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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches
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Nietzsche und die Ukraine
Ein Gespräch mit Vitalii Mudrakov
Nietzsche und die Ukraine
Ein Gespräch mit Vitalii Mudrakov
Vitalii Mudrakov ist einer der führenden Nietzsche-Experten der Ukraine. Aufgrund des Krieges lebt er mit seiner Familie derzeit in Deutschland. Paul Stephan unterhielt sich mit ihm ausführlich über einige Aspekte der reichhaltigen ukrainischen Nietzsche-Rezeption im Kontext der vielfach ignorierten eigenständigen Kulturgeschichte des Landes. Sie zeigt, dass Nietzsches freiheitliches Denken immer wieder zentrale Protagonisten der ukrainischen Kultur in ihrem Ringen um eine unabhängige Nation frei von habsburgischer, zaristischer oder sowjetischer Fremdherrschaft inspirierte – und heute wieder den Kampf um die eigene Selbstbehauptung angesichts der russischen Invasion.
I. Nietzsche in der Ukraine – Eine grobe Übersicht
Paul Stephan: Lieber Herr Dr. Mudrakov, haben Sie vielen herzlichen Dank, dass Sie sich zu diesem Gespräch zu Nietzsche in der ukrainischen Kultur bereiterklärt haben. Vielleicht ist es am besten, es mit einer ganz allgemeinen Frage zu beginnen: Welche Rolle spielt Nietzsche denn in Ihrem Land? Gibt und gab es dort eine starke Beschäftigung mit dem deutschen Philosophen, die sich wesentlich auf die ukrainische Kultur auswirkte? Oder handelt es sich eher um eine exotische Randfigur? Bei der vergangenen Nietzsche-Tagung kamen Sie ja in dieser Hinsicht bereits auf die Schriftstellerin Olha Kobylianska zu sprechen, wir berichteten, die in zumindest einem Text Nietzsche stark rezipiert. War sie damit eher eine Ausnahme – oder gibt es weitere solcher Beispiele?
Vitalii Mudrakov: In der Tat ist es eine große Ehre und Freude für mich, über eine solche Verbindung wie „Nietzsche und die Ukraine“ zu sprechen, denn die Ukraine ist sozusagen mein ontologischer Wachstumskontext, sie ist mein Heimatland, und Nietzsche ist eines der wichtigsten intellektuellen ‚Düngemittel‘ für dieses Wachstum. Da wir also über so wichtige Dinge sprechen, fühle ich eine große Verantwortung. Deshalb danke ich Ihnen für die Gelegenheit eines solchen Gesprächs. Ich hoffe auch, dass diese Diskussion nicht nur erkenntnisreich sein wird, sondern auch in gewisser Weise meine inneren Gefühle widerspiegelt.
Um Ihre Frage ganz allgemein zu beantworten, können wir mit den vorgeschlagenen Formulierungen sagen, dass es sich um eine „exotische Randfigur“ handelt – aber dieser Exotismus hat deutliche Spuren hinterlassen. In dieser Hinsicht würde ich Ihre Frage noch etwas vertiefen, indem ich darlege, wann genau Nietzsche in meinem Land eine Bedeutung hatte.
Seine Rolle für das ukrainische Geistesleben sollte also nicht unterschätzt werden, aber sie war in den verschiedenen Zeiträumen sehr unterschiedlich! Daher würde ich unseren Austausch gerne mit einer Periodisierung der ukrainischen Rezeptionen beginnen. Und da Teile der ukrainischen Gebiete in den unterschiedlichen Perioden zu verschiedenen Staatsgebilden gehörten (das Österreichisch-Ungarische und das Russische Reich, die Sowjetunion und die unabhängige Ukraine), ist es zugleich unerlässlich, über die Geographie der ukrainischen Rezeptionen zu sprechen. Um uns also besser orientieren zu können, schlage ich die folgende vorläufige, vielleicht etwas politische, Periodisierung vor:
(1) Die erste Periode würde ich als „imperial“ bezeichnen, zeitlich umfasst sie das Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Untergang der Reiche. Zu diesem Zeitpunkt betritt Nietzsche sozusagen das Gebiet der ukrainischen Länder, die zu verschiedenen Reichen gehörten und denen sehr unterschiedliche kulturelle und politische Rechte gewährt wurden. Und hier tritt die Schriftstellerin Olha Kobyljanska (1863-1942) in den Vordergrund. Schließlich ist sie unter anderem diejenige, die sehr aktiv Nietzsche’sche Ideen in die ukrainische Literatur einführte und damit modernistische Tendenzen in ihr etablierte. Aus diesem Grund gilt sie eigentlich als eine der Schlüsselautorinnen der frühen Moderne in der Ukraine.
Zahlreiche führende Intellektuelle der Zeit wiesen auf den übermäßigen Einfluss Nietzsches auf die Schriftstellerin hin.1 Sie bezogen sich dabei vor allem auf die von der Autorin, insbesondere in ihren frühen Werken, eingeführten Ideen der „starken Person“ bzw. „starken Frau“. Mit diesen wirkte sie erheblich auf die dominante feministische Bewegung der Zeit in der Region ein und insofern können wir sagen, dass der – vermittelte – Einfluss Nietzsches hier sehr bedeutend war. Kobylianska kann also als die erste ukrainische Nietzscheanerin angesehen werden, die in Österreich-Ungarn lebte. Und auch die erste ukrainische Nietzscheanerin überhaupt, weil ihr Interesse an Nietzsche ähnlichen Tendenzen in der übrigen Ukraine, die damals Teil des Russischen Reiches war, vorausging.
Der nietzscheanische Einfluss in diesem von Russland beherrschten Teil der Ukraine ist insgesamt betrachtet eher oberflächlich, er zeigt sich z. B. in der antichristlichen Kritik und dem Experimentieren mit verschiedenen Mythologien, etwa Motiven der vorchristlichen slawischen Tradition, in einigen Werken. Zurückzuführen lässt er sich wiederum auf Frau, die Schriftstellerin Lessja Ukrajinka (1871-1913). Sie stammte aus Wolhynien, das damals Teil des russischen Reiches war. Wolodymyr Wynnytschenko (1880-1951), Wjatscheslaw Lypynskyj (1882-1931) und Dmytro Donzow (1883-1973) können ebenfalls in die Galaxie des ‚russischen Teils‘ der ukrainischen Autoren aufgenommen werden, in der der Einfluss des deutschen Philosophen offensichtlich ist. Diese Autoren eint nicht nur ihre Nietzsche-Rezeption, sondern auch ihr politisches Wirken. Obwohl ihre Lesarten von Nietzsche sehr unterschiedlich waren, können wir angesichts dieser Synthese von Philosophie und Politik doch von einer geteilten ideologischen Verschärfung sprechen, die von Nietzsches Philosophie inspiriert wurde. Diese Verschärfung beruhte auf dem Wunsch, die Lebens- bzw. Existenzkultur der ukrainischen Nation zu verändern. Die oben genannten Autoren sprachen etwa von der „Notwendigkeit einer revolutionären Umgestaltung des Lebens eines neuen Menschen“, den „Problemen des Volkswillens“ oder dem „Ideal eines starken Menschen“.
(2) Über die zweite sowjetische Periode kann ich nicht viel sagen, da Nietzsche in dieser Zeit – die etwa 70 Jahre des Bestehens der Sowjetunion – verboten war und es kaum Möglichkeiten gab, mit seinen Texten zu arbeiten. Nietzsche wurde in dieser Zeit nur durch den Filter der Floskeln der sowjetischen Enzyklopädien gesehen, wie folgt: „Ein reaktionärer idealistischer Philosoph, ein unverblümter Apologet der bürgerlichen Ausbeutung, der Aggression und der faschistischen Ideologie”. Nietzsche konnte also nicht mit den bolschewistischen Interpretationen von Marx um die Aufmerksamkeit der sowjetischen Proletarier konkurrieren.2 Und die anfänglichen Versuche der 20er und 30er Jahre, Nietzsche weiter zu rezipieren, insbesondere durch literarische Visionen, endeten in der Tragödie der „erschossene Renaissance“: Der ukrainische Futurismus von Mychajlo Semenko (1892-1937), der einen Typus des willensstarken „eisernen Menschen“ auf einer künstlerischen nihilistischen Plattform zu verkörpern suchte, oder das Echo der „Übermenschen“-Bilder als Führer der Massen, der für sein eigenes Heimatland verantwortlich war, von Mykola Сhwylowyj (1893-1933), trafen auf die Auswirkungen und Folgen des Stalinismus.
Es ist wichtig zu betonen, dass die Autoren beider Perioden in Imperien lebten und auf unterschiedliche Weise unter dem Regime der Sowjetunion litten (einige wurden zur Emigration gezwungen, andere wurden inhaftiert und einige bezahlten sofort mit ihrem Leben). Sie waren also Teil beider Perioden, so dass die Besonderheit dieser Periodisierung vor allem darin besteht, auf die je spezifische Möglichkeit hinzuweisen, Nietzsches Philosophie neu zu rezipieren oder mit den Prinzipien seiner Weltanschauung im Allgemeinen zu arbeiten.
(3) Die dritte Periode, die man offensichtlich als „unabhängig” bezeichnen kann – von den frühen 1990er Jahren bis heute – eröffnete wieder die Möglichkeit, Nietzsche kennenzulernen und einige Forschungsprojekte zu seiner Philosophie zu entwickeln. Ich würde hier allerdings nicht von einer allgemeinen kulturellen Beeinflussung sprechen, sondern eher von einer wachsenden Nietzsche-Forschung und -Übersetzung. In den 1990er Jahren erschienen Anatolij Onyschkos Übersetzungen von Also sprach Zarathustra und Petro Taraschchuks von Der Antichrist; Anfang der 2000er Jahre wurden Onyschkos Übersetzungen von Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral veröffentlicht. Ein sehr wichtiges weiteres Nietzsche-Übersetzungsprojekt wurde von Oleh Feschovets und Kateryna Kotiuk in Kooperation mit dem Verlag Astrolabe im Jahr 2004 gestartet. Dessen Bedeutung lag darin, dass die Übersetzung auf der kritischen Ausgabe von Colli und Montinari basierte, die Nietzsche dem ukrainischen Publikum auf eine völlig andere Art und Weise erschloss, einen ‚entnazifizierten‘ Nietzsche. Auf der Website des Verlags Astrolabe ist zu lesen, dass derzeit sieben Bände der Übersetzung fertiggestellt wurden. Leider kommt sie etwas schleppend voran. Es gibt auch andere zeitgenössische Übersetzungen, wie die von Wakhtang Kebuladze übersetzte Morgenröthe, die vor ein paar Jahren veröffentlicht wurde, und einige der Ideen des deutschen Philosophen werden in einem philosophischen Übersetzungslabor unter der Leitung des genannten Autors und Übersetzers diskutiert.
Es ist interessant festzustellen, dass die ersten Studien, die der ukrainischen Rezeption Nietzsches gewidmet sind, gleich mit den Jubiläumsjahren des Philosophen verfasst wurden. Zum Beispiel die eher programmatischen Artikel von Ihor Bytschko (Nietzsche in der Ukraine, zum 150. Jahrestag) und Volodymyr Zhmyr (Auf den Spuren von Nietzsche in der Ukraine, zum 160. Jahrestag). Der kürzlich erschienene Artikel Ukrainischer Nietzscheanismus von Taras Ljutyj unterstreicht die beiden vorangegangenen.
Der diesjährige 180. Geburtstag Nietzsches gibt Gründe zur Hoffnung, dass dieses Ereignis trotz aller Belastungen durch die russische Aggression und den Krieg auch im ukrainischen Raum ansatzweise behandelt wird. Zumindest habe ich dazu ein paar Ideen, die nicht nur eine einmalige, sondern hoffentlich eine dauerhafte Wirkung entfalten werden. – Daher würde ich sagen, dass Nietzsche seine Reise in der Ukraine gerade erst beginnt.
II. Nietzsche und die Entstehung des ukrainischen Nationalbewusstseins
PS: Haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihre ausführliche und sehr gehaltvolle Antwort. Lassen Sie mich zu den einzelnen Perioden jeweils eine Rückfrage stellen. Zur ersten Periode würde ich gerne bemerken, dass ich hier große Parallelen zur Nietzsche-Rezeption im Allgemeinen erblicke. Es gab zahlreiche Feministinnen und emanzipierte Frauen, die Nietzsche ein solches Leitbild einer „starken Frau“, mitunter sogar eines „Überweibs“, entnahmen. Nietzsche wurde nicht zuletzt von Frauen gelesen – und dies in einem ganz anderen Sinne, als es manchen seiner Texte zu entnehmen ist. Er wurde gegen seinen Willen zu einem wichtigen Katalysator des Feminismus und der allgemeinen Frauenemanzipation – es ist hier, denke ich, zwischen der politischen Bewegung und der kulturellen Bewegung zu unterscheiden –, aber auch, wie Sie ja ebenfalls vermerken, generell zum Katalysator politischer und kultureller Radikalisierungsprozesse. Was mich interessiert, ist, ob es schon in dieser Periode das Bewusstsein einer ukrainischen Literatur gab oder ob sich die Autorinnen und Autoren eher als Untertanen des Kaiser- bzw. Zarenreichs verstanden.
VM: Wenn wir über den Zeitrahmen dieser Periode sprechen, nämlich das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert, dann hat sich in dieser Zeit definitiv und eindeutig ein vollwertiges Bewusstsein für die ukrainische Literatur gebildet. Außerdem findet in dieser Zeit bereits das statt, was man bedingt als „die nächste Generation dieses Bewusstseins“ bezeichnen kann, denn schon davor hatte sich das Verständnis einer eigenständigen ukrainischen Nationalliteratur entwickelt. Damit meine ich in erster Linie das Phänomen Taras Schewtschenko (1814-1861). Er lebte und arbeitete Mitte des 19. Jahrhunderts im Russischen Reich und gilt als Begründer und Förderer des ukrainischen Nationalbewusstseins in der Literatur im politischen Sinne. Noch heute gilt Schewtschenkos Werk als geistige Grundlage für die Bildung der modernen ukrainischen Nation und als Quelle des nationalen und politischen Bewusstseins, und der Schriftsteller selbst ist ein Symbol der Ukraine – ähnlich vielleicht wie Shakespeare für England oder Goethe für Deutschland. Aber natürlich können wir auch von Schriftstellern sprechen, die vor ihm oder zur gleichen Zeit gelebt haben und die ebenfalls ihren Beitrag zu diesem Bewusstsein geleistet haben. Iwan Kotljarewskyj (1769-1838) etwa und dann Petro Hulak-Artemovskyj (1790-1865). Ersterer gilt als Klassiker der neuen ukrainischen Literatur, doch sein Beitrag zur Herausbildung der ukrainischen Nationalkultur solcher ist eher ästhetischer und sprachlicher Natur; letzterer wird von der Forschung trotz seiner schriftstellerischen, übersetzerischen und pädagogischen Verdienste einer übermäßigen Loyalität gegenüber der zaristischen Kanzlei bezichtigt. Daher bedeutet die Jahrhundertwende für die ukrainische Literatur bereits eine gewisse Keimung dieses Fundaments. Allerdings standen diese zarten Keimlinge stets unter der heißen Sonne des politischen Drucks des Zarenreichs: offizielle Nichtanerkennung, Opposition oder völliges Verbot der ukrainischen Sprache und jeglicher literarischen Produktion.
Wenn es um Figuren von Taras Schewtschenkos Format in Österreich-Ungarn geht, ist Iwan Franko (1856-1916) der unbestrittene Favorit. Er schöpfte seine Geschichten aus dem Leben und den Kämpfen seines Heimatvolkes, das er in einem unabhängigen Staat vereint sehen wollte. Obwohl die allgemeine Situation der Ukrainer im Kaiserreich viel besser war als im Zarenreich und die ukrainische Sprache zum Beispiel den Status einer „Randsprache“ hatte, stehen die Themen Kampf und Freiheit für sein Volk im Mittelpunkt von Frankos Werk. Sie repräsentieren sehr gut das von Schewtschenko konzipierte und begründete Nationalbewusstsein. Hervorzuheben ist, dass sich das Bewusstsein für die ukrainische Literatur in beiden Teilen der Ukraine vor allem auf den die östliche Mitte des Landes, d. h. auf die Dnipro-Ukraine (Naddniprjanska Ukrajina), konzentriert, die einen etwas tieferen nationalen Einigungsimpuls herausbildete. Dies ist wahrscheinlich auf die dortigen härteren Existenzbedingungen zurückzuführen.
So geht Nietzsches Saat auf dem „Boden“ dieser nationalen Impulse auf. Mit anderen Worten: Die genannten, von seiner Philosophie genährten „Radikalisierungen“ tauchen erstmals in der ästhetischen und kulturellen Kodierung der oben genannten Autoren zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf (und bei Kobyljanska sogar noch früher, ab 1890), und in der politischen Kodierung – etwas später allerdings, an der Wende zu den ersten Jahrzehnten des 20.
III. Zwischen Zensur und Subversion – Nietzsche während der Sowjetzeit
PS: Zur zweiten Periode möchte ich gerne rückfragen, ob Nietzsche nicht vielleicht doch in oppositionellen Zirkeln gelesen wurde und dort als Ideengeber fungierte. In der DDR war es durchaus so, dass Nietzsche trotz der offiziellen Zensur in solchen Kreisen durchaus gelesen und diskutiert wurde und insofern eine unterschwellige, in den 80er Jahren auch (halb)offizielle, Wirkung entfalten konnte. Aber es wäre dort auch nahezu unmöglich gewesen, Nietzsche vollständig zu unterdrücken, schon allein wegen der Nähe zu Westdeutschland und der Prominenz Nietzsches vor 1945.
VM: Auch die Zeit der sowjetischen Besatzung war nicht allzu homogen und immer gleich. Ein Rückblick auf die Geschichte der Zensur in der Sowjetunion wäre ein Beleg dafür. Das Schrecklichste ist jedoch, dass nicht nur Nietzsche oder eine Reihe anderer Autoren verboten wurden, sondern dass die unausweichliche Notwendigkeit, ausschließlich mit dem leninistisch-stalinistischen Marxismus zu arbeiten, festgeschrieben wurde. Die Philosophie wurde zu einer „Dienerin der Ideologie“. Die Herausforderung für die Intellektuellen bestand also darin, den philosophischen Diskurs auf versteckte Weise und in klandestiner Form am Leben zu erhalten. Neben der Entwicklung rein philosophischer und theoretischer Fragen scheint es mir jedoch wichtig zu sein, über einen Faktor bei der Lektüre von Nietzsche zu sprechen, nämlich den Wunsch, die eigene nationale Kultur und Identität weiterzuentwickeln. Dieser Faktor hatte in den verschiedenen Sowjetrepubliken eine unterschiedliche Dynamik. In der Ukraine war er immer sehr wichtig. Daher konnte die Suche nach Quellen der Bestätigung der eigenen kulturellen Identität und damit der Unabhängigkeit keineswegs auf einen so fruchtbaren Boden des Umdenkens wie die Philosophie Nietzsches verzichten. Und es ist offensichtlich, dass es sich dabei um eine Angelegenheit des Untergrunds handelte. Hier möchte ich einen interessanten Punkt aus dem oben erwähnten Artikel von Volodymyr Zhmyr, Auf den Spuren von Nietzsche in der Ukraine, erwähnen. Darin erzählt er, wie er einmal, im Jahr 1964, die Wohnung seines Nachbarn besuchte und auf dem Tisch ein aufgeschlagenes Buch im Format 1:32 sah. Es handelte sich um eine Ausgabe von Also sprach Zarathustra aus dem Jahr 1903, übersetzt von einer Autorin namens A. V. Perelhina (ihren Vornamen konnte ich leider nicht herausfinden). Er hatte diese Übersetzung gegen ein anderes Buch eingetauscht, und erst dann konnte er sich mit diesem Text vertraut machen. Ich erzähle diese Geschichte, um zu zeigen, wie es durch reinen Zufall dazu kommen konnte, dass Nietzsche zum Lesen zur Verfügung stand. Mit anderen Worten, dieses Werk lag seit den Tagen des vorigen Reiches, der Periode, die wir „imperial“ nennen, in den Regalen der Privatbibliotheken herum, ohne den Säuberungen der bolschewistischen Behörden zum Opfer zu fallen. Nur auf diese Weise konnte ein „akademischer Philosoph“ zufällig sein Werk lesen. Es gab kein so nahes „Westdeutschland“, aus dem einige Werke hätten kommen können und schließlich war die Gesamtzahl der Veröffentlichungen und der tatsächliche Einfluss Nietzsches im Vorkriegsdeutschland viel höher, was nicht so leicht und schnell zu beseitigen war. In der UdSSR war es die Ideologie, die die Regale vieler Privatbibliotheken von solchen Büchern säuberte, während in Universitäts- oder Staatsbibliotheken spezielle Dienste dies taten.
Die Inspirationen des Untergrunds, von denen ich sprach, wären ein gutes Thema für künftige Forschungen, die aber im Moment nicht sehr gut entwickelt sind. An dieser Stelle sei jedoch das Beispiel einer Gruppe ukrainischer Intellektueller erwähnt, die sich für den Schutz der nationalen Sprache, der Kultur und der Freiheit des künstlerischen Schaffens einsetzten und durchaus nach Impulsen für ihren eigenen Fortschritt suchte – die Sechziger (Schistdesjatnyky). Nehmen wir zur Veranschaulichung einen der Dissidenten und Vertreter dieser Bewegung, der von den sowjetischen Behörden zu Tode gefoltert wurde, Wassyl Stus (1938-1985). Einer seiner Kommilitonen am Institut bezeugte, dass er sich schon immer sehr für Philosophie interessiert und neben anderen Denkern auch Nietzsche sehr intensiv gelesen habe. Da er sehr gut Deutsch sprach, ist es möglich, dass er Nietzsches deutschsprachige Werke gelesen hat, die ihm noch aus früheren Zeiten bekannt gewesen sein könnten. Wir wissen auch von seinem Tagebuch, in dem er Zitate von Philosophen, insbesondere auch Nietzsche, niederschrieb und kommentierte. Die tatsächlichen ideellen Einflüsse sind hier noch zu untersuchen, aber die Tatsache, dass der deutsche Philosoph in diesen Kreisen gut bekannt und intensiv besprochen worden war, lässt sich nicht leugnen.
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Geschichte meines Mentors, einem bekannten Übersetzer und Spezialisten für kantische Philosophie, Vitalii Terlezkyj. Er erzählte uns Studenten, wie er an der Wende von den 80er zu den 90er Jahren an der Philosophischen Fakultät in Kyjiw studierte. Eine außergewöhnliche Ironie des Schicksals bestand darin, dass man damals, um Nietzsche zu lesen, den wichtigsten religiösen und kulturellen Ort der Ukraine aufsuchen musste, die Lawra (das Kyjiwer Höhlenkloster oder Heiliges Mariä-Himmelfahrt-Kloster). Auch dieser Frage muss nachgegangen werden: Wie und wann kamen diese Bücher in die Kirchenbibliothek? Aber jedenfalls ist es überhaupt bemerkenswert, dass ausgerechnet diese kirchliche Bibliothek Nietzsche „beschützte“ und seine Werke zum Lesen bereitstellte.
IV. Nietzsche und die ukrainische Zukunft und Gegenwart
PS: Was die dritte Periode angeht, muss vielleicht für unsere deutschsprachigen Leser betont werden, dass es sich hier um Übersetzungen in die ukrainische Sprache handelt. Russische Übersetzungen gibt es ja, nehme ich an, doch diese Übersetzungen sind Teil der Bemühungen, die während der Sowjetzeit, und wohl auch zuvor, unterdrückte ukrainische Sprache – die durchaus kein Dialekt des Russischen ist, sondern vielleicht eher mit dem Niederländischen vergleichbar, das man kaum als Dialektik des Deutschen betrachten würde – als Bildungssprache zu etablieren. Generell ist es ja ein Problem, dass man im Westen die Ukraine lange Zeit quasi als eine Art ‚Kleinrussland‘, so wie Putin, betrachtete. Erst kürzlich sprach der deutsche Philosoph Christoph Menke in abfälliger Manier von einer eigenständigen ukrainischen Nation als propagandistischer „Erfindung“.3 Dabei ist doch klar, dass der Kampf um eine eigenständige kulturelle Identität als Bedingung der Schaffung eines demokratischen, selbstbestimmten Gemeinwesens stets Momente der Rekonstruktion und Konstruktion beinhaltet, erst recht bei Nationen, denen eine unabhängige kulturelle Entwicklung über Jahrhunderte verwehrt wurde. Man denke nur an Irlands Wiederbelebung der keltischen Sprache oder die entsprechenden Bemühungen Israels – für die Nietzsche im Übrigen ebenfalls ein wichtiger Stichwortgeber gewesen ist, ging es den Zionisten doch um das heroische Projekt der Konstruktion eines „neuen Juden“, der den Antisemitismus nicht länger erduldet, sondern offensiv bekämpft, und aufhört, so devot wie die ‚alten Juden‘ zu sein oder das eigene Judentum zu verneinen wie die Assimilierten. Soweit ich weiß, gibt es auch bei Nietzsche keine einzige Bemerkung über die ukrainischen Länder, auch wenn er sich sehr für Osteuropa interessierte, speziell für Russland und Polen, mit dem er sich sogar identifizierte (vgl. meinen Artikel zu dieser Thematik auf diesem Blog). Wir müssen diesbezüglich unsere vielleicht ihrerseits imperiale, neoimperiale, Arroganz und Ignoranz endlich aufgeben und die Unabhängigkeit der ukrainischen Kultur akzeptieren.
VM: Lieber Paul Stephan, Sie haben mit dieser Frage oder Bemerkung viele Themen angesprochen. Ich werde daher nur ganz kurz auf jedes einzelne eingehen. Zunächst zum Thema der Übersetzungen. Ja, natürlich haben wir über Nietzsches Übersetzungen ins Ukrainische gesprochen, denn warum sollte ich über andere Übersetzungen, z. B. ins Russische sprechen? Es gab auch Übersetzungen in andere Sprachen, etwa ins Polnische. Allerdings sind viele russische Übersetzungen philosophischer Literatur, wie Sie richtig bemerkten, das Ergebnis der sowjetischen Politik gegenüber Sprachen im Allgemeinen und ihren Möglichkeiten in der Wissenschaft (Philosophie, Literatur) im Besonderen. Aber in den 1990er Jahren wurden auch modernere Übersetzungen, insbesondere von Nietzsche, in Russland angefertigt.
Ich möchte an dieser Stelle deutlich festhalten, dass alle (vor allem auch deutschsprachige Leser und Forscher), die es gewohnt sind, über die ukrainische Kultur oder Sprache ausschließlich im Rahmen der russischen Kultur oder Sprache zu sprechen, ihre Ansätze überdenken sollten, denn sie sind veraltet und haben für mich persönlich den Beigeschmack des Imperialismus. Sie haben das sehr treffend gesagt. Und auch die ersten Übersetzungen von Nietzsche, die in der vorsowjetischen Zeit, an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, entstanden sind, zeugen von dem Versuch, eine eigene Kultur, vor allem eine sprachliche, zu etablieren und zu entwickeln: Sowohl russische als auch ukrainische Übersetzungen erschienen etwa zur gleichen Zeit. Allerdings unter sehr unterschiedlichen Bedingungen. Es liegt auf der Hand, dass nur die russischen Übersetzungen von offizieller Seite unterstützt werden konnten, während die ukrainischen in den Gefängnissen inoffiziell in Form von Notizen auf Papierschnipseln angefertigt wurden. Ich beziehe mich hier auf den bereits erwähnten ukrainischen Schriftsteller Wolodymyr Wynnytschenko. Er fertigte eine der ersten ukrainischen Übersetzungen von Also sprach Zarathustra irgendwann in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts an, als er in einem zaristischen Gefängnis saß, als Ukrainisch noch nicht einmal als Sprache anerkannt und in jeder Hinsicht verboten war. Dieses Notizbuch befindet sich heute im Staatsarchiv von Kyjiw. Wie wir sehen, wurde die Übersetzung von Nietzsche für die Ukrainer von den offiziellen Stellen der verschiedenen Epochen, die sich in Moskau befanden, kaum begrüßt. Und die Aufarbeitung solcher Momente des Kampfes und der Widerstandsversuche sollte vielen westlichen Intellektuellen die Augen dafür öffnen, dass die ukrainische Kultur und Sprache durchaus eigenständig sind.
Was heißt „Kleinrussland“ überhaupt? Serhiy Plokhiy zeigte in seiner populären Studie The Gates of Europe, dass die „Kleine Rus“ den ursprünglichen Kern der Rus bezeichnete. „Klein“ meinte nur, dass es dort eine geringere Anzahl von Diözesen gab. Die „Große Rus“ entstand erst später. Die ukrainischen Länder waren also niemals ein „Ableger“ von Russland, wie es der Begriff suggeriert – es ist geradezu andersherum. Zumindest bezeichnet der Begriff ursprünglich keine Minderheit und erst recht Unterlegenheit, wie ihn Putin heute verstehen möchte. Diese Intellektuellen sollten sich mit dieser Geschichte ernsthaft auseinandersetzen, ehe sie von der ukrainischen Nation als „Erfindung“ sprechen. Eine propagandistische „Erfindung“ ist im Gegenteil das Narrativ von Russland als legitimem „Urrussland“ mit der Ukraine als „minderwertigem Ableger“. Und es ist diese Erfindung, die eingesetzt wird, um den Ukrainern jede Möglichkeit einer demokratischen Selbstbestimmung zu nehmen – so, wie es die Russen seit Jahrhunderten versuchen, obwohl große Teile der ukrainischen Länder, wie beschrieben, lange Zeit noch nicht einmal Teil des russischen Reiches waren und sich kulturell unabhängig von ihm entwickelten.
Und schließlich bin ich mir nicht sicher, ob wir historische oder kulturelle Analogien als Vorlage für eine Erklärung nehmen können. Jede Nation hat ihre eigene Geschichte, die erst einmal geschrieben werden muss, und dann können Parallelen zu anderen Geschichten von Kulturen und Sprachen gezogen werden. Für einen Europäer, wenn auch für nicht alle Intellektuellen, ist die ukrainische Geschichte immer noch unbekannt, und das untermauert dann oft leider ihre russische Interpretation. Wenn dies jedoch ein gutes Werkzeug für solche und ähnliche Intellektuelle ist, um dieses Problem zu verstehen, dann danke ich Ihnen, lieber Paul Stephan, für das Aufzeigen solcher Parallelen.
PS: Sie selbst sind ja nicht nur Beobachter, sondern auch Teilnehmer dieser, wenn man so will, ‚dritten Welle‘ der ukrainischen Nietzsche-Rezeption und wollen, wie Sie mir im Vorfeld verrieten, das erwähnte Jubiläum nutzen, um, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes, eine ukrainische Nietzsche-Gesellschaft zu begründen. Was mich in dieser Hinsicht interessieren würde, wäre, was Sie selbst als ukrainischer Nietzsche-Rezipient seinen Werken entnehmen können bzw. worin Ihres Erachtens allgemein die Bedeutung Nietzsches für die Ukraine in Ihrer gegenwärtigen Situation liegen könnte?
VM: Ja, es gibt einen solchen Gedanken und sogar einen Plan, eine solche nach Nietzsche benannte Gemeinschaft zu gründen. Ich befinde mich derzeit in der Vorbereitungsphase. Ich versuche, die mögliche Reaktion der intellektuellen Schicht der Ukraine auf eine solche Initiative zu verstehen und das mögliche Potenzial dieser Initiative zu erfassen. Wir werden sehen, was passiert, denn unter den derzeitigen Bedingungen ist das keine leichte Aufgabe.
Wissen Sie, zu verschiedenen Zeiten mochte ich verschiedene Themen oder Konzepte und Nietzsches Beschreibung derselben. Das hat sich allmählich verändert. Das einzige, was unverändert bleibt, ist mein Interesse an Nietzsches Methodik. Zumindest nenne ich sie so. Es ist eine Art und Weise, verschiedene Phänomene als eine Notwendigkeit zu analysieren, um dort etwas anderes zu sehen, das Prozesse der Degeneration oder einige Negationen zum Vorschein bringen kann, die oft vergessen oder verdrängt werden. Es geht also um ein ständig unvollendetes Denkprojekt, das von der Unzufriedenheit mit der herrschenden Verstocktheit angetrieben wird. Dieser Ansatz wird auch Nietzsche’scher „Perspektivismus“ genannt. Diese Meinung vertrete ich schon seit langem, und wir haben sie in unseren Gesprächen während unseres gemeinsamen Aufenthalt in Weimar im Jahr 2017 und danach diskutiert, wofür ich Ihnen sehr dankbar bin, und sie wird auch in unserem Artikel über Nietzsche und die ukrainische Revolution der Selbstüberwindung (Link) ansatzweise behandelt.
Auf dieser Grundlage lässt sich sagen, dass die ersten Kämpfe zur Überwindung der eigenen Sklaverei (im geistigen Sinne, die fast immer von Moskau als Unterlegenheit aufgezwungen wurde) in Form von Revolutionen stattfanden, und nun ist ein entscheidender Kampf im Gange, bei dem alles auf dem Spiel steht. Aber die Überwindung dieser Etappe wird nicht die letzte sein, denn dann müssen wir uns wieder selbst überwinden, eine neue Perspektive (im nietzscheanischen Sinne) schaffen. Und das wird eine weitere große Herausforderung sein, denn jetzt ist der ukrainische Geist in dem „Kriegsmodus“ gehüllt, ein Zustand, in dem man leicht die objektiven Parameter des Denkens verliert. Sie können durch einen ausgeprägten Patriotismus und den starken Wunsch, Gerechtigkeit herzustellen, außer Kraft gesetzt werden. Und das ist nicht schlecht, sondern normal. Denn in dem Krieg mit dem Bösen, im Kampf um die eigene Identität, muss man alle notwendigen Mittel mobilisieren, um die Quellen der eigenen Identität zu stärken. Doch sobald dieser Kampf gewonnen ist, gilt es, wieder in einen anderen, offeneren Modus überzugehen, um nicht in die Fänge des „Ressentiments“ und des „Geistes der Rache“ zu geraten, von denen Nietzsche so beredet spricht. Dies ist eine sehr ernste Herausforderung in der Nachkriegszeit! Und hier kann die Nietzsche’sche Perspektive sehr nützlich sein.
Für die heutige Ukraine ist es jedoch zunächst wichtig, eine Welle von Nietzsche-Studien im Allgemeinen in Gang zu setzen, und zwar nicht nur mit populären Thesen, die auf scharfe Aussagen über die Neubewertung des Alten abzielen, sondern um diese Methodik des tiefen und außergewöhnlichen Denkens zu begreifen. Das heißt: Nietzsche als kein doktrinärer Philosoph, sondern als ein Methodiker. Es sind ganz andere Versionen seiner Philosophie wichtig als die, die wir bereits kennen. In diesem Sinne arbeite ich derzeit an einem kleinen Projekt, um seine Philosophie in der Ukraine, insbesondere für die philosophische Gemeinschaft, anders bekannt zu machen. Es wird eine Reihe von Artikeln über Nietzsche sein, die von europäischen Forschern zu seinem 180. Geburtstag veröffentlicht werden. Diese Perspektive ist sehr wichtig, denn ich bin fast sicher, dass nur wenige Universitäten – vielleicht keine – Zugang zu zumindest einigen Nietzsche-Studien anderer Art haben.
Was ich damit meine, ist, dass Nietzsche zu einer kritischen, tiefgreifenden Analyse anregen und gleichzeitig die Kreativität fördern sollte. Mir scheint, dass seine Philosophie ein großes Potenzial auch heutzutage hat, sehr ungewöhnliche Kombinationen anzuregen. Ich würde sogar sagen: das Potenzial zur Provokation, natürlich vor allem intellektuell. Übrigens gibt es dafür sogar einen künstlerischen Beweis, das Gemälde Nietzsche im Eis oder die Geburt der Musik aus dem Geist der Tragödie von Oleksandr Rojtburd, einem ukrainischen Künstler, aus dem Jahr 2017.4 Dies ist eine ästhetische Vision seiner Philosophie, die offensichtlich nicht ohne ein provokatives Element ist. Dieses künstlerische Rätsel ist jedoch noch zu lösen und zu interpretieren.
PS: Lieber Vitalii Mudrakov, ich danke Ihnen für diesen äußerst bereichernden Einblick in die ukrainische Nietzsche-Rezeption und wünsche Ihrem Land und Ihrer Familie von Herzen alles Gute für die Zukunft!
VM: Ich bedanke mich für Ihre interessanten Frage und Ihre freundliche Einstellung.
Vitalii Mudrakov ist Philosoph, der in der Ukraine geboren wurde. Er hat Musik, Ethik und Ästhetik an der Geisteswissenschaftlichen Hochschule (Chmelnytzkyj, Ukraine) studiert und dann Philosophie und Religionswissenschaft an der Jurij-Fedkowytsch-Universität in Czernowitz (Ukraine). Seit 2022 lebt er fest in Deutschland und war Stipendiat am Kolleg Friedrich Nietzsche (Klassik Stiftung Weimar) und am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ (Universität Münster). Seit Kurzem ist er Stipendiat am „Center for Religious Studies“ (CERES) der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitet gerade an einem Konzept der „identity security“ (Identitätssicherheit). Im Fokus seiner jetzigen Forschungen stehen darüber hinaus Nietzsches Metapher als methodologisches Konzept der Erkenntnistheorie und axiologischen Transformation sowie die ukrainische Rezeption Nietzsches.
Quellenangabe zum Artikelbild
Oleksandr Rojtburd: Nietzsche in Ice, or the Birth of Music From the Spirit of Tragedy (2017). Online: https://www.wikiart.org/en/alexander-roitburd/nietzsche-in-ice-or-the-birth-of-music-from-the-spirit-of-tragedy-2017
Fußnoten
1: Zu nennen sind hier etwa der Historiker Mychajlo Hruschewskyj, der Literaturkritiker Serhij Yefremow, der Sprach- und Kulturkritiker Ahatanhel Krymskyj und die Schriftstellerin Lessja Ukrajinka.
2: Obwohl ich weiß und versuchen werde, es in einem kommenden Aufsatz zu beweisen, dass dieses Verbot nur offiziell war. Hinter den Kulissen waren nietzscheanische Ideen bei den bolschewistischen Ideologen und Inspiratoren durchaus vorhanden.
3: „Eine andere undemokratische Entität in diesem Krieg ist die ‚Nation‘, deren tiefe und lange Geschichte von einigen ukrainischen Intellektuellen entdeckt (bis vor kurzem hätte man gesagt: erfunden) und besungen wird.“ (Lieber Etienne, lieber Christoph … Online: https://www.philomag.de/artikel/lieber-etienne-austausch.)
4: Anm. d. Red.: Es handelt sich um das Artikelbild.
Sinnieren im Südwind
Zu Gast in Nietzsches Sommerhaus im Engadin
Sinnieren im Südwind
Zu Gast in Nietzsches Sommerhaus im Engadin
In knapp 2.500 m Höhe entspringt in der Südostschweiz, im Kanton Graubünden, der Fluss Inn. Über eine Strecke von 80 km fließt er zunächst durch ein Hochgebirgstal, das man das Engadin nennt. Er durchzieht hier, unweit des mondänen Kurorts St. Moritz, zwei kleine Seen, den Silsersee und den Silvaplanersee, zwischen denen das idyllische Bergdorf Sils Maria liegt. Der Philosoph Friedrich Nietzsche verbrachte in dieser erlesenen Landschaft mehrere Sommer und ließ sich von ihr zu einigen seiner wichtigsten Werke inspirieren. Christian Saehrendt begab sich an diesem vielleicht wichtigsten „Pilgerort“ der Nietzsche-Szene auf Spurensuche.
Besucher aus dem Norden spüren hier sofort, dass sie einen magischen Ort erreicht haben: Der Blick schweift über den Silsersee Richtung Italien, das südliche Licht schmeichelt den Augen, das Gesicht umspielt der warme Malojawind, ein thermischer Luftstrom, der in manchen Wetterlagen ganztägig in Windstärke 4 bis 5 weht. An der Spitze der Halbinsel Chastè, die weit in den Silsersee hineinragt, ist er besonders zu spüren, wenn er rauschend die Kiefern zerzaust.
Chastè gehörte zu den Lieblingsorten Friedrich Nietzsches, der im nahegelegenen Dorf Sils Maria sieben Sommer verbrachte. Im Hause der Familie Durisch bewohnte er in den 1880er Jahren mehrfach für einige Wochen ein einfaches Gästezimmer. Im trockenen und sonnenreichen Klima des Oberengadin erhoffte der von häufigen Migränebeschwerden gequälte Philosoph günstige Bedingungen für seine Gesundheit und Arbeitsfähigkeit vorzufinden. Wichtige Werke wurden in Sils konzipiert und z. T. niedergeschrieben: Die fröhliche Wissenschaft, Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral, Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung u. a. Vor allem in seinem dichterischem Hauptwerk Also sprach Zarathustra ist Nietzsches Interpretation der Engadiner Landschaft als „heroisch“ und „belebend“ spürbar.
Er erlegte sich während seiner Aufenthalte in Sils einen strikten Tagesplan mit festen Arbeits-, und Essenszeiten und mehreren Stunden Bewegung auf. Das breite, flache Tal erlaubte ausgedehnte Spaziergänge in der Umgebung, bei denen man sich nicht allzu sehr verausgabte und jederzeit die Gelegenheit bestand, die mitgeführten Notizbücher mit Gedankenblitzen zu füllen. Schon der erste Aufenthalt in Sils soll ihm an einem markanten, pyramidenförmigen Stein am Ufer des Silvaplanersees einen Schlüsselgedanken beschert haben, der seinem weiteren Philosophieren eine Richtung gab: jenen „Gedanken der ewigen Wiederkunft“, der in Also sprach Zarathustra eine wichtige Rolle spielen sollte. Auf aktuellen Wanderkarten und bei Googlemaps ist der Pyramidenstein markiert, so dass auch heute jeder die Aura dieses Felsblocks bei einem Spaziergang überprüfen kann.
Das 200-jährige Haus im historischen Ortskern von Sils Maria, in dem Nietzsche als regelmäßiger Sommergast wohnte, wurde 1959 von der eigens dafür gegründeten „Stiftung Nietzsche-Haus in Sils Maria“ erworben, renoviert und mit Exponaten ausgestattet. Am 25. August 1960, an Nietzsches sechzigstem Todestag, eröffnete die Stiftung im Haus ein Museum. Das Konzept der Stiftung, die bis heute Trägerin des Hauses ist, ruht auf zwei Säulen: Zum einen informiert eine Ausstellung über Leben und Werk des Philosophen, zum anderen ist das Haus als lebendige Wohn-, Arbeits- und Forschungsstätte gedacht. Das Münchner Nietzsche Forum schreibt jährlich ein „Werner-Ross-Stipendium“ aus. Dieses richtet sich an junge Akademikerinnen und Akademiker, an Schriftsteller und Autorinnen, die an Texten und Projekten im erweiterten Themenkreis von Nietzsche arbeiten. Das Stipendium bietet einen kostenlosen vierwöchigen Aufenthalt im Monat September im Nietzsche-Haus mit abschließender Teilnahme am Nietzsche-Kolloquium, das jährlich im benachbarten Luxushotel Waldhaus stattfindet.1 Die bislang 14 Stipendiaten und Stipendiatinnen kamen aus Deutschland, Kanada, Frankreich, Italien, Finnland und China. Daran sieht man: Das internationale wissenschaftliche Interesse an Nietzsche hat sich also stabilisiert und die wissenschaftliche Nietzsche-Community verjüngt sich permanent. Doch nicht nur Stipendiaten können ein Zimmer im Haus bewohnen, um dort in inspirierender Umgebung zu schreiben. Auch andere Gäste, also „Zivilisten“, haben die Möglichkeit, einen Raum im Haus zu mieten. Diese Mischung der Nutzer dient dem Ziel, Dialog und Vernetzung unter Forschenden, Nietzsche-Lesern und Touristen zu fördern. Ausserdem führt die Stiftung seit Mitte der 1980er Jahre Ausstellungen zeitgenössischer Kunst mit Nietzsche-Bezug im Haus durch, schließlich hatte Nietzsche wie wohl bisher kein zweiter Denker gerade die Künstler immer wieder stark inspiriert und zu produktiver Auseinandersetzung mit seinen Ideen und seiner Person angeregt. Nach Gastspielen u. a. von Gerhard Richter und Helmut Federle war auch der Bündner Künstler Not Vital zu Gast: Ein monumentaler weisser Gips-Schnauzbart war sein Hauptexponat, das er auf dem Bett Nietzsches deponierte.
Seit 2021 zeigt das Nietzsche-Haus eine erneuerte Präsentation von Leben und Werk Nietzsches, die von Matthias Buschle und Wolfram Groddeck kuratiert wurde. Neben biografisch-chronologischen Fakten werden wichtige Begriffe aus der Gedankenwelt Nietzsches einem Publikum erläutert, das nicht nur aus Nietzsche-Kennern, sondern auch aus Neugierigen und touristischen Zufallsbesuchern besteht. Im Laufe der Jahrzehnte nach der Eröffnung ist dieses Publikum spürbar internationaler geworden. Zudem entdeckten in den Corona-Jahren vermehrt Schweizer, darunter viele französischsprachige Westschweizer, das Haus. Deshalb war eine mehrsprachige Konzeption des Gedenkortes notwendig geworden, die die digitale Dimension einschliesst und dem Bedürfnis des zeitgenössischen Publikums nach leicht zu verarbeitenden und wohlportionierten Informationen entgegenkommt.
Die Ausstellungsräume wurden 2021 in einem einheitlichen Design gestaltet, auf der Hintergrundfarbe der originalen Zarathustra-Bücher, d. h. in einem dezenten Türkis. Die Abfolge der Vitrinen folgt chronologisch dem Leben Nietzsches. Raritäten wie diverse Erstdrucke und eine kleine, regelmässig wechselnde Selektion wertvoller Originalmanuskripte der bedeutenden Sammlung Rosenthal-Levy sind zu besichtigen. Die einzelnen Exponate sind – heutigen Lesegewohnheiten eines überwiegend touristischen Publikums geschuldet – eher knapp beschriftet, die viersprachigen Erläuterungen können in einem Textheft oder auf einer mobilen Website gelesen werden. In den Vitrinen integrierte Tafeln informieren über Grundbegriffe und wichtige Stichworte in Nietzsches Denken.
Die Möglichkeit zur Übernachtung in den einfachen Doppelzimmern mit historischem Flair (Minimum drei Nächte, Maximum drei Wochen, für Gruppen eine Woche) besteht während der beiden saisonalen Öffnungszeiten von Mitte Juni bis Mitte Oktober und von Mitte Dezember bis Mitte April. Leider ausgenommen davon ist das Zimmer, welches Nietzsche selbst bewohnt hat, es ist Teil der musealen Präsentation. Im Haus befindet sich auch eine Präsenzbibliothek zur Nietzsche-Forschung, die ca. 4.500 Titel umfasst. Den Hausgästen steht zudem eine zu regen Gesprächen am Kaminfeuer einladende Küche zur Verfügung.2
In weniger als einer halben Stunde erreicht man vom Nietzsche-Haus aus die Halbinsel Chastè, die früher wie heute gerne von Nietzscheanern aus aller Welt aufgesucht wird. Manche erwarten dort die Begegnung mit dem wiederkehrenden Geist des Philosophen. So z. B der renommierte belgische Architekt und Designer Henry van de Velde. Er berichtete von einer Vision, die ihn am 25. August 1918, dem 18. Todestages Nietzsches, beim Besuch der Halbinsel Chastè überkam: „Dort empfand ich einen Schauer als ob ich plötzlich vor einem Tempel, einem Mausoleum stehen würde, wo ich mit Nietzsche selbst in Berührung kommen werde.“3 Die Aura des Ortes ist ungebrochen: Wer sich heute auf der felsigen Halbinsel aufhält, wird immer wieder auf Zeitgenossen und Zeitgenossinnen treffen, die lesend oder sinnierend auf Ruhebänken und im Grünen verweilen und sich ebenfalls für eine Erscheinung von Nietzsches Geist bereithalten.
Informationen zum Artikelbild
Blick auf Chastè, Foto von Christian Saehrendt, 2024
Fußnoten
1: Vgl. auch https://www.nietzsche-forum-muenchen.de/.
2: Vgl. https://nietzschehaus.ch/das-nietzsche-haus-i/wohnen/.
3: Brief Henry van de Veldes an Elisabeth Förster-Nietzsche, 25. August 1918, Nationale Forschungs- und Gedenkstätte der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Goethe und Schiller Archiv, Bestand E. Förster-Nietzsche = Signatur 72.
Boomer, Zoomer, Millennials
Wie unterscheiden sich die jeweiligen Perspektiven auf Nietzsche?
Boomer, Zoomer, Millennials
Wie unterscheiden sich die jeweiligen Perspektiven auf Nietzsche?
Diesmal im vertraulichen Du unterhielt sich Paul Stephan mit Hans-Martin Schönherr-Mann, unserem ältesten Stammautoren, und unserer jüngsten Stammautorin, Estella Walter, über unsere unterschiedlichen Generationserfahrungen und darüber, was von dem modischen Diskurs über die unterschiedlichen „Generationen“ überhaupt zu halten ist. Wir sprachen über den Poststrukturalismus, die ökologische Frage und die Vielfältigkeit möglicher Anschlüsse an Nietzsche.
Paul Stephan: Liebe Estella, lieber Hans-Martin, wir haben uns heute im virtuellen Raum getroffen, um über die „Generationenfrage“ zu sprechen. Ein „Millennial“, ich selbst, eine „Zoomerin“ und ein „Boomer“. Der Diskurs um diese verschiedenen „Generationen“ ist ja im Augenblick en vogue, in den sozialen Medien kommt man an entsprechenden Memes und Videos ja kaum vorbei, auch das Feuilleton ist voll davon. „Zoomerin“, „Boomer“ –würdet ihr euch selbst so bezeichnen?
Hans-Martin Schönherr-Mann: Wahrscheinlich bin ich, etwas zu alt für die Baby-Boomer, eher gehöre ich zu den Prä-Baby-Boomern. Ich bin andererseits auch zu jung für die richtigen Achtundsechziger – 1968 wurde ich 16 –, eher ein Post-Achtundsechziger, der von der Erfahrung der 68er-Zeit aber politisiert und intellektualisiert wurde. Die Generation meiner jungen Lehrer, etwa eine Dekade älter als ich, war teilweise von Nietzsche und Hesse beeinflusst. Ob die noch zur „unpolitischen Generation“ der frühen Bundesrepublik gehörten, ist mir nicht klar. Aber mit Nietzsche und Hesse entwickelten sie ein individuelles Verständnis ihrer Lage, so dass sie sich nicht mehr als Teil einer Gemeinschaft verstanden, wie es dagegen seit dem 19. Jahrhundert selbstverständlich gewesen war.
Estella Walter: Lieber Paul, lieber Hans-Martin, ich selbst stehe etwas ratlos vor der Generationenfrage, vielleicht weil meine Altersgruppe gerade mittendrin steckt und eine Reflexion entsprechend schwierig ist. Das (vermehrte) Interesse an Generationen als diagnostisches Werkzeug ist aber auf jeden Fall sehr spannend. Entsprechend verstehe ich mich auch nicht als zugehörig zu der meiner Altersgruppe zugeordneten Generation. Vielmehr sehe ich es als eine mitunter recht sperrige Schablone, die in manchen Analysen Sinn ergibt und in anderen nicht. In jedem Fall scheint mir Nietzsche selbst eher wenig die Gen Z zu beeinflussen als vielmehr Denker*innen, die sich auf ihn beziehen wie etwa Michel Foucault und Judith Butler oder auch öffentliche Personen wie Jordan Peterson.
PS: Ich selbst denke, dass es so etwas wie „Generationserfahrungen“ und sich daraus ergebende gemeinsame Merkmale von bestimmten Alterskohorten auf jeden Fall gibt. In manchen Stereotypen über die „Millennials“ kann ich mich wiederfinden, in anderen weniger. Aber natürlich müsste man, wissenschaftlich gesehen, ergänzen, dass andere prägende Faktoren wie soziale und lokale Herkunft, Geschlecht, Ethnizität etc. ebenso eine Rolle spielen. Und ich glaube ja auch daran, dass die Individuen nie vollständig von diesen zahlreichen Faktoren determiniert werden, sondern ihre Identität auch immer das Produkt einer individuellen Wahl ist – erst recht, wenn man um diesen Generationsdiskurs weiß und sich von den jeweiligen Stereotypen bewusst distanzieren kann; oder eben auch nicht.
SM: Dem kann ich nur zustimmen. Aber wir stellen uns ja hier der Generationenfrage. Andere Faktoren sind dann wichtig, wenn sie diese Frage tangieren. Meine Generation, soweit sie politisch war, stand Nietzsche aus marxistischer Perspektive eher ablehnend gegenüber. Anfang der siebziger Jahre war die Neuedition von Giorgio Colli und Mazzino Montinari auch noch nicht so verbreitet und bekannt – in Nicht-Nietzscheaner-Kreisen –; der erste Band auf Deutsch erscheint 1967, die Kritische Studienausgabe vollständig erst 1980. Aber es gab auch in meiner Generation eher künstlerisch orientierte Zeitgenossinnen, die sich auch auf Nietzsche beriefen. Ich kann freilich nicht mehr sagen, inwieweit dabei die diversen neuen Auslegungsfragen schon eingingen. Wahrscheinlich waren sie eher von den älteren Hesse-Fans dazu inspiriert worden.
Jene, die künstlerisch orientiert waren, haben wahrscheinlich sein Kunstverständnis des Dionysischen reflektiert. Vor allem hat sich ja durch die Rockmusik ein solches Element massiv verbreitet, verbunden natürlich auch mit Drogenerfahrungen, die jedenfalls teilweise auf eine Bewusstseinserweiterung oder zumindest neue Erfahrungen zielten, die man dann auch mit dem Zarathustra in Verbindung bringen kann: neue Werte erfinden. Die Politischen in meiner Generation waren sicher von Marx und Adorno beeinflusst und folgten noch der dort verbreiteten Ablehnung Nietzsches beruhend auf jener Auslegung, die Nietzsches Schwester befördert hatte. Wenn man sich vom französischen Existentialismus beeinflussen ließ, dann kam man Nietzsche wieder näher. Aber die Nähe zwischen beiden war nicht allzu bekannt.
PS: Was Nietzsche angeht, würde ich auch sagen, dass für meine Generation andere Denker weitaus wichtiger sind. Foucault und Butler auch, aber viele lasen auch Adorno und Marx sowieso in ihren prägenden Jahren. Besser als „Millennial“ gefällt mir das Attribut „Generation Bildungsstreik“, auch wenn es natürlich nicht meine gesamte Alterskohorte bezeichnet. Aber ich denke, alle, die um 2010 herum studiert haben und halbwegs politisch interessiert waren, wurden irgendwie von der großen Bildungsstreikbewegung geprägt. Zu Nietzsche kamen wir erst über Umwege und immer aus einer politischen Perspektive heraus, auch wenn seine Gedanken zum Bildungssystem teilweise mit unseren Forderungen nach einer echten Bildung statt bloßer Ausbildung korrespondierten. Teilweise diente Nietzsche aber auch als Sprungbrett, um ein wenig aus der starken Politisierung des Diskurses auszubrechen und die Dinge aus einer eher existenzialistischen, individuellen und künstlerischen Perspektive heraus zu bedenken.
EW: Einen gemeinsamen Nenner zu finden, wer unter den Studierenden (außerhalb der Uni stoße ich eher selten auf jemanden, der Bezugspunkte zu Nietzsche hat) sich für Nietzsche interessiert, ist nicht so leicht. Ich denke, ähnlich wie bei dir, Paul, stößt man eher durch Umwege oder Zufälle auf seine Werke. Natürlich gibt es die (links-)politisch Orientierten, die vom Poststrukturalismus her kommen, dann gibt es aber auch die Lehnstuhl-Philosophiestudierenden, die sich strikt fachlich für ihn interessieren und solche, meistens aus der analytischen Philosophie, die Nietzsche wenn überhaupt als literarischen Zeitvertreib, nicht als Gegenstand der philosophischen Auseinandersetzung betrachten. Selbstverständlich finden sich hier und da auch jene, die Nietzsche zum Selbsthilfe-Guru verkommen lassen. Das mag unter anderem daran liegen, dass Nietzsche eine derart breite Projektionsfläche bietet, vor allem rhetorisch ist für jeden ein passender Slogan dabei. Seine Ambiguität macht ihn ja gerade so interessant.
Für die die Gen Z betreffenden Geschehnisse, die Zeuge unserer widersprüchlichen Zeiten sind (Klimawandel, reaktionäre Spaltung der Gesellschaften, Identitätspolitik, kolonialer Hangover, globale Ausbeutungsverhältnisse usw.) ist Nietzsches eigene Widersprüchlichkeit unleugbar von Aktualität, sie ist wie ein Spiegel, eine Konfrontation mit uns selbst. Allerdings spielt er in der politischen Auseinandersetzung mit all diesen Geschehnissen und den Umgang mit ihnen eine geringe Rolle. Anders als Marx oder Adorno verbleibt er meistens in den Seminaren und Lehrbüchern, selten schafft er es auf die Straße.
SM: Zunächst noch zur Bildung: Meine Generation und die von 68 forderten fleißig Reformen – man denke an die Parole: „Unter den Talaren der Muff von 1.000 Jahren.“ Aber sie bekamen letztlich eine Verschulung, die sie dann später selber umsetzten. Das hat wenig mit Nietzsche zu tun, höchstens der damit verbundene Anspruch auf Selbstentfaltung, der diesen Generationen durch die alte Uni verstellt schien – welch ein Irrtum, bot die alte dazu immer noch mehr Möglichkeiten als die späteren reformierten Unis. Die Politischen unter uns hatten denn auch mit einer Spaltung der Gesellschaft kein Problem. Die erschien immer schon gespalten und die heutige Rede davon ist eine merkwürdige Romantisierung nach der Integration von Linken und Grünen in den Politikbetrieb. Meine Generation der Siebziger orientierte sich ökologisch – da passte höchstens eine gewisse Naturromantik zu Nietzsche. Ich habe Nietzsche in den Achtzigern dann als Wissenschaftskritiker ökologisch gelesen – eine Lesart die bis heute niemandem gefällt. Aber es gab auch eine politische Richtung, die sich vom dogmatischen Marxismus abkehrte, die ich vielleicht „spontaneistisch“ nennen möchte und die über die Poststrukturalisten auf Nietzsche kam. Wie schnell sich Foucaults genealogische Wende der siebziger Jahre danach verbreitete, ist fraglich. Ende der Siebziger aber dürfte sie durchgesickert sein. Trotzdem hat sich Nietzsches und Foucaults Moralkritik wohl eher wenig verbreitet. Schließlich boomte in jenen Jahrzehnten die Ethik. Da wollte kaum jemand eine Kritik an der Ethik hören, zu der ich im Anschluss an Nietzsche und Foucault bis heute neige.
EW: Mit der poststrukturalistischen Leseart bin ich vertraut, wie aber genau lässt sich Nietzsches Wissenschaftskritik ökologisch lesen?
SM: Nach Nietzsche erfasst man die Natur nicht, wie sie wirklich ist. Dann muss man umso vorsichtiger mit ihr umgehen. Ökologische Technik wäre dann nicht die Antwort, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass die Wissenschaften wirklich erzählen, was da passiert.
EW: Verstehe. Das Argument scheint mir mittlerweile aber doch verbreitet. Oder zumindest die Skepsis gegenüber einem technologischen Lösungsansatz in Anbetracht limitierten Wissens über die Natur.
SM: Dann könnte die Letzte Generation aber nicht behaupten, sie wäre die letzte, die noch was gegen die Klimaveränderung tun könnte – jedenfalls mit Nietzsche kann die Klimaveränderung nicht mehr als eine Prophezeiung sein. Die Grünen sind längst szientistisch und technizistisch.
PS: „Skepsis“ ist ein gutes Stichwort. Die „Millennials“ scheinen eine sehr skeptische und zögerliche Generation zu sein. Ob im Privaten, im Politischen, im Philosophischen: Man will sich nicht festlegen und sich alle Optionen offenhalten. Das treiben wir manchmal bis zum Exzess. Die vorhergehenden und nachfolgenden Generationen scheinen mir oft mehr Mut und Entschlossenheit aufzuweisen.
Das drückt sich meines Erachtens in der Dominanz von Foucault in meiner Generation aus. Zumindest die Geisteswissenschaften und der feuilletonistische Diskurs stehen ganz im Bann eines seichten Postmodernismus. Ein bisschen Hedonismus, ein bisschen Relativismus, viel Skepsis, aber doch auch kein regelrechter Skeptizismus. Ein bisschen wie South Park oder Vice. Dazu passt Nietzsche eigentlich, aber nur ein bestimmter, stets durch den Blickwinkel der Postmoderne gelesener Nietzsche. Ich denke, um uns aus unserer generationellen Lähmung zu befreien, müssen wir diese Denkweise hinter uns lassen. Eine Wiederentdeckung Nietzsches – aber sicher auch des echten Foucault beispielsweise, der von seinem common sense-Zerrbild natürlich sehr verschieden ist – könnte dabei helfen.
EW: Diese Denkweise, von der du spricht, zieht sich durch die Generationen. Das Gefühl der Machtlosigkeit und Lähmung, der Bedeutungslosigkeit in Anbetracht der verzweifelten Lage, ist nicht weniger in den darauffolgenden Generationen zu beobachten. Es ist eben der Nihilismus des „letzten Menschen“ von dem Nietzsche spricht. Die Politisierung z. B. der Gen Z mag dem widersprechen, schließlich fordert sie ja Veränderung und Neuaufbrüche. Doch muss auch dort auf die Wege und Methoden geschaut werden. Aktivismus findet auf den sozialen Medien statt, der hört sich allerdings eher nach moralischen Schreien an, die die materielle Basis der Probleme nicht berühren. Gleiches gilt für Aktivismus, der auf den Straßen stattfindet: Demonstrationen in der Größenordnung, wie wir sie kennen, sind hauptsächlich von symbolischer Natur. Subversive Störungen und Unterbrechungen einiger kleinen Gruppen provozieren zwar einen Aufschrei, ändern langfristig allerdings wenig, sofern sich keine kollektive Organisierung daraus entwickelt.
Zu Hans-Martins Einwand möchte ich noch kurz anmerken: Da stimme ich dir zu. Allerdings gibt es durchaus immer wieder Stimmen, die technologische Lösungsansätze, solange sie noch kapitalistischen Gesetzen folgen, kritisieren. Damit verbinde ich auch den Einwand, dass die Natur eine unberechenbare und unser Wissen über sie ein notwendig eingeschränktes ist. Sie der Technologie, deren Entwicklung zumal an profitmaximierende Gesetze gebunden ist, zu unterwerfen, birgt Gefahren. Wobei das vielleicht ein anderer Aspekt ist …
Was für ein ökologisches Vorgehen würdest du denn vor dem Hintergrund der epistemologischen Probleme vorsehen? Irgendwo muss man ja anfangen, wenn auch nicht unter wissenschaftlicher und technischer Vorherrschaft.
SM: Beide Einwände sehe ich aus der Perspektive meiner Generation freilich anders. Mir scheint eher eine politische Selbstherrlichkeit zu herrschen und der Skeptizismus in der Bevölkerung ist kein philosophischer, der wirklich an den Wissenschaften im Stile von Nietzsches Morgenröthe zweifeln würde. Die Leute wissen nicht mehr wohin die Reise geht, weil sich ein Zweifel am Fortschritt verbreitet hat. – Andererseits erwarten immer noch viele ihr Heil von den Institutionen, kehrt hier doch eine Staatsgläubigkeit wieder. Ich kann das generationenmäßig nicht zuordnen. Aber in den Führungspositionen sitzen noch meine Generation und die nachfolgende und die bestimmen die öffentliche Meinung, die freilich die neuen Medien nicht mehr kontrolliert – daher das Gejammere. Zugleich denken alle Generationen, dass sie keine Macht und keinen Einfluss haben. Dazu sollte man doch bei Foucault nachschauen. Jeder und jede beeinflusst das Geschehen. Aber die Intellektuellen, nicht zuletzt Nietzsche beschweren sich permanent, dass sie so einflusslos wären, dabei wissen sie es doch genau. Aber auch der Intellektuelle ist nur ein einzelner Mensch und Expertenherrschaft erlaubt ihm noch weniger Einfluss als die Herrschaft von Staat und Kapitalismus. Der Kapitalismus ist mit der Umwelt besser umgegangen als der ehemalige Sozialismus. Alternativen sind nicht in Sicht. Da halte ich es doch lieber mit dem Nietzsche-Rezipienten Heidegger. Der Mensch ist nicht Herr des Seins. Mit vermeintlicher Tatkraft entstehen mindestens so viele Probleme wie diese löst. Statt Handeln fordert Heidegger Denken. Wenn die Wissenschaften freilich die Frage nach dem Sinn von Sein stellen, wären sie nicht mehr so erfolgreich. Aber vielleicht wäre das das Gebotene. – Man muss die 11. Feuerbach-These umdrehen: Wer die Welt verändern will, muss sie erst anders verstehen. Und genau das hat Marx gemacht, Nietzsche freilich auch. Wer war einflussreicher? Mit der Idee der ewigen Wiederkunft des Gleichen womöglich heute Nietzsche.
EW: Den meisten von dir angesprochenen Punkten stimme ich tatsächlich zu. Deshalb ja meine Einschätzung, dass das Gefühl der Machtlosigkeit ein generationsübergreifendes Phänomen ist und sich selbst immer neuen Stoff zur Selbstbestätigung gibt. Dann folgt als Konsequenz der propagierten, vermeintlichen, Ohnmacht die Suche nach neuen Göttern (Staat, Identität, Kapital, Wahrheit etc.). – Denken und Handeln schließen sich meines Erachtens aber nicht aus. Wer sich ins Innere vergräbt und lediglich in platonischen Wolken lebt, wird sich ebenso wenig verändern wie jene, die sich vom gedankenlosen Handlungszwang treiben lassen. („Handeln“ darf hier allerdings nicht im Sinne einer rationalen Ursache-Wirkungskette verstanden werden).
Du bist mir aber noch eine Antwort auf die Frage schuldig geblieben, was für ein ökologisches Vorgehen du vor dem Hintergrund der epistemologischen Probleme vorsehen würdest.
SM: Das ist letztlich die Frage, welchen Stellenwert man der ökologischen Problematik einräumt, die momentan doch große Beachtung findet. Und viel ist auch seit den siebziger Jahren passiert. Das ging von linken Bürgerinnen aus meiner Generation aus. Viele haben Bioläden aufgemacht. Man sollte dem eher individuell als staatlich begegnen. Das scheint mir nachhaltiger. Staatsmänner, auch Frauen, können das nicht. Die Bürgerinnen müssen es selber machen und den Staat veranlassen, sie dabei zu unterstützen. Aber politische Probleme sind nicht monokausal, sondern es gibt viele verschiedene, die genauso wichtig sind. Ich denke, dass man dabei von Nietzsche viel lernen kann. Aber es ist klar, das betrifft primär Intellektuelle, wiewohl Nietzsche sicher einer der wenigen Philosophen ist, der auch außerhalb der Philosophenzunft rezipiert wird.
PS: Ja, da scheint es mir auch wieder eine generationelle Differenz zu geben. Bei meiner Generation nehme ich es so wahr, dass für uns, jedenfalls um 2010 herum, die ökologische Frage vollkommen nachranging gewesen ist. Da haben wir uns nicht so sehr drum geschert, sondern eher um die erwähnte Frage nach einem guten und gerechten Bildungssystem, die Friedensfrage (Stichwort Irak-Krieg) und der uns möglich erscheinende Kollaps des Finanzsystems in Folge der Krise von 2008. Ein wenig komisch, im Nachhinein betrachtet. Vielleicht wollten wir uns damit auch von den Älteren abgrenzen, denen diese Problematik so wichtig war. Und wir waren, bei aller Politisierung, doch auch sehr individualistisch drauf und hätten nicht im Traum daran gedacht, auf unsere Billigflüge quer durch Europa und Fleisch zu verzichten – das sind alles Themen, die erst ein wenig später aufkamen, auch wenn meine Generation in dieser Hinsicht inzwischen „aufgeholt“ hat, wenn man so sprechen mag.
Den letzten Aspekt, den du aufgebracht hast, Hans-Martin, finde ich aber auch noch wichtig, hervorzuheben. Ich kenne sehr viele Menschen, die niemals studiert, aber Nietzsche gelesen haben und etwas mit ihm anzufangen wissen. Da gleicht er ein wenig Kafka, auch Marx. Das sind alles Autoren, die „populär“ sind. Man darf die Geschichte der Nietzsche-Rezeption nicht bloß als Geschichte seiner akademischen Kommentierungen schreiben, sondern muss sie viel breiter erzählen, sonst nimmt man nur die Spitze des Eisbergs in den Blick.
1, 2, 3…
Zur neuen Dauerausstellung im Naumburger Nietzsche-Haus
1, 2, 3…
Zur neuen Dauerausstellung im Naumburger Nietzsche-Haus
Seit 1994 befindet sich in jenem Haus in Naumburg, in welchem Nietzsche nach seinem geistigen Zusammenbruch 1889 mit seiner Mutter mehrere Jahre lang lebte, ein Leben und Werk gewidmetes Museum. Anlässlich des dreißigjährigen Jubiläums seines Bestehens wurde die Dauerausstellung des Nietzsche-Hauses vollständig umgestaltet, kuratiert vom Berliner Philosophen Daniel Tyradellis. Unser Stammautor Lukas Meisner war vor Ort und hat sie sich angesehen.
Es ist ein faszinierendes Fleckchen Land, die Thüringer Städtekette. Im Westen die Lutherstadt Erfurt mit ihrem mittelalterlichen Kern und ihrem etwas anderen „Speckgürtel“ aus Jugendstil; im Osten Jena, das Herz des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik gleichermaßen; in deren Mitte Weimar, seinerseits das Zentrum der deutschen Klassik, der Musikhochschulen, der ersten Republik, des Bauhauses – aber auch: Nietzsches Sterbeort.
Nicht weit von dieser geistesgeschichtlich bedeutsamen Städtekette liegt, im idyllischen Saale-Unstrut-Delta, Naumburg. In dieser wunderschönen Stadt verbrachte Nietzsche seine Schulzeit und jene Jahre der ‚geistigen Umnachtung‘, in denen er von seiner Mutter gepflegt wurde. Immer wieder kehrte er hierher – Zeit seines Lebens – zurück von seinen ausgedehnten Wanderungen in der Schweiz und in Italien. Hier, im Weingarten 18, wo Nietzsches Mutter ab 1858 lebte, befindet sich bis heute das Nietzsche-Haus, in dem eine neue Dauerausstellung auf ungewöhnlich ästhetische Weise das Denken und die Biografie des Philosophen näherbringt. Fünf ausgedehnte Audiospuren – auf Deutsch oder Englisch – führen in 1, 2, 3… Nietzsche die Gäste durch neun mitunter beengte Räume über zwei Stockwerke hinweg. An Kinder ist dabei ebenso gedacht, wie an jene, die Nietzsches Nähe zum Tierischen und zum Dinghaften für fundamental halten; denn der Mensch ist kein Hinterweltler, kein Transzendenzanhängsel, sondern ein Irdischer, Hiesiger und damit so leiblich wie materiell wirkende Wirklichkeit.
In der Audiospur der Ausstellung zu Nietzsches Leben fasziniert neben seiner Berufung mit 24 Jahren auf eine Professur in Basel (noch bevor er promoviert wurde) und seine ausgedehnten Wanderjahre nach der verfrühten Pensionierung aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes vor allem sein „Turiner Erlebnis“. In diesem warf er sich, der Überlieferung nach, einem gequälten Pferd wie schützend um den Hals, was laut offizieller Erzählung den Anfang seines „Wahnsinns“ markiert. Wahnsinn noch wird so sinnlich vermittelt; die Anekdote wirkt wie ein Beweis gegen die Lehrmeinung für all jene, die ihm gegenüber offen sind: Vom Willen zur Macht der Quälenden, vom Mitleidlosen der Herrschenden war der Mensch Nietzsche augenscheinlich weniger erfreut als seine Lehre es vermuten lässt. Ja, es scheint, als sei er von kaum etwas so abgestoßen gewesen wie von „blonden Bestien“ und deren brutalem „Übermenschentum“. Das Museum legt diesen Schluss zwar nicht nahe, behandelt Nietzsches animalische Epiphanie aber mit entsprechender Sympathie.
Der neuen Dauerausstellung ist darüber hinaus zeitgemäßer Geschmackssinn zu diagnostizieren. Doch war Nietzsche nicht ein Unzeitgemäßer? War er nicht ein Verächter des Geschmacks und der Mode? Texttafeln jedenfalls hat 1, 2, 3… Nietzsche kaum und dafür umso mehr Gimmicks, was sich in gewissem Sinne passend ins Stadtbild Naumburgs zu Postwendezeiten einfügt – wo einzig die Fassaden noch vom Bunten handeln. Die Präsentation des Museums spiegelt dergestalt das Museale seiner Umwelt wider, wobei der frühe Nietzsche dem sicher nicht mit Wohlgefallen begegnet wäre. Auch vermittelt sie dem Besucher eher oberflächliches und unkritisches als tiefgreifendes oder neues Wissen. Die Adressaten scheinen der Form wie dem Inhalt nach folglich mehr Bekenner als Kenner Nietzsches zu sein – mehr aus der Popkultur als durch philosophische Studien informiert. Gerade für diese Adressaten andererseits hält sie wichtige Korrekturen altbewährter Vorurteile bereit.
Etwa klärt sie darüber auf, dass Nietzsche eben kein Nihilist (sondern, zumindest dem Selbstanspruch nach, Anti-Nihilist) war und dass sein Bonmot „Gott ist tot“ komplexer (ja, letztlich anders) zu verstehen ist, denn als resümierendes Konstatieren eindimensionaler Modernegläubigkeit. In dieselbe Kerbe hauend, jedoch seinerseits klischiert, scheint das hauptsächliche Feindbild von 1, 2, 3… Nietzsche die Habermassche Problematisierung der nietzscheanischen Einebnung der Differenz zwischen Philosophie und Literatur zu sein. Diese Problematisierung allerdings versäumt es ihrerseits, Habermas‘ Überidentifizieren Nietzsches mit dem Poststrukturalismus (aus dem Philosophischen Diskurs der Moderne bekannt) zu hinterfragen, was Wege sowohl über den Hegel der Bundesrepublik Habermas’ wie über die Neokonservativen des neuen Geists des Kapitalismus – die Poststrukturalisten – hinaus hätte eröffnen können.
Fraglich bleibt demgemäß auch, ob im Falle Nietzsches, wie es die Ausstellung suggeriert, überhaupt von Begriffen – in Sachen „Wille zur Macht“ oder „ewige Wiederkunft“ – gesprochen werden kann, wenngleich die Auswahl dieser in den Museumsräumen durchaus überzeugt. Schließlich philosophierte hier ein Wanderer mit seinen Schatten und einem Hammer, kein Systematiker mit Enzyklopädie und dialektischer Methode. Dennoch wird der Nietzsche-Neugierige in 1, 2, 3… nicht nur über dessen Gegenmethode der Genealogie und der Ästhetik (der Schein kommt vor dem Bewusstsein!) in Kenntnis gesetzt, sondern auch über heute – nicht zuletzt politisch – zentrale Konzepte wie „Ressentiment“ oder „Nihilismus“. Letzterer freilich wird fragwürdigerweise erörtert als „von Nietzsche geprägt“ und als bloße Gegenwartsbeschreibung des späten 19. Jahrhunderts, statt ihn jenseits seiner russischen Entstehungsbedingungen – und mit Nietzsche – in eine Doppelverbindung zu Religion und Szientismus zu bringen, die bis heute Bestand hätte.
Nicht zuletzt dürfte es Nietzschekenner wenig überzeugen, in dessen „Erd-Regierung“, die Sklaverei, Feudalität und Ungleichheit heranzüchten sollte (wie noch der zynische Postkritiker Sloterdijk erinnerte), nichts als eine Verteidigung der „Vielfalt“ wiederzufinden, wie 1, 2, 3… vorschlägt, als sei ausgerechnet Nietzsche der erste Linksliberale gewesen. Die Verteidigung der „Fernstenliebe“ hingegen, die allen Nationalismus und einigen Antisemitismus (wenngleich bei Nietzsche leider kaum Rassismus) ausschließt, als den essentiell anti-essentialistischen Beitrag Nietzsches zu Zeiten des Neochauvinismus hervorzuheben, ist definitiv ein Verdienst der neuen Ausstellung im Nietzschehaus.
Aller Kritik ungeachtet bietet 1, 2, 3… dem Besucher einen vergnüglichen, leichten, unterhaltenden und gleichsam bildenden Nachmittag auch zu Werktagen, an denen das Museum von 14 bis 17 Uhr geöffnet hat (außer montags). Es dürfte eine geeignete Zeitspanne sein, um sich die verschiedenen Tonspuren anzuhören und – entlang ihrer – diverse akustisch vermittelte Erfahrungen derselben haptisch einholbaren Räumlichkeiten zu durchleben. Zwar widersteht auch die neue Ausstellung nicht vollends der Versuchung, Nietzsche zu romantisieren bzw. zu heroisieren; Menschen, die Nietzsche schon seit Jahren und Jahrzehnten lesen, dürfte jener Mensch, der vom Übermenschen schrieb, durch sie dennoch ein ganzes Stückchen näherkommen. Gerade dieses Näherbringen des Menschen Nietzsche ist am dankbarsten hervorzuheben in unserer Epoche hegemonialer Selbstabschaffung des Menschen, die ideologisch von anti-, trans- und posthumanistischen Avantgarden vorauseilend eingeholt zu werden versucht wird. Nietzsche jedenfalls war noch ein Mensch, dem lediglich das Ziel und dergestalt die Gattung fehlte, nicht aber die Menschlichkeit, wenn es ums Leiden eines Tieres ging.
Im besten Sinne könnte 1, 2, 3… insofern dazu beitragen, Orte wie Naumburg, Jena und Weimar, Figuren wie Nietzsche, Hegel und Goethe geistesgeschichtlich wieder füreinander zu öffnen: Denn Nietzsches proteleologische Frage nach dem selbstbestimmten Ziel des Menschen, das Authentizitätsideal der deutschen Romantik, die rationale Gesellschaft des deutschen Idealismus und die adäquate Ordnung des guten Lebens (deutsche Klassik) gehören jenseits aller bildungsbürgerlichen Ressentiments zusammen – vor allem aber: jenseits aller Deutschtümelei.
Link zur Internetseite des Nietzsche-Haus mit weiteren Informationen.
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Artikelbild: Front des Nietzsche-Hauses in Naumburg
Das Haus des Scheins
Präludien über den Zusammenhang von Architektur und Denken bei Nietzsche mit ständiger Rücksicht auf ein Buch von Stephen Griek. Eine Rezension
Das Haus des Scheins
Präludien über den Zusammenhang von Architektur und Denken bei Nietzsche mit ständiger Rücksicht auf ein Buch von Stephen Griek. Eine Rezension
Eine fruchtbare Methode innerhalb der Philosophie kann darin liegen, sich scheinbar nebensächlichen, alltäglichen Themen zuzuwenden. So in etwa dem Verhältnis von Denken und Architektur, wie sich dieser Text anhand des neu erschienen Buches Nietzsches Architektur der Erkennenden von Stephen Griek aufzuzeigen bemüht. Mit Nietzsche gedacht, so Michael Meyer-Albert, ist der Schutz einer Behausung – im wörtlichen wie übertragenen Sinne – vor dem Chaos der Wirklichkeit unabdingbar für ein gelungenes Weltverhältnis. Dies kommt ihm in Grieks postmodernem Ansatz, der auf maximale Öffnung abzielt und an die Stelle klarer räumlicher Strukturen diffuse nomadische Netzwerke setzen möchte, zu kurz. Architektur als Kunst der nichtgewaltsamen Verwurzelung werde so undenkbar; das „Haus des Scheins“, das die menschliche Existenz trägt, kollabiere.
„Nicht zuviel Sonne, das Licht wird verkannt, die Dämmerung ist die eigentliche Menschheitsbeleuchtung.“ (Benn, Drei alte Männer)
I. Wohltemperierte Weltoffenheit
Wohnen kann man nicht nur in Häusern. Auch eine Sprache, ein Rechtssystem, Sitten oder Traumwelten können Wohnungen sein. Überall dort, wo Fremde sich in Vertrautheit verwandelt und Vertrautheit eine Lebendigkeit gewinnt, die zu einer „schönen Fremde“ (Eichendorff) wird, wird gewohnt. Leben schafft sich durch Symbole, Phantasien und Rituale ein Haus der Existenz. Es beseelt sich durch sein Schaffen selbst. „Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde.“ (Hölderlin) Architektur ist insofern nur eine weitere Form einer existenziellen Weltbefreundungsbewegung. Im Dämmer der Konstruktionen kann das Leben aufleuchten.
Ausgehend von ästhetischen Spekulationen zur griechischen Tragödie gelangt Nietzsche schon früh in seiner Philosophie zu einem existenziell-architektonischen Verständnis des Lebens. Realität versteht er als existenzielle Dialektik von den Kräften des Dionysischen – des Ekstatischen, Ausbruchhaften – und des Apollonischen – als traumhafte Verklärung und Formgebung. Zentral, und das gilt für Nietzsches gesamte dramatische Philosophie – auch wenn sich nach seiner „Kehre“ in Bayreuth 1876 ein deutlicher Wandel weg von der Tragödie hin zur Komödie in seinem Denken durchsetzte –, ist hierbei der Vorrang der Ordnung vor dem Chaos. Weil Existenz mit einem Übermaß von Fremde konfrontiert ist, ist Leben, das lebt, konstitutiv apollinisch. Auch alle dionysischen Ausbrüche ereignen sich nur aus dieser lebenswichtigen Verklärungsintegration heraus:
Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch? – so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosen Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth machen und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen.1
Das Apollinische gewinnt dann in Nietzsches Phase des „freien Geistes“, nach dem schmerzlichen Bruch mit Wagner, eine erweiterte Bedeutung im Begriff des „Scheins“. Schein wird zur lebensnotwendigen Kompensation für die Abgründe der Wahrheit, mit denen sich nicht leben lässt. Gelingendes Leben benötigt eine Architektur des Scheins. Die ästhetische Verklärung des apollinischen Traumes wandelt sich dabei für Nietzsche zu einer schonenden Theorie. Diese verkörpert sich einerseits in wohlwollenden, ermutigenden Deutungen und andererseits in einer therapeutischen Ausblendung von unintegrierbaren Tatsachen. So beschreibt Nietzsche die aufgeklärte Nicht-Aufklärung als „Entschluss zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschliessung, ein Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem Dinge, ein Nicht-heran-kommen-lassen, eine Art Vertheidigungs-Zustand gegen vieles Wissbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit dem abschliessenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gutheissen der Unwissenheit.“2
Man könnte in Nietzsches Gedanken ein Vorspiel sehen für ein in der Anthropologie des 20. Jahrhunderts etabliertes Verständnis des Humanum als ein Wesen, das, anders als das von seinen Instinkten geleitete Tier, weltoffen ist. „Weltoffenheit“ – ein von Max Scheler geprägter, in Johann Gottfried Herders Denken präformierter Begriff – taucht in der Philosophie in substanzieller Mächtigkeit zuerst bei Heidegger in Sein und Zeit auf. Dort gelingt eine begriffliche Konkretisierung, die Nietzsches gesamtes Verständnis der rationalen Existenz des freien Geistes formelhaft expliziert: „Die Gestimmtheit der Befindlichkeit kontituiert existenzial die Weltoffenheit des Daseins.“3
Nietzsches existenziell-architektonisches Denken kommt in Heideggers Worten zur Sprache. Das Leibdenken des freien Geistes, der ein Haus des Scheins benötigt, um in der Weltoffenheit wohnen zu können, hat sich in einem Gehäuse von guten Stimmungen zu situieren. Als Architekt des Vitalen baut man an seiner Lebendigkeit, indem man sich bestimmten Einflüssen – etwa Gebirgsseen, großmütigen Menschen, Musik von Bizet, dem Klima Liguriens etc. – aussetzt. Was Heidegger nicht reflektiert, ist der Aspekt der regulierbaren „Geworfenheit“ als bewusster Wille zum verklärenden Schein. Nur eine apollinisch wohltemperierte Befindlichkeit vermag überhaupt eine Offenheit zur Weltoffenheit zu entwickeln. Das Chaos der Nerven differenziert sich partiell versiegelt zu einem Kosmos, der das Leben zum Leben als Weltoffenheitsbürger motiviert. Erst als proportionierte Dimmung der Realitäten entsteht das Dämmerlicht, das einer hochnervösen Weltoffenheit die Konturen der Welt geordnet präsentiert und ein Leben ermöglicht, das „Weltvertrauen“ (Heidegger) besitzt und vererben kann. Daher benötigt das „noch nicht festgestellte Thier“4 Mensch einen Filter, einen Schutz, ein Haus für das Sein, um der vita contemplativa nachzugehen. Erst wenn die Welt nicht nervt, kann sie „welten“ (Heidegger). Ohne eine stimulierende Innen- und eine schützende Außenarchitektur des Lebens kann es keine welthaltige Philosophie geben.
II. Gegen den Baum
In seinem kürzlich erschienenen Buch Nietzsches Architektur der Erkennenden5 hat der in Genf ansässige Stadtplaner und Professor für Architektur Stephen Griek eine großangelegte essayistische Meditation über den Zusammenhang von Denken und Bauen verfasst. Den Titel des Werks hat er einem Aphorismus Nietzsches entnommen, den er ihm auch als Motto vorangestellt hat. Darin heißt es:
Es bedarf einmal und wahrscheinlich bald einmal der Einsicht, was vor Allem unseren grossen Städten fehlt: stille und weite, weitgedehnte Orte zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen Hallengängen für schlechtes oder allzu sonniges Wetter, wohin kein Geräusch der Wagen und der Ausrufer dringt […] Bauwerke und Anlagen, welche als Ganzes die Erhabenheit des Sich-Besinnens und Bei-Seitegehens ausdrücken. […] Wir wollen uns in Stein und Pflanze übersetzt haben, wir wollen in uns spazieren gehen, wenn wir in diesen Hallen und Gärten wandeln.6
Griek lässt sich von diesen Formulierungen inspirieren und bemüht sich die verwandte Grundstruktur von Denken und Architektur herauszustellen. Dabei liegt für ihn die Gemeinsamkeit darin, dass beide in der Form des Entwurfes die Realität gestalten (vgl. S. 46). Architektur kann er durch diese Idee als eine Form der Konzeptionalität begreifen, durch die Menschen die Welt deuten. Nah bei Nietzsche ist Griek darin, dass Denken als eine Kunst angesehen wird, deren Kreativität primär negativ zu verstehen ist. Kunst lässt weg, Denken reduziert, Architektur begrenzt: „Architektur […] ist also ein Ausschneiden, Vereinfachen, Reduzieren, Abstrahieren des Außen, der Welt (Raum ist nicht einfach da, sondern ein bewusster Ausschnitt aus dem Außen, Raumschaffen ist Ausscheiden).“ (S. 214) Architektur denkt und Denken ist Architektur als Schaffen von Raum aus Chaos durch „regulative Fiktionen“ (S. 160).
Nietzsches Idee des Scheins wird so aufgenommen und betont polemisch gegen einen Begriff der Wahrheit gewandt, der sich an dem Verständnis einer hierarchischen Ordnung orientiert; eine Wahrheit, deren Wesenhaftigkeit feststeht und deren Struktur nur entfaltet werden muss. Emblematisch ist dabei für Griek das Bild des Baumes (vgl. S. 21 f.). Er nennt als Ursprung dieses Gedankens den Text A City is not a Tree von Christopher Alexander aus dem Jahr 1965 und merkt an, wie Gilles Deleuze dieses Bild auf die gesamte westliche Ideengeschichte anwendete. (Vgl. S. 20f.)
An einer Kritik gegen diesen in seinen Augen innovationsfeindlichen, totalitären Begriff der Wahrheit reibt sich Griek jedoch auf. Das führt dazu, dass seine immense Bandbreite an herangezogenen Fakten und Ideen verklumpt. Sein interessanter Ansatz, dass Strukturen der Architektur Strukturen des Denkens und vice versa darstellen und sein stellenweise nachvollziehbares Plädoyer für eine „Kultur des Werdens“ (S. 39) verpufft so in einer sehr gelehrten Polemik. Aus der Kritik am Baum entfaltet sich keine Skizze einer alternativen Organik, sondern alles wird einem monotonen Angriff auf das klassische Sein untergeordnet. So essayhaft sich Grieks Text auch ausnimmt, so absehbar baumhaft wird er selbst in seiner Konfrontationshaltung.
Hinzukommt, dass Griek von seinem Ansatz her eine Offenheit für das Werden zeigen möchte, die seinen Text als „für jedermann zugängliche und komplett nachvollziehbare Baustelle” (S. 36) präsentiert. Auch wenn damit sympathischerweise eine Philosophie verfolgt werden soll, die das, was sie sagt, auch zeigen möchte, so gelingt das Griek nicht. Die Thematik reichert sich nicht an, sondern verkommt zu dem immer wieder erwartbaren Resultat einer Kritik an der Wahrheit des Baumes. Die Polemik verscheucht die Phänomene. Gerade von einem versierten Architekten hätte man sich konkretere Ausführungen zu einzelnen Gebäuden versprochen, um seine Ideen an realen Entwürfen zu erläutern, wie es die von ihm positiv hervorgehobenen Werke Learning from Las Vegas (Brown/ Venturi) und Delirious New York (Koolhaas) leisten. Dabei hilft es auch nicht, wenn Zitate von Nietzsche nicht als Belege von Gedankengängen verwendet werden, sondern meist nur als assoziative Andeutungen, ja oft nur als Art Soundkulisse dienen. Sie erscheinen wie Plakate an den Zäunen einer Baustelle. Wenn Bücher Häuser sind, durch die man als Leser Gast wird und einen Eindruck von der Qualität ihres jeweiligen Wohngefühls bekommt: Warum sollte man dann eine Unterkunft in unfertigen Baustellen beziehen, die diese Qualität offensichtlich nicht erreichen wollen?!
Durch diese fehlende Herausarbeitung seiner Thesen an konkreten Details und an Nietzsches Philosophie verpasst Griek die Chance, die von Nietzsche herausgestellten konzeptionellen Innovationen zu verdeutlichen. Vor allem die Bedeutung des Leibes für Nietzsche, die dann weiterwirkt in der von Heidegger inaugurierten und von Hermann Schmitz systematisierten Leibphänomenologie, die Stimmungen und Atmosphären als substanzielle Realitäten anerkennt, wird nicht konkretisiert. Dabei ist es doch die Architektur, die ähnlich wie die Musik, die Form des Inseins kultiviert und ein Absorbiertsein provoziert. Eine philosophische Betrachtung über den Zusammenhang von Denken und Bauen hätte sich doch gerade dem Thema widmen müssen, inwiefern Stimmungen und Gebäude, Atmosphären und Wohnen verbunden sind und wie der Begriff der Teilhabe von diesen Thematiken angereichert wird.7 Da Griek aber fixiert ist auf eine gewaltsame Dominanz einer Kultur des baumhaften Seins, geht es ihm darum, für das Chaos, die Veränderung, die Entropie einzutreten. Aus dieser Statik des Dagegenseins kann er keine erweiterte Statik des Inseins denken, die immer eine seinshafte Abgeschlossenheit und konservative Ordnung benötigt. Man sieht vor lauter Axt die Alternative zum Baum nicht mehr.
III. Scheinarchitektur
Der tiefere Grund dafür, warum es Griek nicht gelingt, entscheidende Reflexionsgewinne herauszuarbeiten, die Nietzsches Denken ausmachen, ist, dass er sich in eine polemische Haltung gegen eine Ontologie des Baumes verstiegen hat, die sich legitimiert durch eine Überbetonung des Konzeptes „Willen zur Macht“. Nietzsches Idee des Scheins wird von ihm so fast ausschließlich als Form der Eroberung gedacht. Leben wird akzentuiert als permanente Revolution der Kreativität gegen den Bestand der Tatsachen. Nur Autonomie als aktives Bestimmen ist frei und alles andere ist das Gehorchen auf eine totalitäre Wahrheit an sich, die „lebensfeindlich“ und „immer tyrannisch“ (S. 138) sei. Griek präzisiert so durch seinen kritischen Reflex nicht hinreichend die Dimension des Defensiven im Schein, die bei Nietzsche den Vorrang hat. Der Zusammenhang von Souveränitätsgefühl des Schaffens und notwendiger künstlicher Ferne zur Unmittelbarkeit für das zerbrechliche, unsichere und mitunter auch kreative Tier Mensch wird daher nicht klar expliziert. Auch wenn Griek mit Bezug auf Metropolen die Stadt bewundernswert einfallsreich als „ontologische[] Immunisierungsmaschinen“ (S. 248) betitelt und die Bedeutung des Hauses tiefsinnig als „dosierte Offenheit zum kosmischen Werden“ (S. 233) charakterisiert: Das Verständnis von Schein als Schutz vor zu viel Weltoffenheit kommt zu kurz. Dabei dominiert doch gerade in dem vorangestellten Motto diese Dimension von Nietzsches Denken als antichristliche Form einer peripatetischen vita contemplativa.
Grieks Ideal eines nichtbaumhaften Entwerfens als „offene Architektur“, die das „nötige Driften des Lebens“ (S. 322) beachtet, findet sich so in Entwürfen, die offen dafür sind, leicht wieder durch andere Entwürfe abgelöst zu werden. Es soll ja kein Zwang aufgebaut werden durch ein manifestes Bauen, das ein zukünftiges Bauen möglicherweise blockieren könnte. Alle Gesten als Provisorium. Anstelle des Baumes die ewige Baustelle. Gebäude sind jedoch nicht nur herrische, virile Entwürfe, die anderes Entwerfen verdrängen, sondern, wenn sie als Resonanzraumgestaltung die Dimension apollinische „Wohnlichkeit“ erreichen können, sind sie Möglichkeiten das Leben durch ein neu gestaltetes Insein zu bereichern. Es ließe sich hier an die klassische Bedeutungsdimensionen des Begriffs „Macht“ erinnern und ihn in architektonische Kontexte einschreiben: Macht als auctoritas ist die Kompetenz zum Gestalten von Räumen, die durch Attraktivität ihrer Kreativität überzeugt und nicht bloße potestas, die jemand anderem einen Willen zu seinen Räumen gewaltsam aufzwingt. Aus der Erfahrung eines schon bestehenden vielfachen guten Wohnens entsteht die Lust zum eigenen Raumentwurf als individuelle Kombination von tradierter Häuslichkeit. Offene Architektur ist kein Bauen, das dem Willen zum Neubauen in ungehemmter Expressivität durch leicht abrissbare Gebäude entgegenbaut. Wahrheit ist, was wohnen lässt.
Griek sitzt in seinen gewollt unfertig bleibenden Entwürfen für ein unfertig bleibendes architektonisches und reflexives Entwerfen grundsätzlichen Konfusionen auf, die in Nietzsches Denkweg angelegt sind. Es wird bei Nietzsche nicht klar genug auf die zwei Grunddimensionen der Architektonik des Scheins hingewiesen: Schein ist eine Schutzmauer und Schein ist eine animierende Einbildungskraft. Zudem kommt es vor allem in Nietzsches späteren Denken zu einer ins Sozialdarwinistische „hinüberdunkelnden“ (Celan) Überbetonung des „Willens zur Macht“. Nietzsche substanzialisiert die zu verklärende Verletztlichkeit des wahrheitsfähigen Tieres falsch zu einer Ontologie des Chaos, die dann einen Naturalismus der Macht legitimiert.
Hätte Nietzsche sich selber genauer gelesen, so wäre ihm die unterdifferenzierte Bedeutungsvielfalt des Scheins aufgefallen. Schein ist existenziell, kulturell, physiologisch, psychologisch, philosophisch und philologisch konnotiert: Existenziell wirkt er als apollinischer Schutz gegen den „Urscherz“. Oder Schein kann auch die Form einer Sinngebung annehmen, die das Chaos Welt ordnet. Schein als kulturelle Größe schützt vor den deprimierenden Verdunklungen einer Kultur, die unter dem Wegfall ihrer substanziellen metaphysischen Deutung leidet. Schein kann aber auch bestimmt werden als Filter gegen die Angriffe von ressentimen Scheinkonstrukten von Verstimmten und Verbitterten. Physiologischer Schein weist darauf hin, dass unverstimmtes Leben eine Diät an Tönen, Orten, Gefühlen etc. als Grundlage benötigt, um sich stabil in helle, luzide Zustände aufzustimmen. Psychologisch bedeutet Schein den Zustand einer emotionalen Stabilität als Selbstzufriedenheit. Philosophischer Schein rechtfertigt als Gesamtverständnis die eigene Art zu leben. Philologischer Schein schließlich äußert sich in selbstermunternden Sprachspielen, die als „Schein-Brücken” zu Anderen hinüberhellen können. Aus all dem ließe sich spekulieren, dass eine umfassende Architektur des Erkennens nach Nietzsche sich selbst als seelische, physiologische, symbolische und philosophische Scheinkonstruktion begreifen müsste. Das „Haus des Seins“ (Nietzsche) ist ein Haus des Scheins, dessen Räume in sechs Dimensionen so zu gestalten sind, dass sie das Bewohnen als ein In-sich-Spazierengehen ermöglichen.
Bei aller Sympathie für die zeitgemäße Thematik, der beeindruckende Fülle des Wissens – so etwa, indem auf die Wirkung hingewiesen wird, die durch eine effizientere Proteinvariante (durch die Aminosäure Arginin statt Lysin) entsteht, die bei der evolutionären Entwicklung der Nervenzellen im Frontallappen des Neokortex eine Rolle spielte (vgl. S. 186) – und auch den stellenweise genialischen Formulierungen Grieks – „symbolischer Urknall“ (S. 248), „Boosten des Baumes“ (S. 21) –, überwiegt doch bei der Lektüre der Eindruck einer redundanten Polemik. Das ist schade, denn das Buch hätte als kleines Plädoyer durchaus einen innovativen, axthaften Impuls freisetzen können. In der vorliegenden gut 300 Seiten langen Fassung dieser überbordenden Streitschrift stellen sich allerdings recht schnell Ermüdungerscheinungen ein. Man weiß bald, wie der Hase läuft und auf einen Aha-Effekt kommen zehn Ach-ja-Effekte. Der Rezensent bekennt sich offen dazu, dass er bei seinen Lesereisen nicht leicht auf den Komfort von deutlich strukturierten Bücherhäusern verzichten möchte, in denen man in sich spazieren gehen kann und dass er bei aller philosophischen Offenheit die luftige Offenheit von unbewohnbaren Zeichenbaustellen des Werdens – so innovativ, nichtübergriffig und werdefreudig diese wohl auch sein mögen – sehr gerne meidet.
Quellen
Griek, Stephen: Nietzsches Architektur der Erkennenden. Die Welt als Wissenschaft und Fiktion. Bielefeld 2024.
Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 1953.
Sloterdijk, Peter: Sphären I–III. Frankfurt a. M. 1998–2004.
Fußnoten
1: Die Geburt der Tragödie, Abs. 25.
2: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 230.
3: Heidegger, Sein und Zeit, S. 137.
4: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 62.
5: 2024 im „transcript“-Verlag publiziert und im Folgenden im Fließtext zitiert.
6: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 280.
7: Sloterdijks opus magnum Sphären geht auf tausenden von Seiten genau diesen Fragen nach und kommt zu dem Resultat, dass die lebensnotwendige Minimal-Architektur des Hauses des Seins mit einer neunfach seelisch-sozialen Verschalung entworfen werden muss.