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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches

Die alte Wut

Die Geburt der Moderne aus dem Geist des Ressentiments

Die alte Wut

Die Geburt der Moderne aus dem Geist des Ressentiments

21.1.25
Hans-Martin Schönherr-Mann

„Ressentiment“ ist einer der Leitbegriffe von Nietzsches Philosophie und vielleicht sogar ihr wirkmächtigster. In seinem neuen Buch Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments (Marburg 2024, Büchner-Verlag) vertritt Jürgen Große die These, dass seit dem 18. Jahrhundert mehr oder weniger alle politischen oder sozialen Bewegungen solche des Ressentiments sind. Unser Stammautor Hans-Martin Schönherr-Mann hat es gelesen und stellt im Folgenden Großes wichtigste Thesen vor.

„Ressentiment“ ist einer der Leitbegriffe von Nietzsches Philosophie und vielleicht sogar ihr wirkmächtigster. In seinem neuen Buch Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments (Marburg 2024, Büchner-Verlag) vertritt Jürgen Große die These, dass seit dem 18. Jahrhundert mehr oder weniger alle politischen oder sozialen Bewegungen solche des Ressentiments sind. Unser Stammautor Hans-Martin Schönherr-Mann hat es gelesen und stellt im Folgenden Großes wichtigste Thesen vor.

Gibt es Politik, Weltverständnisse, soziale Bewegungen, die frei von Ressentiment sind? Praktisch alle werden das von sich selbst behaupten. Gegenüber ihren Konkurrenten führen alle selbstverständlich gute Gründe für ihre Gegnerschaft an, so dass diese nicht auf einer affektiven Ablehnung beruhe.

Der Philosoph Jürgen Große bestreitet diesen Anspruch und führt in seinem neuen Buch vor, dass alle politisch-sozialen Strömungen seit der Aufklärung auf Ressentiments beruhen. Auch wenn er den zeitgenössischen politischen Szientismus nicht explizit erwähnt, aber en passant das ökologische Weltbild: Auch diese bedienen sich einer affektiv ausgrenzenden Terminologie, wenn sie ihre Gegner als Leugner ihrer wissenschaftlichen oder ökologischen Wahrheiten titulieren.

Gibt es gar keine Ausnahme? Doch, nämlich die Hippie-Bewegung der sechziger Jahre. Aber die Hippies stiegen doch aus dem bürgerlichen Leben aus? Entwickelten sie diesem gegenüber kein Ressentiment? Das bescheinigt Große zwar der Alternativbewegung der achtziger Jahre, nicht aber den Hippies. Diese stiegen zwar aus der Leistungsgesellschaft aus, aber lässig, nicht aggressiv wie die Bohème des späten 19. Jahrhunderts oder gar politische Protest-Bewegungen.

Einerseits entwickelten die Hippies eigene Werte, andererseits eine eigene Lebenspraxis mit eigenen Bedeutungszusammenhängen. Große schreibt:

Auch hier wieder begreift die Szene ihr Verweigern als lediglich abgenötigte Position, nicht als ursprüngliche Negation: Ursprünglich sei nämlich der Reichtum bedeutungsfreien Ausdrucks, wie ihn etwa Bob Dylan, oder bedeutungsverdrehenden Ausdrucks, wie ihn etwa Jefferson Airplane kultivierten, repressiv-abgeleitet hingegen die Konstruktion rigide bedeutungsverweigernder Formwelten. (S. 289)

Die Hippies leben auch nicht in einer primären Gegnerschaft zum Kapitalismus, verkörpern sie doch einen Hedonismus, der zwar nicht produzieren will, aber doch konsumieren. Ähnliches attestiert Große auch noch der Jugendszene in der DDR, die ohne emanzipatorische Ansprüche auskam und gegenüber der Politik schlicht abgetaucht war.

Was aber die Gegenkultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt betrifft, so sieht Große wesentliche Unterschiede zwischen der US-amerikanischen und der westeuropäischen Gegenkultur. Die amerikanische besinnt sich auf eine Natur, bei der man sich auch auf die Ureinwohner bezieht, die europäische ist primär nihilistisch, was Große mit dem Ressentiment und somit mit Zynismus und Neid verknüpft.

So steht denn im Zentrum von Großes Buch Nietzsche, über den er bemerkt: „Bis zu Nietzsche war in der europäischen Literatur das Ressentiment psychologisch und moralisch neutral oder kritisch beschrieben worden, nach Nietzsche galt es als verächtlich oder gar als therapiebedürftig.“ (S. 74) Die französischen Aufklärer etwa hatten gegenüber dem Ressentiment eine neutrale Einstellung, werteten es nicht grundsätzlich negativ.

In Nietzsches Zur Genealogie der Moral avanciert das Ressentiment zum strukturell negativen Hass der jüdischen Priester auf die herrschenden Schichten, als affektive Ablehnung der Starken, Reichen und Schönen, die in der „Herrenmoral“ das Gute verkörpern, während die Armen, Schwachen und Hässlichen in derselben das Schlechte darstellen. Die Christen, so Nietzsche, transformieren dieses negative Gefühl in eine positive Umwertung der Werte, so dass nun die Schwachen zu den Guten avancieren, während die Starken als „Böse“ abgewertet werden. Für Nietzsche ist damit nach Große das Ressentiment schöpferisch geworden, wie schon zuvor für Charles Baudelaire.

Großes Buch lässt sich denn auch in zwei verschiedenen Perspektiven lesen. Es enthält eine Geschichte des Ressentiment-Begriffs, die mit Montaigne einsetzt, ihre Dynamik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhält, als Literatur und Kunst gesellschaftskritisch werden, d. h. der absolutistischen Gesellschaft ablehnend begegnen, ähnlich wie sie im 19. Jahrhundert das Bürgertum scharf kritisieren, was sich im 20. Jahrhundert praktisch in allen politisch sozialen Strömungen fortschreibt, die sich jeweils aus unterschiedlichen Formen der Ablehnung speisen. Nietzsche spielt dabei eine Schlüsselrolle.

Die zweite Lesart von Großes Buch erklärt das Ressentiment zum Grundmotiv von politischen und sozialen Strömungen seit dem 18. Jahrhundert. An die Stelle von sozialen Gegensätzen bei Marx, die ökonomische Grundlagen haben und insofern durchaus rationalen Charakter, treten affektiv beschleunigte Abneigungen, emotional ausgelöster Hass auf Menschen und Ideologien, auf das Andere schlechthin, die mit der Hybris einhergehen, selber das Richtige zu leben und zu glauben. Dergleichen scheint für alle relevanten politischen und sozialen Strömungen zu gelten – die Hippies und die Jugendbewegung in der DDR sind nicht relevant. Das avanciert fast zu einem geschichtsphilosophischen Grundmotiv: Geschichte wird vom Ressentiment getrieben, allerdings nicht von Anbeginn – wer würde denn auch solchen Unsinn zu behaupten wagen, er kenne das Grundprinzip aller Geschichte!

Anders als Nietzsche, der es als Motiv des entstehenden Christentums beschreibt, hängt es für Große vielmehr mit dem seit der Aufklärung sich verbreitenden Anspruch des Egalitarismus zusammen. Die Adligen hatten es nicht nötig, gegenüber ihren Untertanen ein Ressentiment zu entwickeln und für letztere gab dazu umgekehrt auch keine Gründe. Erst mit dem Anspruch auf Gleichheit entsteht der Hass auf andere, die nicht gleich genug erscheinen, es aber doch sein sollten. Dass Großes Buch diese Lesart nahelegt, liegt vor allem daran, dass es sehr viele politischen und sozialen Strömungen in der westlichen Welt abhandelt und deren Ressentiment-Struktur aufzeigt.

Max Scheler, der Nietzsches Ressentiment-Begriff kritisiert, attestiert das Ressentiment der bürgerlichen Moral und spricht das Christentum davon frei. Die aufklärerische Moral beruht für Scheler auf einem Ressentiment gegenüber der christlichen Ordnung der Liebe, die selbst frei von allem Ressentiment oder gar einem „Willen zur Macht“ ist.

Daran schließt Ludwig Klages mit einem biozentrischen Denken an. Die Seele ist vital, vom Ich zu unterscheiden. Damit deutet Klages Nietzsche um und weitet den Ressentiment-Begriff aus. Große schreibt: „Durch seinen Hass auf den Lebenszersetzer Geist konnte Klages zum Weggefährten konservativer Revolutionäre wie auch zum Vorläufer ökologischer Weltrettungsutopien werden.“ (S. 72)

E. M. Cioran treibt das auf die Spitze. Für ihn sind Affekte nur durch Affekte zu bekämpfen, kann man sich vom Bösen nur durch das Böse befreien, muss das Ressentiment ausgeschöpft werden. Für Cioran bedarf das Denken der Heimtücke. Große kommentiert Cioran: „Neid, Hass, Wut sind keine geistfernen, Kunst, Philosophie, Wissenschaft keine affektfreien Reinzustände.“ (S. 81)

Während die bürgerlichen Revolutionäre ihren Hass auf den Absolutismus und das Christentum ausleben, reagiert die Reaktion bei Joseph de Maistre oder Juan Donoso Cortés mit Rachephantasien, die theologisch eingebettet werden:

Der Liberale begreift weder die Gottgegebenheit oder Selbstevidenz der Ordnung noch den Primat der voluntas vor dem intellectus. Die eigene Impulsivität gegenüber der liberalen Blässe zu loben und zu pflegen wird fortan eine Elementarübung aller reaktionären Theoretiker und Literaten. (S. 155)

Vor allem der Katholik Léon Bloy ragt dabei heraus, der sich zum ‚Antischwein‘ erklärt und damit alle Gegner zu Schweinen:

Angesichts der personellen und materiellen Übermacht des bürgerlichen Prinzips, das nicht etwa Terror (wie für die ältere Reaktion), sondern Indifferenz ist, wird Fanatismus zur geistig-moralischen Pflicht. Wenn Bloy die Schönheit beschreibt, die für ihn Blutbäder unter Bürgern, Engländern, Emanzipierten, Ungläubigen aller Art haben, dann erinnert das an die literarische Exzentrik de Maistres. (S. 159)

Aber ähnliche Ressentiments entdeckt Große auch bei Anarchisten, Linken und im Feminismus, den er primär als bürgerliche Bewegung qualifiziert, wie auch bei seinen männlichen Fürsprechern. „Frauenversteher werden nach 1800 Legion“ (S. 183), schreibt Große. Weder in der feudal-aristokratischen Gesellschaft noch in proletarischen Bewegungen hat es Feminismus nach Große gegeben: „[A]llein das Bürgerweib ist ressentimenthistorisch auffällig geworden.“ (181)

Männer werden abgewertet und Frauen verherrlicht. Weibliche Verdorbenheit verdankt sich für den Feminismus den Männern. Das Rachemotiv zielt dabei auf eine Umwertung der Werte, die sich wie bei Nietzsche der eigenen Schwäche verdankt und dem Neid auf die Stärke der Männerwelt. Große schreibt:

Die ressentimenttypische, aber auch bürgerlicher Emanzipationslogik zugrundliegende Ressentimentstruktur – privates Leid als Symptom eines Weltzustandes – zeigt bereits die frühe Frauenbewegung; „offener Männerhass“ und Ideen weiblicher „Weltrettung“ durch bislang ausschließlich weibliche Kleinwelttugenden wie „Wärme und Hingabe“ sind bereits kurz nach 1800 nachweisbar. (S. 185)

Das Ressentiment beschränkt sich also keineswegs auf rechte oder konservative Strömungen wie die Yuppies der achtziger Jahre oder dem aktuellen Rechtspopulismus, die den Linken eine Neid-Haltung unterstellen und Benachteiligung als selbstverschuldet erklären: Von diesen formulierte Ansprüche seien von Unruhestiftern evoziert. Minderheiten und Benachteiligte können sich nicht selbstredend als Opfer präsentieren und ihre Lebensform als ethische ausgeben. So bemerkt Große:

In der fortgeschrittenen Moderne ist der Bezug zum christlich-„ritterlichen“ Motiv des Racheverzichts geschwächt. Ressentimentgefühl und Ressentimentbegriff werden zusehends mit Fragen sozialer Gerechtigkeit konnotiert, insbesondere mit frustriertem Gleichheitsverlangen. (S. 327)

Ähnliches schreibt Große auch den diversen antibürgerlichen künstlerischen Strömungen zu vom Sturm-und-Drang über die Bohème und den Surrealismus bis heute. Das gilt noch für die neuen Halb-Eliten aus linken, grünen oder digitalen Lagern, über die Große bemerkt: „Politik-, Medien- und Kultur-Bobos [bourgeois-bohémien; SM] agieren als Primärverletzte wie auch als Stellvertreter aus historisch-tradiertem, gegenwärtig andauerndem Unrecht.“ (S. 311)

So scheint das Ressentiment für Große seit ca. drei Jahrhunderten Politik und Gesellschaft an- und umzutreiben und damit die Geschichte zu bestimmen. Freilich erreicht es dabei kaum die schöpferische Qualität der Umwertung der Werte. Aber darüber darf man streiten. Denn gerade ökologisch ethische Werte haben sich heute in modernen Gesellschaften breitgemacht. Und vielleicht auch der Hedonismus der Hippies mit Sex & Drugs & Rock’n’Roll – letzteres umschreibt Große mit „Lärm“ (292), ein Anschluss an Adornos Abneigung gegenüber der Popkultur. Aber wie man in die Welt hineinruft, so hallt es zurück.

Bildnachweis Artikelbild

Edmund Adler: Der Blumenkranz (1950) (Link)

Splendid Isolation, Stiff Upper Lip

Nietzsche und die Tragik akademischen Außenseitertums

Splendid Isolation, Stiff Upper Lip

Nietzsche und die Tragik akademischen Außenseitertums

14.1.25
Christian Saehrendt

„Keep a stiff upper lip“, „halt die Oberlippe steif“, sagt man in England, wenn man seinen Gesprächspartner dazu aufrufen möchte, im Angesicht der Gefahr durchzuhalten und eine aufrechte Grundhaltung zu bewahren. Ein Rat, der sicherlich oftmals hilfreich ist. Um eine solche stoische Position muss man sich umso mehr als akademischer Außenseiter bemühen, der sich einerseits vom wissenschaftlichen Mainstream abgrenzt, andererseits jedoch auch auf seine Anerkennung angewiesen ist. In einer solchen delikaten Lage befand sich Nietzsche selbst, aber auch zahlreiche seiner Bewunderer. Ausgehend von mehreren solcher Außenseiterfiguren (neben Nietzsche selbst etwa Julius Langbehn und Paul de Lagarde) entwickelt Christian Saehrendt in diesem Beitrag eine Typologie der (vielleicht nicht immer ganz so) „glänzenden Isolation“ des akademischen Nonkonformismus.

„Keep a stiff upper lip“, „halt die Oberlippe steif“, sagt man in England, wenn man seinen Gesprächspartner dazu aufrufen möchte, im Angesicht der Gefahr durchzuhalten und eine aufrechte Grundhaltung zu bewahren. Ein Rat, der sicherlich oftmals hilfreich ist. Um eine solche stoische Position muss man sich umso mehr als akademischer Außenseiter bemühen, der sich einerseits vom wissenschaftlichen Mainstream abgrenzt, andererseits jedoch auch auf seine Anerkennung angewiesen ist. In einer solchen delikaten Lage befand sich Nietzsche selbst, aber auch zahlreiche seiner Bewunderer. Ausgehend von mehreren solcher Außenseiterfiguren (neben Nietzsche selbst etwa Julius Langbehn und Paul de Lagarde) entwickelt Christian Saehrendt in diesem Beitrag eine Typologie der (vielleicht nicht immer ganz so) „glänzenden Isolation“ des akademischen Nonkonformismus.

I. Nietzsche, Lagarde, Langbehn

Wer gehört eigentlich zur seriösen akademischen Welt? Und wer bestimmt darüber? Das Aushandeln und Definieren der wissenschaftlich-akademischen Exklusivität ist ein dauerhaftes Problem, denn die Art der Auseinandersetzung mit dem „Außen“ prägt den akademischen Betrieb zugleich im Inneren. Friedrich Nietzsche wusste davon ein Lied zu singen, aber auch andere Intellektuelle seiner Zeit lebten und litten in „glänzender Isolation“, weil sie vom akademischen Betrieb als fachfremde Seiteneinsteiger, unprofessionelle Amateure, Dilettanten oder Hochstapler ausgegrenzt wurden.

Trost und Hoffnung der Isolierten war und ist die Tatsache, dass es ihresgleichen von Fall zu Fall gelingt, große publizistische Erfolge zu erringen und starke Beachtung der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen – was ihnen wiederum Neid und noch tiefere Abneigung des akademischen Betriebs einbringt. Beispielhaft verdeutlicht wird dies bei Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Oswald Spengler. Im Zeitraum 1880 bis 1930 bestimmten diese Kulturkritiker und Bestsellerautoren den geisteswissenschaftlichen Diskurs in Deutschland maßgeblich mit, obwohl sie allesamt akademische Außenseiter und sozial isolierte Exzentriker waren. Langbehn und Spengler bezogen sich stark auf Nietzsche, der als Wissenschaftskritiker und ebenfalls als akademischer Außenseiter seiner Zeit galt, und der wiederum vom Eigenbrötler Lagarde beeindruckt war.

Auch Nietzsche passte perfekt in das Schema des ungeselligen, charakterlich „schwierigen“ Privatgelehrten, der weder starke familiäre noch gesellschaftliche Bindungen hatte und vom akademischen Betrieb weitgehend gemieden wurde. Während Nietzsche erst posthum berühmt wurde, konnten die intellektuellen Außenseiter Langbehn und Spengler bereits zu Lebzeiten zu gleichwohl umstrittenen wie auch vielbeachteten Stars des Kulturlebens aufsteigen. Dabei surften sie auf den Wellen der Nietzsche-Rezeption. Während Langbehn vergeblich die Vormundschaft über den kranken Nietzsche zu erlangen versuchte, wurde Spengler in der Weimarer Republik zu einem wichtigen Exponenten der etablierten Nietzsche-Community1. In zwei biographischen Skizzen wird nun zunächst Lagarde als Prototyp des Wissenschaftsaußenseiters geschildert, bevor Langbehn als Nietzsche-Epigone in den Blick kommt. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Nietzsches Lebenswandel werden auf diese Weise deutlich.

Abb. 1: Paul de Lagarde

Paul de Lagarde alias Anton Böttcher (1827-1891) war einer der bekanntesten Kulturkritiker im deutschen Kaiserreich gewesen. Sein Hauptwerk, die 1878 erstmals erschienenen Deutschen Schriften, verband moralische Kritik am Bildungswesen, an der Kultur und den Sitten mit einem extremen Nationalismus. Wurzeln seines Denkens waren Protestantismus und preußisches Ethos, Grundton seiner Schriften ein tiefer Kulturpessimismus, vorgetragen in einer „Art weinerlichen Heroismus.“2 Unter Wissenschaftlern war er wegen seines antiquierten Weltbilds und mangelnden Methodenbewusstseins umstritten. Fünfzehn Jahre musste er auf einen Lehrstuhl warten und unterrichtete zwischenzeitlich an Schulen, bis er 1869 eine Berufung an die Universität Göttingen erhielt. Seine Streitsucht galt als notorisch. Er stand u. a. im Briefwechsel mit Richard Wagner. Nietzsche war von Lagardes Schriften beeindruckt, las ihn aber auch kritisch, während Lagarde keinerlei Interesse an Nietzsche zeigte.3 In seinem letzten Lebensjahrzehnt näherte sich Lagarde der antisemitischen Bewegung um Nietzsches Schwager Bernhard Förster an. In der Nachkriegssituation ab 1919 setzte eine zweite Rezeptionswelle ein. Nun konnte Lagarde all jenen als bequemer Nietzsche-Ersatz dienen, denen Nietzsches Äußerungen zum Deutschen Reich und zum Judentum zu komplex und unpatriotisch erschienen.4 Mit Nietzsche verband ihn sein hoher Anspruch an sich selbst und sein enormes Arbeitspensum:

Freilich fehlte Lagarde die geistige Experimentierfreude des Philosophen, und seine hervorstechenden Charakterzüge wie Neid, Geiz und Verbitterung lassen die innere Verhärtung spüren. Den Groll gegen einzelne Kollegen trug er oft jahrelang mit sich, ehe er öffentlich explodierte, und längst vergangene Kränkungen durchlebte er innerlich immer wieder neu. […] Im Kampf gegen die eigene innere Leere, die sich in massiver Erschöpfung und Lebensüberdruss äußerte, sprach er sich mit lauter Stimme selbst Mut zu[.] […] Lagardes Schicksal zeigt, wie eng psychische Versehrtheit, gezielte Selbststilisierung und charismatische Wirkung zusammenhängen können.5
Abb. 2: Julius Langbehn

Julius Langbehn (1851-1907) hatte in Kiel und München diverse Fächer studiert, bevor er mit 29 Jahren promoviert wurde – damals ein fast „biblisches“ Promotionsalter. Anschließend führte er etwa ein Jahrzehnt lang ein unstetes Leben mit wechselnden Arbeitsstellen und Wohnsitzen. Im akademischen Betrieb konnte er nicht Fuß fassen. 1891 schickte er demonstrativ seine Promotionsurkunde in Fetzen zerrissen an die Alma Mater, die Universität München, zurück. Sein anonym verfasstes Essay Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen war sein einziger, wenn auch durchschlagender literarischer Erfolg. Das Buch verbreitete pangermanisches Sendungsbewusstsein und verband irrationalen Wissenschaftshass mit globalem kulturmissionarischem Eifer. Den Titel hatte er bewusst als Anspielung auf Nietzsches dritte Unzeitgemäße Betrachtung, Schopenhauer als Erzieher, gewählt. Langbehn übernahm Gedanken des jungen Nietzsche und integrierte sie in ein deutschnationales Weltbild. Spätere Werke Nietzsches lehnte er als „Verirrungen“ ab. Bald nach Erscheinen wurden Lagarde, Georg E. Hinzpeter, der Hauslehrer Wilhelms II., und gar Nietzsche selbst als Autoren des Rembrandt-Buches vermutet, dessen aphoristischer, gekünstelter Stil wie „ein ungeschickter Versuch, Nietzsches späte Prosa nachzuahmen“6 wirkte. Langbehn outete sich schon im Januar 1890 gegenüber dem von ihm verehrten Lagarde als Autor,7 bevor die wahre Verfasserschaft Langbehns allgemein bekannt wurde, und er erhielt den Beinamen „der Rembrandtdeutsche“. Der Erfolg des Buches war ein Ausdruck der damaligen mystischen Erwartungshaltung, die nach Propheten aller Art, vor allem aus dem Reich der Kunst, verlangte. Die stilistischen und gedanklichen Mängel im Text wirkten unter diesen Umständen vorteilhaft: Chaos und Absurdität konnten Tiefsinn und Hintergründigkeit vortäuschen, ständige Wiederholungen hatten einen hypnotischen Effekt, abweichender Satzbau und Interpunktion suggerierten einen individuellen „kreativen“ Ausdruck, mangelnde Argumente und Fußnoten entsprachen der schreibenden „Genialität“, die Nennung anerkannter Künstler und historischer Personen simulierte Belesenheit und verlieh Autorität. Viele bekannte Rezensenten schrieben ausführliche und positive Besprechungen. Häufig wurde Langbehn als Erbe des verstummten Nietzsche gesehen. Langbehn unternahm im Winter 1889/90 sogar einen Versuch, diesen zu heilen. Nachdem er das Vertrauen seiner Mutter erworben hatte, begleitete er Nietzsche wochenlang auf Spaziergängen, redete auf ihn ein, verleumdete seine Ärzte und Freunde und forderte schließlich gar die Vormundschaft über den Kranken.8 Fatal war, dass die Verbreitung von Langbehns Ideen mit der ersten nennenswerten Welle der Nietzsche-Rezeption zusammenfiel, so konnten beide als Propheten einer individualistischen Kunstreligion erscheinen und Langbehn sogar als Erbe des Philosophen und Wegweiser durch dessen Ideen betrachtet werden. Langbehn habe Nietzsche „weit mehr als es bis dahin der Fall war, unter das Volk gebracht“9, resümierte Erich F. Podach bereits 1932.

Abb. 3 Buch Rembrandt als Erzieher

II. Mechanik der Ablehnung: Der akademische Betrieb im Konflikt mit Außenseitern

Anhand einiger formaler Kriterien lässt sich leicht feststellen, ob jemand zum etablierten Wissenschaftsbetrieb gehört: akademischer Grad und Affiliation, Publikationen in etablierten Zeitschriften und bei seriösen Verlagen, Präsenz bei wissenschaftlichen Tagungen, in Jurys, als Gutachter und in Berufungskommissionen.  

Das bedeutet nicht, dass der Nichtintegrierte keine Ideen von außen in den Betrieb einbringen darf, aber er wird es viel schwerer haben, Gehör zu finden als jemand, der sich schon innen befindet. In früheren Zeiten, als die Zersplitterung der Disziplinen noch nicht so weit fortgeschritten war und viele als Privatleute Wissenschaft betrieben haben, war das noch einfacher.10  

Das Aushandeln und Definieren der wissenschaftlichen Exklusivität ist ein permanenter Prozess im akademischen Betrieb. Die Umgangsweise mit Außenseitern, Minderheitsmeinungen und Laien bestimmt sein Binnenklima und seine Innovationsfähigkeit. Bei der Begutachtung von Außenseiterpositionen leiden die Insider unter einem grundsätzlichen Problem: bei vielen Forschern ist – im positiven Sinne – eine manische Fixiertheit anzutreffen, ein unbedingter Wille, ein Problem zu lösen oder eine Erklärung zu finden, oder ein stark fokussierter Flow, der sich bei Experimenten und Berechnungen einstellt. Die psychische Energie, die in die Forschung fließt, kann zugleich einen Tunnelblick und die Vernachlässigung sozialer Kontakte und Konventionen mit sich bringen. Dieser manchmal manische oder nerdige Habitus verbindet den seriösen Forscher mit einem psychisch beeinträchtigen Außenseiter: „Die gleiche unablässige geistige Arbeit lässt sich jedoch bei jedem beliebigen Paranoiker beobachten und es ist häufig schwierig, einen genialen Kreativen von einem Wirrkopf zu unterscheiden.“11 Zudem erfordert die Arbeitsweise des Wissenschaftlers eine ständige Verfeinerung und Vervollkommnung einmal aufgestellter Theorien, was zu einer Fixiertheit auf bestimmte Methoden und Ergebnisse führen kann, welche bisweilen im Alter in einen fortschrittshemmenden Starrsinn mündet:  

Gewöhnlich versuchen anerkannte und mächtige Wissenschaftler, die gerade veraltende Vorstellungen vertreten, auf jede Weise andere Wissenschaftler zu bremsen und ihnen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, wenn diese einen neuen Weg beschritten haben.12  

Leider gibt es für dieses Problem fast nur eine biologische Lösung, wie Nobelpreisträger Max Planck einmal konstatierte:  

Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß ihre Gegner allmählich aussterben und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.13  

Die Ablehnung von Wissenschaftsaußenseitern durch etablierte Forscher und Funktionäre basiert also oft auf einem „Fehlurteil des Kompetenten“, der nicht in der Lage ist, von seinen erworbenen Überzeugungen zu abstrahieren und der somit stur auf der Schulmeinung beharrt. Fachliche Autoritäten neigen dazu, Positionen, die ihren Theorien widersprechen, als irrelevant oder gar als unwissenschaftlich abzutun. Sie suchen in diesem Sinne nach Fehlern und Anzeichen von Unseriosität und werden vor allem bei formalen oder sprachlichen Details fündig, während sie die Argumente und theoretischen Inhalte des Gegners missachten:  

Die Bedeutung solcher kleinen Unzulänglichkeiten rückt um so mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn eine Idee von Jemanden kommt, der nur geringes Ansehen geniesst, kaum Qualifikationsbeweise besitzt und vielleicht außerdem noch charakterlich auffällig, unangepasst, übermässig aggressiv und größenwahnsinnig, oder im Gegenteil allzu bescheiden und zurückhaltend ist. Der Wissenschaftler lässt sich folglich von seiner eigenen Kompetenz und Antipathie in die Irre führen und fällt schließlich ein negatives Urteil.14  

Weil ein „Crank“ (=Wirrkopf, Querdenker) oder vornehmer „Maverick“ (=Außenseiter, aber auch „herrenlos“, also frei)

nicht zum Wissenschaftlerkorps gehört, sind Veröffentlichungen schwierig, die notwendig dilettantische Präsentation und der aggressive Ton rechtfertigen eine oberflächliche Analyse seiner Ideen und machen ihre Ablehnung wahrscheinlicher. Was folgt, ist eine Reihe von Diskriminierungen, die den Angegriffenen noch aggressiver machen, und die Wahrscheinlichkeit, als Verrückter abgelehnt und an den Rand gedrängt zu werden, steigt erheblich.15

III. Typologie des wissenschaftlichen Außenseiters

Endohäretiker kritisieren den Wissenschaftsbetrieb von innen, weil sie einen, wenn auch umstrittenen, Status innerhalb desselben besitzen, während Esohäretiker von außen an den Wissenschaftsbetrieb herantreten und von diesem in der Regel vollständig abgelehnt werden. In manchen Fällen verwandelten sich Endohäretiker, die den Wissenschaftsbetrieb durch Pensionierung, Ausschluss oder freiwilligen Austritt verließen, in Esohäretiker. Auch Nietzsche fällt in letztere Kategorie.  

Wenn Häretiker auf eigene Faust und ohne Unterstützung der akademischen Bürokratie ihre Forschung fortsetzen wollen, ist dies nur möglich, wenn privates Vermögen oder außeruniversitäre Sponsoren zur Verfügung stehen. Nietzsche zehrte von der ihm zuerkannten Pension der Universität Basel, Lagarde versetzte das Erbe der Adoptivmutter in die Lage, parallel zu seiner Lehrtätigkeit an Schulen sechzehn wissenschaftliche Schriften und Bücher zu publizieren.16 Eine kleine Erbschaft nach dem Tod seiner Mutter hatte Spengler die Möglichkeit eröffnet, seine Unterrichtstätigkeit aufzugeben und als freier Schriftsteller seinen literarischen Ambitionen nachzugehen.17 Langbehn wiederum hatte mächtige Freunde und Förderer wie Wilhelm von Bode im Hintergrund, die ihm die Möglichkeit gaben, als Autor in Erscheinung zu treten.

Im Idealfall ist das Vermögen so groß und der gesellschaftliche Status derart etabliert, dass eine maximale Unabhängigkeit von wissenschaftlichen Institutionen möglich ist. Der englische Privatgelehrte Henry Cavendish (1731-1810), einer der bedeutendsten Naturforscher und reichsten Gelehrten seiner Zeit, war der Prototyp jenes finanziell unabhängigen, exzentrischen und oftmals interdisziplinär-universalistisch agierenden „Gentleman Scholars“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er besaß eine große Bibliothek, führte zahlreiche Experimente durch, mied aber den Kontakt zu Institutionen und Kollegen und hatte keinerlei Interesse, seine Ergebnisse zu publizieren. Er war vollkommen auf seine Studien fixiert, lebte isoliert auf seinem Anwesen ohne jegliche gesellschaftliche Ambitionen.

Abb. 4: Henry Cavendish

Doch nicht alle vom Wissenschaftsbetrieb Abgewiesene ruhen derart in sich wie Cavendish. Die meisten dürsten nach wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Anerkennung. Sie sind versucht, durch selbst finanzierte und herausgegebene Publikationen oder durch bezahlte Inserate sich Gehör zu verschaffen. Manche haben eigens Verlage, Zeitschriften, Editionsreihen oder gar Lexika geschaffen, um ihre Artikel und Thesen zu veröffentlichen. Mit den Self-Publishing-Plattformen, Youtube-Kanälen, Blogs und Books-on-demand-Optionen des Internetzeitalters scheinen heute die Möglichkeiten von akademischen Außenseitern, sich zu präsentieren, stark gewachsen zu sein. Allerdings ist damit keinesfalls Seriosität garantiert – im Gegenteil: im Selbstverlag Publiziertes gilt in der Wissenschaftscommunity weithin als Makel, während weiterhin etablierte Publikationsorte und Zitierkartelle existieren, die wissenschaftliche Außenseiter auf Distanz halten.

Eine durchaus nachteilhafte Wirkung auf die Innovationsfähigkeit und Vielfalt des Wissenschaftsbetriebs hat auch das heute gängige Peer-Review-Verfahren, die Prüfung von Forschungsanträgen und publizistischen Beitragseinreichungen durch anonyme akademische Kollegen, weil es sich dabei oftmals um Konkurrenten des Antragstellers handelt. Es versteht sich von selbst, dass es auf solche Weise und im Schatten der Anonymität für etablierte Wissenschaftler einfach ist, Außenseiter und Newcomer zu sabotieren und auszuschließen:  „Man kann sicher sein, dass manche der bahnbrechendsten Arbeiten in der Vergangenheit nie erschienen wären, wenn man sie einer Peer Review nach heutigen Maßstäben unterzogen hätte.“18

Damals wie heute verlieren sich manche der Zurückgewiesenen in parawissenschaftlichen Communities und wissenschaftsfeindlichen Positionen. Ohne korrigierende Kontakte zu akademischen Kollegen versteigen sie sich in absurden Theorien. Andere weichen in populärwissenschaftliche Bereiche aus. Einige wenige von ihnen können mit populistischen oder sensationellen Thesen große Erfolge in den Medien und auf dem Buchmarkt feiern – und dann das dadurch erworbene symbolische Kapital einsetzen, um es im akademischen Betrieb doch noch zu einer gewissen Anerkennung zu bringen. In vielen Fällen wurden und werden die vom Wissenschaftsbetrieb Abgewiesenen von der Motivation angetrieben, die als Kränkung erlebte Zurückweisung zu kompensieren oder sich gar in gewisser Weise dafür zu rächen. Das erklärt die bisweilen überaus radikalen inhaltlichen Positionen und die polemische Aggressivität der Sprache, wobei dieser Verbalradikalismus als eine spezifische Form toxischer Männlichkeit gelten darf, etwa als eine Ersatzhandlung für nicht ausgelebte körperliche Aggressionen:

Spengler ist der Typus des gehemmten, vereinsamten und sozial isolierten Denkers, dem es gelingt, sich inmitten seiner Depressionen zu einem monumentalen Werk durchzuringen. Es gibt kaum einen Fall, wo das gängige psychologische Kompensationsargument plausibler wäre als hier: Der ohnmächtige, ängstliche und inhibierte Grübler erzeugt mit herrischem Sprachgestus eine Weltvision, die alles übergreift und jede persönliche Kontingenz bedeutungslos erscheinen lässt.19

Akademische Außenseiter wie Lagarde und Nietzsche-Adepten wie Langbehn und Spengler konnten vor mehr als hundert Jahren in Deutschland große Erfolge feiern – sie bestimmten den damaligen Kulturdiskurs maßgeblich mit. Doch ihre intrinsische Motivation, der Kern ihres Geschäftsmodells, basierte auf der Bewirtschaftung von Ressentiments. Als giftige Außenseiter machten sie Kulturpessimismus, Antisemitismus und Wissenschaftsfeindlichkeit populär. Eine fatale Langzeitwirkung der Schriften Langbehns und Spenglers war es zudem, dass sie Nietzsche ins rechtsextreme Diskursfeld rückten und damit seinen Missbrauch durch den Faschismus vorbereiteten.

Im Universum der akademischen Eigenbrötler und wissenschaftlichen Außenseiter strahlte auch Nietzsche als einsamer Stern. Mit der Übersiedlung nach Basel wird Nietzsche 1869 staatenlos. Ab Wintersemester 1875/76 ist er zudem arbeitslos, die Universität Basel beurlaubte ihn aus gesundheitlichen Gründen. Bereits zuvor hatte er sich durch die Publikation Die Geburt der Tragödie in der philologischen Fachwelt isoliert, wo sein Ansatz als zu künstlerisch gewertet wurde. Nach dem Ausscheiden aus dem Kreis der Wagner-Anhänger und nach dem durch gesundheitliche Gründe erzwungenen endgültigen Abschied vom akademischen Lehrbetrieb und der Pensionierung durch die Universität Basel führt Nietzsche ab 1879 ein ungebundenes Leben als akademischer Außenseiter und Freigeist. Er pendelt zwischen Italien, Frankreich, der Schweiz und Sachsen und lebt dabei recht sparsam, um mit seiner Rente publizistische Vorhaben finanzieren zu können: „Erzwungenermaßen scheint sich nun das Lebensideal zu erfüllen, das er als junger Professor in seinen Basler Vorträgen ‚Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten‘ gepriesen hatte, ‚allein und in würdevoller Isolation leben zu können.‘“20  

Er reist und publiziert viel, bleibt aber ohne große öffentliche Resonanz, nur wenige Freunde und Insider kennen seine Schriften. Gentleman scholar Nietzsche erträgt seine splendid isolation mit stiff upperlip, und tröstet sich mit der Überzeugung, erst in 100 oder 200 Jahren verstanden zu werden.21

Artikelbild: Foto einer Schweizer Berglandschaft von Christian Saehrendt

Quellen

Di Trocchio, Federico: Newtons Koffer. Geniale Außenseiter, die die Wissenschaft blamierten. Frankfurt 1998.

Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche, Bd. III. München 1979.

Felken, Detlef: Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur. München 1988.

Gerhardt, Volker: Friedrich Nietzsche. München 1995.

Planck, Max: Wissenschaftliche Selbstbiographie. Leipzig 1948.

Podach, Erich F.: Gestalten um Nietzsche. Mit unveröffentlichten Dokumenten zur Geschichte seines Lebens und seines Werks. Weimar 1932.

Sieferle, Rolf Peter: Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen. Frankfurt a. M. 1995.

Sieg, Ulrich: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus. München 2007.

Sommer, Andreas Urs: Zwischen Agitation, Religionsstiftung und „hoher Politik“. Paul de Lagarde und Friedrich Nietzsche. In: Nietzscheforschung Bd. 4 (1998), S. 169–194.

Stern, Fritz: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Bern 1963.

Wuketits, Franz M.: Außenseiter in der Wissenschaft. Pioniere – Wegweiser – Reformer. Heidelberg 2015.

Fußnoten

1: Vgl. dazu ausführlich meinen Artikel über Spengler auf diesem Blog (Link).

2: Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 52.

3: Vgl. Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet, S. 168 ff.

4: Vgl. Andreas Urs Sommer, Zwischen Agitation, Religionsstiftung und „hoher Politik“.

5: Sieg, Deutschlands Prophet, S. 355–358.

6: Stern, Kulturpessimismus, S. 148.

7: Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 299.

8: Siehe zu dieser Episode Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche, S. 96-113 und Erich F. Podach, Gestalten um Nietzsche, S. 177-199.

9: Ebd., S. 197.

10: Wuketits, Außenseiter in der Wissenschaft, S. 35.

11: Federico Di Trocchio, Newtons Koffer, S. 22.

12: Ebd., S. 244.

13: Max Planck, Wissenschaftliche Selbstbiographie, S. 22.

14: Di Trocchio, Newtons Koffer, S. 100.

15: Ebd., S. 23.

16: Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 73.

17: Vgl. Detlef Felken, Oswald Spengler, S. 25 ff.

18: Wuketits, Außenseiter in der Wissenschaft, S. 36 f.

19: Rolf Peter Sieferle, Die Konservative Revolution, S. 106.

20: Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, S. 48. Vgl. Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, 5. Vortrag.

21: Vgl. Gerhardt, Friedrich Nietzsche, S. 57.

„Frieden um mich“

Eine ungewöhnliche Weihnachtsbotschaft

„Frieden um mich“

Eine ungewöhnliche Weihnachtsbotschaft

16.12.24
Paul Stephan

In unserem letzten Artikel vor der Pause zum Jahreswechsel untersucht Paul Stephan in einem close reading einen bemerkenswerten Aphorismus Nietzsches, in dem dieser sich mit dem berühmten Weihnachtssegen „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ auseinandersetzt. Wie beim Auspacken eines mehrfach verhüllten Geschenks versucht er, die unterschiedlichen Bedeutungsschichten dieses Textes freizulegen, um Nietzsches genaue Positionierung deutlich hervortreten zu lassen. Ob man am Ende eine leuchtende Wahrheit in der Hand hält oder der Karton leer bleibt, mag der Leser für sich entscheiden. Wir wünschen jedenfalls allen unserer Leserinnen und Leser mit Nietzsche: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander!“

In unserem letzten Artikel vor der Pause zum Jahreswechsel untersucht Paul Stephan in einem close reading einen bemerkenswerten Aphorismus Nietzsches, in dem dieser sich mit dem berühmten Weihnachtssegen „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ auseinandersetzt. Wie beim Auspacken eines mehrfach verhüllten Geschenks versucht er, die unterschiedlichen Bedeutungsschichten dieses Textes freizulegen, um Nietzsches genaue Positionierung deutlich hervortreten zu lassen. Ob man am Ende eine leuchtende Wahrheit in der Hand hält oder der Karton leer bleibt, mag der Leser für sich entscheiden. Wir wünschen jedenfalls allen unserer Leserinnen und Leser mit Nietzsche: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander!“
Zeichnung von Robert Linke. Mit herzlichem Dank an den Künstler.

I. Die „goldene Loosung“

Die goldene Loosung. – Dem Menschen sind viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sich wie ein Thier zu gebärden: und wirklich, er ist milder, geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Thiere sind. Nun aber leidet er noch daran, dass er so lange seine Ketten trug, dass es ihm so lange an reiner Luft und freier Bewegung fehlte: – diese Ketten aber sind, ich wiederhole es immer und immer wieder, jene schweren und sinnvollen Irrthümer der moralischen, der religiösen, der metaphysischen Vorstellungen. Erst wenn auch die Ketten-Krankheit überwunden ist, ist das erste grosse Ziel ganz erreicht: die Abtrennung des Menschen von den Thieren. – Nun stehen wir mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen und haben dabei die höchste Vorsicht nöthig. Nur dem veredelten Menschen darf die Freiheit des Geistes gegeben werden; ihm allein naht die Erleichterung des Lebens und salbt seine Wunden aus; er zuerst darf sagen, dass er um der Freudigkeit willen lebe und um keines weiteren Zieles willen; und in jedem anderen Munde wäre sein Wahlspruch gefährlich: Frieden um mich und ein Wohlgefallen an allen nächsten Dingen. – Bei diesem Wahlspruch für Einzelne gedenkt er eines alten grossen und rührenden Wortes, welches Allen galt, und das über der gesammten Menschheit stehen geblieben ist als ein Wahlspruch und Wahrzeichen, an dem Jeder zu Grunde gehen soll, der damit zu zeitig sein Banner schmückt, – an dem das Christenthum zu Grunde gieng. Noch immer, so scheint es, ist es nicht Zeit, dass es allen Menschen jenen Hirten gleich ergehen dürfe, die den Himmel über sich erhellt sahen und jenes Wort hörten: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen an einander.“ – Immer noch ist es die Zeit der Einzelnen.1

Mit diesem Aphorismus beendet Nietzsche den zweiten Teil des zweiten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches, der überschrieben ist mit Der Wanderer und sein Schatten. Im Rückblick bezeichnet Nietzsche dieses Buch als das Dokument einer großen persönlichen Krise:

Damals – es war 1879 – legte ich meine Basler Professur nieder, lebte den Sommer über wie ein Schatten in St. Moritz und den nächsten Winter, den sonnenärmsten meines Lebens, als Schatten in Naumburg. Dies war mein Minimum: „Der Wanderer und sein Schatten“ entstand währenddem. Unzweifelhaft, ich verstand mich damals auf Schatten…2

Es ist unschwer zu erkennen, dass sich im zweiten Band seiner ersten großen Aphorismensammlung eine Wandlung vollzieht. Der erste Band des „Buches für freie Geister“, der 1878 erschien, steht noch ganz im Lichte einer aufgeklärten und individualistischen geistigen Libertinage. Gewidmet ist die Erstausgabe dem Aufklärer Voltaire, der hundert Jahre zuvor verstorben war. In den beiden Nachträgen zu diesem Buch – Vermischte Meinungen und Sprüche und eben Der Wanderer und sein Schatten –, die zunächst als separate Bücher 1879 und 1880 erschienen und erst 1886 zusammen mit dem ersten Band als ein Buch publiziert wurden, schlägt er in der Tat andere, ‚dunklere‘ und nachdenklichere Töne an. Die Selbstreflexivität nimmt zu, der Stil wird paradoxaler. Nietzsche wird immer mehr der zweifelnde ‚Hämmerer‘ seiner späteren Schriften.

Dieser Schlussaphorismus ist nun jedoch bemerkenswert ‚licht‘. Im ersten Abschnitt des Aphorismus, bis zum zweiten Gedankenstrich, vertritt er sichtlich das Programm eines aufklärerischen Humanismus. Der Mensch soll das Tier in sich überwinden und „milder, geistiger, freudiger, besonnener“ werden. Zarathustras Ideen der „Selbstüberwindung“ und des „Übermenschen“ deuten sich hier an, doch ohne die ‚dunkle‘ Wendung, die Nietzsche ihnen später geben sollte.

Es folgt dann, bis zum nächsten Gedankenstrich, die These, die man eigentlich als Nietzsches ‚Grundansicht‘ bezeichnen könnte und der er vom Frühwerk an bis zum Spätwerk die Treue halten sollte: dass sich der Mensch, um sein ureigenstens Potential zu realisieren, von den „Ketten“ der traditionellen Metaphysik und Moral befreien muss, die ihn bislang erdrückten und im Zustand der Animalität verbleiben ließen.

Diese Wendung überrascht, rechtfertigen sich jene „Irrthümer“ doch genau damit, einen Bruch zwischen Tier und Mensch zu erzeugen. Bereits die biblische Geschichte vom Sündenfall erzählt davon, wie dieser Bruch in die Welt kam. Nietzsche dreht diese gewohnte Perspektive hier diametral um – wie vermag er das zu rechtfertigen?

Es folgt bis zum nächsten Gedankenstrich jedoch keine Antwort auf diese naheliegende Frage, sondern eine neue Wendung in Nietzsche Argumentation, indem er eine weitere seiner Kernthesen anführt: dass sich nicht jeder Mensch gleichermaßen in seinem Sinne geistig befreien dürfe. Dieses Leben ohne moralische Fesseln soll den „veredelten Menschen“ vorbehalten bleiben. Sein Wahlspruch ist – auch dies ein typisches Stilmittel Nietzsches – eine Variation der Weihnachtsverkündigung, wie sie noch heute jedes Jahr in den Kirchen am Heiligen Abend verlesen wird.

Am Ende des Aphorismus wird diese, allerdings auch wieder leicht variiert, zitiert. Im klassischen Wortlaut der Luther-Bibel, mit dem Nietzsche natürlich bestens vertraut war – hier in der Version von 1912, die ihm weitgehend entspricht – lautet die Losung: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ (Luk. 2, 14) Es handelt sich um eine kollektive Prophezeiung der „Menge der himmlischen Heerscharen“ (Luk. 2, 13) an die Hirten als Repräsentanten des einfachen Volkes.

Allerdings – und womöglich war das Nietzsche bekannt – folgt die originale Luther-Bibel einer mittlerweile als veraltet geltenden Lesart des griechischen Originaltexts. Die neuste Version dieser Übersetzung von 2017 lautet daher etwas anders: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Es geht hier also nicht mehr um ein Gnaden- und Friedensversprechen an wirklich alle Menschen, sondern nur ein Friedensversprechen an diejenigen, denen das „Wohlgefallen“ Gottes zu Teil wird.

Blättert man im Lukas-Evangelium ein Kapitel nach vorne, wird deutlich, wie diese Einschränkung gemeint sein könnte, denn dort heißt es im berühmten Lobgesang Marias (in der Übersetzung von 2017): Gottes „Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Luk. 1, 50–53) Es geht also im Neuen Testament nicht unbedingt um ein seichtes ‚Gott hat alle Menschen lieb‘, sondern eine revolutionäre Botschaft: Gott hat nur die Menschen ‚lieb‘, die an ihn glauben, und die nicht „hoffärtig“ sind. Insbesondere ausgenommen werden hier, wie auch an zahllosen anderen Stellen des Buches, die Reichen und Mächtigen. – Aus dieser Perspektive klingt Nietzsches erste Umkehrung des Segens sehr „hoffärtig“: Der freie Geist möchte nur um sich Friede und in Einklang mit den Dingen leben, die ihn umgeben.

Auch dies wirft wieder Fragen auf. Wieso genau ist es für diese Losung noch nicht an der Zeit? Was müsste geschehen, damit sie als Ideal aufgestellt werden könnte? Und wie ist es zu erklären, dass Nietzsche einerseits einen Bruch mit allen bisherigen Idealen verkündet, diesen jedoch zugleich relativiert, insofern er das utopische Ziel des Christentums ja sogar gutheißt? – Dass Nietzsche sich dieses Ziel zu eigen macht, wird dadurch unterstrichen, dass er mit dieser Formel – „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander!“ – eine Postkarte beendete, die er am 23. 12. 1878 an seinen Studenten und Vertrauten Adolf Baumgartner schickte.3

II. Friede oder Wohlgefallen aneinander!

Zwei Nachlassfragmente aus den 1880er Jahren verdeutlichen, dass Nietzsche die heiklen Fragen, die dieser Aphorismus aufwirft, aber offen lässt, beantworten wird, indem er sich stärker als hier vom Ziel des Christentums distanziert. „Frieden und den Menschen ein Wohlgefallen“ erscheint ihm nun als Losung der „décadence“, die sich in der Unfähigkeit zum Widerstand gegenüber anderen äußere, in Toleranz, Mitleid und Nachsicht. An die Stelle dieser Moral der Schwäche soll nun eine Ethik der Stärke und Härte treten, die in keiner Weise mehr den „Frieden“ und das „Wohlgefallen an einander“ im Sinne hat, es sei denn im Sinne der ersten Losung.4

Er vertritt nun offensiv die Amoralität:

„Die Krankheit macht den Menschen besser“: diese berühmte Behauptung, der man durch alle Jahrhunderte begegnet, und zwar im Munde der Weisen ebenso als im Mund und Maule des Volks, giebt zu denken. Man möchte sich, auf ihre Gültigkeit hin, einmal erlauben zu fragen: giebt es vielleicht ein ursächliches Band zwischen Moral und Krankheit überhaupt? Die „Verbesserung des Menschen“, im Großen betrachtet, zum Beispiel die unleugbare Milderung Vermenschlichung Vergutmüthigung des Europäers innerhalb des letzten Jahrtausends – ist sie vielleicht die Folge eines langen heimlich-unheimlichen Leidens und Mißrathens, Entbehrens, Verkümmerns? Hat „die Krankheit“ den Europäer „besser gemacht“? Oder anders gefragt: ist unsere Moralität – unsere moderne zärtliche Moralität in Europa, mit der man die Moralität des Chinesen vergleichen möge – der Ausdruck eines physiologischen Rückgangs?… Man möchte nämlich nicht ableugnen können, daß jede Stelle der Geschichte, wo „der Mensch“ sich in besonderer Pracht und Mächtigkeit des Typus gezeigt hat, sofort einen plötzlichen, gefährlichen, eruptiven Charakter annimmt, bei dem die Menschlichkeit schlimm fährt; und vielleicht hat es in jenen Fällen, wo es anders scheinen will, eben nur an Muth oder Feinheit gefehlt, die Psychologie in die Tiefe zu treiben und den allgemeinen Satz auch da noch herauszuziehn: „je gesünder, je stärker, je reicher, fruchtbarer, unternehmender ein Mensch sich fühlt, um so „unmoralischer“ wird <er> auch“. Ein peinlicher Gedanke! dem man durchaus nicht nachhängen soll! Gesetzt aber, man läuft mit ihm ein kleines, kurzes Augenblickchen vorwärts, wie verwundert blickt man da in die Zukunft! Was würde sich dann auf Erden theurer bezahlt machen als gerade das, was wir mit allen Kräften fordern – die Vermenschlichung, die „Verbesserung“, die wachsende „Civilisirung“ des Menschen? Nichts wäre kostspieliger als Tugend: denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital: und „Jeder Jedermanns Krankenpfleger“ wäre der Weisheit letzter Schluß. Freilich: man hätte dann auch jenen vielbegehrten „Frieden auf Erden“! Aber auch so wenig „Wohlgefallen an einander“! So wenig Schönheit, Übermuth, Wagniß, Gefahr! So wenig „Werke“, um derentwillen es sich noch lohnte, auf Erden zu leben! Ach! und ganz und gar keine „Thaten“ mehr! Alle großen Werke und Thaten, welche stehn geblieben sind und von den Wellen der Zeit nicht fortgespült wurden – waren sie nicht alle im tiefsten Verstande große Unmoralitäten?… 5

Es gilt nun: entweder Frieden oder „Wohlgefallen an einander“. Wenn die Menschen sich friedlich verhalten, wenn sie geschwächt sind, können sie kein authentisches wechselseitiges Wohlgefallen empfinden.

Dies wirkt wie ein Versuch, den Aphorismus aus Der Wanderer und sein Schatten wenigstens nachträglich argumentativ zu unterfüttern. Das Christentum scheiterte an seinem Ideal, weil es zwei kontradiktorische Forderungen erhebt. Damit ist es freilich nicht nur „noch nicht“ realisierbar, es ist niemals realisierbar und taugt noch nicht einmal als Ideal. Als ein solches kann nur die individuelle Forderung an den einzelnen gelten, mit sich selbst in Einklang zu kommen und seine unmittelbare Umgebung wertzuschätzen. Doch auch diese möchte Nietzsche eben nicht an alle gerichtet wissen, sondern nur an die starken Naturen, die es auch wert sind, sich selbst zu bejahen. Die Schwachen sollen sich ruhig selbst verneinen und in Unfrieden mit sich und ihrer Umgebung leben – ihre Natur prädestiniert sie ohnehin dazu.

Der revolutionäre Ursinn des Weihnachtssegens bekräftigt Nietzsches Vorbehalte ja nur. Offenkundig geht es hier um das, was Nietzsche in Zur Genealogie der Moral als „Sklavenmoral“ bezeichnen wird: Die Starken sollen niedergehalten und gezähmt werden, um allgemeinen Frieden zu ermöglichen. Doch das Christentum verkennt, dass dadurch nur eine langweilige, graue, „nihilistische“ Welt entsteht, in der es am Menschen nichts mehr zu bejahen gibt. Anstatt das Tierische im Menschen zu transzendieren, werden die Menschen in Haustiere verwandelt.

III. Unweihnachtlich – allzuweihnachtlich?

Sicher ist an Nietzsches Gedanken etwas dran. Jeder kennt soziale Kontexte, in denen alle furchtbar nett zueinander sind, aber eigentlich keine wirklichen zwischenmenschlichen Resonanzen entstehen können, gerade weil zu diesen auch Konflikt und Ehrlichkeit gehört. In ihnen herrscht oft eine dumpfe, stickige Atmosphäre, wie auf einem Familienfest. Viele erleben Weihnachten wahrscheinlich genau so, als Inbegriff der christlichen Lüge und Heuchelei. Sollen sich diese Menschen doch erst einmal selbst lieben und mit sich selbst ins Reine kommen, ehe sie andere mit ihrem „Mitleid“ beschenken!

Doch der Nietzsche von Der Wanderer und sein Schatten macht es sich noch nicht so einfach wie der spätere. Es geht hier nicht um von Natur aus starke Individuen, sondern anscheinend solche, die in einem Bildungsprozess „veredelt“ worden und mithin wirklich Herr ihrer geheimen Begierden und Triebe geworden sind; die „stark“ in dem Sinne sind, dass in ihnen kein Rest an unsublimierter Animalität verblieben ist. Bei denen, im Sinne Freuds, wo „Es“ war, „Ich“ geworden ist. Erst sie könnten auch anderen gegenüber wirklich friedlich sein, ohne sich selbst belügen zu müssen. Sie sind also anderen gegenüber friedlich nicht, weil sie es sollen, sondern weil sie es wirklich wollen. Wird dieses Ideal jedoch allen aufgezwungenen, auch denen, die noch nicht bereit dazu sind, führt es nur zu Verlogenheit und innerer Zerrissenheit. Man ist nett zu allen, doch in Wahrheit voll von Aggressionen – für die man sich dann wiederum selbst hasst.

Nietzsche hält es in diesem Aphorismus jedoch noch für möglich und sogar für erstrebenswert, dass sich alle Menschen in diesem Sinne „veredeln“ und derart mit sich selbst und ihrer Umgebung im Reinen sind, dass ein wirklicher Frieden auf der Welt herrschen könnte. Dann erst könnten sich die Menschen wahrhaft gegenseitig wertschätzen. Und Friedlichkeit und Wertschätzung wären nichts mehr, was man moralisch verordnen müsste, sondern was sich aus diesem aufgeklärten, mit sich selbst einigen, authentischen Bewusstsein von selbst ergeben würde.

Das wäre also schlussendlich Nietzsches ‚frohe Botschaft‘ zur Weihnachtszeit: Respekt, Mitleid, Nächstenliebe und alle anderen Ideale des Christentums lassen sich nicht moralisch vorschreiben oder einfordern; sie müssen aus echter Selbstbejahung und Selbstbeherrschung heraus erwachsen. Wahre Moralität muss von innen kommen. Das Christentum betrügt die Menschen in Nietzsches Darstellung, indem es eine solche Moralität ohne eigene Anstrengung verspricht. Es müssen nur die ‚bösen Menschen‘ beseitigt werden, dann ist alles gut. Doch Friede kann nur um sich verbreiten und andere wahrhaft wertschätzen, wer den inneren Frieden aus eigener Kraft gefunden hat und wer sich selbst wertschätzt. – Doch ist das überhaupt so antichristlich und erinnert nicht vielmehr das Christentum an seinen eigenen Kern? Es ist jedenfalls eine sehr andere Botschaft als diejenige, die man an Weihnachten üblicherweise zu Ohren bekommt.

Fußnoten

1: Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten 350.

2: Ecce homo, Menschliches, Allzumenschliches 1.

3: Brief Nr. 785.

4: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1888 23[4].

5: Nachgelassene Fragmente 1886 4[7].

Interessante Fremde

Bemerkungen zu Kafkas Werk

Interessante Fremde

Bemerkungen zu Kafkas Werk

9.12.24
Michael Meyer-Albert

Vor 100 Jahren starb Franz Kafka. Der folgende Text ist ein Aktualisierungsversuch, der sich seinem Werk mit einer von Nietzsche inspirierten sozio-psychologischen Perspektive nähert. Seine These: Kafka zeigt erzählend, wovon Nietzsche philosophiert. Michael Meyer-Albert will dafür werben, in den als düster-surreal geltenden Fiktionen eines der bedeutendsten Autoren der Moderne die Logik einer nichtnaiven Weltaufhellung zu finden: Lebensbejahung statt Suizid.

Redaktioneller Hinweis: Einige schwierige Fachbegriffe haben wir in den Fußnoten erläutert.

Vor 100 Jahren starb Kafka. Der folgende Text ist ein Aktualisierungsversuch, der sich seinem Werk mit einer von Nietzsche inspirierten sozio-psychologischen Perspektive nähert. Seine These: Kafka zeigt erzählend, wovon Nietzsche philosophiert. Michael Meyer-Albert will dafür werben, in den als düster-surreal geltenden Fiktionen eines der bedeutendsten Autoren der Moderne die Logik einer nichtnaiven Weltaufhellung zu finden: Lebensbejahung statt Suizid.

„[...], war es eine Komödie, so wollte er mitspielen. Noch war er frei.“  

Kafka, Der Prozeß

I. Kafkaesk

In Woody Allens Film Play It Again, Sam aus dem Jahr 1972 gibt es eine Szene in einem Museum, in der der Protagonist Allan etwas unbeholfen eine Frau anspricht, die in die Betrachtung eines Bildes versunken ist. Er versucht sein Glück, indem er sie fragt, was das Bild für sie bedeute. Darauf sieht sie ihn nicht an, sondern beschreibt in einem sonoren Monolog ihre Faszination für den existenziellen Pessimismus, den das Bild für sie hat. In seiner anders gearteten Faszination geht Allan auf den Schwall der dunklen Philosopheme nicht ein und fragt schlicht, ob die Dame am Samstag zufällig Zeit hätte für ein Rendezvous. Sie entgegnet darauf – offenbar ist es ihr ernster mit dem existenziellen Pessimismus –, dass sie samstags nicht könne, sie würde an diesem Tag Selbstmord begehen. Davon lässt sich Allan nicht entmutigen und fragt etwas verzweifelt, ob sich dann nicht ein Treffen am Freitag einrichten ließe. – Eine der folgenden Szenen zeigt die beiden nackt in einer anscheinend postkoitalen Situation im Bett. Schüchtern und nervös fragt Allan, wie sie den Beischlaf gefunden habe. Ihre Antwort: „Es war kafkaesk.“

Allens Film zeigt in dieser Passage tiefsinnig auf, wie das Erbe von Franz Kafka kollabierte zu einer Phrase. In einem Jargon der Absurdität1 funktioniert sie als eine Art Markierung für das Vokabular einer negative Weltsicht, die durch ihre automatische Geläufigkeit kontextunsensitiv in unpassende Situationen überspringt. „Kafkaesk“ konnotiert die grundlegende Absurdität des Lebens. Während bei Kafka die Absurditäten des Lebens zumeist eine düstere surreale Hoffnungslosigkeit ausdrücken, weist Allens Film darauf hin, dass existenzielle Absurditäten auch durchaus eine andere Richtung nehmen können. Sex statt Suizid. Für diese Nietzscheanisierung des Kafkaesken möchten die folgenden Abschnitte auf eine philosophische Weise werben. Für eine poetische Herangehensweise mit einer ähnlichen Stoßrichtung sei auf das Werk von Wilhelm Genazinos verwiesen, das die „Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“ in humorvoller Detailschärfe beschreibt.

II. Die Wunde Kafka

Kafka ist einer der Kronzeugen für die moderne Philosophie, die an der Moderne verzweifelt. Sein Werk gilt als Indiziensammlung für die dunkle Wahrheit der „verwalteten Welt“ (Adorno). Dass Kunst als Garant dieser Wahrheit herhalten muss, kann allerdings als Indiz dafür gelten, dass die Philosophie sich nicht mehr alleine zutraut zu sagen, was ist. Doch als freiwillige Magd der Kunst tritt das Denken nur auf den ersten Blick in einer neuen Bescheidenheit auf. Philosophie als Königinmacherin behält sich vor, das letzte Wort darüber zu haben, was die Kunst eigentlich zum Besten gibt. Für diese Rolle der hermeneutischen Dechiffrierung disponiert zusätzlich die in der Moderne unter der Konvention des Unkonventionellen stehende Entwicklung der Kunstwerke, die sich in immer kryptischere Originalitäten versteigen. Philosophie wird zu einem Priestertum des Ästhetischen. Sie erlangt über den Umweg der Kunst wieder die Weihen der metaphysischen Wahrheit. Davon profitiert auch die moderne Kunst, deren manische Enigmatik sich nun einbilden kann, transzendenten Ursprungs zu sein. Ein augenzwinkernder Hinweis auf die Show der Schau reicht von Platons Ion bis zu Sigmar Polkes: „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!“  

Neben Heidegger ist es vor allem Adorno gewesen, der die Philosophie über die Interpretationshoheit maßgeblicher Werke wieder für die Wahrheit retten will. Neurespektabel wird das Denken nach dem Versuch sich als eine verstehende, nicht bloß positivistisch erklärende Geisteswissenschaft aufzuwerten, als eine Form der Kunstauslegung. Neben Beckett und Schönberg ist es für Adorno Kafka, aus dessen Werk er die Legitimation ziehen möchte, die moderne Welt en gros als demiurgische Hölle des „Bestehenden“ zu diffamieren.  

Die Tragik von Adornos Philosophie ist es, dass ihre stupende Sensibilität manipuliert wird von ihrem Weltschmerzdogma. Ihre Negation von abstrakten Weltanschauungen schützt sie nicht davor, selbst wieder eine zutiefst resignative Weltanschauung  zu propagieren, die sich indirekt durch wiederholte Deutungsmuster vermittelt, die das, was ist, insgesamt als großes Unglück interpretieren. Damit instrumentalisiert Adorno Kafka als eine Bestätigung für seine gnostischen2 Vorurteile. Er verstellt sich so eine bereichernde Betrachtung auf das Werk Kafkas. Und das, obwohl er es mit Sätzen wie diesen, die von der seiner großen ästhetischen Sensibilität zeugen, zugänglicher machte: „Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden.“3

Mit einer sozio-psychologischen Herangehensweise ließe sich Kafkas Wunde metaphysisch abgeklärter verstehen. Es wird schnell klar: Kafka hatte daddy issues, exemplarisch ablesbar in Das Urteil in der Gestalt Georg Bendemann oder auch im Brief an den Vater. Der Konflikt lässt sich leicht verständlich machen: Kafkas Vater stammte aus sehr einfachen Verhältnissen, Sohn eines Fleischhauers aus einem 100-Seelen-Dorf, der dann in Prag sein Glück suchte und dort mit Hilfe seiner vermögenden Frau ein Galanteriewarengeschäft gründete. Als erfolgreicher Entrepreneur, der es schaffen wollte und geschafft hat, hatte er kein Verständnis für einen Sohn, der allein für die Literatur leben wollte.

Philosophisch anspruchsvoll werden Kafkas Vaterprobleme, wenn man sie kulturgeschichtlich deutet. Die Figur das Vaters figuriert dann als erziehende Autorität, die den Akt der Geburt in erweiterten Dimensionen fortsetzt. Der Vater als die ergänzende Mutter führt ein in die Gesellschaft und die kulturellen Räume. Seine Autorität erscheint so nicht nur als diffuse Form einer herrischen Macht, sondern als überlegenes Muster von Kompetenz. Kafkas Werk geht so gesehen nicht darin auf, ein Indiz für die Welt der bürokratischen Herrschaftsformen zu sein, sondern es ist darüber hinaus ein Zeichen für die abgründigen Effekte, die sich einstellen, wenn der Zusammenhang der Generationen nicht mehr über Traditionen vermittelt wird, die für die Nachkommen eine hinreichende Plausibilität erreichen können. Kafkas Tagebuch ist ein Sammelsurium von Belegen für eine ortlose Existenz:

Ohne Vorfahren, ohne Ehe, ohne Nachkommen, mit wilder Vorfahres-, Ehe- und Nachkommenslust. Alle reichen mir die Hand: Vorfahren, Ehe und Nachkommen, aber zu fern für mich.4
Ich bin unsicherer, als ich jemals war, nur die Gewalt des Lebens fühle ich. Und sinnlos leer bin ich. Ich bin wirklich ein verlorenes Schaf in der Nacht und im Gebirge oder wie ein Schaf, das diesem Schaf nachläuft. So verloren zu sein […].5
Bin ganz leer und sinnlos, die vorüberfahrende Elektrische hat mehr lebendigen Sinn.6  

Wenn Autoritäten als plausible Muster, die nachgeahmt und variiert werden können, nur noch als befremdende Mächte erfahren werden, fällt das Lernen eines halbwegs umfänglichen Zur-Welt-Kommens aus: „Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt.“7

Kafkas Werk zeigt also die erste Phase dieses Abbruchs einer kulturellen Nidation8 in Folge eines generationellen Prozesses, der von zwei Weltkriegen geprägt wurde und in der Grundstimmung einer universellen Ratlosigkeit resultierte.  

In der zweiten Phase werden die Joseph Ks von aggressiveren rotbraunen Irrlehren mobilisiert, die ihm die vermeintlichen Schuldigen für seine Notlage benennen können und radikale Auswege aufzeigen. Dostojewskis unheimlichster Roman Die Dämonen (1872) hat diese Grundspannung, die so dominant werden sollte für das 20. Jahrhundert, in einer prophetischen Tiefenpsychologie erzählerisch ausgestaltet. Es ist genau die Vorform dieser Spannung, die der Affe Rotpeter in Kafkas Erzählung Ein Bericht für eine Akademie in den folgenden Worten beschreibt: „Nein, Freiheit wollte ich nicht. Nur einen Ausweg; rechts, links, wohin immer; […].“9

III. Nietzsches mögliche Aufzeichnungen zu Kafka

Über Nietzsche finden sich explizit keine Aufzeichnungen bei Kafka. Es ist allerdings von Max Brod, Kafkas Jugendfreund, überliefert, dass sein erstes Kennenlernen mit Kafka in einer intensiven Diskussion bestanden habe, bei der Kafka Brods Eintreten für Schopenhauer mit einem Hinweis auf Nietzsche kritisierte.10

Dennoch lässt sich mit Nietzsche eine sozio-psychologische Sichtweise auf Kafkas Werk vertiefen, indem ein Schritt hin zu einer metaphysischen Perspektive gemacht wird. Kafkas Literatur wird darin nicht als vermeintliche Theologie im Sinne einer modernen Kabbala11 gelesen, sondern als Ausgrabungsstätte für eine philosophische Archäologie, die die spurenhafte Wirkung von kulturellen Konzepten verdeutlicht. Mit dieser Sicht lassen sich in Kafkas düsterem Erzähluniversum zwei Leidparadigmen unterscheiden. Stellvertretend dafür können seine beide Romanhauptwerke stehen. So thematisiert Das Schloss implizit die platonische Seinsferne, die von einem melancholischen Abstand zwischen der irdischen Welt und den ewigen Guten ausgeht. Das Beste bleibt trotz aller Spuren und Annäherungsversuche unzugänglich. Die Sirenen schweigen. Den Roman Der Prozess wiederum könnte man lesen als Aktualisierung der augustinischen Erbsündenlehre – diese moralisiert Platons Abstand vom Sein – im Gewand der modernen Bürokratie. Ein unerklärliches Schuldigsein bestimmt das Leben wie eine anonyme Macht. Alle Bemühungen in einem bürokratischen Prozess Aufschluss über den Charakter dieser Schuld, Aufklärung und Gerechtigkeit zu erhalten scheitern letztlich. Die Wunde Kafka ist demnach kein Indiz für die „verwaltete Welt“ (Adorno), sondern die Spur von mächtigen metaphysischen Traditionen, die die Grundverständnisse und Stimmungen in der Moderne massiv prägen.

Folgt man dieser Lesart, so zeigt sich das von Nietzsche herausgestellte und kritisierte unnötig Masochistische eines platonisch-augustinischen Existenzialismus bei Kafka – vermutlich vor allem durch Kierkegaard vermittelt – in einer Vielzahl von Details. Etwa, wenn dem verhungernden Hungerkünstler am Ende die „Freude am Leben“ in der Gestalt eines Panthers – „dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper“ – gegenüber gestellt wird: „Ihm fehlt nichts.“12

IV. Schöne Rätselhaftigkeit

Kafkas Werke sind jedoch mehr als bloße Fußnoten zu Platon oder Augustinus. Mein Vorschlag ist es, sein literarisches Schaffen als einen impliziten Existenzialismus zu lesen, der die Kontingenz des Seins auf eine moderne Weise herausstellt.

Nietzsche hat für eine positive Konnotation der existenziellen Kontingenz die befreiende Perspektive gefunden, das Leben als ein „Experiment des Erkennenden“ zu begreifen. Das setzt aber voraus, dass man sich verabschieden lernt von den zentralen ontologischen Paradigmen der abendländischen Kultur. Es gibt kein Sein als zentrale Ursprungsmitte, das zu den Rändern hin ausstrahlt und es gibt keinen gerechtmachenden Advent13, der einmal in einer besseren Welt sein wird. Keine Geschichtsphilosophie, kein Ganz-Anderes. Das „Nichtidentische“ (Adorno) und das Gefühl der „Seinsverlassenheit“ (Heidegger) sind Chimären, die daraus entstehen, dass das Kontingente unnötig zu einer Not–Wendigkeit resubstanzialisiert wird, gegen die dann wieder ungenaue Aggressionen freigesetzt werden. Kafkas poetisches Projekt ließe sich mit Nietzsches philosophischem Projekt in der Idee einer apollinischen Verklärung verbinden:

Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch? – so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke.14

Kafkas Apollinismus ist allerdings ein latenter Apollinismus zweiter Stufe. Seine Prosa zeigt Ansätze dafür, sich auf die unlebbare Dissonanz mit der Welt durch ihre Darstellung als unlebbare Dissonanz doch noch einen minimalen Restreim zu machen. Zentral ist dafür die Explikation eines hermeneutischen Perspektivismus. In den Texten Kafkas objektiviert sich das Rätsel Welt durch scheiternde Objektivierungen der Protagonisten. Oftmals werden ganze Systematiken des Verstehens fortgeführt, deren autopoietische15 Dynamiken kontrastieren mit der Situation, auf die sie reagieren. Das Bestätigen fällt aus. Das Ganze ist das Seltsame, an dem das Reflektieren scheitert: „Try again. Fail again. Fail better.“ (Beckett) Was ist skurriler als Gregor Samsa, der zu einem „ungeheuren Ungeziefer“ mutiert, aber sich vor allem Sorgen macht um die Unannehmlichkeiten, die sein Fernbleiben bei seiner Anstellung verursachen? Dergestalt wirken Kafkas Texte wie Sagen, die mit dem Gestus des Erklärens das Unerklärliche nicht erklären. Indirekt wird so das Unheimliche zum Merkwürdigen verklärt. Eine zu unverständliche Welt wird verständlicher, indem ihr Verstehen als Unverständlich-Bleiben verstanden wird. Jeder Satz spricht aus einer Gewöhnlichkeit heraus, aber alles bleibt ungewöhnlich.

Damit wird das ewige Gespräch mit und über die Gesamträtselhaftigkeit der Welt nicht nur fortgesetzt, sondern ermöglicht, weil deren Fragwürdigkeit durch die Unzulänglichkeit des Verstehens nun stärker hervortritt. In diesen Versuchen einer impliziten Verklärung des Disharmonischen zum Enigmatischen sind Kafkas Werke kulturfunktionalistisch gesehen Darstellungen provisorischer Horizontverschmelzungsversuche. Ihre Irritationen harmonisieren, weil sie ein Verstehen veranschaulichen, das in seinem Nichtverstehen verständlich wird. Vorgeführter Irrsinn erzeugt eine Ironie zum Sinnmachen, das jedoch sein muss. Kafkas Prosa ist ein entlastendes Propädeutikum für die Dissonanz, die wir sind. Sie verklärt das Verklären. Kontingenz wird darin spürbar in der Ambivalenz einer Grundstimmung von „schöner Fremde“ (Eichendorff).

V. Die müde Wunde

Kafkas enigmatische Objektivierungen des Enigmatischen besitzen auch für Nietzsche-Leser eine kulturphilosophische Bedeutung. Auf eine vertiefende Weise loten sie den Gedanken neu aus, zum Verklären verurteilt zu sein. Darüber hinaus zeigen sie Spuren davon, was es heißt, nicht mehr von den Schatten Gottes verdunkelt zu werden. Nicht die Wunde Kafka, sondern das Rätselhafte bei Kafka stimuliert als Sensibilisierung für das von Nietzsche im Medium der Philosophie etwas zu großspurig und parolenhaft geforderte anziehende Geheimnisvollsein des Lebens. Die Explikation des Enigmatischen stimuliert eine geistige Lebendigkeit. In allem lässt sich nunmehr etwas Interessantes finden. Die Vergeblichkeit des Verstehens wertet sich um zur Lizenz zum Poetisieren. Durch Kafkas Kunst wird der Rätselcharakter der Welt als Möglichkeit eines pluralen Dabeiseins in der Ausprägung einer hermeneutischen Diversität deutlicher. Freiheit kann sein, wenn das Verstehen durch sein Scheitern zu einem Spiel wird. Gerade ohne eine Königsbotschaft sind die individualisierten Kuriere der Moderne nicht mehr elend-sinnlos ihrem Gerede von Meldungen ausgeliefert. Nicht ein Diensteid verpflichtet sie zum Leben, sondern eine gesteigerte Disponierbarkeit für die unerhörten Begebenheiten verführt zum ermunternden Erzählen von der ewigen Novelle Welt und einem Neuengagement auf ihren Bühnen.

Diese Umwertung des unheimlichen Lebensprozesses zu einer unabsehbar interessanten Rätselhaftigkeit besitzt den Effekt einer kulturtherapeutischen Peripetie16. Kafka zeigt narrativ, wovon Nietzsche philosophiert. Inmitten der Fiktionalisierung von permanenten Selbstanklagen, die von einem unverständlichen Schuldgefühl (vgl. Der Prozess) und einer paranoiden Unsicherheit (vgl. Der Bau) inspiriert werden und der latenten Ahnung eines deprimierenden unaufhebbaren Abstandes zur Erfüllung (vgl. Das Schloss), finden sich hier und da bei Kafka unkafkaeske Stellen, die emanzipatorische Veränderungen der platonisch-augustinischen Mächte andeuten. Das Selbstgefühl, ein Niemand ohne Autorität von ganz oben zu sein, wird erlöst von dem Drang nach der Erlösung durch Gnade und Anerkennung, vom heroischen Siegenwollen und Revolutionen ganz zu schweigen. Kafkaesk könnte die Kontingenz der Existenz für einen redlichen „Willen zum Lebensdienste“ (Thomas Mann) werden, dem sich das Absurde als schöne Beliebigkeit und mögliche Anfänge von Siegen über die Banalität vermittelte. Nichts muss, alles kann. Angelus Silesius’  bekannte Losung gälte es umzukehren: Mensch, werde unwesentlich. Eine Ahnung von einer übermütigen Kontingenz, die den Zufall als Quelle der Gelegenheiten ehrt, vermittelt etwa Der Ausflug ins Gebirge:

„Ich weiß nicht“, rief ich ohne Klang, „ich weiß ja nicht. Wenn niemand kommt, dann kommt eben niemand. Ich habe niemandem etwas Böses getan, niemand hat mir etwas Böses getan, niemand aber will mir helfen. Lauter niemand. Aber so ist es doch nicht. Nur dass mir niemand hilft –, sonst wäre lauter niemand hübsch. Ich würde ganz gern – warum denn nicht – einen Ausflug mit einer Gesellschaft von lauter Niemand machen. Natürlich ins Gebirge, wohin denn sonst?“17

Auch für den paranoiden Maulwurf in Kafkas Der Bau gibt es Phasen, in denen er sich von seinen unablässigen „Verteidigungsvorbereitungen“ luzide distanziert: „Bis allmählich mit völligem Erwachen die Ernüchterung kommt, ich die Übereilung kaum verstehe, tief den Frieden meines Hauses einatme, den ich selbst gestört habe, […].“18

Am deutlichsten wertet Kafka in der Parabel Prometheus die Werte des Abendlandes um. Prometheus, ein antiker Christus am Kreuz, erlebt eine Auferstehung durch die heilende Macht der Zeit, wodurch „die ganze tragische Prometheia aller Erkennenden“19 verschwindet, wie am Meeresufer eine Sandburg in den Wellen. Keine Wunde lenkt mehr ab von dem Rätsel des bloßen Seins:

Die Sage versucht das Unerklärliche zu klären; […] Von Prometheus berichten vier Sagen. Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet und die Götter schickten Adler, die von seiner immer nachwachsenden Leber fraßen. […] Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler. Die Wunde schloß sich müde. Blieb das unerklärliche Felsgebirge.20

Quellen

Adorno, Theodor W.: Aufzeichnungen zu Kafka. In: Gesammelte Werke 10/1: Kulturkritik und Gesellschaft. Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt a. M. 1977.

Kafka, Franz: Erzählungen. Stuttgart 1994.

Ders.: Tagebücher. 1910-1923. Stuttgart 1967.

Oschmann, Dirk: Skeptische Anthropologie. Kafka und Nietzsche. In: Thorsten Valk (Hg.): Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne. Berlin 2009, S.129–146.

Fußnoten

1: Analog zu dem „Jargon der Eigentlichkeit“, den Adorno bei Heidegger und seinen Epigonen herausstellte.

2: Anm. d. Red.: „Gnosis“ meint die Überzeugung, dass die Welt, in der wir leben, nicht die Schöpfung Gottes, sondern eines untergeordneten, bösartigen „Demiurgen“ ist.

3: Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, S. 255.

4: Kafka, Tagebücher, S. 402 (21.Januar 1922).

5: Ebd., S. 236 (19.November 1913).

6: Ebd. (20. November 1913).

7: Ebd. S. 404 (24. Januar 1922).

8: Anm. d. Red.: Die Einnistung der aus der befruchteten Eizelle hervorgegangenen Frühform des Embryos in die Gebärmutterschleimhaut.

9: Kafka, Erzählungen, S. 202.

10: Vgl. Oschmann, Skeptische Anthropologie. Kafka und Nietzsche, S. 129.

11: Anm. d. Red.: Mystische Tradition des Judentums.

12: Kafka, Erzählungen, S. 235.

13: Anm. d. Red: Der Begriff „Advent“ bezeichnet neben der ersten Ankunft Christi seine Wiederkunft.

14: Die Geburt der Tragödie, Abs. 25.

15: Anm. d. Red.: „Autopoiesis“ bezeichnet den Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems.

16: Anm. d. Red.: In der Literaturtheorie der Umschlagspunkt einer Handlung.

17: Kafka, Erzählungen, S. 22.

18: Ebd., S. 468.

19: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 300.

20: Kafka, Erzählungen, S. 373.

Kafkas und Nietzsches vor dem Staat flüchtender Mensch

Oder: Frau-Werden nach Deleuze & Guattari

Kafkas und Nietzsches vor dem Staat flüchtender Mensch

Oder: Frau-Werden nach Deleuze & Guattari

3.12.24
Hans-Martin Schönherr-Mann

Kafka und Nietzsche eint die Auseinandersetzung mit Staat und Bürokratie. Deleuze & Guattari, deren Werke sich auf beide stützen, entwickeln eine unpolitische Antwort auf die fatale politische Situation, nämlich Verwandlungen nach Kafka, ein über sich Hinauswachsen nach Nietzsche, was man als Fluchtlinien aus einer bevormundenden Gesellschaft verstehen kann.

Kafka und Nietzsche eint die Auseinandersetzung mit Staat und Bürokratie. Deleuze & Guattari, deren Werke sich auf beide stützen, entwickeln eine unpolitische Antwort auf die fatale politische Situation, nämlich Verwandlungen nach Kafka, ein über sich Hinauswachsen nach Nietzsche, was man als Fluchtlinien aus einer bevormundenden Gesellschaft verstehen kann.

I. Kafka, „der größte Theoretiker der Bürokratie“

Kafka sympathisierte mit den Sozialisten. Nietzsche träumte von einer Herrschaft eines politischen Genius, den er jedoch in seiner zeitgenössischen Politik vermisste, so dass man in seinem Werk viele staatskritische Stellen findet, vor allem im Zarathustra. Just dieses Buch schätzte Kafka, über den Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem monumentalen Werk Tausend Plateaus 1980 schreiben: „Kafka ist der größte Theoretiker der Bürokratie […].“1 Das zeigt sich vor allem in seinen beiden Romanen Der Prozess und Das Schloss.

Aber Kafka ist für Deleuze & Guattari kein Kritiker der Bürokratie. Vielmehr bemerken sie 1975 in ihrem Buch über Kafka: „Was Kafka so gefährlich macht, ist gerade die Kraft seiner Nicht-Kritik.“ (S. 84)

Ihr gemeinsames Werk hat Projekt-Charakter. Es beginnt 1972 mit dem Anti-Ödipus endet 1991 mit Was ist Philosophie?, dazwischen liegt Tausend Plateaus – und eben das wichtige Buch über Kafka: Für eine kleine Literatur. Kafka spielt hier auch generell eine wichtige Rolle, wie auch Nietzsche. Sie verbinden beide als Herausforderer des modernen Staates.

Sie sind wie Nietzsche scharfe Kritiker des Staates und wie Kafka wollen sie das nicht einfach begrifflich ausbuchstabieren, sondern in der Art und Weise darstellen, wie sie selbst schreiben; vor allem die Tausend Plateaus haben etwas Kafkaeskes, beschreiben etwas äußerst Skurriles, nämlich die Herrschaft des Staates, auf skurrile Weise. Am Anfang von Kafkas Der Prozess wird die Hauptfigur K. verhaftet, weiß aber nicht warum, verliert K. dadurch seine Bodenhaftung, bestimmt er nicht mehr über sich selbst, wird somit deterritorialisiert. Jeder Mensch im modernen Staat sieht sich einer Macht gegenüber, die ihn beherrscht; er gehört sich somit nicht selbst. Im Schloss heißt es: „Es begannen die sinnlosen Bittwege zum Vorsteher, zu den Sekretären, den Advokaten, den Schreibern, meistens wurde er nicht empfangen, und wenn er durch einen Zufall doch empfangen wurde […][,] wurde er äußerst schnell abgewiesen und nie wieder empfangen.“ (S. 239)

Man kann sich dafür Erklärungen ausdenken und sich damit abfinden. Aber das, was dem Menschen geschieht, lässt sich mit solchen Erklärungen nicht verständlich machen, mögen ihm die Juristen das Recht erklären oder Politiker ihr Tun umschreiben oder Soziologen die Gesellschaft darstellen. Dass man den Staat für selbstverständlich hält, ist nicht selbstverständlich. Wie bemerkt ein Staatsvertreter zum anderen über K.: „[…], er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht, und behauptet gleichzeitig, schuldlos zu sein.“2

Andererseits wird der Mensch von den politischen und sozialen Mächten zu einem bestimmten Funktionieren genötigt, das ihm in gewisser Hinsicht Halt gibt, so dass das Leben wie gewohnt weitergeht. K. kommt im Prozess nicht ins Gefängnis, sondern wird wieder zur Arbeit in der Bank genötigt und derart reterritorialisiert.

II. „aus dem Denken eine Kriegsmaschine machen“

Kafka führt damit die Absurdität des Lebens im modernen Staat vor, dem er sich selbst ausgeliefert sieht; das man gar nicht auf den kritischen Begriff bringen kann, das man derart nicht erfasst. Allein man muss es nüchtern – kafkaesk – vorführen, was für das Recht letztlich viel entlarvender ist. Wie erläutert im Prozess ein Geistlicher: „[M]an muss nicht alles für wahr halten, man muss es nur für notwendig halten.“ (S. 160)

Nietzsche sieht das ähnlich wie Kafka: „Lieber Nichts wissen, als Vieles halb wissen! Lieber ein Narr sein auf eigne Faust, als ein Weiser nach fremdem Gutdünken!“3 Nicht die Weisheit der Experten übernehmen, die durch wissenschaftliche Erzählungen die Absurditäten moderner Staatlichkeit vergessen lassen, sondern lieber sich selbst diverse Reime auf das Absurde machen.

Gegenüber dem herrschenden bürokratischen Denken bleibt für Deleuze & Guattari nur eins, nämlich „aus dem Denken eine Kriegsmaschine machen, das ist ein eigenartiges Unternehmen, dessen genaue Verfahrensweisen man bei Nietzsche studieren kann […].“4 Denn: „Das Schlimmste aber sind die kleinen Gedanken. Wahrlich besser noch bös getan, als klein gedacht!“5 Nietzsche ist ein Skeptiker moderner Wissenschaften, die die Natur höchstens anders interpretieren, aber nicht erklären können, weil Erklärung als solche nur eine Illusion ist, indem man eine Wirkung durch etwas anderes ersetzt, die Ursache, also schlicht eine Sache durch eine andere, auch wenn man sich noch so sehr darum bemüht, Verbindendes zwischen beiden zu finden.

Nietzsche hinterfragt die vermeintlichen Gewissheiten und erschüttert damit die politischen und sozialen Verbindlichkeiten. Das bezeichnen Deleuze & Guattari als Kriegsmaschine, die sie auch bei Kafka bemerken: „Bewusst zerstört Kafka alle Metaphern, alle Symbolismen, jede Bedeutung und jede Designation“6, damit die Bedeutungen, die jeder Staat regelmäßig durchsetzt, um das Denken seiner Untertanen lenken zu können. Wie schreibt Nietzsche im Nachlass: „Die meisten Menschen spüren gelegentlich, dass sie in einem Netz von Illusionen hinleben. Wenige aber erkennen, wie weit diese Illusionen reichen.“7

Das Szenario in Kafkas Erzählungen und Romanen zeigt die Absurdität der bürokratisch beherrschten Wirklichkeit. Was ein Verbrechen ist, bestimmt das Gesetz, beispielsweise in vielen Ländern immer noch Homosexualität oder Abtreibung, die auch in Deutschland nur unter bestimmten Bedingungen straffrei bleibt – exakt die absurde Situation im Prozess: „Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war?“ (S. 165) Und die meisten Menschen erkennen das an, ob als gerecht oder als positive Rechtsetzung.

Die Hinrichtungsmaschine in der Strafkolonie schreibt dem Opfer mit Nadeln das Urteil in die Haut, das das Opfer nach Stunden anfängt auf seiner Haut als Worte zu erkennen: „Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. […] Es geschieht ja nichts weiter, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund, als horche er. […] unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden.“ (S. 108) Nietzsches Zur Genealogie der Moral liefert dazu die Vorlage: „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtniss […].“8 Dann verdanken sich die Moral wie die wissenschaftliche Erkenntnis der Gewalt.

III. Nietzsche: „es gibt kein solches Allgemeines!“

Die wissenschaftliche Erkenntnis beruht darauf, dass sie die Welt sprachlich adäquat wiedergibt, ähnlich wie ein Bild einen Sachverhalt zeigt, wobei man dabei unterstellt, dass ein Bild den Sachverhalt nicht verfremdet oder ihm womöglich erst einen Sinn verleiht. Dem widersprechen Deleuze & Guattari: „Das Denken ist wie ein Vampir, es hat kein Bild, um daraus ein Modell oder eine Kopie zu machen.“9 Die Welt lässt sich nicht einfach sprachlich erfassen. Vampire haben bekanntlich kein Spiegelbild. Ob bei Kafka oder Nietzsche, die Sprache hat den ontologischen Status eines Phantoms: Sie sagt, was ist; doch damit sagt sie nicht das, was ist, sondern immer nur, was sprachlich sein soll. Sie macht aus dem, was ist, immer etwas anderes, etwas Sprachliches.

Für Deleuze & Guattari hat Kafka selbst einen vampirischen Charakter. Sie bemerken: „Er durchwacht die Nächte und schließt sich tagsüber in seinem Büro-Sarg ein […]. Kafka-Dracula hat seine Fluchtlinie in seinem Zimmer, auf seinem Bett […].“10 Die Eingangsszene aus Der Prozess spiegelt Kafkas Lebenssituation, sich durch Lohnarbeit freie Zeit zum Schreiben zu erarbeiten. So findet das Leben in der Nacht statt, der Tag ist dagegen ein Grab.

Der Staat bestimmt das Weltbild seiner Untertanen. Also sprach Zarathustra: So „[…] ist der Staat ein Heuchelhund; […] redet er gern mit Rauch und Gebrülle, – dass er glauben mache, […] er rede aus dem Bauch der Dinge.“11 Derart gibt der Staat vor, zu wissen, wie die Dinge sind, immer schon und heute umso mehr. Und Zarathustra spricht weiter: „Denn er will durchaus das wichtigste Thier auf Erden sein, der Staat; und man glaubt’s ihm auch.“ (Ebd.) Kafka glaubt es ihm nicht, schon gar nicht, dass der Staat „aus dem Bauch der Dinge“ spricht. Vielmehr spricht er die Sprache der Bürokratie.

Deleuze & Guattari buchstabieren aus, was Nietzsche aphoristisch andeutet:

Es mag sein, dass, ob geistig oder weltlich, tyrannisch oder demokratisch, kapitalistisch oder sozialistisch, es stets nur einen Staat gegeben hat, den Heuchelhund Staat, der mit Rauch und Gebrülle redet. Nietzsche spricht aus, wie dieser […] verfährt: kraft eines beispiellosen Terrors, demgegenüber das alte System der Grausamkeit, die primitiven Formen der Dressur und der Erziehung ein Kinderspiel darstellten. […] Die Erde wird am Ende ein Irrenhaus.12

Wie dem Staat das gelingt, ohne dass es die Untertanen bemerken, beschreibt Nietzsche um die Jahreswende 1887/88: Der Staat ist die

organisirte Unmoralität […] / wie wird es erreicht, dass er eine große Menge Dinge thut, zu denen der Einzelne sich nie verstehen würde? / – durch Zerteilung der Verantwortlichkeit – des Befehlens und der Ausführung / – durch Zwischenlegung der Tugenden des Gehorsams, der Pflicht, der Vaterlands- und Fürstenliebe […] / Die Kunstgriffe, um Handlungen, Maaßregeln, Affekte zu ermöglichen, welche, individuell gemessen, nicht mehr „statthaft“ sind, – auch nicht mehr „schmackhaft“ sind […].13

Indem der Staat die Funktionen des Anführens und des Ausführens teilt, haben die Ausführenden keine Verantwortung mehr für das, was sie tun, und begehen schreckliche Taten, die sie selbst nie verantworten könnten. Im Prozess heißt es: „Durch seinen Dienst auch nur an den Eingang des Gesetzes gebunden zu sein, ist unvergleichlich mehr, als frei in der Welt zu leben. Der Mann kommt erst zum Gesetz, der Türhüter ist schon dort.“ (S. 160)

Kafka führt vor, wie es möglich ist, dass die Menschen das nicht bemerken. So schreiben Deleuze & Guattari:

Die berühmten Texte im Prozess (dazu die Erzählungen In der Strafkolonie, Beim Bau der Chinesischen Mauer usw.) präsentieren das Gesetz als reine Leerform, ohne jeden Inhalt und ohne erkennbaren Gegenstand: Es erscheint nur als Urteilsspruch, und dieser wird nur in einer Strafe erkennbar.14

Das Gesetz begegnet den Menschen nur durch seine Wirkungen. Dabei behauptet der Staat von sich, das Allgemeinwohl zu verkörpern. Wie kommentiert das Nietzsche: „‚Das Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des Einzelnen‘ . . . aber siehe da, es gibt kein solches Allgemeines!“ 15

Jedenfalls gibt es keine inhaltlichen Bestimmungen des Allgemeinwohls oder der Allgemeinheit mehr. Universalismus lässt sich nur formal bestimmen. Dazu schreiben Deleuze & Guattari: „Kant […] zufolge entspringt das Gesetz nicht mehr einem präexistenten Guten, das ihm Inhalt verliehe, sondern es ist nur noch reine Form, die das Gute als solches bestimmt: Gut ist, was das Gesetz verkündet, und zwar in denselben formalen Bedingungen, unter denen es sich selbst verkündet.“16 Kants Rechtsprinzip beruht auf der allgemeinen Geltung von Gesetzen, was nur in ihrer Form und nicht an ihrem Inhalt liegt: Gesetze müssen allgemein gelten. Was sie inhaltlich aussagen, macht sie nicht zu Gesetzen. Gehorchen muss man ihnen nämlich, weil sie Gültigkeit haben, die sich auf Gewalt stützt, nicht weil sie richtig oder gerecht sind.

Was Nietzsche dazu schreibt, kann dann auch nicht mehr verwundern: „Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ‚Ich der Staat, bin das Volk.‘“17 Damit beansprucht der Staat, das Allgemeinwohl zu vertreten. Der Staat bestimmt, was das Volk ist. Dabei behauptet er, dass das Volk kein von ihm geschaffenes und bestimmtes Konstrukt ist, sondern naturgegeben.

IV. „Substitution der Liebe durch den Liebesbrief“

Doch für die staatliche Gewalt ist dessen Maschinenwesen verantwortlich. Die Bürokratie arbeitet wie eine Maschine, an der die Menschen angeschlossen werden. Deleuze & Guattari schreiben 1975: „Was einem bei Kafka Angst (oder Freude) macht, ist […] die amerikanische Technokratie-Maschine und die sowjetische Bürokratie-Maschine und die faschistische Totalmaschinerie.“18 Der Staat und die Maschinen, auf die er sich stützt, sind die Bedrohung für den Menschen. Im Zentrum steht neben der Bürokratie das Recht, das die Menschen nicht schützt, sondern diese bedroht. Im Anti-Ödipus heißt es: „Niemand hat eindrucksvoller als Kafka dargestellt, dass dem Gesetz nichts von einer immanenten, natürlich-harmonischen Totalität anhaftet, dass es vielmehr als enthobene formale Einheit wirkt, […].“ (S. 255) Auch der Rechtstaat macht einen kafkaesken Eindruck.

Das Individuum kann sich davor eigentlich nur zurückziehen. Nietzsche hat das bereits ähnlich gesehen: „Geht eure Wege! Und lasst Volk und Völker die ihren gehn! – dunkle Wege wahrlich, auf denen auch nicht Eine Hoffnung mehr wetterleuchtet!“19 Nietzsche fordert dazu auf, sich nicht an der Politik zu beteiligen, nicht zuletzt, weil deren Wege nur kafkaesk erscheinen. Deleuze & Guattari kommentieren das:

Die etablierten Mächte haben die Erde besetzt und Volksorganisationen geschaffen. Die Massenmedien und die großen Volksorganisationen wie Parteien oder Gewerkschaften sind Reproduktionsmaschinen […]. Die etablierten Mächte haben uns in einen zugleich atomaren, kosmischen und galaktischen Kampf getrieben. Vielen Künstlern ist diese Situation schon seit langem bewusst, zum Teil schon, bevor sie wirklich da war (zum Beispiel Nietzsche).20

In der Tat sagt Nietzsche für das kommende Jahrhundert den Kampf um die Erdherrschaft voraus. Und worauf das hinausläuft, weiß schon Zarathustra: „Staat, wo der langsame Selbstmord Aller – ‚das Leben‘ heißt.“ 21 Der schnelle Selbstmord findet auf den Schlachtfeldern statt, der langsame im Kontor oder in der Familie. Kafka wird von Frauen gleichermaßen angezogen wie abgestoßen; denn er fürchtet sich vor der Familie, ist die Ehe schließlich Gesetz, ein Vertrag, der die Grundlage aller Liebesbeziehungen im 19. Jahrhundert sein soll und der doch die Lust abtötet.

So flieht Kafka vor der Institution Ehe. Deleuze & Guattari bemerken: „Substitution der Liebe durch den Liebesbrief? Deterritorialisierung der Liebe. Substitution des gefürchteten Heiratsvertrags durch einen Teufelspakt.“22 Nicht zu heiraten, lieber zu schreiben, befreit die Liebe aus den Fesseln der Familie und damit auch aus der staatlichen Zwangsorganisation, die den Menschen in die Familie einbindet. Warum weint Gregors Schwester in Die Verwandlung? „Weil er nicht aufstand und den Prokuristen nicht hereinließ, weil er in Gefahr war, den Posten zu verlieren und weil dann der Chef die Eltern mit den alten Forderungen wieder verfolgen würde?“23

In Das Urteil (1913) gehorcht der Sohn und begeht auf Geheiß des Vaters Selbstmord. Die Familie erscheint in den Werken Kafkas als Ort der Unterwerfung, des Opfers und des Leidens. Wie kann man sich dem entziehen? Indem man nicht mehr so schreibt, wie es sozial anerkannt wird, sondern so, dass die Zusammenhänge sich nur schwer erschließen lassen, weil sie so verwickelt und absurd entworfen werden, wie sich die Realität dem kühlen Blick darbietet. Das Rhizom lässt sich als Labyrinth der sprachlichen Zeichen verstehen, so dass man nicht verstanden wird, aber jemanden in ein chaotisches Textgewebe verwickelt: Kafkas Geliebte, Kafkas Leser, Kafkas Feinde, nämlich Bürokraten und Wissenschaftler. So schreiben Deleuze & Guattari: „Die Briefe sind ein Rhizom, ein Netzwerk, ein Spinngewebe. […], und seine Kraftquelle liegt weit entfernt in dem, was seine Briefe ihm zutragen. Er fürchtet nur zwei Dinge: das Kreuz der Familie und den Knoblauch der Ehe.“24 Die Einleitung zu Tausend Plateaus hat den Titel Rhizom, ein Text, der auch separat erschienen ist.

V. Kafka: „Das Gericht will nichts von dir“

Auch Zarathustra propagiert den Menschen jenseits des Staates und damit auch jenseits der Familie, in denen er immer nur dienendes Rädchen im Getriebe ist, das sich auswechseln lässt. In Die Verwandlung stellt sich heraus, dass die Eltern vom Sohn gar nicht so abhängig sind, wie sie ihm vorgaukelten, um ihn zu fleißiger Arbeit zu motivieren. Der Übermensch entsteht nicht im Staat und nicht in der Familie. Nietzsche proklamiert:  

Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise. Dort wo der Staat aufhört, – so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen?25

In der Gemeinschaft, und sei es nur die der Konzertbesucher, ist der Mensch nur Nächster, nicht einmalig und nicht unersetzbar, sondern einer unter vielen.

Wie gelangt man dorthin, wo man Mensch ist? Durch eine experimentelle Philosophie, wie diejenige Nietzsches, und dadurch, dass man sich mit Kafka verwandelt, nämlich Tier wird. Mensch sein bzw. Untertan sein, ist nicht ersprießlich. Deleuze & Guattari schreiben:

Wir glauben nur, dass Kafka Experimente protokolliert, dass er nur Erfahrungen berichtet, ohne sie zu deuten, ohne ihrer Bedeutung nachzugehen […]. Ein Mensch, der schreibt, ist niemals „nur ein Schriftsteller“: Er ist ein politischer Mensch, und er ist ein Maschinenmensch, und er ist ein experimentierender Mensch (der aufhört, Mensch zu sein, um versuchsweise Affe zu werden, oder Käfer, Hund, Maus, irgendein Tier […]).26

Gregor entzieht sich der Familie und der Arbeit, indem er sich in einen Käfer verwandelt. Er macht aus sich etwas anderes als das, was der Staat von ihm verlangt. Er übersteigt sich, indem er Chaos verbreitet, wie es Nietzsche fordert:

Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren! Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.27

Kafka hat noch Chaos in sich, indem er kein Kritiker des Staates ist, sondern schlicht Berichterstatter, der nüchtern festhält, wie er auf die Menschen wirkt, welche Gedanken sich K. im Prozess oder Gregor in der Verwandlung macht. Die Verwandlung, das Tier-Werden ist für Deleuze & Guattari eine Flucht aus den sozialen Verhältnissen, ein politischer Akt, wenn Politik nur noch den Sinn hat, die Interessen des Staates durchzusetzen, wenn das aber keinen Sinn für den Menschen hat. Deleuze & Guattari begreifen Kafkas Schriften als eine politische Antwort: „Das Wesentliche am Tier ist für Kafka der Ausweg, die Fluchtlinie, auch ohne sich von der Stelle zu rühren, selbst wenn man im Käfig bleibt. Nicht die Freiheit, sondern ein Ausweg. Nicht ein Angriff, sondern eine lebendige Fluchtlinie.“28

Nietzsche hat diese Sachlage antizipiert: „Oh meine Brüder, ist jetzt nicht Alles im Flusse? Sind nicht alle Geländer und Stege in’s Wasser gefallen? Wer hielte sich noch an ‚Gut‘ und ‚Böse‘?“29 Es gibt keine obersten ethischen Werte mehr, nur noch solche die der Staat und das Gesetz erlassen, wodurch für die Menschen eine Situation entsteht, aus der sie nur fliehen können, und zwar dadurch, dass sie sich in Tiere verwandeln, weil die Menschen unter der Regie des Staates ja keine Menschen sind, die mit Nietzsche noch wesentlich wären. Sie sind unwesentlich, so dass man anders als sie werden muss.

Da bietet sich das Tier-Werden als Fluchtlinie an. Deleuze & Guattari schreiben:

Das Tier-Werden ist eine bewegungslose Wanderung auf der Stelle, die sich nur in Intensität erleben und begreifen lässt […]. Das Tier-Werden hat nichts Metaphorisches an sich. Es ist kein Symbolismus und keine Allegorie.30

Insofern hat es weder eine bürokratische noch eine wissenschaftliche Wahrheit. Nein, so etwas hat es doch nie gegeben! Oder Kafka beschreibt, was alltäglich der Fall ist, wenn die Menschen entweder krank oder verrückt werden, wie es Deleuze & Guattari in ihrem Projekt Kapitalismus und Schizophrenie vorführen. Verrückt-Werden erscheint als eine ähnliche Fluchtlinie wie Tier-Werden.

Es war die Zeit, als die zweite Frauenbewegung Fahrt aufnahm. Statt Tier-Werden besteht die Möglichkeit des Frau-Werdens, das für Kafka in Das Schloss eine andere Perspektive entwickelt. Deleuze & Guattari schreiben:

Alle gemeinsam bezeugen in ihrem Verlangen – in dem, das sie selber erfüllt, und in dem, das sie bei anderen wecken – die tiefe Identität von Justiz, Verlangen und junger Frau oder Mädchen. Das junge Mädchen gleicht dem Gericht: Es ist prinzipienlos, reiner Zufall. „Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst“[31]. Im Dorf unterm Schloss geht die Redensart: „Amtliche Entscheidungen sind scheu wie junge Mädchen“.32

Die Justiz ist unberechenbar wie kapriziöse junge Frauen, die sich ihren Verehrern notorisch entziehen, diesen ständig Schwierigkeiten bereiten.

Doch Deleuze & Guattari erkennen darin eine Fluchtlinie für Männer, das Frau-Werden, schon in der Zeit der bürgerlichen Frauenbewegung. Den männlichsten Literaten wie D. H. Lawrence oder Henry Miller attestieren sie just eine solche Neigung. Politik heißt dann nicht mehr Parteipolitik, auch nicht Bürgerprotest, sondern Fluchtlinien aus solchen Organisationen und sich verwandeln, um Verwirrung zu stiften: Frau-Werden! Oder heißt das Mensch-Werden, wenn aus feministischer Perspektive die Menschlichkeit eher von Frauen verkörpert wird als von Männern? Dafür spricht jenseits aller Kritik am Patriarchat, dass die Frauen die Kinder in die Welt setzen. Wenn Frauen liebesfähiger als Männer sind, sollten daher letztere ersteren nacheifern? Würde das Männer verwandeln?

Quellen

Deleuze, Gilles & Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie Bd. 1 (1972). Frankfurt a. M. 1979.

Dies.: Kafka. Für eine kleine Literatur (1975). Frankfurt a. M. 2019.

Dies.: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus (1980). Berlin 1992.

Kafka, Franz: Das Schloss (1926). Berlin 2010.

Ders.: Der Prozess (1925). Frankfurt a. M. 1960.

Ders.: Die Verwandlung (1915). Sämtliche Erzählungen, Frankfurt a. M. 1970.

Ders.: In der Strafkolonie (1919). In: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt a. M. 1970.

Fußnoten

1: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus, S. 291.

2: Kafka, Der Prozess, S. 11.

3: Also sprach Zarathustra, Der Blutegel.

4: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus. S. 518.

5: Also sprach Zarathustra, Von den Mitleidigen.

6: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 32.

7: Nachgelassene Fragmente 1870 5[33].

8: Zur Genealogie der Moral, Abs. II, 3.

9: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus, S. 519.

10: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 42.

11: Also sprach Zarathustra, Von den grossen Ereignissen.

12: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus, S. 247.

13: Nachgelassene Fragmente 1887 11[407].

14: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 60.

15: Nachgelassene Fragmente 1887 11[99].

16: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 60.

17: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.

18: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 18.

19: Also sprach Zarathustra, Tafeln, 21.

20: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus. S. 471.

21: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.

22: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 41.

23: Kafka, Die Verwandlung, S. 62.

24: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 42.

25: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.

26: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 12.

27: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 5.

28: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 49.

29: Also sprach Zarathustra, Tafeln, 8.

30: Deleuze & Guattari, Kafka. S. 50.

31: Kafka, Der Prozess, S. 161.

32: Deleuze & Guattari, Kafka, S. 88.

Darts & Donuts
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Die Apokalyptik der Identität als Projekt. – Furcht und Zittern im Rückzug auf das Partikulare – zirkeln zwischen Sinn und Zwang. Bedingt die Verdrängung der Allgemeinheit die Autoaggression; die Reduktion der Zukunft, die Rückkehr des Tabus – oder umgekehrt? Zur „Republik des Universums“ sprach also der Philosoph des Mythos: „fear knows only how to forbid, not how to direct“.

(Sascha Freyberg)

„Die Waffe gegen dich zum Werkzeug machen, und wenn’s nur ein Aphorismus wird.“

(Elmar Schenkel)

Ich empfinde alle Menschen als schädlich, welche dem, was sie lieben, nicht mehr Gegner sein können: sie verderben damit die besten Dinge und Personen.

(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

Nietzsche sagt: „ChatGPT ist dumm.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

Nietzsche sagt: „Man soll den Computern misstrauen, sie haben ein Hirn, eine Hand, einen Fuß und ein Auge, aber kein Herz.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.

(ChatGPT auf die Bitte hin, einen Aphorismus im Stile Nietzsches zu verfassen)

Werk. – Es gibt keine irreführendere und falschere Ansicht als die, dass das Schreiben oder das Werk lustvolle Angelegenheiten seien. Es ist ganz das Gegenteil! Das Werk ist einer der größten Gegner und schlimmsten Feinde. Und wer aus Freiheit und nicht aus Gewohnheit schreibt, vermisst an ihm Umgangsformen und Gewissen – der ist ein Schwein!

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Gefährliche Wahrheit. – Viele psychische Pathologien machen ihren Wirt ultrasensibel. Sie bekomme Antennen für die kleinsten seelischen Regungen ihres Gegenübers, sehen den kleinsten Verrat, die kleinste Inkongruenz, den kleinsten Reißzahn, den hässlichsten Hund im Menschen. Als Feind des Menschengeschlechts zückt der Arzt seinen Notizblock und ruft also „die Pfleger“ herein.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Glück: Keinen mehr nötig zu haben und so rückhaltlose Zuwendung sein können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 44)

Dein Rechthaben nicht offen zur Schau stellen. Nie der Weg sein. Dem, der Recht hat, will man leicht Unrechttun und man fühlt sich gemeinsam im Recht dabei, weil das Gefühl für Gleichheit ständig trainiert wird und die Übung der Freiheit eine Seltenheit geworden ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 43)

Wahre Liebe: Durch den Anderen hindurch lieben.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 42)

Zusammensein wollen: Weil es leichter ist? Weil es bereichert? Weil man keinen Willen kennt, der lange Wege allein gehen kann?

(Neue Sprüche und Pfeile, 41)

Helfen wollen: Weil es sichgehört? Weil einem Gleiches widerfahren kann? Weil man hat und gerne gibt? Weil einem nicht die aktuelle Armut betroffen macht, sondern die Schande, dass Chancen ungenutzt bleiben müssen?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 40)

Keine Größe ohne ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten. Aus dem Schein zu einem Mehr an Sein. Aus den Erfolgen der Sprünge in eine Rolle, in der man sich nicht kannte, entsteht der Glaube anein Können, das mehr aus einem machen kann.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 39)

Wem die Stunde schlägt. – Wer sich einen Termin macht, etwa ein Date in zwei Wochen, freut sich, trifft allerlei Vorbereitungen, fiebert darauf hin, hält durch und überlegt, was er sagen soll und so weiter. – Dann ist der Tag da. In der Zukunft glänzte alles noch, fühlte sich anders an. Man denkt sich: Es ist alles ganz wie vorher. Alles, was ich getan habe, war nur Selbstzweck, man erwartete das Warten und Vorstellen und nicht die Sache selbst, nicht den Kairos, den man nicht erwarten kann.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Niederes und höheres Bewusstsein. – Bin ich vor die Wahl gestellt, entweder erdrückt zu werden, tot zu sein und zu schweigen oder zu lästern und ungläubig zu sein – Gift in meinen Drüsen mir zu sammeln, wie mir angeboren, Reptil, das ich bin –, ich würde immer das Zweite wählen und mich niedrig, schlecht, negativ und ungebildet nennen lassen. Lieber will ich mich von meinem Gift befreien als es mir zu Kopf steigen zu lassen. Tritt einer dann in meine Pfützen, sei’s so – gebeten hat man ihn nicht!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Schwere und die Sinnlosigkeitder Dinge. – Wer einmal den unbegründeten Wunsch verspüren sollte, sich über die wesentlichen Dinge Gedanken zu machen, das Sein der Dinge und die Zeit, der ist besser beraten, es zu unterlassen. Der Verstand tendiert dazu, solche Dinge zäh und schwer zu machen. Am Ende findet man sich beim Denken und Überlegen dabei wieder, das Ding selbst nachzuahmen und denkt den Stein, das Stein-Seins, verfällt in gedachte Inaktivität.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Nichts. – In der Indifferenz ist noch alles und jedes zu ersaufen. Der größte Mut, der Hass, die Heldentaten, die Langeweile selbst verschlingt sich und die große Dummheit, Eitelkeit.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Für Franz Werfel. – Ein Autor, der dir sagt: „Ach, meine Bücher…, lass dir Zeit, lies erst dies ein oder andere. Das kann ich dir empfehlen: Ich liebe Dostojewski.“ – Das ist Größe und nicht die eitle Schwatzerei derjenigen, die ihre eigene Person und die Dringlichkeit der eigenen Ansichten vor sich hertragen.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Illusions perdues. – Wieso ist es so,dass das schönste, romantischste, bewegendste, rührendste, herzaufwühlenste Buch gegen die blasseste Schönheit von zweifellos hässlichem Charakter keine Chance hat und so attraktiv wie eine uralte Frau wirkt?

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Wider einfache Weltbilder. – Wir sind ein krankendes Geschlecht; schwitzend, von Bakterien übersät. Wir haben Bedürfnisse, geheimen Groll, Neid; die Haare fallen uns aus, die Haut geht auf mit Furunkeln; wir vertrauen, langweilen uns, sind vorlaut; pöbeln, sind übertrieben schüchtern, schwätzen Unsinn, konspirieren, sind erleuchtet, sind verblendet, eitel, machthungrig, einschmeichelnd, kriecherisch – jenseits von Gut und Böse.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vom Unglauben getragen. – Wie könnte man es nicht anbeten, das großartige formlose Unding, welches das Sein ist? Monströs wie allerfüllend. Das große Nichts, das die Alten die Hölle nannten, qualmt und beschenkt uns mit den schönsten Schatten.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Das herzliche Lachen der Literatur. – Hat jemals ein Mensch, der vor einem Buch saß, sich den Bauch und die Tränen vor Lachen halten müssen? Ich schon; aber nur in der Vorstellung – und aus Schadenfreude über solche Idiotie.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Ananke. – Weil die Literatur, obzwar sie die dümmste, platteste, schlechteste Grimasse der Zeit darstellt, doch von ihr den kleinsten Kristallsplitter Reinheit enthält, ist sie unerbittlich erbarmungslos und erschreckend in ihrer Folge. Wir wissen nur eins: Sie wird kommen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Kind in der Bibliothek. – Die Mutter muss dem Kind verbieten: „Nein, wir gehen nicht da rein!“ Das Kind sagt: „Da!“, und will ein Regal hochklettern. Bücherregale sind Klettergerüste. Weil es das nochnicht gelernt hat, läuft es wie ein Betrunkener nach seiner Mutter.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Authentisch sein wollen: Weil es sich schickt? Weil man die Halbwahrheiten satt hat? Weil man einsah, dass nur ein Eingestehen zu tieferen und offeneren Bindungen führt?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 38)

Herausragend sein wollen: Weil man Bewunderer will? Weil man es den Mittelmäßigen zeigen möchte? Weil man das Banale nicht mehr aushält?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 37)

Weil die Kritik zunehmend nicht widerlegen, sondern vernichten will, ist die gute Moral der Moderne die kategorische Revisionierbarkeit. Sein ist Versuch zum Sein. Daher bemisst sich kompetente Urteilskraft an der Distanz zum guillotinenhaften Verurteilen. Korrekte Korrektheit ist selbstironisch.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 36)

Wer nicht von sich auf Andere schließt, verpasst die Chance zu einer Welt genauso wie jemand, der von Anderen nicht auf sich schließt. Im revidierbaren Mutmaßen lichtet sich das Zwielicht des Miteinanders ein wenig und es erhöht sich die Möglichkeit zu einem halbwegs zuverlässigen Versprechen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 35)

Im Gehen wird das Denken weich und weit. Wer die Welt um sich hat, für den wird das Rechthaben zu einer unschönen Angewohnheit. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, laufen einem die Sätze wie angenehme Begegnungen über den Weg, die einen überraschen mit der Botschaft, wie wunderbar egal man doch ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 34)

Ohne Erfolge wäre das Leben ein Irrtum. Die Karriere ist die Musik des Lebens, auch für die, die sich für thymotisch unmusikalisch halten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 33)

Schonungslose Ehrlichkeit belügt sich selbst, weil es ihr nicht um Wahrheit geht, sondern um den Effekt des Entblößens als bloße Intensität des Auftrumpfens. Sie will nicht aufzeigen, sie will es den Anderen zeigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 32)

Abhängigkeit macht angriffslustig. Man will sich selber beweisen, dass man etwas ist und attackiert die lebenswichtigen Helfer, als wären sie Meuterer. Dabei ist man selbst derjenige, der meutert. Für das klassikerlose Tier gilt: Es gibt ein falsches Leben im richtigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 31)

Sich Zeit lassen, wenn die Zeit drängt. Panik macht ungenau. Fünf vor zwölf ist es immer schon für diejenigen, die überzeugt sind, genau zu wissen, was zu tun ist, ohne dass sie die Komplexität der Lage je verstanden hätten. Es ist die Tragödie des Weltgeistes, dass seine selbsternannten Apostel erst einen überwältigenden Eindruck mit ihrer Entschiedenheit machen und dann einen schockierenden Eindruck mit den Wirkungen ihrer Entscheidungen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 30)

Ein Schreibfehler. – Was heißt erwachsen werden? – ...die kindlichen Züge anlegen ...!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Geschlechterkampf. – Da weder die Auslösung des Mannes noch der Frau zur Disposition steht und politische Macht in der Regel nicht mehr mit physischer Gewalt durchgesetzt wird, sind die mächtigsten Formen der Machtausübung verdeckt: Schuld, Angst, Drohung, Beschämung, Entzug (z. B. von Liebe und Solidarität), Zurschaustellung. Sie alle operieren mit Latenzen und unsichtbaren Scheingebilden, entfesseln dieFantasie.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Gewissensqual über das Gewissen: Das Gewissen, das sich nicht selber beißen lernt, wird zum Mithelfer der Gewissenlosigkeit. Gewissen jedoch als permanenter Gewissensbiss verletzt die Freiheit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 29)

Die erzwungene Höflichkeit provoziert die Lust zur Unhöflichkeit. Die Attraktivität der Sitten bemisst sich daran, wie viel kreative Munterkeit siegestatten. Sitten, die Recht haben wollen, werden unweigerlich zu Unsitten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 28)

Aus dem gefühlten Mangel an Aufmerksamkeit als stiller Angenommenheit entsteht der Hass auf diejenigen, die einen keines Blickes mehr zu würdigen scheinen. Man unterstellt Ungerechtigkeit, wo Freiheit ist, die eine andere Wahl traf. Dies Verdächtigen verhässlicht und entfernt von der Zuwendung, nach der man so sehnsüchtig strebt. Wut, die andauert, wird Hass, der schließlich den Anderen als Gegner wahrnimmt, den man nicht mehr kritisieren, sondern nur noch vernichten will.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 27)

Schatten über der rechten Hand. – Ist der Todesengel derselbe wie der der Liebe? – Erkennen wir nicht den Schatten aneinander, überall?

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Die Freiheit in der Literatur. – Kein Mensch wird geboren und liest „die Klassiker“.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Immerhin. – Man hat als Mensch genug Zeit bekommen, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Respekt. – Da duzt man die Leute undschon verlieren die allen Respekt – Demokratie!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vorsicht. – Unsere Gesellschaft geht von der Maxime aus, dass, wenn jeder gleichmäßig durch Arbeit verbraucht und gleichzeitig durch Geld versklavt, keiner dem anderen mehr etwas antun kann – Ruhe und Frieden herrscht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

 2023. – Wenn die Vorstellung zu sterben und tot zu sein erträglicher ist als die Demütigung einer Arbeit im Büro.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Dada. – Das Heute schafft noch aus dem unsinnigsten Blödsinn eine Ideologie zu machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Das Beständige. – Wenig auf dieser Erde ist ewig und bleibt über die Zeit hinweg erhalten. Bildung nicht, Geschichte nicht, Bräuche nicht, Sitten nicht. Ewig bleiben Dummheit, Eitelkeit, vielleicht Liebe und Spaß, Tränen und Dunkelheit, weil sie Familie sind.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Theater. – Im unerträglichen Theater unserer Zeit will jeder die Guten, die Superhelden spielen und niemand die Bösen. Ihre Zahl ist deswegen zu klein und die der Guten zu hoch. Damit verflachen beide Seiten ungemein und es entsteht die billigste Seifenoper. Wären wir nicht musikalisch begleitet, wir wollten nach Hause gehen, an den Schreibtisch und unsere Charaktere nochmal gründlich überdenken und -arbeiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Mädchen mit einem Korb Erdbeeren. – Das Wetter ist schön. Ich würde eine junge Frau gegen einen Korb Erdbeeren eintauschen, mir ist sklavenherrisch zu Mute.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Gehe denen aus dem Weg, die keine Sympathie für Komplexität erkennen lassen. Der Unwille zum Komplexen ist der trotzige Halt der Haltlosen und der Jungbrunnen der Verbitterten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 26)

Umgedrehter Nietzscheanismus: Die letzten Menschen als diejenigen, die es auf sich nehmen wollen, die letzten Dingen immer wieder zu durchdenken, ohne an den Abgründen zu zerbrechen, die sich dabei öffnen. Ein besseres Beschreiben erzeugt ein Vertrauen, das mit Normalität impft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 25)

Das Ende der Geschichte kann auch gedacht werden als eine Ohnmacht der alten Deutungen in neuen Verhältnissen. Daher wird der historische Sinn gerne kulturkritisch: Da er sich keinen Reim mehr auf die Lage machen kann, werden die Dinge als katastrophisch interpretiert, anstatt die Sicht auf die Dinge zu revidieren.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 24)

Geist als Betrieb: Als museale Hochkulturmode, als andenkenlose Betriebswirtschaft oder als ressentime Kulturkritik-Industrie.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 23)

Wenn man wieder kreativ sein muss. – Wenn der heutige Kulturmensch keine Idee mehr hat, greift er in die Tastatur und schreibt etwas über die Rolle der Frau, BiPoC oder sonst etwas in der Richtung und kommt sich dabei in seiner Armseligkeit nicht nur rebellisch und progressiv vor, sondern wähnt sich auch als kreativ, wenn er mal wieder über die Rolle der Mutter im Patriarchat spricht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fitness. – Ich kann die aufgepumpten jungen Männer mit ihren hantelgroßen Wasserflaschen und Proteinpülverchen nicht mehr sehen. Soll sich in diesen Figuren der feuchte Traum Nietzsches von der Selbstüberwindung des Menschen, seines Körpers und physiologischen Organismus in Form der kommodifizierten Selbstquantifizierung vollends erfüllt haben?

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Sichtbar durch Agitation. – Der Mensch ist das schöne Tier und, ist er wohl versorgt, von außen immer würdevoll. Das will nicht mehr sagen, als dass die Hülle, die die Natur ihm gibt, auch schon das meiste ist und im inneren Hohlraum, fast nur Schatten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Wissenschaftliche Erlösung: Nach einer neuen Erkenntnis der Gehirnforschung ist es unmöglich, zugleich Angst zu haben und zu singen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 22)

Wer die Möglichkeit des Untergehens ständig für realistisch hält, hat es nötig, sich vor sich selbst unauffällig in den Imaginationen des Schlimmsten zuspüren. Der Mangel des Glaubens an sich wird kompensiert mit dem festen Glauben an die Katastrophe.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 21)

Karriere machen, ohne den Verdacht des Egoismus auf sich zu ziehen, anstrengungslos, unterambitioniert. Aber doch das Verlangen, gesehen zu werden in der bemühten Mühelosigkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 20)

Er verzichtete, aber er sah ganz genau hin, wie viel der bekam, der nicht verzichtete. Der schielende Verzicht hat die schärfsten Augen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 19)

Sinn ist der Ersatz für fehlende Initiative. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, wird offen für die Erfindung von Gründen, wer an seinem Zustand schuld sein soll. Die Langeweile der Haltlosen wird zum Verbrechen der Vitalen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 18)

Philologe sein. – Permanentes Standgericht.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Weil es Mut braucht, sich Künstler zu nennen. –  Kunst ist das Gegenteil von Angst.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Leipzig. – Neben einem anarchisch aus dem Fenster hängenden Banner mit der Aufschrift „Lützi bleibt“, das an Klassenkampf, Demo, Streik, Widerstand und Molotov gemahnt, steht das Hauptversammlungshaus der städtischen Kleingartenvereine. Noch zwei Häuserblöcke weiter, ein Yoga-Studio.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Kreative ist nicht apolitisch. Er interessiert sich nicht einmal für Politik. Erst wenn die Räume enger werden, die ihn animieren, beginnt er sich politisch zu engagieren aus apolitischen Motiven.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 17)

Der Verlierer denkt: „Die Wahrheit, die meinen Sieg verhindert, muss Lüge sein!“ Der Sieger denkt: „Solange ich den Sieg nötig habe, habe ich noch nicht gewonnen.“

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 16)

Wer lange genug allein ist, will sich selber nicht mehr verstehen. Darin liegt die Möglichkeit einer reifen Gedankenlosigkeit. Man treibt dann noch Philosophie wie man Jahreszeiten erlebt. Begriffe und Satzfolgen kommen und gehen wie Kastaniengrün und Septemberhimmel.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 15)

Im gelingenden Bewundern überwindet man sich zu sich. Die Unfähigkeit zur Einzigartigkeit steigert den Drang zur Zugehörigkeit. Wenn Konsens zum Kommando wird, wird Freiheit zur Ungerechtigkeit. Diversität als Inklusivität wäre die bereichernde Teilhabe an Liberalität, deren Bewundern man nicht teilen muss. Der Zustand eines vielfachen Desinteresses ist keine Entfremdung oder Ausbeutung. Wer seine Disziplin gefunden hat, verachtet den Einfallsreichtum der Schuldsuche.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 14)

Früher entsprach der Wahrnehmung der Schönheit das Kompliment. Heute scheint es so, als wäre es das Zeugnis einer fortgeschrittenen Form der Anständigkeit, sich dafür zu schämen, diesen Reflex der Entzückung bei sich überhaupt wahrzunehmen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 13)

Die Freudlosen werden leicht die strengen Apostel eines Sinns des Lebens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 12)

Das Gewissen wächst im Horchen auf das Bewirkte. Es formt sich als Ohr der Reue.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 11)

Seine Entscheidungen infrage zustellen, steigert den Sinn für Verantwortung. Man weiß nie, was man alles getan hat. Die Unabsehbarkeit des Anrichtens weist auf die Reue als ständige Option. Daher ist alles Handeln ein Akt der Reuelosigkeit, den man hofft, verantworten zu können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 10)

Hilflosigkeit: Der letzte Stolz.

(Michael Meyer-Albert, Neue Pfeile und Sprüche, 9)

Die Krise lehrt weite Gedanken oder sie verleiht die zweifelhafte Stärke zu einer unschönen Exzentrik.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 8)

Im fehlerhaften Menschen genießt Gott seine Unfehlbarkeit. Im unfehlbaren Gott erträgt der Mensch seine Fehlbarkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 7)

Wer das wilde Leben nötig hat, denkt nicht wild genug. Golden, treuer Freund, ist alle Theorie. Und fahl des Lebens grauer Baum.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 6)

Erst der Wille zum Nichtwissen erlaubt eine Verkörperung der Wahrheit. Das Wort darf nicht ganz Fleisch werden.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 5)

Poesie. –  Eine Definition: Die Summe all’ dessen, was keine öffentliche Redaktion, die auf ihren Ruf, ihr Image und Inserate achten will, veröffentlichen würde.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Fortschritt. – Wenn die Städter auf das Land und seine der Vergangenheit Zeit entstammenden primitiven Sitten süffisant herabblicken, blickt die Zukunft gehässig auf sie, die Idioten, herab.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Glaube daran, dass es keine Wahrheit gäbe, ist selbst wieder eine Wahrheit, die es auf Dauer nicht mit sich aushält. Zweifel wird dogmatisch, depressiv oder paranoid.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 4)

Die Einsamkeit des Philosophen ist seine gute Gesellschaft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 3)

Wissen ist Ohnmacht. Die Mutigsten beherrschen die Kunst des Vergessens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 2)

Von nichts kommt nichts? Wäre dann der, der nichts tut, schuldloser?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 1)

Nietzsche. – Es geht darum Zündkerzen in den Zeitgeist zu setzen. Entzünden sollen sie andere! Wie im menschlichen Körper ein winziger, brennender, strahlender, leuchtender Kristallsplitter Wahrheit in ein System eingesenkt reicht, um ein Gerinnsel und einen Schlaganfall auszulösen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Rotten, Tribalismus. – Der*Die Deutsche ist Neurotiker*In und chronifiziert, staatlich anerkannt feige. Talent ist in Deutschland rar gesät.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Ablehnung. – Man darf nicht vergessen, dass selbst in dem „je te déteste“ oder „tu me détestes“ eine Form von Beziehung steckt. Sie ist nicht Indifferenz, sondern eine Form von Wille, Wunsch oder Velleität des Dialogs.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Schlagfertigkeit. – Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welche geringen Anlässe die Menschen benutzen, um einer den anderen zu demütigen oder auch nur sein kleines Mütchen am anderen abzukühlen. Dennoch: Auch aus der Ablehnung kann noch eine Lust über das eigene Wachstum, eine Lust an der Ablehnung entspringen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Smalltalk. – Aus oberflächlich und anfänglichen Gesprächen lernt man manchmal Leute kennen (oder erzeugen diese Gespräche ihre Menschen?), die, wenn man ihnen zuhört, genau demjenigen Menschenbild der Konkurrenz entsprechen, von dem die Lehrbücher der Ökonomie scheiben, und es gruselt einen. – Ein Scherz, bitte ein Scherz, nur einen, fleht man innerlich! Und zeig mir, dass es ein Mensch ist! – Man einigt sich auf einige Statusmodalitäten der Berufswahl und stellt einige politische Ansichten zur Schau.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Im Dreck spielen. – Im menschlichen Verkehr liegt doch etwas Dreckiges. Die ganze Summe aus Verlogenheit, Untreue, Illoyalität und Machtspielen, die ihn so unappetitlich, aber gleichzeitig schmerzlich wie unerlässlich machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Kleinlichkeit. – Am Ende des Tages – und man glaubt es kaum – kommt es genau auf die Frage an: Willst du Kaffee oder Tee trinken? – Daran entscheidet sich alles! Ich habe mal eine Frau kennengelernt,die nicht mit der Gewohnheit vertraut war, morgens einen Tee oder Kaffee zu trinken. Sie machte sich schlicht keine Gedanken darum, trank vielleicht mal ein lauwarmes Glas Wasser. Sie ist mir dadurch unheimlich und suspekt geworden. – Einen Tag nachdem ich das geschrieben hatte ging mir mein Wasserkocher kaputt. (Höchste göttliche Ahnung!)

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fähigkeit der Vision. — Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man der Vision — das heisst einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen“ — gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

(Nietzsche, Morgenröthe, 66)

„Alle Wahrheit ist einfach.“ — Ist das nicht zwiefach eine Lüge? —

(Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 4)

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