass die Themen, Motive und Argumente der Schopenhauerschen Philosophie eine zentrale, omnipräsente Rolle in seinem Denken spielen. Der Wille zum Leben und zur Macht, der Pessimismus, der Atheismus, die ewige Wiederkunft, der Nihilismus, das Mitleid, die Musik als Metaphysik, das Genie: Jedes dieser Hauptmotive der Nietzscheschen Philosophie findet im Denken Schopenhauers ein Vorbild.
Der Erzieher, der ihm in seinen jungen Jahren eine tiefere, willensphilosophische und pessimistische Sicht auf die Welt bot, blieb bis zum Schluss eine intellektuelle Herausforderung für Nietzsche: Das Modell eines Philosophen, für das er selbst die Alternative sein wollte. Die Geschichte der Nietzsche-Schopenhauer-Beziehung entspricht demnach einer sich in einen Rosenkrieg verwandelnden, einseitigen Liebesgeschichte. Nicht bei der Weltanschauung seines geliebten Erziehers stehen zu bleiben, sondern, von ihr ausgehend, eine gegensätzliche, größere Sicht der Dinge anzubieten: Darauf kam es Nietzsche wirklich an. Ob er Schopenhauer in allen Punkten richtig verstanden hat, spielt für ihn letztlich keine große Rolle. Am Ende zählt für ihn vor allem eins; sein im Dienste des Übermenschen vollbrachter Patrizid:
Ich bin fern davon zu glauben, dass ich Schopenhauer richtig verstanden habe, sondern nur mich selber habe ich durch Schopenhauer ein weniges besser verstehen gelernt; das ist es, weshalb ich ihm die grösste Dankbarkeit schuldig bin.38
Tom Bildstein (geb. 1999) lebt in Brüssel und ist seit 2023 Doktorand der Philosophie an der Université libre de Bruxelles (ULB). Er schreibt zurzeit an einer Dissertation in Französisch über die „Wege des Willens“ in der Philosophie Arthur Schopenhauers. Er ist darüber hinaus Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft und beschäftigt sich intensiv mit dem Problem des Dinges an sich bei Kant und Schopenhauer, das zugleich das Thema seiner Masterarbeit und eines mit Raphael Gebrecht (Bonn) geführten und im Blog der Schopenhauer-Gesellschaft veröffentlichten Gesprächs (Das Problem des Dinges an sich, 2023; Link) war. Zudem ist er Autor eines wissenschaftlichen Artikels: Nietzsche et „la grande erreur fondamentale de Schopenhauer“ (erschienen in der Zeitschrift Voluntas: Revista Internacional de Filosofia, 2024). 2024 gewann er den Essaypreis der Schopenhauer-Gesellschaft mit seiner Einreichung Der Mut zum Idealismus. Schopenhauers kompendiarischer Kantianismus.
Quellen
Heidegger, Martin: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis. Frankfurt am Main 1989.
Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991.
Schopenhauer, Arthur: Der handschriftliche Nachlaß, Band 4, I. München 1985.
Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung I. Frankfurt am Main 1986.
Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung II. Frankfurt am Main 1986.
Der.: Kleinere Schriften. Frankfurt am Main 2006.
Quelle zum Artikelbild
Photo der Erstausgabe von Die Welt als Wille und Vorstellung, Foto H.- P. Haack Wikimedia (Link)
Fußnoten
15: Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 397 (Kap. 24).
16: Nachgelassene Fragmente 1885, Nr. 39[15].
17: Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 744 (Kap. 46)
18: Der Antichrist, 7.
19: Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 504. (§ 68).
20: Nachgelassene Fragmente 1882, Nr. 5[1], 1.
21: Nr. 38[12].
22: Vgl. Heidegger, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis.
23: Nachgelassene Fragmente 1888, Nr. 14[152] (Herv. d. Verf.).
24: S. 415 (§57).
25: Vgl. Malter, Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens.
26: Es handelt sich hierbei um einen altgriechischen Begriff (sōtḗr bedeutet „Retter“), der im christlichen Kontext die Erlösungslehre bezeichnet.
27: Nachgelassene Fragmente 1883, Nr. 16[79] (Fettsetzung im Orig.).
28: Nachgelassene Fragmente 1884, Nr. 14[24].
29: Die fröhliche Wissenschaft, 357.
30: Ecce homo, Unzeitgemäße, 2.
31: Schopenhauer, Kleinere Schriften, S. 583.
32: Nr. 10[5].
33: Warum ich so weise bin, 4.
34: Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß 4, I, S. 96 (§36).
35: Jenseits von Gut und Böse, 56.
Der Abdruck des Erziehers
Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches II
Nachdem Tom Bildstein im ersten Teil dieses Artikels (Link) darlegte, wie sich Nietzsche im Laufe der 1870er Jahre vom Schopenhauer-Verehrer zum -Kritiker wandelte, untersucht er im Folgenden genauer, wie der reife Nietzsche Schopenhauers Pessimismus überwinden und ihm eine „lebensbejahende“ Philosophie entgegensetzen möchte. Schopenhauers „Wille zum Leben“, den der Misanthrop asketisch verneint sehen möchte, soll dem „Willen zur Macht“ weichen als Grundprinzip allen Lebens, das sich nicht widerspruchslos verneinen lässt.
Der Abdruck des Erziehers
Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches. Teil I: Vom Jünger zum Kritiker
Der Abdruck des Erziehers
Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches I


Es ist kein Geheimnis, dass einer der wichtigsten philosophischen Bezugsfiguren für Nietzsche der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) gewesen ist. Grund genug, der Geschichte der Schopenhauer-Rezeption Nietzsches in einem zweiteiligen Artikel nachzugehen. Im ersten Teil untersucht der Schopenhauer-Forscher Tom Bildstein wie sich der junge Leipziger Philologiestudent Nietzsche erst von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) begeistern ließ, um sich binnen weniger Jahre zum scharfen Kritiker des Frankfurter „Miesepeters“ zu wandeln. – Link zu Teil 2.
Teil I: Vom Jünger zum Kritiker
Nietzsche hat den Ruf eines Freigeistes. Das Bild, das die Nachwelt von ihm gezeichnet hat, ähnelt dem eines ungebundenen, selbstdenkenden und über die Wirklichkeit autonom urteilenden Philosophen. Das Bild kann jedoch täuschen, denn ganz frei von überlieferten Weltansichten und Wertvorstellungen war Nietzsche keineswegs. Sein freier Geist musste erst einmal zur Freiheit erzogen werden. Seine philosophische Erziehung verdankt Nietzsche vor allem einer Person: dem pessimistischen Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860). Dem Autor der Welt als Wille und Vorstellung (1818) widmet Nietzsche seine dritte Unzeitgemäße Betrachtung, die er unter dem Titel Schopenhauer als Erzieher (1874) veröffentlicht. Nietzsches Dialog mit seinem Erzieher beschränkt sich allerdings nicht nur auf diese Unzeitgemäße Betrachtung: Er zieht sich durch beinahe alle seine veröffentlichten Werke und kann zudem in zahlreichen Briefen und nachgelassenen Fragmenten nachvollzogen werden. Inwieweit wurde Nietzsches Philosophie durch Schopenhauer bestimmt und worin bestehen die zentralen Divergenzpunkte dieser beiden Denker?
I. Nietzsches erste Bekanntschaft mit Schopenhauer oder das Leipziger Schopenhauer-Erlebnis
Manche Bücher liest man aus purem Zufall. Zieht uns ein Buch dabei in seinen Bann, erhält das unvermutete Leseerlebnis zeitgleich einen mystischen Schein. Es kommt einem vor, als ob die Lektüre dieses einen Buchs in Wahrheit nicht vom Zufall, sondern vom Schicksal bestimmt sei. Eine ähnlich magische Wirkung hatte die erste, eher zufällige Schopenhauer-Lektüre auf den jungen Nietzsche. Als dieser zwischen Oktober 1865 und August 1867 – das genaue Datum ist nicht bekannt – in einem Leipziger Antiquariat stand und Schopenhauers Hauptwerk, Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) in seinen Händen hielt, flüsterte ihm, nach eigener Aussage, eine „dämonische“ Stimme zu: „Nimm dir dies Buch mit nach Hause“1. Zu Hause angekommen, ließ Nietzsche sich von diesem Monumentalwerk in den Bann ziehen: „So zwang ich mich vierzehn Tage hintereinander immer erst um zwei Uhr nachts zu Bett zu gehen und es genau um sechs Uhr wieder zu verlassen. Eine nervöse Aufgeregtheit bemächtigte sich meiner“ (ebd.).
Das Leipziger Leseerlebnis machte Nietzsche unverzüglich zum Schopenhauerianer. Der junge Student der klassischen Philologie fand sich in diesem Lebensabschnitt, d. h. mit Mitte 20, in den Texten Schopenhauers wieder. „[H]ier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt[,] Leben und eigen Gemüt in entsetzlicher Großartigkeit erblickte“ (ebd.), schreibt er in dem Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre (1867/68). Nietzsche wird sich von der Schopenhauerschen Philosophie, vor allem von ihrem Kernstück, der Willensmetaphysik, in seiner ersten Schaffensperiode, bis Mitte der 1870er Jahre, welt- und lebensanschaulich führen lassen. „[S]eitdem Schopenhauer uns die Binde des Optimismus vom Auge genommen“, schreibt Nietzsche 1866 in einem Brief an seinen Freund Hermann Mushacke, „sieht man schärfer. Das Leben ist interessanter, wenn auch häßlicher“2.
II. Die Geburt der Geburt aus dem Geiste der Schopenhauerschen Metaphysik
Die Autorität Schopenhauers wird Nietzsche in seinen jungen Jahren nicht nur als Menschen, sondern auch als Philosophen bestimmen. Sein philosophisches Erstlingswerk, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), ist sowohl terminologisch als auch ideologisch durch Schopenhauers Philosophie tief geprägt. Die Geburt, die in ihrer zweiten Auflage von 1886 den Untertitel: Griechenthum und Pessimismus erhielt, kann als der Versuch Nietzsches verstanden werden, zum einen seine Gräkophilie, zum anderen seine Begeisterung für die Willens- und Musikmetaphysik Schopenhauers und ihrer kompositorischen Umsetzung durch Wagner dialektisch zu vereinen und gegeneinander auszuspielen. Den „ungeheure[n] Gegensatz“3 des Apollinischen mit dem Dionysischen, den Nietzsche zum zentralen Thema dieser Schrift macht, findet er im Schopenhauerschen Hauptwerk in der Opposition von Wille und Vorstellung vorgebildet. Die Musik wird Nietzsche „nach der Lehre Schopenhauer’s“, wie er selbst in der Geburt schreibt, insofern als die „Sprache des Willens“4 verstehen.
Nietzsches Begeisterung für seine Metaphysik und Ästhetik schlug jedoch zu keiner Zeit, wie der US-amerikanische Philosoph Paul Swift in Becoming Nietzsche (2005) – einer zwar älteren, aber immer noch sehr lesenswerten und kompakten Studie zu den frühen Inspirationsquellen Nietzsches5 – richtig anmerkt, in eine Apologetik der Schopenhauerschen Philosophie um. Nietzsche bedauert später selbst, dass er in seiner ersten philosophischen Schrift „mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Wertschätzungen auszudrücken suchte, welche dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, von Grund aus entgegen gingen!“6. Die Tatsache, dass er den ästhetischen und erkenntnistheoretischen Zugang zur Welt zu dieser Zeit nur mittels der durch Kant und Schopenhauer vererbten Begriffe zu denken vermochte, hinderte ihn daran, die Neuartigkeit seiner eigenen Betrachtungen zu erkennen. Um sein Denken frei entfalten und zu einer neuen Größe zu verhelfen, musste sich Nietzsche zunächst einmal kritisch mit diesem Grundgerüst auseinandersetzen.
III. Vom Erzieher zum philosophischen Gegner
Mit Schopenhauer als Erzieher veröffentlicht Nietzsche 1874 den dritten Teil seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen. Es handelt sich dabei um die einzige Schrift, die er seinem „erste[n] philosophische[n] Lehrer“7 direkt widmet. Schopenhauer wird in diesem Text, wie in beinah allen seinen Schriften bis dahin, noch überwiegend in das positive Licht eines „Vorbilds“ gestellt. Es ist allerdings das letzte Mal, dass Nietzsche einen rundum schonenden Umgang mit seinem „Erzieher“ haben wird. In Schopenhauer als Erzieher gibt sich Nietzsche noch als ein treuer Leser seines Meisters: „Ich gehöre zu den Lesern Schopenhauers, welche[,] nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, dass sie alle Seiten lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat“8. Diese besondere Faszination für die Schopenhauer wird er in dieser Schrift durch ihren „aus drei Elementen gemischten“ Eindruck: „seine[] Ehrlichkeit, seine[] Heiterkeit und seine[] Beständigkeit“ (ebd.) erklären.
In Schopenhauer als Erzieher macht sich somit eine Wende in der Nietzsche-Schopenhauer-Beziehung bemerkbar. Das Interesse, das bis dahin eher seiner Philosophie galt, gilt jetzt mehr Schopenhauer als Philosophen und Menschen. Am 19. Dezember 1876 behauptet Nietzsche in einem Brief an Cosima Wagner, er „stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner [Schopenhauers; TB] Seite; schon als ich über Sch. schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hinweg sei; mir lag alles am Menschen“9. Nietzsche ist zu dieser Zeit besonders von Schopenhauers außerakademischen Karriere und seiner Verachtung der unfreien und unauthentischen Universitätsphilosophie angetan. Er sieht die Rolle des neuen, durch Schopenhauer gegen seine Zeit erzogenen Philosophen darin, „der Richter der ihn umgebenden sogenannten Kultur“10 zu werden. Um dieser Devise in aller Konsequenz folgen zu können, ist Nietzsche nun bestrebt, seine eigene Integrität als Philosoph unter Beweis zu stellen. Das bedeutet allerdings auch, dass er, als unbeugsamer Richter der ambienten Kultur, Schopenhauers „gefährlichen“ Einfluss auf sie anprangern werden muss.
IV. Nietzsche contra Schopenhauer
Dass Nietzsche nicht nur die Fähigkeit hat, sich mit Hingabe für einzelne Ideen und Denker zu begeistern, sondern auch dazu in der Lage ist, ehemals hochgeachtete Autoren und Gedanken nachher intensiv zu kritisieren, lässt sich spätestens aus seinen polemischen Schriften11 gegen seinen zweiten Erzieher12, dem Schopenhauerianer Richard Wagner, ableiten. Seine beiden Meister betreffend hofft Nietzsche, wie man in seinen nachgelassenen Fragmenten von 1884 lesen kann, dass die kommenden, ihrer Zeit und Kultur überlegenen Menschen, „endlich so viel Selbstüberwindung haben [werden], um den schlechten Geschmack für Attitüden und die sentimentale Dunkelheit von sich abzuthun, und gegen Richard Wagner ebenso sehr als gegen Schopenhauer <sich wenden>“13.
Der Haltungswandel Nietzsches zu seinen Erziehern mag auf den ersten Blick überraschen: Lehnt er nun vollständig die Wurzeln seines eigenen Denkens ab? So radikal verfährt Nietzsche nun doch nicht. Schopenhauer und Wagner werden nicht einfach aus seinem Geist gestrichen: Statt mit ihnen zu denken, denkt Nietzsche nun gegen sie. Seine beiden Erzieher wird er sozusagen zu den idealen Widersachern – er nennt sie 1888 in einem Brief an den dänischen Essayisten Georg Brandes (1842–1927) seine „antagonistischen Meister“14 – seines eigenen kultur- und lebensphilosophischen Denkens ernennen. Schopenhauer wird darüber hinaus eine wichtige Rolle bei den terminologischen Überlegungen Nietzsches spielen, insofern die Grundbegriffe der Philosophie seines Erziehers den Ausgangspunkt der Festlegung der zentralen Termini seines eigenen Denkens ausmachen werden.
Tom Bildstein (geb. 1999) lebt in Brüssel und ist seit 2023 Doktorand der Philosophie an der Université libre de Bruxelles (ULB). Er schreibt zurzeit an einer Dissertation in Französisch über die „Wege des Willens“ in der Philosophie Arthur Schopenhauers. Er ist darüber hinaus Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft und beschäftigt sich intensiv mit dem Problem des Dinges an sich bei Kant und Schopenhauer, das zugleich das Thema seiner Masterarbeit und eines mit Raphael Gebrecht (Bonn) geführten und im Blog der Schopenhauer-Gesellschaft veröffentlichten Gesprächs (Das Problem des Dinges an sich, 2023; Link) war. Zudem ist er Autor eines wissenschaftlichen Artikels: Nietzsche et „la grande erreur fondamentale de Schopenhauer“ (erschienen in der Zeitschrift Voluntas: Revista Internacional de Filosofia, 2024). 2024 gewann er den Essaypreis der Schopenhauer-Gesellschaft mit seiner Einreichung Der Mut zum Idealismus. Schopenhauers kompendiarischer Kantianismus.
Quellen
Nietzsche, Friedrich: Rückblick auf meine Leipziger Jahre. In: Werke in drei Bänden. Autobiographisches aus den Jahren 1856–1869. München 1954. Link.
Swift, Paul A.: Becoming Nietzsche. Early Reflections on Democritus, Schopenhauer and Kant. Lanham 2005.
Quelle zum Artikelbild
Photographie Schopenhauers vom 3. 9. 1852, Link
Fußnoten
1: Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre.
2: Brief v. 11.07.1866; Nr. 511.
3: Die Geburt der Tragödie, 1.
4: Die Geburt der Tragödie, 16.
5: Vgl. insb. das zweite Kapitel derselben, „Nietzsche on Schopenhauer in 1867“.
6: Die Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik, 6.
7: Schopenhauer als Erzieher, 4.
8: Schopenhauer als Erzieher, 2.
9: Bf. Nr. 581 (Herv. d. Verf.).
10: Schopenhauer als Erzieher, 8.
11: Der Fall Wagner (1888) und Nietzsche contra Wagner (1889)
12: In einem Brief vom 13. Dezember 1875 an seinen lebenslangen Freund Carl von Gersdorff stellt Nietzsche Schopenhauer und Wagner zusammen als seine Erzieher dar (vgl. Bf. Nr. 495).
13: Fragment Nr. 26[462].
14: Bf. v. 19.02.1888; Nr. 997.
Der Abdruck des Erziehers
Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches I
Es ist kein Geheimnis, dass einer der wichtigsten philosophischen Bezugsfiguren für Nietzsche der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) gewesen ist. Grund genug, der Geschichte der Schopenhauer-Rezeption Nietzsches in einem zweiteiligen Artikel nachzugehen. Im ersten Teil untersucht der Schopenhauer-Forscher Tom Bildstein wie sich der junge Leipziger Philologiestudent Nietzsche erst von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) begeistern ließ, um sich binnen weniger Jahre zum scharfen Kritiker des Frankfurter „Miesepeters“ zu wandeln. – Link zu Teil 2.
Die alte Wut
Die Geburt der Moderne aus dem Geist des Ressentiments
Die alte Wut
Die Geburt der Moderne aus dem Geist des Ressentiments


„Ressentiment“ ist einer der Leitbegriffe von Nietzsches Philosophie und vielleicht sogar ihr wirkmächtigster. In seinem neuen Buch Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments (Marburg 2024, Büchner-Verlag) vertritt Jürgen Große die These, dass seit dem 18. Jahrhundert mehr oder weniger alle politischen oder sozialen Bewegungen solche des Ressentiments sind. Unser Stammautor Hans-Martin Schönherr-Mann hat es gelesen und stellt im Folgenden Großes wichtigste Thesen vor.
Gibt es Politik, Weltverständnisse, soziale Bewegungen, die frei von Ressentiment sind? Praktisch alle werden das von sich selbst behaupten. Gegenüber ihren Konkurrenten führen alle selbstverständlich gute Gründe für ihre Gegnerschaft an, so dass diese nicht auf einer affektiven Ablehnung beruhe.
Der Philosoph Jürgen Große bestreitet diesen Anspruch und führt in seinem neuen Buch vor, dass alle politisch-sozialen Strömungen seit der Aufklärung auf Ressentiments beruhen. Auch wenn er den zeitgenössischen politischen Szientismus nicht explizit erwähnt, aber en passant das ökologische Weltbild: Auch diese bedienen sich einer affektiv ausgrenzenden Terminologie, wenn sie ihre Gegner als Leugner ihrer wissenschaftlichen oder ökologischen Wahrheiten titulieren.
Gibt es gar keine Ausnahme? Doch, nämlich die Hippie-Bewegung der sechziger Jahre. Aber die Hippies stiegen doch aus dem bürgerlichen Leben aus? Entwickelten sie diesem gegenüber kein Ressentiment? Das bescheinigt Große zwar der Alternativbewegung der achtziger Jahre, nicht aber den Hippies. Diese stiegen zwar aus der Leistungsgesellschaft aus, aber lässig, nicht aggressiv wie die Bohème des späten 19. Jahrhunderts oder gar politische Protest-Bewegungen.
Einerseits entwickelten die Hippies eigene Werte, andererseits eine eigene Lebenspraxis mit eigenen Bedeutungszusammenhängen. Große schreibt:
Auch hier wieder begreift die Szene ihr Verweigern als lediglich abgenötigte Position, nicht als ursprüngliche Negation: Ursprünglich sei nämlich der Reichtum bedeutungsfreien Ausdrucks, wie ihn etwa Bob Dylan, oder bedeutungsverdrehenden Ausdrucks, wie ihn etwa Jefferson Airplane kultivierten, repressiv-abgeleitet hingegen die Konstruktion rigide bedeutungsverweigernder Formwelten. (S. 289)
Die Hippies leben auch nicht in einer primären Gegnerschaft zum Kapitalismus, verkörpern sie doch einen Hedonismus, der zwar nicht produzieren will, aber doch konsumieren. Ähnliches attestiert Große auch noch der Jugendszene in der DDR, die ohne emanzipatorische Ansprüche auskam und gegenüber der Politik schlicht abgetaucht war.
Was aber die Gegenkultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt betrifft, so sieht Große wesentliche Unterschiede zwischen der US-amerikanischen und der westeuropäischen Gegenkultur. Die amerikanische besinnt sich auf eine Natur, bei der man sich auch auf die Ureinwohner bezieht, die europäische ist primär nihilistisch, was Große mit dem Ressentiment und somit mit Zynismus und Neid verknüpft.
So steht denn im Zentrum von Großes Buch Nietzsche, über den er bemerkt: „Bis zu Nietzsche war in der europäischen Literatur das Ressentiment psychologisch und moralisch neutral oder kritisch beschrieben worden, nach Nietzsche galt es als verächtlich oder gar als therapiebedürftig.“ (S. 74) Die französischen Aufklärer etwa hatten gegenüber dem Ressentiment eine neutrale Einstellung, werteten es nicht grundsätzlich negativ.
In Nietzsches Zur Genealogie der Moral avanciert das Ressentiment zum strukturell negativen Hass der jüdischen Priester auf die herrschenden Schichten, als affektive Ablehnung der Starken, Reichen und Schönen, die in der „Herrenmoral“ das Gute verkörpern, während die Armen, Schwachen und Hässlichen in derselben das Schlechte darstellen. Die Christen, so Nietzsche, transformieren dieses negative Gefühl in eine positive Umwertung der Werte, so dass nun die Schwachen zu den Guten avancieren, während die Starken als „Böse“ abgewertet werden. Für Nietzsche ist damit nach Große das Ressentiment schöpferisch geworden, wie schon zuvor für Charles Baudelaire.
Großes Buch lässt sich denn auch in zwei verschiedenen Perspektiven lesen. Es enthält eine Geschichte des Ressentiment-Begriffs, die mit Montaigne einsetzt, ihre Dynamik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhält, als Literatur und Kunst gesellschaftskritisch werden, d. h. der absolutistischen Gesellschaft ablehnend begegnen, ähnlich wie sie im 19. Jahrhundert das Bürgertum scharf kritisieren, was sich im 20. Jahrhundert praktisch in allen politisch sozialen Strömungen fortschreibt, die sich jeweils aus unterschiedlichen Formen der Ablehnung speisen. Nietzsche spielt dabei eine Schlüsselrolle.
Die zweite Lesart von Großes Buch erklärt das Ressentiment zum Grundmotiv von politischen und sozialen Strömungen seit dem 18. Jahrhundert. An die Stelle von sozialen Gegensätzen bei Marx, die ökonomische Grundlagen haben und insofern durchaus rationalen Charakter, treten affektiv beschleunigte Abneigungen, emotional ausgelöster Hass auf Menschen und Ideologien, auf das Andere schlechthin, die mit der Hybris einhergehen, selber das Richtige zu leben und zu glauben. Dergleichen scheint für alle relevanten politischen und sozialen Strömungen zu gelten – die Hippies und die Jugendbewegung in der DDR sind nicht relevant. Das avanciert fast zu einem geschichtsphilosophischen Grundmotiv: Geschichte wird vom Ressentiment getrieben, allerdings nicht von Anbeginn – wer würde denn auch solchen Unsinn zu behaupten wagen, er kenne das Grundprinzip aller Geschichte!
Anders als Nietzsche, der es als Motiv des entstehenden Christentums beschreibt, hängt es für Große vielmehr mit dem seit der Aufklärung sich verbreitenden Anspruch des Egalitarismus zusammen. Die Adligen hatten es nicht nötig, gegenüber ihren Untertanen ein Ressentiment zu entwickeln und für letztere gab dazu umgekehrt auch keine Gründe. Erst mit dem Anspruch auf Gleichheit entsteht der Hass auf andere, die nicht gleich genug erscheinen, es aber doch sein sollten. Dass Großes Buch diese Lesart nahelegt, liegt vor allem daran, dass es sehr viele politischen und sozialen Strömungen in der westlichen Welt abhandelt und deren Ressentiment-Struktur aufzeigt.
Max Scheler, der Nietzsches Ressentiment-Begriff kritisiert, attestiert das Ressentiment der bürgerlichen Moral und spricht das Christentum davon frei. Die aufklärerische Moral beruht für Scheler auf einem Ressentiment gegenüber der christlichen Ordnung der Liebe, die selbst frei von allem Ressentiment oder gar einem „Willen zur Macht“ ist.
Daran schließt Ludwig Klages mit einem biozentrischen Denken an. Die Seele ist vital, vom Ich zu unterscheiden. Damit deutet Klages Nietzsche um und weitet den Ressentiment-Begriff aus. Große schreibt: „Durch seinen Hass auf den Lebenszersetzer Geist konnte Klages zum Weggefährten konservativer Revolutionäre wie auch zum Vorläufer ökologischer Weltrettungsutopien werden.“ (S. 72)
E. M. Cioran treibt das auf die Spitze. Für ihn sind Affekte nur durch Affekte zu bekämpfen, kann man sich vom Bösen nur durch das Böse befreien, muss das Ressentiment ausgeschöpft werden. Für Cioran bedarf das Denken der Heimtücke. Große kommentiert Cioran: „Neid, Hass, Wut sind keine geistfernen, Kunst, Philosophie, Wissenschaft keine affektfreien Reinzustände.“ (S. 81)
Während die bürgerlichen Revolutionäre ihren Hass auf den Absolutismus und das Christentum ausleben, reagiert die Reaktion bei Joseph de Maistre oder Juan Donoso Cortés mit Rachephantasien, die theologisch eingebettet werden:
Der Liberale begreift weder die Gottgegebenheit oder Selbstevidenz der Ordnung noch den Primat der voluntas vor dem intellectus. Die eigene Impulsivität gegenüber der liberalen Blässe zu loben und zu pflegen wird fortan eine Elementarübung aller reaktionären Theoretiker und Literaten. (S. 155)
Vor allem der Katholik Léon Bloy ragt dabei heraus, der sich zum ‚Antischwein‘ erklärt und damit alle Gegner zu Schweinen:
Angesichts der personellen und materiellen Übermacht des bürgerlichen Prinzips, das nicht etwa Terror (wie für die ältere Reaktion), sondern Indifferenz ist, wird Fanatismus zur geistig-moralischen Pflicht. Wenn Bloy die Schönheit beschreibt, die für ihn Blutbäder unter Bürgern, Engländern, Emanzipierten, Ungläubigen aller Art haben, dann erinnert das an die literarische Exzentrik de Maistres. (S. 159)
Aber ähnliche Ressentiments entdeckt Große auch bei Anarchisten, Linken und im Feminismus, den er primär als bürgerliche Bewegung qualifiziert, wie auch bei seinen männlichen Fürsprechern. „Frauenversteher werden nach 1800 Legion“ (S. 183), schreibt Große. Weder in der feudal-aristokratischen Gesellschaft noch in proletarischen Bewegungen hat es Feminismus nach Große gegeben: „[A]llein das Bürgerweib ist ressentimenthistorisch auffällig geworden.“ (181)
Männer werden abgewertet und Frauen verherrlicht. Weibliche Verdorbenheit verdankt sich für den Feminismus den Männern. Das Rachemotiv zielt dabei auf eine Umwertung der Werte, die sich wie bei Nietzsche der eigenen Schwäche verdankt und dem Neid auf die Stärke der Männerwelt. Große schreibt:
Die ressentimenttypische, aber auch bürgerlicher Emanzipationslogik zugrundliegende Ressentimentstruktur – privates Leid als Symptom eines Weltzustandes – zeigt bereits die frühe Frauenbewegung; „offener Männerhass“ und Ideen weiblicher „Weltrettung“ durch bislang ausschließlich weibliche Kleinwelttugenden wie „Wärme und Hingabe“ sind bereits kurz nach 1800 nachweisbar. (S. 185)
Das Ressentiment beschränkt sich also keineswegs auf rechte oder konservative Strömungen wie die Yuppies der achtziger Jahre oder dem aktuellen Rechtspopulismus, die den Linken eine Neid-Haltung unterstellen und Benachteiligung als selbstverschuldet erklären: Von diesen formulierte Ansprüche seien von Unruhestiftern evoziert. Minderheiten und Benachteiligte können sich nicht selbstredend als Opfer präsentieren und ihre Lebensform als ethische ausgeben. So bemerkt Große:
In der fortgeschrittenen Moderne ist der Bezug zum christlich-„ritterlichen“ Motiv des Racheverzichts geschwächt. Ressentimentgefühl und Ressentimentbegriff werden zusehends mit Fragen sozialer Gerechtigkeit konnotiert, insbesondere mit frustriertem Gleichheitsverlangen. (S. 327)
Ähnliches schreibt Große auch den diversen antibürgerlichen künstlerischen Strömungen zu vom Sturm-und-Drang über die Bohème und den Surrealismus bis heute. Das gilt noch für die neuen Halb-Eliten aus linken, grünen oder digitalen Lagern, über die Große bemerkt: „Politik-, Medien- und Kultur-Bobos [bourgeois-bohémien; SM] agieren als Primärverletzte wie auch als Stellvertreter aus historisch-tradiertem, gegenwärtig andauerndem Unrecht.“ (S. 311)
So scheint das Ressentiment für Große seit ca. drei Jahrhunderten Politik und Gesellschaft an- und umzutreiben und damit die Geschichte zu bestimmen. Freilich erreicht es dabei kaum die schöpferische Qualität der Umwertung der Werte. Aber darüber darf man streiten. Denn gerade ökologisch ethische Werte haben sich heute in modernen Gesellschaften breitgemacht. Und vielleicht auch der Hedonismus der Hippies mit Sex & Drugs & Rock’n’Roll – letzteres umschreibt Große mit „Lärm“ (292), ein Anschluss an Adornos Abneigung gegenüber der Popkultur. Aber wie man in die Welt hineinruft, so hallt es zurück.
Bildnachweis Artikelbild
Edmund Adler: Der Blumenkranz (1950) (Link)
Die alte Wut
Die Geburt der Moderne aus dem Geist des Ressentiments
„Ressentiment“ ist einer der Leitbegriffe von Nietzsches Philosophie und vielleicht sogar ihr wirkmächtigster. In seinem neuen Buch Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments (Marburg 2024, Büchner-Verlag) vertritt Jürgen Große die These, dass seit dem 18. Jahrhundert mehr oder weniger alle politischen oder sozialen Bewegungen solche des Ressentiments sind. Unser Stammautor Hans-Martin Schönherr-Mann hat es gelesen und stellt im Folgenden Großes wichtigste Thesen vor.
Splendid Isolation, Stiff Upper Lip
Nietzsche und die Tragik akademischen Außenseitertums
Splendid Isolation, Stiff Upper Lip
Nietzsche und die Tragik akademischen Außenseitertums

„Keep a stiff upper lip“, „halt die Oberlippe steif“, sagt man in England, wenn man seinen Gesprächspartner dazu aufrufen möchte, im Angesicht der Gefahr durchzuhalten und eine aufrechte Grundhaltung zu bewahren. Ein Rat, der sicherlich oftmals hilfreich ist. Um eine solche stoische Position muss man sich umso mehr als akademischer Außenseiter bemühen, der sich einerseits vom wissenschaftlichen Mainstream abgrenzt, andererseits jedoch auch auf seine Anerkennung angewiesen ist. In einer solchen delikaten Lage befand sich Nietzsche selbst, aber auch zahlreiche seiner Bewunderer. Ausgehend von mehreren solcher Außenseiterfiguren (neben Nietzsche selbst etwa Julius Langbehn und Paul de Lagarde) entwickelt Christian Saehrendt in diesem Beitrag eine Typologie der (vielleicht nicht immer ganz so) „glänzenden Isolation“ des akademischen Nonkonformismus.
I. Nietzsche, Lagarde, Langbehn
Wer gehört eigentlich zur seriösen akademischen Welt? Und wer bestimmt darüber? Das Aushandeln und Definieren der wissenschaftlich-akademischen Exklusivität ist ein dauerhaftes Problem, denn die Art der Auseinandersetzung mit dem „Außen“ prägt den akademischen Betrieb zugleich im Inneren. Friedrich Nietzsche wusste davon ein Lied zu singen, aber auch andere Intellektuelle seiner Zeit lebten und litten in „glänzender Isolation“, weil sie vom akademischen Betrieb als fachfremde Seiteneinsteiger, unprofessionelle Amateure, Dilettanten oder Hochstapler ausgegrenzt wurden.
Trost und Hoffnung der Isolierten war und ist die Tatsache, dass es ihresgleichen von Fall zu Fall gelingt, große publizistische Erfolge zu erringen und starke Beachtung der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen – was ihnen wiederum Neid und noch tiefere Abneigung des akademischen Betriebs einbringt. Beispielhaft verdeutlicht wird dies bei Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Oswald Spengler. Im Zeitraum 1880 bis 1930 bestimmten diese Kulturkritiker und Bestsellerautoren den geisteswissenschaftlichen Diskurs in Deutschland maßgeblich mit, obwohl sie allesamt akademische Außenseiter und sozial isolierte Exzentriker waren. Langbehn und Spengler bezogen sich stark auf Nietzsche, der als Wissenschaftskritiker und ebenfalls als akademischer Außenseiter seiner Zeit galt, und der wiederum vom Eigenbrötler Lagarde beeindruckt war.
Auch Nietzsche passte perfekt in das Schema des ungeselligen, charakterlich „schwierigen“ Privatgelehrten, der weder starke familiäre noch gesellschaftliche Bindungen hatte und vom akademischen Betrieb weitgehend gemieden wurde. Während Nietzsche erst posthum berühmt wurde, konnten die intellektuellen Außenseiter Langbehn und Spengler bereits zu Lebzeiten zu gleichwohl umstrittenen wie auch vielbeachteten Stars des Kulturlebens aufsteigen. Dabei surften sie auf den Wellen der Nietzsche-Rezeption. Während Langbehn vergeblich die Vormundschaft über den kranken Nietzsche zu erlangen versuchte, wurde Spengler in der Weimarer Republik zu einem wichtigen Exponenten der etablierten Nietzsche-Community1. In zwei biographischen Skizzen wird nun zunächst Lagarde als Prototyp des Wissenschaftsaußenseiters geschildert, bevor Langbehn als Nietzsche-Epigone in den Blick kommt. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Nietzsches Lebenswandel werden auf diese Weise deutlich.

Paul de Lagarde alias Anton Böttcher (1827-1891) war einer der bekanntesten Kulturkritiker im deutschen Kaiserreich gewesen. Sein Hauptwerk, die 1878 erstmals erschienenen Deutschen Schriften, verband moralische Kritik am Bildungswesen, an der Kultur und den Sitten mit einem extremen Nationalismus. Wurzeln seines Denkens waren Protestantismus und preußisches Ethos, Grundton seiner Schriften ein tiefer Kulturpessimismus, vorgetragen in einer „Art weinerlichen Heroismus.“2 Unter Wissenschaftlern war er wegen seines antiquierten Weltbilds und mangelnden Methodenbewusstseins umstritten. Fünfzehn Jahre musste er auf einen Lehrstuhl warten und unterrichtete zwischenzeitlich an Schulen, bis er 1869 eine Berufung an die Universität Göttingen erhielt. Seine Streitsucht galt als notorisch. Er stand u. a. im Briefwechsel mit Richard Wagner. Nietzsche war von Lagardes Schriften beeindruckt, las ihn aber auch kritisch, während Lagarde keinerlei Interesse an Nietzsche zeigte.3 In seinem letzten Lebensjahrzehnt näherte sich Lagarde der antisemitischen Bewegung um Nietzsches Schwager Bernhard Förster an. In der Nachkriegssituation ab 1919 setzte eine zweite Rezeptionswelle ein. Nun konnte Lagarde all jenen als bequemer Nietzsche-Ersatz dienen, denen Nietzsches Äußerungen zum Deutschen Reich und zum Judentum zu komplex und unpatriotisch erschienen.4 Mit Nietzsche verband ihn sein hoher Anspruch an sich selbst und sein enormes Arbeitspensum:
Freilich fehlte Lagarde die geistige Experimentierfreude des Philosophen, und seine hervorstechenden Charakterzüge wie Neid, Geiz und Verbitterung lassen die innere Verhärtung spüren. Den Groll gegen einzelne Kollegen trug er oft jahrelang mit sich, ehe er öffentlich explodierte, und längst vergangene Kränkungen durchlebte er innerlich immer wieder neu. […] Im Kampf gegen die eigene innere Leere, die sich in massiver Erschöpfung und Lebensüberdruss äußerte, sprach er sich mit lauter Stimme selbst Mut zu[.] […] Lagardes Schicksal zeigt, wie eng psychische Versehrtheit, gezielte Selbststilisierung und charismatische Wirkung zusammenhängen können.5

Julius Langbehn (1851-1907) hatte in Kiel und München diverse Fächer studiert, bevor er mit 29 Jahren promoviert wurde – damals ein fast „biblisches“ Promotionsalter. Anschließend führte er etwa ein Jahrzehnt lang ein unstetes Leben mit wechselnden Arbeitsstellen und Wohnsitzen. Im akademischen Betrieb konnte er nicht Fuß fassen. 1891 schickte er demonstrativ seine Promotionsurkunde in Fetzen zerrissen an die Alma Mater, die Universität München, zurück. Sein anonym verfasstes Essay Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen war sein einziger, wenn auch durchschlagender literarischer Erfolg. Das Buch verbreitete pangermanisches Sendungsbewusstsein und verband irrationalen Wissenschaftshass mit globalem kulturmissionarischem Eifer. Den Titel hatte er bewusst als Anspielung auf Nietzsches dritte Unzeitgemäße Betrachtung, Schopenhauer als Erzieher, gewählt. Langbehn übernahm Gedanken des jungen Nietzsche und integrierte sie in ein deutschnationales Weltbild. Spätere Werke Nietzsches lehnte er als „Verirrungen“ ab. Bald nach Erscheinen wurden Lagarde, Georg E. Hinzpeter, der Hauslehrer Wilhelms II., und gar Nietzsche selbst als Autoren des Rembrandt-Buches vermutet, dessen aphoristischer, gekünstelter Stil wie „ein ungeschickter Versuch, Nietzsches späte Prosa nachzuahmen“6 wirkte. Langbehn outete sich schon im Januar 1890 gegenüber dem von ihm verehrten Lagarde als Autor,7 bevor die wahre Verfasserschaft Langbehns allgemein bekannt wurde, und er erhielt den Beinamen „der Rembrandtdeutsche“. Der Erfolg des Buches war ein Ausdruck der damaligen mystischen Erwartungshaltung, die nach Propheten aller Art, vor allem aus dem Reich der Kunst, verlangte. Die stilistischen und gedanklichen Mängel im Text wirkten unter diesen Umständen vorteilhaft: Chaos und Absurdität konnten Tiefsinn und Hintergründigkeit vortäuschen, ständige Wiederholungen hatten einen hypnotischen Effekt, abweichender Satzbau und Interpunktion suggerierten einen individuellen „kreativen“ Ausdruck, mangelnde Argumente und Fußnoten entsprachen der schreibenden „Genialität“, die Nennung anerkannter Künstler und historischer Personen simulierte Belesenheit und verlieh Autorität. Viele bekannte Rezensenten schrieben ausführliche und positive Besprechungen. Häufig wurde Langbehn als Erbe des verstummten Nietzsche gesehen. Langbehn unternahm im Winter 1889/90 sogar einen Versuch, diesen zu heilen. Nachdem er das Vertrauen seiner Mutter erworben hatte, begleitete er Nietzsche wochenlang auf Spaziergängen, redete auf ihn ein, verleumdete seine Ärzte und Freunde und forderte schließlich gar die Vormundschaft über den Kranken.8 Fatal war, dass die Verbreitung von Langbehns Ideen mit der ersten nennenswerten Welle der Nietzsche-Rezeption zusammenfiel, so konnten beide als Propheten einer individualistischen Kunstreligion erscheinen und Langbehn sogar als Erbe des Philosophen und Wegweiser durch dessen Ideen betrachtet werden. Langbehn habe Nietzsche „weit mehr als es bis dahin der Fall war, unter das Volk gebracht“9, resümierte Erich F. Podach bereits 1932.

II. Mechanik der Ablehnung: Der akademische Betrieb im Konflikt mit Außenseitern
Anhand einiger formaler Kriterien lässt sich leicht feststellen, ob jemand zum etablierten Wissenschaftsbetrieb gehört: akademischer Grad und Affiliation, Publikationen in etablierten Zeitschriften und bei seriösen Verlagen, Präsenz bei wissenschaftlichen Tagungen, in Jurys, als Gutachter und in Berufungskommissionen.
Das bedeutet nicht, dass der Nichtintegrierte keine Ideen von außen in den Betrieb einbringen darf, aber er wird es viel schwerer haben, Gehör zu finden als jemand, der sich schon innen befindet. In früheren Zeiten, als die Zersplitterung der Disziplinen noch nicht so weit fortgeschritten war und viele als Privatleute Wissenschaft betrieben haben, war das noch einfacher.10
Das Aushandeln und Definieren der wissenschaftlichen Exklusivität ist ein permanenter Prozess im akademischen Betrieb. Die Umgangsweise mit Außenseitern, Minderheitsmeinungen und Laien bestimmt sein Binnenklima und seine Innovationsfähigkeit. Bei der Begutachtung von Außenseiterpositionen leiden die Insider unter einem grundsätzlichen Problem: bei vielen Forschern ist – im positiven Sinne – eine manische Fixiertheit anzutreffen, ein unbedingter Wille, ein Problem zu lösen oder eine Erklärung zu finden, oder ein stark fokussierter Flow, der sich bei Experimenten und Berechnungen einstellt. Die psychische Energie, die in die Forschung fließt, kann zugleich einen Tunnelblick und die Vernachlässigung sozialer Kontakte und Konventionen mit sich bringen. Dieser manchmal manische oder nerdige Habitus verbindet den seriösen Forscher mit einem psychisch beeinträchtigen Außenseiter: „Die gleiche unablässige geistige Arbeit lässt sich jedoch bei jedem beliebigen Paranoiker beobachten und es ist häufig schwierig, einen genialen Kreativen von einem Wirrkopf zu unterscheiden.“11 Zudem erfordert die Arbeitsweise des Wissenschaftlers eine ständige Verfeinerung und Vervollkommnung einmal aufgestellter Theorien, was zu einer Fixiertheit auf bestimmte Methoden und Ergebnisse führen kann, welche bisweilen im Alter in einen fortschrittshemmenden Starrsinn mündet:
Gewöhnlich versuchen anerkannte und mächtige Wissenschaftler, die gerade veraltende Vorstellungen vertreten, auf jede Weise andere Wissenschaftler zu bremsen und ihnen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, wenn diese einen neuen Weg beschritten haben.12
Leider gibt es für dieses Problem fast nur eine biologische Lösung, wie Nobelpreisträger Max Planck einmal konstatierte:
Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß ihre Gegner allmählich aussterben und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.13
Die Ablehnung von Wissenschaftsaußenseitern durch etablierte Forscher und Funktionäre basiert also oft auf einem „Fehlurteil des Kompetenten“, der nicht in der Lage ist, von seinen erworbenen Überzeugungen zu abstrahieren und der somit stur auf der Schulmeinung beharrt. Fachliche Autoritäten neigen dazu, Positionen, die ihren Theorien widersprechen, als irrelevant oder gar als unwissenschaftlich abzutun. Sie suchen in diesem Sinne nach Fehlern und Anzeichen von Unseriosität und werden vor allem bei formalen oder sprachlichen Details fündig, während sie die Argumente und theoretischen Inhalte des Gegners missachten:
Die Bedeutung solcher kleinen Unzulänglichkeiten rückt um so mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn eine Idee von Jemanden kommt, der nur geringes Ansehen geniesst, kaum Qualifikationsbeweise besitzt und vielleicht außerdem noch charakterlich auffällig, unangepasst, übermässig aggressiv und größenwahnsinnig, oder im Gegenteil allzu bescheiden und zurückhaltend ist. Der Wissenschaftler lässt sich folglich von seiner eigenen Kompetenz und Antipathie in die Irre führen und fällt schließlich ein negatives Urteil.14
Weil ein „Crank“ (=Wirrkopf, Querdenker) oder vornehmer „Maverick“ (=Außenseiter, aber auch „herrenlos“, also frei)
nicht zum Wissenschaftlerkorps gehört, sind Veröffentlichungen schwierig, die notwendig dilettantische Präsentation und der aggressive Ton rechtfertigen eine oberflächliche Analyse seiner Ideen und machen ihre Ablehnung wahrscheinlicher. Was folgt, ist eine Reihe von Diskriminierungen, die den Angegriffenen noch aggressiver machen, und die Wahrscheinlichkeit, als Verrückter abgelehnt und an den Rand gedrängt zu werden, steigt erheblich.15
III. Typologie des wissenschaftlichen Außenseiters
Endohäretiker kritisieren den Wissenschaftsbetrieb von innen, weil sie einen, wenn auch umstrittenen, Status innerhalb desselben besitzen, während Esohäretiker von außen an den Wissenschaftsbetrieb herantreten und von diesem in der Regel vollständig abgelehnt werden. In manchen Fällen verwandelten sich Endohäretiker, die den Wissenschaftsbetrieb durch Pensionierung, Ausschluss oder freiwilligen Austritt verließen, in Esohäretiker. Auch Nietzsche fällt in letztere Kategorie.
Wenn Häretiker auf eigene Faust und ohne Unterstützung der akademischen Bürokratie ihre Forschung fortsetzen wollen, ist dies nur möglich, wenn privates Vermögen oder außeruniversitäre Sponsoren zur Verfügung stehen. Nietzsche zehrte von der ihm zuerkannten Pension der Universität Basel, Lagarde versetzte das Erbe der Adoptivmutter in die Lage, parallel zu seiner Lehrtätigkeit an Schulen sechzehn wissenschaftliche Schriften und Bücher zu publizieren.16 Eine kleine Erbschaft nach dem Tod seiner Mutter hatte Spengler die Möglichkeit eröffnet, seine Unterrichtstätigkeit aufzugeben und als freier Schriftsteller seinen literarischen Ambitionen nachzugehen.17 Langbehn wiederum hatte mächtige Freunde und Förderer wie Wilhelm von Bode im Hintergrund, die ihm die Möglichkeit gaben, als Autor in Erscheinung zu treten.
Im Idealfall ist das Vermögen so groß und der gesellschaftliche Status derart etabliert, dass eine maximale Unabhängigkeit von wissenschaftlichen Institutionen möglich ist. Der englische Privatgelehrte Henry Cavendish (1731-1810), einer der bedeutendsten Naturforscher und reichsten Gelehrten seiner Zeit, war der Prototyp jenes finanziell unabhängigen, exzentrischen und oftmals interdisziplinär-universalistisch agierenden „Gentleman Scholars“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er besaß eine große Bibliothek, führte zahlreiche Experimente durch, mied aber den Kontakt zu Institutionen und Kollegen und hatte keinerlei Interesse, seine Ergebnisse zu publizieren. Er war vollkommen auf seine Studien fixiert, lebte isoliert auf seinem Anwesen ohne jegliche gesellschaftliche Ambitionen.

Doch nicht alle vom Wissenschaftsbetrieb Abgewiesene ruhen derart in sich wie Cavendish. Die meisten dürsten nach wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Anerkennung. Sie sind versucht, durch selbst finanzierte und herausgegebene Publikationen oder durch bezahlte Inserate sich Gehör zu verschaffen. Manche haben eigens Verlage, Zeitschriften, Editionsreihen oder gar Lexika geschaffen, um ihre Artikel und Thesen zu veröffentlichen. Mit den Self-Publishing-Plattformen, Youtube-Kanälen, Blogs und Books-on-demand-Optionen des Internetzeitalters scheinen heute die Möglichkeiten von akademischen Außenseitern, sich zu präsentieren, stark gewachsen zu sein. Allerdings ist damit keinesfalls Seriosität garantiert – im Gegenteil: im Selbstverlag Publiziertes gilt in der Wissenschaftscommunity weithin als Makel, während weiterhin etablierte Publikationsorte und Zitierkartelle existieren, die wissenschaftliche Außenseiter auf Distanz halten.
Eine durchaus nachteilhafte Wirkung auf die Innovationsfähigkeit und Vielfalt des Wissenschaftsbetriebs hat auch das heute gängige Peer-Review-Verfahren, die Prüfung von Forschungsanträgen und publizistischen Beitragseinreichungen durch anonyme akademische Kollegen, weil es sich dabei oftmals um Konkurrenten des Antragstellers handelt. Es versteht sich von selbst, dass es auf solche Weise und im Schatten der Anonymität für etablierte Wissenschaftler einfach ist, Außenseiter und Newcomer zu sabotieren und auszuschließen: „Man kann sicher sein, dass manche der bahnbrechendsten Arbeiten in der Vergangenheit nie erschienen wären, wenn man sie einer Peer Review nach heutigen Maßstäben unterzogen hätte.“18
Damals wie heute verlieren sich manche der Zurückgewiesenen in parawissenschaftlichen Communities und wissenschaftsfeindlichen Positionen. Ohne korrigierende Kontakte zu akademischen Kollegen versteigen sie sich in absurden Theorien. Andere weichen in populärwissenschaftliche Bereiche aus. Einige wenige von ihnen können mit populistischen oder sensationellen Thesen große Erfolge in den Medien und auf dem Buchmarkt feiern – und dann das dadurch erworbene symbolische Kapital einsetzen, um es im akademischen Betrieb doch noch zu einer gewissen Anerkennung zu bringen. In vielen Fällen wurden und werden die vom Wissenschaftsbetrieb Abgewiesenen von der Motivation angetrieben, die als Kränkung erlebte Zurückweisung zu kompensieren oder sich gar in gewisser Weise dafür zu rächen. Das erklärt die bisweilen überaus radikalen inhaltlichen Positionen und die polemische Aggressivität der Sprache, wobei dieser Verbalradikalismus als eine spezifische Form toxischer Männlichkeit gelten darf, etwa als eine Ersatzhandlung für nicht ausgelebte körperliche Aggressionen:
Spengler ist der Typus des gehemmten, vereinsamten und sozial isolierten Denkers, dem es gelingt, sich inmitten seiner Depressionen zu einem monumentalen Werk durchzuringen. Es gibt kaum einen Fall, wo das gängige psychologische Kompensationsargument plausibler wäre als hier: Der ohnmächtige, ängstliche und inhibierte Grübler erzeugt mit herrischem Sprachgestus eine Weltvision, die alles übergreift und jede persönliche Kontingenz bedeutungslos erscheinen lässt.19
Akademische Außenseiter wie Lagarde und Nietzsche-Adepten wie Langbehn und Spengler konnten vor mehr als hundert Jahren in Deutschland große Erfolge feiern – sie bestimmten den damaligen Kulturdiskurs maßgeblich mit. Doch ihre intrinsische Motivation, der Kern ihres Geschäftsmodells, basierte auf der Bewirtschaftung von Ressentiments. Als giftige Außenseiter machten sie Kulturpessimismus, Antisemitismus und Wissenschaftsfeindlichkeit populär. Eine fatale Langzeitwirkung der Schriften Langbehns und Spenglers war es zudem, dass sie Nietzsche ins rechtsextreme Diskursfeld rückten und damit seinen Missbrauch durch den Faschismus vorbereiteten.
Im Universum der akademischen Eigenbrötler und wissenschaftlichen Außenseiter strahlte auch Nietzsche als einsamer Stern. Mit der Übersiedlung nach Basel wird Nietzsche 1869 staatenlos. Ab Wintersemester 1875/76 ist er zudem arbeitslos, die Universität Basel beurlaubte ihn aus gesundheitlichen Gründen. Bereits zuvor hatte er sich durch die Publikation Die Geburt der Tragödie in der philologischen Fachwelt isoliert, wo sein Ansatz als zu künstlerisch gewertet wurde. Nach dem Ausscheiden aus dem Kreis der Wagner-Anhänger und nach dem durch gesundheitliche Gründe erzwungenen endgültigen Abschied vom akademischen Lehrbetrieb und der Pensionierung durch die Universität Basel führt Nietzsche ab 1879 ein ungebundenes Leben als akademischer Außenseiter und Freigeist. Er pendelt zwischen Italien, Frankreich, der Schweiz und Sachsen und lebt dabei recht sparsam, um mit seiner Rente publizistische Vorhaben finanzieren zu können: „Erzwungenermaßen scheint sich nun das Lebensideal zu erfüllen, das er als junger Professor in seinen Basler Vorträgen ‚Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten‘ gepriesen hatte, ‚allein und in würdevoller Isolation leben zu können.‘“20
Er reist und publiziert viel, bleibt aber ohne große öffentliche Resonanz, nur wenige Freunde und Insider kennen seine Schriften. Gentleman scholar Nietzsche erträgt seine splendid isolation mit stiff upperlip, und tröstet sich mit der Überzeugung, erst in 100 oder 200 Jahren verstanden zu werden.21
Artikelbild: Foto einer Schweizer Berglandschaft von Christian Saehrendt
Quellen
Di Trocchio, Federico: Newtons Koffer. Geniale Außenseiter, die die Wissenschaft blamierten. Frankfurt 1998.
Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche, Bd. III. München 1979.
Felken, Detlef: Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur. München 1988.
Gerhardt, Volker: Friedrich Nietzsche. München 1995.
Planck, Max: Wissenschaftliche Selbstbiographie. Leipzig 1948.
Podach, Erich F.: Gestalten um Nietzsche. Mit unveröffentlichten Dokumenten zur Geschichte seines Lebens und seines Werks. Weimar 1932.
Sieferle, Rolf Peter: Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen. Frankfurt a. M. 1995.
Sieg, Ulrich: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus. München 2007.
Sommer, Andreas Urs: Zwischen Agitation, Religionsstiftung und „hoher Politik“. Paul de Lagarde und Friedrich Nietzsche. In: Nietzscheforschung Bd. 4 (1998), S. 169–194.
Stern, Fritz: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Bern 1963.
Wuketits, Franz M.: Außenseiter in der Wissenschaft. Pioniere – Wegweiser – Reformer. Heidelberg 2015.
Fußnoten
1: Vgl. dazu ausführlich meinen Artikel über Spengler auf diesem Blog (Link).
2: Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 52.
3: Vgl. Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet, S. 168 ff.
4: Vgl. Andreas Urs Sommer, Zwischen Agitation, Religionsstiftung und „hoher Politik“.
5: Sieg, Deutschlands Prophet, S. 355–358.
6: Stern, Kulturpessimismus, S. 148.
7: Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 299.
8: Siehe zu dieser Episode Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche, S. 96-113 und Erich F. Podach, Gestalten um Nietzsche, S. 177-199.
9: Ebd., S. 197.
10: Wuketits, Außenseiter in der Wissenschaft, S. 35.
11: Federico Di Trocchio, Newtons Koffer, S. 22.
12: Ebd., S. 244.
13: Max Planck, Wissenschaftliche Selbstbiographie, S. 22.
14: Di Trocchio, Newtons Koffer, S. 100.
15: Ebd., S. 23.
16: Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 73.
17: Vgl. Detlef Felken, Oswald Spengler, S. 25 ff.
18: Wuketits, Außenseiter in der Wissenschaft, S. 36 f.
19: Rolf Peter Sieferle, Die Konservative Revolution, S. 106.
20: Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, S. 48. Vgl. Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, 5. Vortrag.
21: Vgl. Gerhardt, Friedrich Nietzsche, S. 57.
Splendid Isolation, Stiff Upper Lip
Nietzsche und die Tragik akademischen Außenseitertums
„Keep a stiff upper lip“, „halt die Oberlippe steif“, sagt man in England, wenn man seinen Gesprächspartner dazu aufrufen möchte, im Angesicht der Gefahr durchzuhalten und eine aufrechte Grundhaltung zu bewahren. Ein Rat, der sicherlich oftmals hilfreich ist. Um eine solche stoische Position muss man sich umso mehr als akademischer Außenseiter bemühen, der sich einerseits vom wissenschaftlichen Mainstream abgrenzt, andererseits jedoch auch auf seine Anerkennung angewiesen ist. In einer solchen delikaten Lage befand sich Nietzsche selbst, aber auch zahlreiche seiner Bewunderer. Ausgehend von mehreren solcher Außenseiterfiguren (neben Nietzsche selbst etwa Julius Langbehn und Paul de Lagarde) entwickelt Christian Saehrendt in diesem Beitrag eine Typologie der (vielleicht nicht immer ganz so) „glänzenden Isolation“ des akademischen Nonkonformismus.