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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches

Moralische Schwäche in Macht verwandeln

Nietzsche und der Ressentiment-Vorwurf

Moralische Schwäche in Macht verwandeln

Nietzsche und der Ressentiment-Vorwurf

4.7.25
Hans-Martin Schönherr-Mann

Fremde erscheinen vielen unheimlich. Prompt befürchten sie, dass diese Fremden ihnen schaden. Viele passabel Verdienende halten Bürgergeldempfänger für faul und gönnen diesen daher die staatliche Unterstützung nicht. Vielen Gebildeten erscheinen Ungebildete grob und einfältig, mit denen sie daher möglichst nichts zu tun haben wollen, denen sie nicht trauen. Religiöse Menschen fürchten sich oft vor Atheisten, die ihrerseits Berührungsängste vor der Religion haben. Was man nicht kennt, erscheint häufig als gefährlich und das wertet man vorschnell ab. Solcherart Vorurteile führen zur Ablehnung, die sich häufig so verfestigt, dass Gegenargumente gar nicht mehr gehört werden. Das ist Ressentiment, das es schon lange gibt, das aber heute in vielen politischen und sozialen Debatten Konsens fast unmöglich macht. Das kann in Hass und Verachtung ausarten und daran anschließend in Gewalt ob zwischen Arm und Reich, Rechts und Links, Machos und Feministinnen, Abtreibungsgegnern und Abtreibungsbefürwortern, Vegetariern und Fleischessern. Wenn sich eine Seite durchsetzt, zwingt sie den anderen ihre Werte auf, wird das Ressentiment sogar schöpferisch. Allemal verhindert es, dass man sich darum bemüht, den anderen zu verstehen. Für Nietzsche treibt das Ressentiment seit langem den Streit über das moralisch Gebotene.

„Ressentiment“ ist einer der Schlüsselbegriffe von Nietzsches Spätwerk. Der Philosoph meint damit einen verinnerlichten und verfestigten Affekt der Rache, der zur Herausbildung eines insgesamt verneinenden Weltzugangs führt. Insbesondere in Zur Genealogie der Moral versucht Nietzsche zu zeigen, dass die gesamte europäische Kultur seit dem Aufstieg des Christentums auf diesem Affekt fuße. Judentum und Christentum propagierten in ihrem Hass auf die Aristokraten eine Ethik der Schwachen – in diesem Akt werde das Ressentiment kreativ. Nietzsche will nun mit einer neuen kreativen Ethik zu einer neuerlichen Umwertung der Werte beitragen, um zu einer lebensbejahenden aristokratischen Ethik der „Starken“ zurückzufinden. Hans-Martin Schönherr-Mann führt in diesem Artikel in Nietzsches Überlegungen zum Ressentiment ein und arbeitet heraus, was den gegenseitigen Ressentiment-Vorwurf bis heute so populär macht.

Fremde erscheinen vielen unheimlich. Prompt befürchten sie, dass diese Fremden ihnen schaden. Viele passabel Verdienende halten Bürgergeldempfänger für faul und gönnen diesen daher die staatliche Unterstützung nicht. Vielen Gebildeten erscheinen Ungebildete grob und einfältig, mit denen sie daher möglichst nichts zu tun haben wollen, denen sie nicht trauen. Religiöse Menschen fürchten sich oft vor Atheisten, die ihrerseits Berührungsängste vor der Religion haben. Was man nicht kennt, erscheint häufig als gefährlich und das wertet man vorschnell ab. Solcherart Vorurteile führen zur Ablehnung, die sich häufig so verfestigt, dass Gegenargumente gar nicht mehr gehört werden. Das ist Ressentiment, das es schon lange gibt, das aber heute in vielen politischen und sozialen Debatten Konsens fast unmöglich macht. Das kann in Hass und Verachtung ausarten und daran anschließend in Gewalt ob zwischen Arm und Reich, Rechts und Links, Machos und Feministinnen, Abtreibungsgegnern und Abtreibungsbefürwortern, Vegetariern und Fleischessern. Wenn sich eine Seite durchsetzt, zwingt sie den anderen ihre Werte auf, wird das Ressentiment sogar schöpferisch. Allemal verhindert es, dass man sich darum bemüht, den anderen zu verstehen. Für Nietzsche treibt das Ressentiment seit langem den Streit über das moralisch Gebotene. „Ressentiment“ ist einer der Schlüsselbegriffe von Nietzsches Spätwerk. Der Philosoph meint damit einen verinnerlichten und verfestigten Affekt der Rache, der zur Herausbildung eines insgesamt verneinenden Weltzugangs führt. Insbesondere in Zur Genealogie der Moral versucht Nietzsche zu zeigen, dass die gesamte europäische Kultur seit dem Aufstieg des Christentums auf diesem Affekt fuße. Judentum und Christentum propagierten in ihrem Hass auf die Aristokraten eine Ethik der Schwachen – in diesem Akt werde das Ressentiment kreativ. Nietzsche will nun mit einer neuen kreativen Ethik zu einer neuerlichen Umwertung der Werte beitragen, um zu einer lebensbejahenden aristokratischen Ethik der „Starken“ zurückzufinden. Hans-Martin Schönherr-Mann führt in diesem Artikel in Nietzsches Überlegungen zum Ressentiment ein und arbeitet heraus, was den gegenseitigen Ressentiment-Vorwurf bis heute so populär macht.

Seit dem Beginn der Moderne im 18. Jahrhundert, der die Auflösung eines einheitlichen christlichen Weltzugangs mit sich brachte, befinden sich die betroffenen europäischen Gesellschaften in einem Dauerkonflikt der Ideologien und Weltanschauungen. Der französische Philosoph Paul Ricœur spricht von einem Krieg der Interpretationen, genauer einem „Konflikt der rivalisierenden Hermeneutiken“1. In einer solchen Situation macht das Ressentiment Karriere. Weil man andere Weltverständnisse nicht widerlegen kann, da sie von anderen Prämissen ausgehen, lehnt man sie häufig mit einer emotionalen Heftigkeit ab, die eine gegenseitige Bemühung, den Anderen zu verstehen, von vorherein ausschließt. So schaukelt sich das Ressentiment schnell gegenseitig hoch.

Abb. 1: Francisco de Goya: Kinderspiele (1782–85) (Quelle)

I. Das Ressentiment im heutigen Krieg der Ideologien

Richtig Fahrt nahm der Ressentiment-Vorwurf dadurch auf, dass die Aufklärung im 18. Jahrhundert mit ihrer Forderung nach Menschenrechten die Idee propagierte, die Menschen als rechtlich gleichgestellt zu begreifen. Ein Jahrhundert später kam noch die soziale Gleichheit hinzu. Beide Vorstellungen von Gleichheit bleiben bis heute unerfüllt. So bemerkt Jürgen Große: „Ressentimentgefühl und Ressentimentbegriff werden zusehends mit Fragen sozialer Gerechtigkeit konnotiert, insbesondere mit frustriertem Gleichheitsverlangen.“2

So sehen sich die Menschen sozial und politisch enttäuscht. Kapitalistische und konservative Weltbilder verhindern die Gleichheit, was aus politisch linker Perspektive zu Aversionen und politischen Konflikten führt, so dass sich viele sozial benachteiligt fühlen. Max Hartung schreibt: „Stets waltet eine Dialektik innerhalb der Geschichte: das schlechte Gewissen der Hörigen und die Fremdbestimmung durch das Gesetz, die subtilen Spiralen der Macht und die darin inbegriffenen, ohne ihr Wissen von Ressentiment getriebenen Subjekte“3.

Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rechte und faschistische Ideologien in vielen Ländern dominierten und aggressiv liberales und linkes Denken mit Terror verfolgten, sehen sich heutige Vertreter solcher Weltbilder an den Rand gedrängt, wiewohl sie in den letzten Jahrzehnten kräftigen Auftrieb erhielten. Oliver Nachtwey bemerkt: „Materielle und kulturelle Statusängste sind Treiber von Ressentiments, negativen Affekten, identitärer Schließung und von Verschwörungstheorien – Aspekte, die schon früh als Kennzeichen autoritärer Persönlichkeitsstrukturen ausgemacht wurden.“4

Abb. 2: Francisco de Goya: La Beata mit den Kindern (um 1795) (Quelle)

II. Nietzsches fabelhafte wahre Welt

Nietzsche entwickelt seinen Ressentiment-Begriff fokussierter und differenzierter. Als einer der ersten erkennt er, dass es durch den Krieg der Ideologien keine richtige einzige Wirklichkeit mehr gibt, diese vielmehr nur noch verschiedene Interpretationen sind, die sich gegenseitig nicht widerlegen können. So schreibt er: „Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? . . . Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!“5

So ist für Nietzsche die wahre Welt zu einer Fabel geworden. Daher können sich die verschiedenen Weltbilder nur mit Ablehnung begegnen, die sich nicht begründen lässt, außer durch ein Feindbild bzw. aus einem gegenseitigen Ressentiment heraus.

Der Szientismus versucht heute dieses Dilemma mit einem wissenschaftlichen Weltbild zu überwinden. Aber die Wissenschaften entgehen weder dem Problem der Differenz zwischen Sprache und Welt noch ihrer Methodenabhängigkeit und der Subjektivität aller Wahrnehmung, die durch Intersubjektivität nicht ausgehebelt werden kann. Nietzsches Verdikt von der fabelhaften wahren Welt bleibt folglich bestehen.

Abb. 3: Francisco de Goya: Kinder auf Nestsuche (1777) (Quelle)

III. Das Ressentiment der Schwachen gegenüber den Starken

Für Nietzsche verdankt sich das Ressentiment denn auch keinem Krieg der Ideologien. Vielmehr hat es eine weiterreichende Herkunft. Im Grunde entspringt es dem Konflikt zwischen Arm und Reich bereits in der Antike. Vermittelt wird das für Nietzsche aber zunächst durch die jüdischen Priester. Er schreibt: „Die ganz großen Hasser in der Weltgeschichte sind immer Priester gewesen, auch die geistreichsten Hasser: – gegen den Geist der priesterlichen Rache kommt überhaupt aller übrige Geist kaum in Betracht.“6

Die Priester hassten, so Nietzsche, nämlich die Aristokratie, also die Starken und Reichen, weil sie diesen unterlegen waren. Ihnen gegenüber entwickelten sie aus dem Gefühl der Unterlegenheit und der Machtlosigkeit einen Widerwillen, das Ressentiment, aus dem heraus sie an der Aristokratie Rache nahmen.

Aber wie nahmen sie Rache? Dadurch, dass sie deren ethische Werte entwerteten und an deren statt die Werte der Armen setzten. Sind letztere nicht immer schon die natürlichen ethischen Orientierungen? Keineswegs, worauf Nietzsche hinweist: „Man nahm den Werth, dieser ‚Werthe‘ als gegeben, als thatsächlich, als jenseits aller In-Frage-Stellung“7.

Diesen Eindruck hat aber erst das Christentum vermittelt. Ursprünglich – d. h. vor dem Juden- und dem Christentum – war das ethisch Gute gerade nicht an die Armen und Schwachen gekoppelt, entsprang es gerade nicht deren Hilfsbedürftigkeit. Für Nietzsche hatte es einen ganz anderen Ursprung, wenn er schreibt:

Das Pathos der Vornehmheit und Distanz, […] das dauernde und dominirende Gesamt- und Grundgefühl einer höheren herrschenden Art im Verhältnis zu einer niederen Art, zu einem „Unten“ – das ist der Ursprung des Gegensatzes „gut“ und „schlecht“.[…] Es liegt an diesem Ursprunge, dass das Wort „gut“ sich von vornherein durchaus nicht nothwendig an „unegoistische“ Handlungen anknüpft[.]8

Das lässt sich durch Platon belegen, für den Gerechtigkeit heißt, „dass jeder das Seinige verrichtet.“9 Das Gute, auch das ethisch Gute, ist seine Natur zu erfüllen. Wenn diese einen zum Handwerker gemacht hat, soll er nicht versuchen, sich in die Geschäfte der Mächtigen und Reichen einzumischen. Natürlich heißt Reichtum Adel und verkörpert das ethisch Gute. Armut ist dagegen ethisch schlecht und neigt zur Bosheit.

Abb. 4: Francisco de Goya: Kinderspiele (1782) (Quelle)

IV. Die Umwertung aller Werte

Just diese Relation ins Gegenteil verkehrt haben nach Nietzsche die jüdischen Priester,

die gegen die aristokratische Werthgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflössenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich „die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein gibt es Seligkeit, – dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein!“10

Man darf bezweifeln, ob Nietzsche die religiöse Welt des Judentums vor dem Beginn des Christentums angemessen umschreibt. Die antiken Religionen, d. h. ihre priesterlichen Vertreter, die gemeinhin den Herrschenden dienten, partizipierten dadurch an der Macht und damit auch am Reichtum. Aber Nietzsche verweist im Weiteren auf das Christentum, das ursprünglich eine jüdische Sekte war. Wie schreibt doch Agnes Heller: „Jesus war kein Christ, und er war natürlich auch kein Europäer.“11

So erscheint es naheliegender, diese Umwertung der Werte, die Entwertung aristokratischer Moral und die Hochschätzung einer Ethik der Schwachen, primär mit den Christen in Verbindung zu bringen, zumindest angesichts ihrer Anfänge. Damit verdankt sich auch das Ressentiment dann primär den Christen, die auch die Armen in ihre Reihen aufnahmen und die während ihrer Anfänge nicht mit den politischen Mächten kollaborieren konnten, wurden sie doch streckenweise im Römischen Reich verfolgt, weil sie Mission betrieben, was allen Kulten untersagt war. Nietzsche schreibt auch weiter: „Man weiss, wer die Erbschaft dieser jüdischen Umwerthung gemacht hat . . . Ich erinnere […] an den Satz, […] – dass nämlich mit den Juden der Sklavenaufstand in der Moral beginnt“12, den aber die Christen erfolgreich bis zu Ende kämpften, um dadurch mit einer neuen Struktur von Ethik die Welt nachhaltig anders zu interpretieren und zu verändern.  

Abb. 5: Francisco de Goya: Jungen spielen bei einer Wippe (1777) (Quelle)

V. Das Ressentiment als kreative Kraft

Aber haben sie nicht alles gelassen, wie es war? Denn daran anschließend wird Max Weber sich die Frage stellen, wie eine an der Armut orientierte Religion zu einer solchen Macht- und Prachtentfaltung kommen konnte, wie man sie besonders in Rom damals spürte. Seine Antwort lautete „durch ungeplante Nebeneffekte“13, so sein Biograph Jürgen Kaube: Die Armutsregel der Mönche in den Klöstern führte zur Anhäufung immensen Reichtums.

Mit der moralischen Wende, Armut und Schwäche zu hohen Tugenden zu erheben, während Reichtum und Macht skeptisch beäugt wird, an die Stelle des Hochmuts die Demut tritt, vollendeten die Christen nicht nur die Umwertung aller Werte. Vielmehr entwerteten sie für Nietzsche damit das Leben selbst, was aber neue Werte zur Folge hatte. Nietzsche schreibt:

Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert: […]. Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem „Ausserhalb“, zu einem „Anders“, zu einem „Nicht-selbst“: und dies Nein ist ihre schöpferische That.14

Mit dieser Kreativität des Ressentiments, mit diesem Wechsel vom Guten ins Böse und vom Bösen ins Gute erläutert Nietzsche die Moral nicht mehr aus sich selbst, gewissermaßen kausal – das Gute aus dem Guten bzw. als eine Geschichte des Guten –, sondern aus ihrem Gegenteil, also genealogisch: Das heutige ethisch Gute entspringt dem Bösen, wie nämlich der heutigen Ethik die antike aristokratische Ethik der Stärke erscheinen muss. Das ist der Sinn von Nietzsches Konzept der Genealogie.

So verkörpert der Altruismus das ethisch Gute, während der Egoismus nicht bloß das Böse darstellt. Vielmehr erscheint er heute so, als hätte er mit Ethik gar nichts zu tun. Nietzsche entlarvt dagegen diese Verdrängung der Herkunft des Guten just aus diesem Bösen. Er schreibt:

Vielmehr geschieht es erst bei einem Niedergange aristokratischer Werthurtheile, dass sich dieser ganze Gegensatz „egoistisch“ „unegoistisch“ dem menschlichen Gewissen mehr und mehr aufdrängt, – es ist, um mich meiner Sprache zu bedienen, der Heerdeninstinkt, der mit ihm endlich zu Worte (auch zu Worten) kommt. […] ( […] heute herrscht das Vorurtheil, welches „moralisch“, „unegoistisch“, „désintéressé“ als gleichwertige Begriffe nimmt, bereits mit der Gewalt einer „fixen Idee“ und Kopfkrankheit).15

Abb. 6: Francisco de Goya: Die Schaukel (1779)

VI. Egoismus statt Altruismus

Nietzsche dagegen will keinesfalls Altruist sein. Für ihn ist Sokrates’ Konzept, lieber Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun, lebensfeindlich und bereitet den Weg für des Nazareners Gebot, nach dem man seine Feinde lieben soll. Stattdessen beruft sich Nietzsche auf den Buddhismus und propagiert in dessen Sinn den Egoismus, der für die christliche Moral wie die rationale Ethik im Anschluss an Kant fast die höchste Unmoral darstellt. Der Buddhismus dagegen

wehrt sich gegen nichts mehr als gegen das Gefühl der Rache, der Abneigung, des ressentiment […]. Die geistige Ermüdung, die er vorfindet, und die sich in einer allzu großen „Objektivität“ (das heisst Schwächung des Individual-Interesses, Verlust an Schwergewicht, an „Egoismus“) ausdrückt, bekämpft <er> mit einer strengen Zurückführung auch der geistigsten Interessen auf die Person. In der Lehre Buddhas wird der Egoismus Pflicht[.]16

Also sprach Zarathustra im selben Sinn, „dass sein Wort die Selbstsucht seligpries, die heile, gesunde Selbstsucht, die aus mächtiger Seele quillt.“17

Nur der Egoismus entfaltet kein Ressentiment, das jener für Nietzsche nicht nötig hat, weil es sich zunächst als Selbsthass in die überwältigende christliche Liebe des Nächsten transformiert, der reine Wille zur Macht der Schwachen. Denn wer sich dem verweigert, ist ein böser Sünder, auf den sich dann das Ressentiment richtet wie an den Anfängen im Judentum auf die Aristokraten. Durch diese Umwertung der Werte ist das Ressentiment schöpferisch geworden.

Es fragt sich freilich, ob der Egoismus doch ähnlich vom Ressentiment beseelt wird. Nietzsche selber hasst das Christentum und die „letzten Menschen“18, die sich materialistisch vom Christentum abwenden: Sozialisten und Liberale. Aus dem Egoismus heraus und in Abgrenzung gegenüber aller traditionellen Moral will Zarathustra neue Werte entwerfen, die den Menschen über sich hinaus weisen. Wird derart das Ressentiment nicht erst recht schöpferisch? Nietzsche will ja kreativ sein, das mittelalterliche Christentum gerade nicht. Allemal handelt es sich um eine erneute Umwertung der Werte, die Nietzsche propagiert, ob nun vom Ressentiment getrieben oder nicht.

Abb. 7: Francisco de Goya: Kampf mit Knüppeln (1820–23) (Quelle)

VII. Sich gegenseitig des Ressentiments bezichtigen

Max Scheler wirft denn auch Nietzsche gegenüber dem Christentum Ressentiment vor. Denn Nietzsche entwertet den höchsten Wert, nämlich das Heilige. Dabei bleibt Nietzsche für Scheler nicht alleine, wenn dieser schreibt: „Wir glauben […], dass der Kern der bürgerlichen Moral, welche die christliche seit dem 13. Jahrhundert immer mehr abzulösen begann, bis sie in der Französischen Revolution ihre höchste Leistung vollzog, ihre Wurzel im Ressentiment hat.“ 19

In gewisser Weise steht er aber Nietzsche nicht so fern, wenn er seinen Zeitgenossen nicht nur Materialismus vorwirft. Vielmehr wird diese Entwertung des Christentums für Scheler von Menschen vorangetrieben, denen es an Moralität mangelt. Er schreibt:

In gewisser Weise steht er aber Nietzsche nicht so fern, wenn er seinen Zeitgenossen nicht nur Materialismus vorwirft. Vielmehr wird diese Entwertung des Christentums für Scheler von Menschen vorangetrieben, denen es an Moralität mangelt. Er schreibt:

Es gibt vielleicht keinen Punkt, über den die Einsichtigen und Gutgesinnten unserer Zeit einiger sind als darin: dass in der Entfaltung der modernen Zivilisation die Dinge […] des Menschen Herr und Meister geworden sind; […]. Aber viel zu wenig macht man sich klar, dass diese allseits anerkannte Tatsache eine Folge eines grundlegenden Umsturzes der Wertschätzung ist, der seine Wurzel im Sieg der Werturteile der vital Tiefstehendsten hat, der Niedrigsten, […] und das Ressentiment seine Wurzel ist!20

Gerade die zwei letzten Halbsätze könnte auch Nietzsche ähnlich formulieren. Freilich würde Scheler Nietzsche just zu diesen „Tiefstehendsten“ zählen. Aber wie Nietzsche die Christen als schwach und getrieben vom Ressentiment versteht, schätzt Scheler umgekehrt die Feinde des Christentums gleichfalls als solche Schwachen ein. Mit Nietzsche müssten diese sich dann freilich kreativ durchsetzen wie einst die Christen gegenüber den Aristokraten, für Scheler selbstredend nicht.

Sartre würde indes Nietzsche zustimmen, wenn er den antikolonialistischen Kampf, wie ihn Frantz Fanon propagiert, gerade nicht als eine ressentimentgeladene Reaktion der Kolonialisierten gegen ihre Kolonialisierer versteht. Vielmehr schreibt er: „Diese ununterdrückbare Gewalt ist, wie <Fanon> nachweist, kein absurdes Unwetter, auch nicht das Wiederaufleben wilder Instinkte, ja nicht einmal die Wirkung eines Ressentiments: sie ist nichts weiter als der sich neu schaffende Mensch.“21

Hier könnte man im Hintergrund anklingend einen Bezug zu Nietzsches Übermenschen vernehmen, gibt es nicht nur im Existentialismus, sondern auch im Poststrukturalismus Interpretationen, die den proletarischen oder antikolonialen Revolutionär in dieser Richtung entwerfen.

Gabriel Marcel dagegen kritisiert aus betont christlicher Perspektive das existentialistische Selbstverständnis, wie es Sartre z. B. in seinem Roman Zeit der Reife entwirft. Marcel schreibt:

Und wie wollte man verhindern, dass diese simulierte oder parodistische autarkia, die (der Mensch) sich verleiht, in ein verdrängtes Ressentiment gegen sich selbst entartet und in die Techniken der Entwürdigung mündet? Es gibt einen übersehbaren Weg, der von den Abtreibern, bei denen die Kundschaft Sartres ein- und ausgeht, zu den Todeslagern führt, in denen sich Folterknechte auf Menschen stürzen, die sich nicht zur Wehr setzen können.22

Historisch ist das wahrscheinlich der erste Vergleich von Abtreibungen mit dem Holocaust, ein schweres Geschütz, das damit von einem ungeheuren Ressentiment kündet.

Hannah Arendt jedenfalls hat Nietzsche vor jedem Antisemitismus-Vorwurf wie von jeglichem Ressentiment gegenüber dem Judentum in Schutz genommen, wenn sie 1951, als Nietzsche noch für viele der Ahnherr der Nazis war, schreibt:

[U]nd schließlich Friedrich Nietzsche, dessen so vielfach missverstandene Bemerkungen zur Judenfrage durchweg der Sorge um das „gute Europäertum“ entspringen und dessen Einschätzung der Juden im Geistesleben seiner Zeit daher so erstaunlich gerecht ist, frei von Ressentiment, Schwärmerei und billigem Philosemitismus.23

Quelle des Artikelbilds

Francisco de Goya: Die Wippe (1791/92) (Quelle)

Quellen

Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951), 9. Aufl. München 2003.

Große, Jürgen: Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments. Marburg 2024.

Hartung, Max: Revolution? Revolte? Widerstand! Wandel und wie er gedacht werden kann im Werk von Gilles Deleuze und Michel Foucault. München 2015 (Link).

Heller, Agnes, Die Auferstehung des jüdischen Jesus (2000). Berlin & Wien 2002.

Kaube, Jürgen: Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen. Berlin 2014.

Marcel, Gabriel: Die Erniedrigung des Menschen (1951). Frankfurt a. M. 1957.

Nachtwey, Oliver: Entzivilisierung. Über regressive Tendenzen in westlichen Gesellschaften. In: Heinrich Geiselberger (Hg.): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin 2017, S. 215–232.

Platon, Politeia (ca. 374 v. Chr.), übers. v. Friedrich Schleiermacher, Werke Bd. 3. Hamburg 1958.

Ricœur, Paul: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I (1969), München 1973.

Sartre, Jean-Paul: Die Zeit der Reife (1945), Gesammelte Werke Romane und Erzählungen Bd. 2. Reinbek b. Hamburg 1987.

Sartre, Jean-Paul: Vorwort zu: Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde (1961). Reinbek b. Hamburg 1969.

Scheler, Max: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen (1912). In: Ders.: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze (1915/1919), Gesammelte Werke Bd. 3, 4. Aufl. Bern 1955.

Fußnoten

1: Hermeneutik und Strukturalismus I, S. 30.

2: Die kalte Wut, S. 327.

3: Revolution? Revolte? Widerstand!, S. 242.

4: Entzivilisierung, S. 228.

5: Götzen-Dämmerung, Wie die „wahre Welt“

6: Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 7.

7: Zur Genealogie der Moral, Vorrede 6.

8: Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 2.

9: Politeia, 433 a.

10: Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 7.

11: Die Auferstehung des jüdischen Jesus, S. 88.

12: Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 7.

13: Max Weber – Ein Leben zwischen den Epochen, S. 143.

14: Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 10.

15: Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 2.

16: Der Antichrist, 20.

17: Also sprach Zarathustra, Von den drei Bösen, Abs. 2.

18: Also sprach Zarathustra, Vorrede, Abs. 5.

19: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, S. 70.

20: Ebd., S. 145.

21: Vorwort zu: Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, S. 18.

22: Die Erniedrigung des Menschen, S. 157.

23: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 72.

Moralische Schwäche in Macht verwandeln

Nietzsche und der Ressentiment-Vorwurf

Fremde erscheinen vielen unheimlich. Prompt befürchten sie, dass diese Fremden ihnen schaden. Viele passabel Verdienende halten Bürgergeldempfänger für faul und gönnen diesen daher die staatliche Unterstützung nicht. Vielen Gebildeten erscheinen Ungebildete grob und einfältig, mit denen sie daher möglichst nichts zu tun haben wollen, denen sie nicht trauen. Religiöse Menschen fürchten sich oft vor Atheisten, die ihrerseits Berührungsängste vor der Religion haben. Was man nicht kennt, erscheint häufig als gefährlich und das wertet man vorschnell ab. Solcherart Vorurteile führen zur Ablehnung, die sich häufig so verfestigt, dass Gegenargumente gar nicht mehr gehört werden. Das ist Ressentiment, das es schon lange gibt, das aber heute in vielen politischen und sozialen Debatten Konsens fast unmöglich macht. Das kann in Hass und Verachtung ausarten und daran anschließend in Gewalt ob zwischen Arm und Reich, Rechts und Links, Machos und Feministinnen, Abtreibungsgegnern und Abtreibungsbefürwortern, Vegetariern und Fleischessern. Wenn sich eine Seite durchsetzt, zwingt sie den anderen ihre Werte auf, wird das Ressentiment sogar schöpferisch. Allemal verhindert es, dass man sich darum bemüht, den anderen zu verstehen. Für Nietzsche treibt das Ressentiment seit langem den Streit über das moralisch Gebotene.

„Ressentiment“ ist einer der Schlüsselbegriffe von Nietzsches Spätwerk. Der Philosoph meint damit einen verinnerlichten und verfestigten Affekt der Rache, der zur Herausbildung eines insgesamt verneinenden Weltzugangs führt. Insbesondere in Zur Genealogie der Moral versucht Nietzsche zu zeigen, dass die gesamte europäische Kultur seit dem Aufstieg des Christentums auf diesem Affekt fuße. Judentum und Christentum propagierten in ihrem Hass auf die Aristokraten eine Ethik der Schwachen – in diesem Akt werde das Ressentiment kreativ. Nietzsche will nun mit einer neuen kreativen Ethik zu einer neuerlichen Umwertung der Werte beitragen, um zu einer lebensbejahenden aristokratischen Ethik der „Starken“ zurückzufinden. Hans-Martin Schönherr-Mann führt in diesem Artikel in Nietzsches Überlegungen zum Ressentiment ein und arbeitet heraus, was den gegenseitigen Ressentiment-Vorwurf bis heute so populär macht.

Taylor Swift – Überfrau oder letzter Mensch?

Eine nietzscheanische Kritik des erfolgreichsten Popstars unserer Zeit

Taylor Swift – Überfrau oder letzter Mensch?

Eine nietzscheanische Kritik des erfolgreichsten Popstars unserer Zeit

27.6.25
Henry Holland, Paul Stephan & Estella Walter

Taylor Swift ist einer der wichtigsten „Götzen“ unserer Zeit. Grund genug für unsere Stammautoren Henry Holland, Paul Stephan und Estella Walter zum nietzscheanischen „Hammer“ zu greifen und dem Hype ein wenig auf den Zahn zu fühlen: Verdient Swift den bis in die Philosophie hineinreichenden Kult um sie? Wird sie maßlos überschätzt? Und was erklärt die Diskrepanz zwischen Schein und Sein, Spektakel und Leben?

Das komplette ungekürzte Gespräch können Sie auf dem YouTube-Kanal der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie betrachten (Link).

Taylor Swift ist einer der wichtigsten „Götzen“ unserer Zeit. Grund genug für unsere Stammautoren Henry Holland, Paul Stephan und Estella Walter zum nietzscheanischen „Hammer“ zu greifen und dem Hype ein wenig auf den Zahn zu fühlen: Verdient Swift den bis in die Philosophie hineinreichenden Kult um sie? Wird sie maßlos überschätzt? Und was erklärt die Diskrepanz zwischen Schein und Sein, Spektakel und Leben? Das komplette ungekürzte Gespräch können Sie auf dem YouTube-Kanal der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie betrachten (Link).
„Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“
(Götzen-Dämmerung)
Abbildung 1: T-Shirt zur Eras-Tour; Preis: 23,99 € (Quelle)

I. Ungleichzeitigkeiten

Paul Stephan: Ich möchte unseren Austausch zu Nietzsche und Taylor Swift mit einer Art kleinen, selbstgeschriebenen Aphorismus einleiten, der da lautet: „Man ist genau dann alt, wenn man popkulturelle Massenphänomene erst mit mehreren Jahren Verzögerung mitbekommt.“ Ich selbst habe von ihr, wie ich gestehen muss, erst mit vielleicht gut zehn Jahren Verzögerung überhaupt erst was mitbekommen im Zuge des massiven Trubels um ihre Eras-Tour. Wie steht's bei euch?

ES: Als sie angefangen hat, bekannt zu werden, da war ich noch relativ jung und ich kannte sie, aber es ist schon auch an mir vorbeigegangen. Ich habe nie groß ihre Songs gehört und habe sie eher so als Randfigur wahrgenommen. Sie war zu dem Zeitpunkt

auch noch nicht so diese Größe, die sie jetzt ist. Ich glaube, sie hat dann  ein Revival erlebt, das war vielleicht 2019 oder 2020, da habe ich von ihr mitbekommen, aber da war ich schon zu alt dafür. Das heißt, zu keinem Zeitpunkt war sie für mich wirklich eine sonderlich relevante Figur und umso spannender ist es deshalb auch zu sehen, dass sie mittlerweile so ein großes Phänomen geworden ist.

HH: Mein Bezug zu ihr ist auch eher von außen, aber es gibt einen gewissen familiären Hintergrund: Irgendwann habe ich mich mit meiner Schwester darüber unterhalten, was meine zwei Nichten so machen und mögen. Das war vielleicht 2019 oder 2020. Da hat meine Schwester erzählt, dass die beiden sehr große Taylor-Swift-Fans sind und ich habe tatsächlich gefragt: „Wer ist das denn?“ Da war meine Schwester ziemlich sauer auf mich, dass ich das nicht wusste. Sie klärte mich auf Swifts große Bedeutung auf, und pries auch ihren Feminismus. Dieses Fantum erreichte seinen Höhepunkt vielleicht während der Eras-Tour. Da haben meine Schwester und ihre Töchter es irgendwie geschafft Karten zu bekommen, um Swift in Edinburgh zu sehen, wo meine Familie und ich auch zufällig zu diesem Zeitpunkt waren. Wir haben Swift nicht gesehen, aber die Stadt war rappelvoll von den Swifties. Denn man muss wissen, dass Swift nicht nur, wie üblich, ein Konzert in einer Stadt spielt, sondern immer gleich drei oder sogar noch mehr hintereinander, und da waren wirklich sehr viele Swifties unterwegs, oft mit ihren Cowboy-Hüten, das ist eines ihrer Markenzeichen. Und ganz der populären Vorstellung entsprechend, waren diese zu etwa 80 bis 90 % Frauen, größtenteils unter 30, – es gibt einfach wenige Männer, die auf Taylor Swift abfahren und das ist vielleicht ein Teil dieses Phänomens.

Abbildung 2: Taylor-Swift-Kerze; Preis: $16,95 (Quelle)

II. Wer ist Taylor Swift?

PS: Vielleicht sollten wir für den Fall, dass einige unserer Leser auch nicht so popkulturaffin sind, den Hintergrund ein wenig erläutern. Du hast ja schon den Begriff „Swiftie“ eingeführt, mit dem sich die Fans von Swift selbst bezeichnen. Sie selbst ist eine US-amerikanische Pop-Sängerin, die ursprünglich aus dem Country-Bereich kommt, sich von diesen Ursprüngen aber weitgehend gelöst hat und mittlerweile einfach nur noch Pop macht.

HH: Ihr allererstes Album, Taylor Swift, erschien 2006. Ihr Durchbruch zum Megastar erfolgte ungefähr im Jahr 2018.

PS: Sie ist jetzt Mitte 30 und hat eben ihre Karriere auch sehr früh gestartet. Schon als Kind ist sie darauf getrimmt worden durch Tanzunterricht oder die Teilnahme an entsprechenden Wettbewerben. Und das hat zum Erfolg geführt: Mittlerweile konkurriert sie mit Größen wie Madonna um den Rang der erfolgreichsten Popsängerin aller Zeiten und ist auch geschäftlich sehr erfolgreich. Sie ist Milliardärin und gibt Konzerte auf der ganzen Welt, eine hat unglaublich riesige Fanbase – eben die Swifties –, hat auch schon diverse Filme gemacht und vieles mehr.

ES: Bei welchen Filmen hat sie denn mitgespielt?

PS: Wir sprachen ja schon von dieser Eras-Tour, die für sehr viel Furore gesorgt. Bei mir ist es etwa so gewesen, dass im Radio in dieser Zeit gefühlt von nichts anderem gesprochen worden ist. Das war im Sommer 2024, da war sie in Mitteleuropa, da ist sie eben sehr breit diskutiert worden. Die Tour war insgesamt die wirtschaftlich erfolgreichste Tour aller Zeiten – und sie hat sogar einen Kinofilm von ihrem Konzert gemacht, der auch sehr erfolgreich war. Es gibt aber zum Beispiel auch ein dokumentarisches Biopic über ihr Leben – Miss Americana (2020) – und sie hat noch an mehreren anderen Filmen mitgewirkt.

HH: Ja, es gibt mehrere Filme und Dokumentationen, bei denen sie auch oft selbst Regie geführt hat. Es geht ihr schon sehr um die Kontrolle. Wie beispielsweise auch Elon Musk wird ihr oft vorgeworfen, dass sie besessen darauf ist, das Narrativ über sie bis ins minutiöse Detail hinein zu lenken und zu bestimmen. Und was hervorsticht, ist auch das schiere Ausmaß an Produktivität. Es gibt um sie herum eine riesige Produktionsmaschine, die immer mehr Kulturwaren herstellen will und das hat eine gewaltige Selbstdynamik. Die Eras-Tour etwa hat zwei Jahre lang gedauert und einen Umsatz von etwa 2 Milliarden Dollar erzielt. Zum Vergleich: Der wesentlich ältere Paul McCartney hat vor Kurzem erst ein Gesamtvermögen von einer Milliarde Dollar erreicht. Es ist eben ein gigantischer Apparat, der, einmal ins Rollen gebracht, immer weiter läuft.

ES: Sie hat schon einfach etwas Universales, so eine Omnipräsenz, was sich eben auch ganz stark durch diese Vermarktung ergeben hat – wenn dieser Begriff nicht fast schon eine Untertreibung darstellt. Sie ist eine Marke, sie hat es geschafft, aus sich als Figur und alles, wofür sie steht, eine Marke zu machen, was sich in unterschiedlichen kulturellen Sektoren zeigt. Ihre Musik, ihre Filme – das hat schon etwas von einem selbstreferenziellen System.

PS: Ja, eine Art Parallelwelt. Es gibt ja eben diese Swiftie-Kultur, wo sie als „die Queen“ bezeichnet wird, teilweise als eine Art Göttin verehrt wird. Das nimmt durchaus religiöse Züge an. Es gibt junge Menschen, die sich verschulden, um zu all ihren Konzerten zu fahren – und die Tickets dafür sind nicht gerade günstig, da muss man schon mit mindestens 300 € einsteigen.1 Es gibt Menschen, die dann wirklich auch zu allen drei Konzerten gehen, wenn sie in einer Stadt spielt. Also es gibt schon einen Hype, der wirklich eine ganz neue Qualität in der Popkultur bezeichnet. Verrückte Fans hat es schon immer gegeben, aber dass es so massenhaft ist und auch so tief geht, dass sie die Menschen wirklich so stark verehren und vergöttern, das ist schon etwas Neues. Und es betrifft eben auch alle Sphären: Es gibt Politiker, die sich entweder stark von ihr abgrenzen oder sie in den Himmel loben – und das macht sogar vor der Philosophie nicht Halt. Also ich habe vor diesem Gespräch eigentlich nur sehr kurz und oberflächlich recherchiert und bin schon auf eine ganze Flut von philosophischen Publikationen zu ihr gestoßen von wechselhafter Qualität.2 Was mich frappierte: Auch dort geht der Zug klar ins Apologetische. Also es ist wirklich sehr schwer, kritische philosophische Analysen zu ihr zu finden, der Grundtenor ist, dass ihre Texte so tief seien, sie wird sogar schon selbst als Philosophin bezeichnet.3 Man sieht: Der Hype ist wirklich allumfassend – vielleicht können wir da ja ein wenig von unseren Kollegen abweichen und etwas andere Akzente setzen.

Abbildung 3: Verändertes Ortsschild von Gelsenkirchen anlässlich ihres dortigen Auftritts während der Eras-Tour; Preis: 243,75 € (Quelle)

III. Den Hype verstehen

ES: Was ich spannend finde, ist die Art und Weise, wie dieser Hype entstanden ist bzw. auf welcher Logik er basiert. Denn sie wird ja sehr hochgehoben, zu einer Art „Göttin“ erklärt – und zugleich macht sich die Bewunderung für sie gerade an ihrer „Authentizität“ fest. Sie sei eine echte Person, für alle nachvollziehbar und sie kämpfe menschliche Kämpfe. Man denke nur an den sehr spannenden Konflikt um die Urheberrechte an ihren Alben, der um 2019 begann – wobei man eben nicht außer Acht lassen kann, dass sie ja auch schon zu diesem Zeitpunkt schon sehr vermögend war und sehr wenig mit den alltäglichen Kämpfen der breiten Masse zu tun hat. Also ich finde es interessant zu sehen, wie dieses Bild der zugänglichen, „authentischen“ Figur sie wieder auf ein neues Level gehoben hat, auf dem sie eigentlich gar nicht mehr zugänglich sein kann, denn es können ja nicht alle auf so einem religiösen Level vergöttert werden, dafür braucht man ja schon ein Alleinstellungsmerkmal – was dann aber wiederum Authentizität ist. Das ist eine Paradoxie – die mich nicht einmal überrascht, sondern vor allem fasziniert.  

PS: Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, wer unsere Zeit verstehen, also sie in Gedanken fassen, will, wie Hegel den Auftrag der Philosophie formuliert hat,4 der muss eigentlich Taylor Swift verstehen.

ES: Man kann an so einem spezifischen Beispiel wie Swift wirklich die Gegenwart des historischen Prozesses der Gesellschaft erkennen. In all ihrer Widersprüchlichkeit, wenn man bei Hegel bleiben möchte.

HH: Was meinst du damit genau?

ES: Zum Beispiel eben, dass einer der Gründe, warum sie vergöttert wird, genau ihre „Bodenständigkeit“ ist. Historisch gesehen waren Götter und Göttinnen ja gerade nicht bodenständig; vielleicht fehlbar, aber trotzdem erhaben, die waren heldenhaft, nicht irdisch, nicht menschlich. Bei Taylor Swift ist das ja genau anders herum: Der Grund, warum sie diesen Status schon fast von einem „Übermenschen“ hat, liegt darin, dass man sagt „Ach, sie ist aber echt“, da hat man es mit einem „echten Menschen“ zu tun, sie ist irgendwie „real“, „authentisch“, „nachvollziehbar“, „auf dem Boden geblieben“. Das ist doch ein Widerspruch. Ganz abgesehen davon, ist sie als Milliardärin ja nicht mit der gleichen Realität konfrontiert ist wie Milliarden Menschen auf der Welt; sie ist kein „normaler Mensch“ – das wäre ein zweiter Widerspruch. Und das könnte man immer weiterführen. Wir können etwa auch auf die musikalische Qualität eingehen, ich denke, da ist ein weiterer Widerspruch.

PS: Für mich ist der Grundwiderspruch oder auch das Rätsel, das sie mir aufgibt, der krasse Widerspruch zwischen dem, was sie ist – der objektiv beurteilbaren Qualität ihrer Werke und ihrer Performance – und dem, was sie scheint – also wie krass sie von ihren Fans und der allgemeinen Öffentlichkeit gehypt wird. Also ich will nicht sagen, dass sie nichts kann, sie kann auf jeden Fall viel besser singen als die meisten von uns und vieles mehr. Aber trotzdem ist es ja so, wenn man sich zum Beispiel die musikalische Struktur ihrer Songs anschaut und die wirklich mal versucht, musiktheoretisch zu verstehen, schnell feststellt, dass es sogar nach Popmaßstäben eine sehr eintönige und sehr simple Harmonik ist, die diesen Songs zu Grunde liegt. Für gut drei Viertel ihrer Songs verwendet sie genau dieselben ausgelutschten und trivialen Akkordschemata und man kann ihre Songs wirklich übereinanderlegen und synchron abspielen, ohne dass es groß auffällt.5 Und auch, wenn es um die Text geht, deren „besondere Tiefe“ ja von vielen gelobt wird, würde ich sagen, dass sie selbst nach Popmaßstäben eigentlich nicht sehr tief und kreativ sind. Sie verwendet doch eigentlich nur ganz wenige Metaphern oder irgendeine Form von Verrätselung – ihr Prinzip ist im Gegenteil, einfach das zu sagen, was sie sagen will, also ihre Botschaft nicht groß rhetorisch auszuformen. Und die wenigen Metaphern, die sie gebraucht, sind auch noch sehr ausgelutscht. Oder übersehe ich da etwas?

HH: Also ich achte vor allem auf die Texte, denn musikalisch sind ihre Songs wirklich ziemlich langweilig. Oft weiß man auch nicht, ob da ein Drumcomputer im Hintergrund läuft oder ein Schlagzeuger spielt. Drumcomputer können auch brillante Musik kreieren, natürlich, nur bei ihr passiert so etwas nicht. Mit den Texten, vor allem in ihren neueren Alben, versucht sie durchaus Elemente von „Poesie“ und „Originalität“ einzubauen, aber dazu fällt mir nur der philosophische Begriff der „floating signifiers“, der freischwebenden Bedeutungsträger ohne Bedeutung ein.6 Ich denke etwa an das Lied The Tortured Poets Department von ihrem neusten Album, das denselben Namen trägt. Da gibt es einen Abschnitt, wo sie sagt:

I laughed in your face and said: „You’re not Dylan Thomas, I’m not Patti Smith, This ain’t the Chelsea Hotel, we’rе modern idiots.“7

Warum kommen der gefeierte und dennoch hermetische walisische Autor Dylan Thomas (1914–1953) und die US-amerikanische Punkmusikerin und Autorin Patti Smith (geb. 1946) in dem Song überhaupt vor? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Taylor Swift für diese Dinge wirklich interessiert, diese leeren Signifikanten dienen einfach nur dazu, irgendetwas „Intellektuelles“, „Bohème-haftes“ darzustellen.

PS: Ich glaube, dass sie aus dem Grund auch einfach sehr postmodern ist. Schon Mitte der 80er beschrieb etwa der Kulturtheoretiker Frederic Jameson als ein Grundcharakteristikum der Postmoderne dieses permanente Zitieren ohne tieferen Sinn, er spricht von „Pastiche“.8 Gerade, wenn man sich ihre Musikvideos anschaut – die, wie man anerkennen muss, sehr aufwändig gemacht sind –, sind sie voll von Anspielungen, wenn sie etwa Lady Gaga imitiert. Das sind alles Formen von Pastiche, keine Satire etwa. Man weiß gar nicht genau, was sie damit eigentlich meint – aber genau diese Anspielungen werden oft als Beleg für ihre „Tiefgründigkeit“ angeführt. Also ich würde es durchaus so polemisch sagen wollen: Dieser ganze philosophische und auch allgemein geisteswissenschaftliche Diskurs über Taylor Swift ist doch wirklich der vollkommenen Kapitulation des kritischen Geistes gegenüber dem Bestehenden – als ob die Qualität von Kunstwerken irgendetwas mit irgendwelchen Anspielungen zu tun hat; als ob etwa die Gedichte von Shakespeare einfach aus dem Grund großartig wären, dass sie eine Collage von irgendwelchen Referenzen wären.

ES: Ich würde gerne noch einmal auf den Aspekt der Musikalität zurückkommen. Was ich kritisch betrachten würde, wäre nicht, dass eine Künstlerin einen musikalisch betrachtet einfachen Song schreibt. Es gibt viele Songs, die nur die drei bis vier Hautakkorde benutzen, die sehr gelungen sind, die man genießen kann. Ich denke, das würde niemand bestreiten. Das Problem bei Swift – und auch bei anderen – ist, dass es nur das ist, es geht nicht darüber hinaus. Man hat ein Produkt, das aus vier Akkorden besteht und darauf baut die gesamte musikalische Karriere auf. Musik ist doch eine ganz eigene Kunstform, eine Form der ästhetischen Verarbeitung gesellschaftlicher Verhältnisse, die etwas auszudrücken versucht, was in Verbindungmit der Umwelt steht. Dahinter steckt eine Technik, Fähigkeiten, dass man experimentiert, dass man eine gewisse Komplexität reinbringt. Musik ist  viel mehr als ein Song, der dann immer wieder neu recycelt wird. Wenn man darauf ein ganzes Werk aufbaut, dann zerbröselt das in den Händen und macht es unglaubwürdig, dass dadurch so viel Erfolg entstehen kann. Dass es natürlich kommerzieller Erfolg ist, das kann man wieder gut analysieren, also die Frage, warum, wenn es in der musikalischen Komplexität relativ primitiv und repetitiv ist, warum es trotzdem so einen großen Erfolg hat: Was ist der Aspekt daran, der so gigantische Massen generieren kann, die sich teilweise verschulden, um auf ein Konzert zu gehen? Da würde ich gerne lieber drauf schauen, nicht per se auf die Einfachheit eines Songs, weil darum geht es ja nicht. Und dasselbe gilt für die Texte. Es bleibt da eine Warenform, die sich vor allem durch Quantität auszeichnet und nicht durch ihre qualitative Substanz.

Abbildung 4: Anhänger „Fuck the Patriarchy”, einem beliebten Zitat aus dem Song All too well; Preis: 12,90 € (Quelle)

IV. Ein „Mundstück“9 des Kulturkampfs

HH: Vielleicht ist es so, dass mindestens der eine Widerspruch unter den mehreren, die du identifiziert hast, Estella, sich auflösen lässt: Für die Fans, es handelt sich vor allem um den Erfolg oder um das Können der Inszenierung. Sie wird als bodenständig angesehen, aber man kann gar nicht von einer echten Bodenständigkeit sprechen. Ich kenne ihre Biographie nicht gut, aber sie soll in einem relativ wohlhabenden Elternhaus auf dem Land aufgewachsen sein. Es gibt da zum Beispiel ein frühes Video von 2006 (Link), da war sie 16, wo sie in dem bekannten „Whisky a Go Go“-Club in Hollywood auftritt, und da spielt sie ein paar Country-Songs auf der Gitarre, mit einem Fiddle und so weiter in der Backing-Band: Nichts erstaunliches, und trotzdem hört sich das alles viel echter, ja authentischer an, als was danach kam. Das sieht alles noch ein bisschen „echt“ aus. Estella, du hast vorhin davon gesprochen, dass sie Produkt der Kulturindustrie sei – aber vielleicht ist genauer davon zu sprechen, dass sie ein Produkt ist, dass sich selbst produziert. Sie verfügt über ihre eigenen Produktionsmittel – was die wenigsten von uns tun, man könnte sie dafür beneiden.

PS: Ich denke, ihr habt schon mit der „Bodenständigkeit“ oder wahrgenommenen „Authentizität“ einen sehr wichtigen Aspekt angebracht, der auch oft genannt wird, wenn man sich den Diskurs um sie anschaut und was auch ihre Fans sagen. Weil es auch den Mythos gibt – der sicherlich auch kein völliger Mythos ist –, dass sie ihre Songs eben selbst schreibt und so weiter. Aber da ist eben auch wieder so, dass Leute, die sich auskennen,10 sagen, dass, wenn sie ihre Songs einfach nur auf Basis ihrer Akkord- und Melodieideen veröffentlichen würde, das kein Mensch gut finden würde; sie werden schon noch von professionellen Produzenten gut gemacht, die dann doch durch irgendwelche originellen rhythmischen Ideen oder durch die Instrumentation den Song dann doch irgendwie „retten“. Aber ich meine, der wesentlichere Aspekt ist eigentlich schon die politische Orientierung, für die sie steht oder zumindest zu stehen scheint, also dass sie sich eben in diesem aktuell ja vor allem in den USA schwelenden Kulturkampf so klar für eine bestimmte Form von Wokeness ausspricht. Das ist spannenderweise in ihren Song gar nicht so präsent, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aber dafür umso mehr in ihrer Inszenierung auf social media und dergleichen. Sie wird gerade von vielen jungen Frauen als eine der wichtigsten Vorkämpferinnen, vielleicht sogar: die wichtigste Vorkämpferin, des heutigen Feminismus wahrgenommen, eine Art Anti-Trump oder Anti-Musk. Das scheint mir auch für ihre Fans sehr wichtig zu sein, dass sie mit ihrem Fantum ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen Ideologie und damit zusammenhängend auch zu einem bestimmten Lebensstil, also zu einem woken Lebensstil, Ausdruck verleihen, zu dem dann wiederum das Swiftie-Sein schon fast dazugehört.

ES: Wenn ich mir Taylor Swift im allgemeineren Kulturkampf anschaue, verkörpert sie stark diese eine Seite, die du auch gerade schon genannt hast, also dieses liberale, woke – was ich an dieser Stelle nicht als polemisches Schlagwort meine, sondern als analytischen Begriff.  Auf der anderen Seite hat man das, was man so als „reaktionäre konservative Rechte“ bezeichnet also Andrew Tate, Ben Shapiro, Jordan Peterson, Elon Musk etc. Da gibt es eine klare kulturelle Spaltung und ich meine, sie vertritt stark das, was ich als „liberalen Feminismus“ bezeichnen würde. Den kritisiere ich prinzipiell als ein bourgeoises Produkt. Er vertritt ein Gleichheitsverständnis, in dem es darum geht, dass Frauen, salopp gesagt, jetzt auch CEOs werden sollen und dann gleichermaßen unterdrücken dürfen wie Männer – das ist das Narrativ. Das ist die Aneignung des Feminismus für den Klassenkampf von oben. Dass man damit keine tatsächliche Emanzipation aus dem oder eine Überwindung des patriarchalen Systems schafft, ergibt sich relativ selbstverständlich. Deshalb verstehe ich nicht, wie man sie derart als Ikone des Feminismus betrachten kann – nicht mal so sehr aus Taylor Swifts Perspektive, die können wir ja nicht wirklich kennen, außer vielleicht von den paar Interviews, die auf einer relativ oberflächlichen Ebene bleiben. Dass sie Sexismus erfährt, will ich gar nicht negieren, aber es geht nicht an die Basis vom strukturellen Ungleichheitssystem. Ich kann jedenfalls selten nachvollziehen, wie ihre Fans bzw. nicht einmal ihre Fans, aber alle, die sich irgendwie damit auseinandersetzen, allen Ernstes behaupten können, sie sei die Vorreiterin eines emanzipatorischen Feminismus. Und das bringt uns wieder auf die Ebene der materiellen Bedingungen zurück. Sie ist eben Milliardären und gehört nicht zu den Milliarden von Arbeiterinnen. Beide feministische Kämpfe können nicht gleichgesetzt werden. Damit nimmt man der ganzen Bewegung ihre Substanz und reduziert sie auf Fragen der Anerkennung, aber dabei kann man ja nicht stehenbleiben. Vielleicht erfährt sie auch oder hat Gewalt erfahren, das darf man nicht beiseiteschieben. Aber wenn sie dann zur feministischen Ikone erhoben wird, aber so viele andere Figuren nicht, deren Opfer viel größer sind, deren Kämpfe so viel mehr an der materiellen Basis ansetzen, kann ich das nicht nachvollziehen, das finde ich unverdient. Man sollte doch den Fokus vielmehr auf die sozialen Kämpfe richten, die mitten im alltäglichen Leben, auf der Straße stattfinden.

PS: Im Vorgespräch hast du dafür einen sehr treffenden Begriff gebraucht, du hast nämlich von girlboss feminism gesprochen. Einen Begriff, den ich vorher nicht kannte, der aber doch sehr gut in einem Wort zusammenfasst, für welche Form des Feminismus sie eigentlich steht.

ES: Sie hat ja, wir sprachen schon darüber, ein sehr erfolgreiches Businessmodell geschaffen, also in einer kapitalistischen Logik könnte man natürlich sagen, hat sie eine gewisse Form von Gleichstellung erreicht – aber jenseits davon stellt sich natürlich die Frage: Möchte man bei so einem Feminismusverständnis stehenbleiben? Und auch darüber hinaus: Was leistet sie denn inhaltlich für eine feministische Arbeit? In ihren Texten geht es ja häufig um ihre Ex-Freunde oder darum, dass sie selbst das Problem ist. Das ist eine Romantisierung von gescheiterten Beziehungen. Wo ist da die feministische Botschaft? Wenn man Songs produziert, die darauf hinweisen, wie unabhängig man von Männern ist, aber genau diese Songs eigentlich nur von Männern sprechen, dann ist das doch in sich nicht schlüssig. Nichts gegen Trennungsalben, aber die Art und Weise, wie Swift es macht, läuft eigentlich nicht darauf hinaus, dass es zu einer Emanzipation von genau diesen Beziehungsstrukturen führt, die patriarchal sind.

Abbildung 5: Taylor-Swift-Häkelset; Preis: 16,99 € (Quelle)

V. Leid und Liebe

HH: Ich will an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass unter den vielen guten Links, die uns Paul im Voraus geschickt hat, einer ist, der deine Worte gewissermaßen widerspiegelt und der eben nicht so apologetisch ist. Ich meine den Artikel von Mary Harrington aus UnHerd (Link). Die Überschrift lautet, ins Deutsche übersetzt: „Die dunkle Wahrheit über Taylor Swift. Zu viele junge Frauen sehnen sich nach Auslöschung“. Das ist eine interessante These. Und es sind ja gerade Swifts tragische love songs, meistens über die Ex-Freunde, die am besten laufen. Harrington spricht da von einem „Kamikaze-Mystizismus“, es geht psychologisch betrachtet fast in Richtung Selbstverletzung. Das ist ziemlich schräg und war mir zuvor so nicht bewusst, dass es tatsächlich darum kreisen könnte. Was sagt das aus, wenn so viele junge Frauen Lust auf Lieder haben, in denen es, weniger romantisch ausgedrückt, um schlechte Beziehungen geht, um Beziehungen, die schlecht enden? Worum geht es dabei – auch in Bezug auf diesen Feminismus, der eventuell keiner ist?

ES: Ja, es ist ein Feminismus, der eigentlich nichts fordert und daher eben ohne Substanz ist. Es gab da in den 2010er Jahren auch das Phänomen der Tumblr girls.11 Das hing damals mit Lana Del Rey zusammen, die in dieser Hinsicht gewisse Ähnlichkeiten zu Swift hat. Da wurde jedenfalls dieses Bild vom tragischen, traurigen „girl“ romantisiert und glorifiziert. Es diente als Gegenentwurf zum beliebten American girl, nach dem Motto: „So bin ich nicht, ich kämpfe mit dem Leben und leide am Weltschmerz“. Das ging dann auch wirklich oft mit Selbstverletzung einher und die wurde dann auch sehr stark verharmlost und wurde fast schon zum Trend, es wurde cool, dass man sich selbst verletzt – und das alles auch basierend auf einem Narrativ von Tragik: „Niemand versteht mich so richtig.“ Bis zu einem gewissen Grad knüpft Swift daran an. Sie hat etwas leicht Nihilistisches, wenn sie zur drama queen wird und sagt „It’s me, hi, I’m the problem“12 oder „You look like my next mistake“13. Sie weiß schon: Diese Person ist nicht gut für sie und trotzdem lässt sie sich darauf ein. Da steckt wenig feministische Integrität für mich drin, dann kann man eigentlich nicht Feminismus für sie beanspruchen, wenn man diese Mechanismen erkennt und zugleich sagt: „Ja, das will ich trotzdem.“

PS: Ja, dieses Thema oder die Grundstimmung, von der wir jetzt sprachen, ist nach meinem subjektiven Eindruck wirklich in drei Vierteln ihrer Songs mindestens eigentlich der Hauptaspekt. Also gescheiterte Beziehungen mit „boyfriends“. Also es gibt da auch auf der inhaltlichen Ebene eine gewisse Monotonie.

ES: Basierend auf einem Spektakel der Emotion, würde ich sagen. Also die Aufregung der Verliebtheit und dann das Scheitern der Beziehung, dass das zu so einem großen Spektakel wird ist vielleicht für viele der Grund, warum es so zieht.

HH: Du nennst das ein „Spektakel der Emotionen“, weil die Fans Lust und Genuss daran haben, sich das anzuschauen, mitzufühlen, ohne das selbst richtig erleben zu müssen, oder? Es bleibt ein interessanter Kreis von Widersprüchen. Eigentlich erleben wir sie als absolut unauthentisch, aber es ist doch möglich, dass so viele Fans diese Beziehungen doch leben, denn woher kommt sonst diese große Nachvollziehbarkeit?

ES: Ja, vielleicht ist die Basis dafür einfach menschliche Emotion und zwischenmenschliche Beziehungen. Aber vielleicht ist auch das Gegenteil der Fall. Bei einem Spektakel ist es schließlich häufig so, dass man es gerade aufregend findet, weil man es nicht selbst erlebt. In Seifenopern zum Beispiel passieren ja auch die wildesten Dinge, die in der Realität sehr unwahrscheinlich oder sogar unmöglich sind. Das Gefallen oder die Lust daran kommt eben genau daher, dass es dieses extrem Hyperstimulierende gibt, also ein Superlativ. Diese Songs, die ganz extrem immer wieder diesen Aspekt des Beziehungsdramas verarbeiten – bzw. es ist eigentlich noch nicht einmal eine Verarbeitung, es wird einfach immer wieder sehr offen auf den Tisch gehaut – geben mir das Gefühl, dass sie immer etwas Gesättigtes und Hochfrequentiertes haben. Man kann sich da in eine Emotion so richtig reinbegeben. Wobei das Interessente ja ist, dass die jüngere Generation statistisch gesehen viel weniger romantische Beziehungen hat, man sieht da einen klaren Trend zur Abnahme von sozialen und auch sexuellen Beziehungen. Vielleicht gibt es da einen Trend – das ist jetzt aber sehr spekulativ –, dass die Menschen solche Dramatik in ihrem tatsächlichen Leben nicht erfahren, aber stattdessen eben in Swifts Musik. Sie haben das Begehren danach und hier findet es eine phantastische Auslebung.

PS: Zeigt sich die Konventionalität von Swift nicht auch darin, dass sie eigentlich nur die Themen von stereotyper „Frauenliteratur“ oder „Frauenfilmen“ – ich denke etwa an Rosamunde Pilcher oder Hedwig Courths-Mahler – nochmal aufwärmt, die doch oft genau diesem Plot folgt, dass sich eine Frau in einen Mann verliebt, der ihr eigentlich nicht gut und dann eine ganz spannende und das Herz erwärmende Entwicklung mit ihm durchmacht?

ES: Ja, wobei sich bei Swift eine Qualität zeigt, denn bei ihr hängt es immer mit einem feministischen Empowerment zusammen. Es ist nicht so wie klassische Liebesgeschichten, die einem bestimmten Plot folgen, einem konservativen Plot, den man schon seit Jahrzehnten kennt, sondern bei ihr geht es darum, dass das als „feministisch“ gelabelt wird auf die eine oder andere Art und Weise. Und das finde ich persönlich gefährlich, weil der Feminismus, der historisch eine revolutionäre Praxis war und ist, angeeignet wird für einen Markt, also er wird einfach zur Ware. Ein politischer Begriff wird entpolitisiert, ihm wird dadurch die Luft rausgenommen; er wird vereinbar gemacht mit dem, was du ansprachst.

Abbildung 6: Sweatshirt „God Save the Queen”; Preis: $65 (Quelle)

VI. Wohlportionierte Erotik

PS: Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt scheint mir die Erotik zu sein. Wir haben ja schon darüber gesprochen, dass wir es mit Musik zu tun haben, deren Zielgruppe vor allem junge Frauen und vielleicht auch homosexuelle Männer ist – so jedenfalls das Stereotyp, aber wir sahen ja bereits, dass es der Realität nicht vollkommen widerspricht, auch wenn es natürlich am Rand auch heterosexuelle männliche Swifties gibt. Und das führt mich genau zu dem Aspekt der Erotik. Um ein wenig persönlich zu werden: Was mich, als ich ihr Bild zum ersten Mal gesehen habe, irritiert hat, war, dass sie ein so krasser Popstar ist, aber auf mich persönlich nicht sehr erotisch wirkt. Also sie ist auf jeden Fall eine schöne Frau, aber es ist wichtig zu verstehen, dass Schönheit und Erotik nicht dasselbe sind, sich teilweise sogar ausschließen. Also es gibt – und ich glaube, Swift zählt dazu –, die fast „zu schön“ sind. Also die auf jeden Fall attraktiv wirken, aber nicht erotisch – was für einen Popstar auf jeden Fall sehr ungewöhnlich ist. Ich hatte mir dann die Frage gestellt, ob das jetzt nur mit meinem subjektiven Geschmack zu tun hat, bin aber schnell darauf gekommen, dass dem nicht so ist. Das ist auf jeden Fall ein Thema, das sehr oft besprochen wird.14 Es gibt nämlich auch für Erotik objektive Kriterien. Es gibt einfach Frauen, die von fast allen Männern für erotisch gehalten werden, und andere Frauen nicht, dass ist ganz offensichtlich. Und Swift wird eben von vielen Männern nicht für erotisch gehalten.

An diesem Punkt habe ich aber eine weitere Entdeckung gemacht und da muss ich zugeben, dass mich verschiedene ihrer Songs tatsächlich zum Nachdenken gebracht haben, weil sie das in verschiedenen Songs auch selbst zum Thema macht. Sie zeigt sich dort durchaus in erotischen Posen – aber macht es zugleich zum Thema, dass sie gerade nur eine Rolle spielt, um einem Mann zu gefallen. Das fand ich schon interessant, wie einfach eigentlich diese Methoden sind, mit denen sich eine Frau als erotisch präsentieren kann. Das hat natürlich viel mit Kleidung zu tun – etwa durch Kleidung, die die Brüste hervorhebt – oder bestimmten Arten, einen anzusehen. Da fand ich diese Videos tatsächlich ein Stück weit lehrreich. Und da würde ich bei ihr schon eine neue Qualität sehen, dass es eben ein Popstar ist, der wirklich nicht mehr auf Erotik setzt. Und das hat eben nichts mit ihrem Aussehen zu tun, sondern mit ihrer Art, also dass sie kenntlich macht, dass Erotik wesentlich das Produkt einer bestimmten Performance ist und dass sie vielleicht wirklich der erste erfolgreiche weibliche Popstar ist, der auf diese Art von Performance eben verzichtet. Das finde ich schon bemerkenswert.

HH: Ich kann deine Aussagen nachvollziehen – wobei das nur eine Perspektive ist. Aber ja, wenn man 1.000 heterosexuelle Männer befragen würde: „Wer ist sexuell attraktiver, Madonna in den 80er Jahren oder Taylor Swift?“, dann wäre das einfach kein Wettbewerb, dann würden 950 von ihnen Madonna wählen. Und das hat einfach den Grund, dass das für Madonna von Anfang an Teil ihrer Selbstproduktion war: Sie wusste, dass sie auf viele Männer sexuell attraktiv wirkt und hat das als Teil ihrer Produktion und Kunstproduktion effektiv ausgenutzt. Ich finde das absolut legitim. Und Swift wollte diesen Weg nicht gehen. Von jeglicher Perspektive, von jeglicher sexuellen Orientierung aus betrachtet, sieht sie gut aus. Sie ist, in Pauls Worten, „schön“. Aber sie will sich nicht sexuell vermarkten – was auch absolut legitim ist, aber vielleicht nur auffällig ist, weil das in der Popindustrie bislang für Frauen, die viel verkauft haben, eher eine Ausnahme war. Aber es stimmt tatsächlich: In bestimmten Videos inszeniert sie sich doch auf diese stereotype klischeehafte Weise – aber damit vermittelt sie eine sehr andere Botschaft als die meisten Frauen in der Popindustrie bis jetzt.

ES: Ich glaube, das Kriterium von Erotik oder Sexappeal war so bis Anfang der 2000er Jahre das Ausschlaggebende, wenn es um weibliche Celebrities ging. Und das war auch ein Kriterium der Vermarktung. Doch ich denke, dass es da eine Veränderung im Narrativ gegeben hat und dass das für Frauen mittlerweile nicht mehr das alleinig Ausschlaggebende ist für ihre Karriere, Objekt des Begehrens für heterosexuelle Männer zu sein. Ich würde sagen, jetzt haben wir es mit einem ganz anderen Diskurs zu tun, jetzt geht es vor allem um den liberalen Feminismus, den sie vertritt. Was ich aber spannend finde, ist, dass es praktisch auf Ähnliches hinausläuft. Es ist ja nicht so, dass sie jetzt nur noch komplett bekleidet auftritt und man kann kein Stück Haut sieht. So eine explizite Verweigerung hat man beispielsweise bei Billie Eilish zu Beginn ihrer Karriere viel mehr gesehen im Vergleich. Aber wenn Swift das macht, wenn sie sich so zeigt, dann macht sie es ausgehend von einem ganz anderen Narrativ, dann macht sie es als Selbstermächtigung: „Niemand schreibt mir vor, wie ich mich anzuziehen habe.“ Dieses Moment wird neu eingewoben in den Diskurs. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Swift sich nicht bewusst ist, dass das natürlich nach wie vor den Aspekt des männlichen Begehrens miteinbezieht. Weil das, was als erotisch, als sexy empfunden wird, ist ja nun mal in unserer gegebenen Realität stark durch eine männlich Definition von Begehren bestimmt, da kann man sich ja nicht einfach rauslösen Nur wird das neu verpackt: „Ich mache das für mich, ich mache das nicht für die Männer.“ Dass das aber natürlich trotzdem ansprechend ist für heterosexuelle Männer, wird sie genauso wissen wie der Rest der Welt auch.

PS: Es gibt vor allem einen Song, wo das, was ich meine, sehr eindeutig ist, Look what you made do.15 Das ist auch wieder eine Form von Pastiche. Es werden alle möglichen Männerphantasien in einem Video durchgenommen. Das finde ich wirklich gelungen. Es hat natürlich eine gewisse Zweideutigkeit, ich finde es sozusagen aus zwei Gründen gelungen. Einmal finde es als Mann gelungen, weil ich es wirklich erotisch finde. Ich finde es aber auch quasi als Philosoph gelungen, weil es eben sehr lehrreich ist, weil mir anhand dessen sehr viel über das Wesen erotischer Inszenierung klar geworden ist. Es geht da eben auch nicht bloß um leichte oder abwesende Bekleidung – so zeigt sich Swift ja geradezu permanent. Aber das ist nicht der Punkt, das wird in dem Video indirekt sehr, sehr deutlich. Sie könnte sich auch vollkommen nackt ausziehen, aber es würde ohne die entsprechenden Gesten nicht unbedingt erotisch wirken. Es hat etwa auch viel mit der Kamera zu tun, wohin sie fokussiert, wie die Frau in die Kamera blickt. In diesem Video ist mir zum Beispiel aufgefallen, dass der direkte Blick in die Kamera, kombiniert mit einer entsprechenden Bekleidung, sehr erotisch wirkt. Oder auch andere Einstellungen der Kamera. Und es geht natürlich nicht zuletzt um Phantasien und Szenarien, die angedeutet werden; Erotik ist eben etwas Mentales, kein bloß physisches Phänomen. Das könnte man jetzt stundenlang analysieren. Das nun ist, meine ich, durchaus als Fortschritt zu bewerten, dass da ein neuer Typus Frau aufkommt, das finde ich auf jeden Fall nicht schlecht, auch wenn sie mich damit als Privatperson viel weniger stark abholt als irgendwelche Madonna-Songs, die mich tatsächlich schon sehr ansprechen.

ES: Wenn der Text lautet „Look what you made me do“, dann frage ich mich: Worin liegt da die feministische Botschaft? Natürlich ist eine Frau nicht verantwortlich für die patriarchalen Strukturen, in die sie hineingeboren wurde. Aber diese Textzeile impliziert doch, dass man jede Verantwortung von sich weist. Das glorifiziert schon wieder Passivität. Sie hat doch auch eine gewisse Form der Handlungsmacht. Stattdessen sagt sie aber „Schau mal, zu was du mich alles gebracht hast“ – ohne, trotz Erkenntnis, daran etwas zu ändern. Oder wie ist die Botschaft des Songs zu verstehen?

PS: Ja, das ist schon die Botschaft. Du hast mich quasi gezwungen, also du als „The Man“ – da gibt es ja auch dieses Video, wo sie sich als „typischen Mann“ darstellt als Gegenstück (Link) –, dass ich diese ganzen Rollen spielen muss, nur um dir zu gefallen. Also ich glaube, die Botschaft ist gar nicht so tiefgründig, das kann man heutzutage bestimmt auch in der Bravo lesen, falls es die noch gibt. Wobei klar: Dieses Video weist eine Zweideutigkeit auf, sie holt damit heterosexuelle Männer auf jeden Fall erstmal ab mit den verschiedenen Szenen, die dort gezeigt werden. Aber zugleich ist es eben durchaus gelungen in dem Sinne, dass es bei mir und andere Männer auch bewirken kann, zu hinterfragen: Was finde ich eigentlich erotisch? Bin ich da nicht eigentlich sehr manipulierbar? Zugleich macht sie es in ihren anderen Videos ja schon anders, weil sie da genau auf diese Gesten und Codes verzichtet. Das würde ich schon hervorheben.

HH: Ich denke, die Fangemeinschaft von Swift besteht tatsächlich zu 70 bis 80 % aus Frauen. Die meisten von diesen Frauen müssen sie auf irgendeine Art begehren. Ich glaube, das gehört zu dieser Art von Fansein, ob man das nun als sexuelles Begehren definiert oder als eine andere Art, die wollen quasi ein Stück von ihr haben. Ich frage mich, ob dieses massive weibliche Begehren, das auf Taylor Swift gerichtet ist, mittel- oder langfristig zu einer Umdefinition von Erotik überhaupt beitragen könnte; dass sie nicht mehr so einseitig vom männlichen Begehren definiert wird.

Zum Thema Begehren habe ich mir Look What You Made Me Do angeschaut und es verglichen mit Nobody No Crime, was ich besser kenne. Diese beiden Songs haben ähnliche Motive. Da wird eine Dreiecksgeschichte erzählt, auch mit Fremdgehen und so weiter. Und es endet, unausgesprochen, mit dem Mord einer Frau an einem Mann. Das ist so eine Art ausgelebte Rachephantasie. Das ist eigentlich dasselbe, um was es eigentlich in Look What You Made Me Do geht: Dass sie sich endlich an ihren Ex-Freunden rächt und ausleben kann, wer sie eigentlich ist. Und das ist kein feministisches Motiv, weil alles dreht sich weiterhin um diese Männer. Aus Swifts Perspektive ist auch eine andere Art von Feminismus kaum möglich, weil sie eben keine Verbindung zu den alltäglichen Kämpfen von 95 bis 99 % der Frauen auf diesem Planeten hat und schlichtweg nicht haben kann wegen dieser Milliarden, die sie angehäuft hat.

ES: Vielleicht sollte man zwischen Begehren und Erotik unterscheiden. Ich denke, das weibliche Begehren von heterosexuellen Frauen in Bezug auf Swift hat viel mit Identifikation zu tun. Freud unterscheidet ja zwischen diesen Grundtypen des Begehrens: sexuell und identifikatorisch. In diesem Sinne handelt es sich schon um Ermächtigung. Ich kann auch das Feministische daran erkennen, wenn man die eigene Autonomie oder patriarchale Repression erkennt. Vielleicht ist das der erste basale Schritt auf dem Weg der Befreiung. Da findet eine Identifikation statt, um überhaupt erst einmal ein Vokabular dafür zu finden und intelligibel zu machen.

Ein weiterer Aspekt ist, dass sie auch eine sehr große queere Fanbase hat. Und da ist ein Begehren auf jeden Fall vorhanden, auch bei schwulen Männern, aber ich weiß nicht, inwiefern es erotisch ist oder ob man es auch wieder eher mit Identifikation zu tun hat oder Repräsentation. Man hat vor allem ein Motiv des „wütend aber nett“ oder auch den kaum ins Deutsche übersetzbaren Begriff „wholesome“ – gesund, aufrichtig, liebenswert. Dieser „wholesome“ Charakter wird eben begehrt, aber dabei geht es nicht unbedingt um Erotik. Sicher wird sie trotzdem zum erotischen Objekt für viele, nicht nur für heterosexuelle Männer.

Abbildung 7: Taylor-Swift-Drucke; Preis: ab 4,39 € (Quelle)

VII. Nietzscheanismus fürs Volk

PS: Aber die Paradoxie besteht doch gerade darin, dass sie von all diesen „normalen Frauen“ (Krankenschwestern, Pflegerinnen, Kassiererinnen etc.) trotzdem gehört und gut gefunden wird. Ich glaube, um das zu verstehen, stößt so ein marxistisches Verständnis schon an seine Grenzen. Aber genau das ist ja die Eigenart der Ideologie unserer Zeit, dass die Menschen eben von einer Ideologie wirklich ganz durchdrungen und fest überzeugt sind, die gar nicht zu ihrer materiellen Lebenssituation passt. Um die Paradoxie, oder stärker noch: Absurdität, zu verstehen, muss man sicherlich auf andere Theoretiker zurückgreifen wie etwa Freud, den du schon genannt hast, um diese spezifische Attraktivität der „Führerfigur“ zu verstehen, wie er sie in Massenpsychologie und Ich-Analyse beschreibt. Oder eben auch Nietzsche. Was hat Taylor Swift mit Nietzsche zu tun?

HH: Was mir in meiner sehr unsystematischen Art, Nietzsche zu lesen, immer wieder auffällt, ist sein tiefer Hass gegen das, was man später als „Massenkultur“ bezeichnen wird. Ich teile diesen Hass nicht, aber ich bin davon beeindruckt, wie zäh er ist und wie sehr Nietzsche sich darin auslebt. Sehr bekannt ist etwa Nietzsches Hass auf Zeitungsleser und vor allem auch Zeitungsleserinnen: „Freilich, es giebt genug blödsinnige Frauen-Freunde […][,] welche das Weib bis zur ‚allgemeinen Bildung‘, wohl gar zum Zeitungslesen und Politisiren herunterbringen möchten.“16 Also wenn überhaupt Leute Zeitung lesen, erst recht Frauen, dann geht für Nietzsche die Post ab, das geht überhaupt nicht. Was er nicht ertragen kann, ist die Vorstellung, dass, wenn 10.000 Menschen die gleichen Zeitungsartikel gelesen haben, sie in diesem Moment ungefähr genau gleich denken und fühlen werden zu einem bestimmten Thema.17 Und es da geht es nicht nur um 10.000, sondern vielleicht 50.000 oder 100.000 Menschen oder mehr. Und, um auf die Gegenwart zu kommen, geht es nun um Millionen Menschen, die sich ein Lied von Swift anhören und dann ungefähr das gleiche Gefühlserlebnis haben. Weil diese Lieder lassen ja auch keine große Palette von Gefühlen zu, die affektive Reaktion, die sie hervorrufen sollen, ist relativ einfach gestrickt. Und dieser Hass auf die Massenkultur steht nicht am Rande von Nietzsches Werk, sondern mitten im Zentrum.

ES: Also ich würde da Marx doch verteidigen, weil ich denke, man kann mit dem marxistischen Ideologiebegriff diesen Aspekt, den du angesprochen hast, doch ganz gut abdecken. Bei Nietzsche finde ich das ein bisschen schwer. Ich glaube aber, dass man ihre Verortung im Kulturkampf mit Nietzsche kritisieren könnte – nicht nur bei ihr, sondern auch ihren Gegnern – mit Hilfe der Konzepte des Ressentiments und der Sklavenmoral. Aber da frage ich mich zugleich, inwiefern Nietzsche als Antifeminist eine gute Wahl ist. Wenn ich von diesem Aspekt absehe und einfach nur schaue, was übrig bleibt für die Analyse von Taylor Swift, kann man an Nietzsches Analyse der Massenkultur anknüpfen, dass sich eben die Moderne neue Götter schafft. Man denkt, man hätte das Christentum hinter sich gelassen, versteht aber als vermeintlich atheistische Gesellschaft gar nicht mehr, dass man sich neue eigene Vergötterungen schafft, denen gegenüber man sich auch wieder in ein neues Abhängigkeitsverhältnis versetzt. Vielleicht hilft diese Perspektive zu verstehen, inwiefern wieder eine Form der Kontrolle entsteht, dass sich der Mensch seine eigene Unterwerfung, wünscht; also das Problem der freiwilligen Unterwerfung.

PS: Ja, Taylor Swift in dem Sinne ein Ausdruck unserer Zeit, dass es in ihr, aus einer nietzscheanischen Perspektive gesprochen, offensichtlich eine krasse Abwesenheit von Sinn und Orientierungsfiguren gibt, aber zugleich eben auch eine starke Sehnsucht danach, sich von irgendwelchen Führungsfiguren faszinieren oder mitziehen zu lassen. Das kann man ja wirklich auf beiden Seiten dieses Kulturkampfs sehen, auch was Trump oder Musk zum Beispiel angeht, dass es da einen ganz vergleichbaren Personenkult gibt. Das finde ich spannend und quasi seinerseits faszinierend, aber zugleich auch beunruhigend und beängstigend. Also vor dieser konkreten Fankultur habe ich jetzt erstmal nicht so viel Angst, sie ist auch ganz sympathisch im Vergleich zu anderen Fankulturen – aber diese grundsätzliche Bereitschaft, sich autoritären Führern und Strukturen zu unterwerfen … Klar, Taylor Swift verkörpert eine sehr sanfte und indirekte Autorität, sie ist ja auch, zum Glück vielleicht, keine politische Führerin, das sieht bei den beiden Männern, die ich genannt habe, schon ganz anders aus und da wird es dann wirklich gefährlich, beängstigend und bedrohlich. Aber auf beiden Seiten ist die grundsätzliche Bereitschaft, diesen, um mit Kierkegaard zu sprechen, „Sprung in den Glauben“ zu vollziehen, diese Hingabe und Faszination zu praktizieren und darin eine Form von Freiheit zu finden – die natürlich eine völlige Scheinfreiheit ist, das Gegenteil von Freiheit –, sehr groß, das scheint mir ein beunruhigender Ausdruck der krassen Irrationalität unserer Epoche zu sein, der schlimme Befürchtungen weckt. Insofern würde ich sagen: Taylor Swift wird ja oft als großer Hoffnungsträger dargestellt. Aber wenn sie wirklich unsere große, vielleicht die einzige Hoffnung, ist, dann leben wir wirklich in einer sehr hoffnungslosen Zeit.

ES: Nihilismus ist auch ein guter Stichpunkt. Die Tendenz zur musikalischen, stilistischen und thematischen Wiederholung, dass da wenig substanziell Neues geschaffen wird, als Ausdruck eines Nihilismus, der sich eigentlich nichts mehr für die Zukunft vorstellen kann.

PS: Ich bin auch auf sehr kurzes, aber interessantes, YouTube-Video gestoßen, wo sie geradezu als die Verkörperung des „letzten Menschen“ verstanden wird (Link). Also in Wahrheit ist sie vielleicht nur zum Schein eine „Überfrau“, sondern doch eher der Ausdruck eines tiefgreifenden Nihilismus. Aber was diesen Nihilismus noch schwerer zu durchschauen oder noch diffiziler macht: Auf wen Swift, worauf einige Fachkollegen gerne verweisen, um ihre „Tiefgründigkeit“ zu untermauern,18 immer wieder auch anspielt oder jedenfalls anzuspielen scheint, ist Nietzsche. Es geht um diesen berühmtem Satz „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“. Ich bin sogar auf zwei Songs – Cruel Summer und Cassandra – gestoßen, in denen sie ihn, jeweils leicht variiert, zitiert; was natürlich auch bemerkenswert ist, dass sie anscheinend auf diesen Satz gestoßen ist und ihn dann gleich in zwei Songtexten verwurstet. Und sie hat einen Preis verliehen bekommen und in ihrer Dankesrede diesen Satz auch zitierte, allerdings ohne den Namen Nietzsche zu nennen (Link). Ich meine, dass dieser Satz als Motto von ihrem eigenen Selbstverständnis und demjenigen ihrer Fanbase schon sehr zentral ist tatsächlich im Sinne von: „Wir sind alle Frauen und queere Menschen, die es sehr schwer hatten, aber die diese verschiedenen Traumata und so weiter, denen wir ausgesetzt worden sind, gestärkt hervorgehen und nach vorne sehen.“19 Diese Art „Nietzscheanismus fürs Volk“20 hätte Nietzsche bestimmt nicht gefallen, aber ich finde sie erstmal gut oder jedenfalls besser als andere Arten mit solchen Erfahrungen umzugehen. Aber klar, diese Haltung bleibt halt verkürzt, weil sie vollkommen in diesem neoliberalen Denken der individuellen Selbstermächtigung verhaftet bleibt, aber dennoch scheint sie mir in bestimmten Situationen der „Unterdrückung“ – oder jedenfalls: Benachteiligung – einen gewissen Spielraum zu eröffnen, um damit umgehen zu können, auch wenn sich darin jetzt keine größere gesellschaftliche Perspektive zeigt und dadurch letztlich scheitert. Wobei ich die Vermutung habe, dass Swift mit diesem Zitat eigentlich gar nicht auf Nietzsche verweist, sondern auf einen Song einer Kollegin namens Kelly Clarkson, der schon 2011 erschienen ist. Dessen erste Refrainzeile lautet genau „What doesn’t kill you makes you stronger“ (Link). Ich glaube jedenfalls, dass es Clarksons und nicht Swifts Verdienst ist, diesen Spruch so groß in die heutige Popkultur eingebracht zu haben. Ich habe mir diesen Song von Clarkson auch angehört und das hat mir nochmal dieses Paradox, von dem wir sprachen, krass vor Augen geführt. Also ich fand ihn richtig stark, vor allem aufgrund ihrer starken Stimme. Von Musikexperten wird ja oft gesagt, dass Swifts Stimme eigentlich recht durchschnittlich ist, jedenfalls nicht besonders kraftvoll.21 Also das ist wirklich ein Song der Power hat, getragen von einer kraftvollen Frauenstimme mit einer großen Tiefenresonanz; wirklich in jeder Hinsicht ein objektiver besserer Popsong, zumal dort in der folgenden Zeile des Refrains gleich nochmal Nietzsche zitiert auf einer sehr tiefgründigen Ebene zitiert wird, nämlich mit „Just me, myself and I“ der Anfang von Ecce homo (Link). Also er ist wirklich auch sehr nietzscheanisch, sowohl was den Text als auch, was die Musik angeht. Ich finde es bemerkenswert und auch traurig, dass Clarkson, auch wenn sie ebenfalls sehr erfolgreich ist, im Vergleich zu Swift doch eher in der zweiten Reihe steht.

HH: Wobei in Cassandra von 2024 auch zwei abgewandelte Nietzsche-Zitate hintereinander vorkommen, was darauf hindeutet, dass sie dort doch bewusst Nietzsche zitiert hat. Es heißt dort zunächst, „What doesn’t kill you makes you aware“22 – eine interessante Verschiebung im Vergleich zum Original – und direkt heißt es, interessanterweise wiederum auf Ecce homo anspielend, nämlich den Untertitel des Buches: „What happens if it becomes who you are?“23 Wobei es sich auch hier um einen freischwebenden Bedeutungsträger handelt, würde ich sagen. Aber ansonsten stimme ich dir zu, Paul: Wenn Swift die einzige Hoffnungsträgerin wäre, dann sähe es tatsächlich sehr schlimm aus – aber ich glaube, das ist sie nicht. Aber wer stattdessen Hoffnungsträgerinnen sein könnten, müssen wir wohl bei anderer Gelegenheit eruieren.

ES: Allerdings ist es bis zu einem gewissen Grad auch Nietzsches eigenem aphoristischen Schreibstil geschuldet, dass man sich einzelner Sätze derart phrasenmäßig bedienen kann. Und manchmal kann man in einem Aphorismus sehr viel sehen und manchmal sehr wenig – das hängt nicht zuletzt davon ab, was man daraus macht.

Wen ich zu guter Letzt noch als Alternative zu Swift ins Spiel bringen wollte, ist die mexikanische Sängerin Natalia Lafourcade. Die teilt meines Erachtens viel mit Nietzsches Lebensphilosophie, auch wenn sie ihn nicht zitiert. In ihrer Musik holt sie mehr raus als Swift, gerade auch wenn es um das Thema Trennung geht, dass Lafourcade oft behandelt. Sie hat zum Beispiel einen Song, der beginnt mit der Zeile: „Ich bedanke mich beim Tod, dass er mich das Leben gelehrt hat“ (Link). Da geht es nicht um den natürlichen Tod als faktisches Phänomen, sondern die vielen kleinen Sterbensprozesse, von denen das Leben durchzogen ist; dass in jeder Etappe etwas zu Grunde geht und man daraus etwas lernt fürs Leben. Da sehe ich viel mehr Nietzsche drin. Das wäre mein Schlusswort: Man es auch wesentlich gehaltvoller machen als Taylor Swift.

Quelle der Vorlage des Artikelbilds: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Taylor_Swift_%286966830273%29.jpg

Fußnoten

1: Anmerkung: Beim Direktkauf sind die Karten teilweise günstiger, doch man muss sie in der Regel über den Sekundärmarkt erwerben, wo sie wesentlich mehr kosten (vgl. etwa dieser Bericht).

2: Vgl. etwa diese Artikelserie, diesen Artikel über ihre „Authentizität“, diesen Sammelband, in dem nur um ihre Praxis des Wiederaufnehmens alter Songs geht, diesen Sammelband und jenen. Für einen deutschsprachige Artikel vgl. diesen.

3: Vgl. diesen Artikel von Susan Andrews, diesen von Jessica Flanigan und diesen von Catherine M. Robb (ungekürzte Version).

4: Vgl. die Einleitung der Grundlinien der Philosophie des Rechts (Werke Bd. 7. Frankfurt a. M. 1986, S. 26.

5: Vgl. diese beiden sehr guten, wenn auch apologetischen musiktheoretischen Analysen ihrer Werk (hier und dort).

6:  Dieses Konzept hat der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss in die Sprachtheorie eingeführt (vgl. Einleitung in das Werk von Marcel Mauss. Übers. v. Henning Ritter. In: Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie, Bd. 1. Wiesbaden 2010, S. 7–41; 39).7

7: „Ich lachte in dein Gesicht und sagte: ‚Du bist nicht Dylan Thomas, ich bin nicht Patti Smith. Das ist nicht das Chelsea Hotel, wir sind Idioten der Gegenwart.“

8: Vgl. Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. Übers. v. Hildegard Föcking & Sylvia Klötzer. In: Andreas Reckwitz u. a. (Hg.): Ästhetik und Gesellschaft. Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaften. Berlin 2015, S. 335–350; 342–344.

9: Vgl. Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 5.

10: Vgl. die in Fn. 5 zitierten Analysen.

11: Die Seite Tumblr war eine heute in den Hintergrund geratene Vorgängerin der heute populären social media-Plattformen.

12:  „Hallo, ich bin’s, ich bin das Problem“ (Anti-Hero).

13: „Du siehst wie mein nächster Fehler aus“ (Blank Space).

14: Vgl. etwa den Artikel Erfolgreich, wunderschön – und unsexy von Michalis Pantelouris (Link).

15: Andere Beispiele sind etwa Lavender Haze und Bejeweled.

16: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 239.

17: Vgl. zu diesem Studie Nietzsche, der aristokratische Rebell des marxistischen Historikers Domenico Losurdo (Übers. v. Erdmute Brielmayer. Hamburg 2009, S. 449–456).

18: Vgl. etwa diesen Artikel in der Zeit.

19: Vgl. für diese Haltung auch den Song I Can Do It With A Broken Heart.

20: Nietzsche spricht in der Vorrede von Jenseits von Gut und Böse vom Christentum als „Platonismus für’s ‚Volk‘“ (Link).

21: Vgl. etwa diese und jene Einschätzung.

22: „Sie sagen: Was dich nicht umbringt macht dich bewusster“.

23: „Was passiert, wenn das dasjenige wird, was du bist?“; Vgl.  Ecce Homo, Titelblatt.

Taylor Swift – Überfrau oder letzter Mensch?

Eine nietzscheanische Kritik des erfolgreichsten Popstars unserer Zeit

Taylor Swift ist einer der wichtigsten „Götzen“ unserer Zeit. Grund genug für unsere Stammautoren Henry Holland, Paul Stephan und Estella Walter zum nietzscheanischen „Hammer“ zu greifen und dem Hype ein wenig auf den Zahn zu fühlen: Verdient Swift den bis in die Philosophie hineinreichenden Kult um sie? Wird sie maßlos überschätzt? Und was erklärt die Diskrepanz zwischen Schein und Sein, Spektakel und Leben?

Das komplette ungekürzte Gespräch können Sie auf dem YouTube-Kanal der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie betrachten (Link).

Nietzsche und Techno

„Glattes Eis.  

Ein Paradeis.

Für den,  

der gut zu tanzen weiss!“1  

Nietzsche und Techno

17.6.25
Christian Saehrendt

„Techno“ – mit der gleichnamigen Schau im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich, mit Wanderausstellungen des Goethe-Instituts und Publikationen im deutschsprachigen Raum wird derzeit eine einstmals subkulturelle Bewegung gewürdigt, die in den 1990er Jahren mit der Berliner Love Parade zum Massenphänomen geworden war und in der Zürcher Street Parade bis heute weiterlebt. Bot (oder bietet) Techno jenes dionysische Kulturerleben, wie es Nietzsche in seinen Schriften gefeiert hat? Wäre Nietzsche ein Raver gewesen?

„Techno“ – mit der gleichnamigen Schau im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich, mit Wanderausstellungen des Goethe-Instituts und Publikationen im deutschsprachigen Raum wird derzeit eine einstmals subkulturelle Bewegung gewürdigt, die in den 1990er Jahren mit der Berliner Love Parade zum Massenphänomen geworden war und in der Zürcher Street Parade bis heute weiterlebt. Bot (oder bietet) Techno jenes dionysische Kulturerleben, wie es Nietzsche in seinen Schriften gefeiert hat? Wäre Nietzsche ein Raver gewesen?
Hinter ihm, über ihm, um ihn:  
da waren jetzt ganz groß die Sound-Gewalten aufgestanden, diese riesigen Geräte, die in ihm ineinander donnerten,  
übermenschengroß.  
Er schaute hoch, nickte und fühlte sich gedacht vom Bum-bum-bum des Beats.  
Und der große Bumbum sagte:
eins eins eins
und eins und eins und –  
eins eins eins
und –
geil geil geil geil geil!2

Programmatisch hatte Nietzsche in der Geburt der Tragödie das rauschhaft-vitale Dionysische und das ästhetisch kontemplative Apollinische als die beiden antagonistischen Grundprinzipien menschlicher Kultur dargestellt. Im Vorwort antwortet er auf die Frage: „Was ist dionysisch?“: Es sei „jener Wahnsinn, aus dem die tragische wie die komische Kunst erwuchs“, es seien jene „endemische Entzückungen, Visionen und Halluzinationen, welche sich ganzen Gemeinden, ganzen Kultversammlungen“ der alten Griechen mitgeteilt hätten.3 Und andernorts heißt es: „Damit es Kunst giebt, damit es irgendein ästhetisches Thun und Schauen giebt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: Der Rausch […] vor allem der Rausch der Geschlechtserregung […], der Rausch des Festes, des Wettkampfs […] der Rausch des Willens.“4 Nach Nietzsche erlaubte der Rausch dem (über)zivilisierten Menschen, in eine archaische Daseinsform zurückzukehren: „Durch Alkohol und Haschisch bringt man sich auf die Stufen der Cultur zurück, die man überwunden hat.“5 An einer anderen Stelle in den nachgelassenen Fragmenten fordert er wörtlich „einen Saufladen neben jedem Kaufladen.“6 In jedem Fall sieht Nietzsche im dionysischen Zustand den Urgrund jeglicher Kultur. Bei den Griechen habe aber erst die Synthese und das ständige Wechselspiel mit der apollinischen Kultur zur zivilisatorischen Blüte geführt. Die apollinische Kunst beschreibt Nietzsche als Leistung von Individuen, die durch Analyse und Nachahmung Werke schüfen, welche durch luzide Traumbilder inspiriert worden seien. Klarheit des Denkens, Formung des Werks, Abgrenzung von der Natur und Isolation der Künstlerpersönlichkeit stünden für eine visuell geprägte apollinische Kultur, während in der dionysischen Kultur die Vereinigung mit den Mitmenschen und mit der Natur dominiere, mithilfe des Rausches, der Musik und des Tanzes.

Es war die soundsovielte Nacht nach der Parade, und beim Tanzen merkte ich, dass ich nicht mehr unterscheiden konnte, welche Wirkung welcher Droge jetzt wirkte, und war mit diesem Zustand völlig einverstanden. Die Musik nahm mich
auf …7  
Abb. 1: Videoinstallation, die eine von oben aufgenommene Tanzfläche zeigt (Bogomir Doringer). Ausstellungsansicht „Techno“. Schweizerisches Landesmuseum, Zürich 2025.

Dionysisch und Apollinisch: Keine Erfindungen Nietzsches

Archäologische Experten und Wortführer der Romantik begeisterten sich im frühen 19. Jahrhundert für Dionysos. Friedrich Schlegel gilt als Entdecker dieses „Kultes“, er verherrlichte Dionysos als Gott der Freude, des Überflusses und der Befreiung. Bei Schelling findet sich bereits früh die Gegenüberstellung des Dionysischen und Apollinischen, in ähnlicher Form bei Nietzsches Mentor Friedrich Ritschl im Jahre 1831. Zudem sind bei dem Basler Altertumsforscher Johann Jakob Bachofen 1861 die gegensätzlichen Begriffe tellurisch und uranisch bzw. apollinisch und dionysisch feststellbar.8 Nietzsche hat also eine bereits bestehende Denkfigur aufgegriffen und im Blick auf Richard Wagners Wirken weiterentwickelt. Auch bei Wagner tauchte das Gegensatzpaar apollinisch und dionysisch vor der Publikation der Geburt der Tragödie auf, und später gab es einen Streit zwischen dem Nietzsche-Archiv und Haus Wahnfried über die Frage, wer der beiden Antagonisten diese Begriffe zuerst in die Debatte eingebracht habe. Cosima schreibt später an Chamberlain in diesem Zusammenhang, Nietzsche „hat keinen Tropfen eigenen Blutes, nur eine merkwürdige Aneignungsgabe.“9 Tatsächlich ist schon der Hauptgedanke der Geburt der Tragödie in Wagners Schrift Die Kunst und die Revolution von 1849 vorgezeichnet: Um das Drama, das höchste Kunstwerk zu erschaffen, müsse der ebenso von Apollo wie von Dionysos begeisterte Dichter alle Kunstgattungen vereinigen.

Abb. 2: Aufbau an einem Love-Mobil der Zürcher Street Parade. Ausstellungsansicht „Techno“. Schweizerisches Landesmuseum, Zürich 2025.

Orgien nur in der Theorie, der Dionysoskult als Kompensation – Nietzsches Lebensstil

Nietzsche ist nicht nur (oder möglicherweise nur am Rande) an den orgiastischen Aktivitäten Dionysos’ interessiert, sondern vor allem an dessen Fähigkeit, Leid zu ertragen.: „Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen; der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit froh werdend – das nannte ich dionysisch.“10 Das Jasagen zu Leben bedeutete eben auch das Jasagen zu einem leidvollen Leben. Schließlich hatte Nietzsche dazu einigen Grund, neben Krankheit auch Einsamkeit und mangelnde gesellschaftliche Anerkennung.

Während seiner Bonner Zeit besuchte er weder mit Begeisterung die Bierabende der Burschenschaft Frankonia, noch genoss er den Kölner Karneval, Alkohol und Tabak waren nicht seine Sache. Möglicherweise hat er mit Drogen, d. h. mit damals anerkannten „Arzeneimitteln“ experimentiert, allerdings wohl eher, um seine Beschwerden zu lindern und weniger, um gezielt einen festlichen Rauschzustand herbeizuführen. Äußerlich legte er auf eine bürgerlich-gediegene Kleidung wert, die selbst in Basel als altmodisch galt, durchs steinige Hochgebirge tastete er sich mit einem grazilen Spazierstock und elegant-städtischer Fußbekleidung. Der feiernde Dionysos blieb für ihn eine theoretische Größe, ein Ideal auf dem Papier, dessen Exzesse er nicht ansatzweise nachzuerleben versuchte. Nietzsche war das absolute Gegenteil eines rauschhaft feiernden und sinnlich genießenden Menschen: „Im Bilde des Dionysos erlöst Nietzsche sein ungelebtes Leben, seine verkapselte Vitalität. So wird sein Wahlspruch gefährlich leben vor allem sublimiert als gefährlich denken durchgesetzt.“11

Die Musik nahm mich auf … Plötzlich kamen mir einige Gesichter um mich herum schon ziemlich kaputt und abgefuckt vor, und ich dachte sofort: harte Suppe, so kaputt schaut man jetzt also schon aus. Ich kramte in meinen Taschen, nahm sofort etwas ein, gegen übertrieben genaue Beobachtungen oder gar irgendwelche lächerlichen Gedanken.12
Abb. 3: LSD-Blotter-Bogen mit dem Motiv von Albert Hofmanns „historischer“ Fahrradtour. Ausstellungsansicht „Techno“. Schweizerisches Landesmuseum, Zürich 2025.

Techno als historisches Phänomen

Die ursprünglich in den 1970er und 80er Jahren von deutschen Elektrobands wie Kraftwerk und afroamerikanischen DJs in Detroit entwickelte Musikrichtung lässt sich durch die Synthese und Weiterentwicklung verschiedener Stilarten elektronischer Tanzmusik charakterisieren (House, Synthiepop, EBM, Detroit Techno) und erlebte im Verlauf der 1990er Jahre ihre Blütezeit. Dabei entstanden einerseits zahlreiche subkulturelle Unterarten, andererseits wurde ein Mainstream-Techno hervorgebracht, der die Massen in den Großraumdiskos und bei Volksfesten begeisterte, und z. T. als „Kirmes-Techno“ betitelt wurde. Neu war an dieser Bewegung das Versammeln und Tanzen in der Öffentlichkeit oder an improvisierten, z. T. recht abgelegenen Orten auf städtischen Brachen oder in der Natur. Umzüge („Paraden“) mit mobilen Musikanlagen nahmen in manchen Fällen gigantische Ausmaße an, Festivals („Raves“) konnten mehrere Nächte und Tage dauern. Das englische Verb „to rave“ bedeutet „Toben“ und wurde historisch im religiösen Kontext der „Shaker“ verwendet. Diese waren eine religiöse Gruppe in Nordamerika gewesen, die sich von den pietistischen Quäkern abgespalten hatten und im Gottesdienst emphatischen Tanz und Gesang praktizierten. Auch manche methodistische Gemeinden feierten derartige Gottesdienste, teilweise mit starkem Alkoholkonsum. Kirchliche Kritiker dieser ekstatischen Zusammenkünfte im 19. Jahrhundert erfanden dafür das abwertende Wort „rave“.13 Somit wurde der Begriff in den 1980er Jahren neu positiv besetzt.

Synthetische Drogen wie Ecstasy oder LSD verbreiteten sich in den 1980er und -90er Jahren und versetzten die Raver in die Lage, nun nächte- und tagelang tanzend durchzuhalten und eine an sich zufällig zusammengewürfelte und ständig fluktuierende „Party-Crowd“ als tief verbundene Gemeinschaft zu erleben. Charakteristisch und neu war damals, dass Techno allen Tanzwütigen offen stand, und dass weder Dresscode noch Zwang zum Paartanz bestand, weswegen die Ravekultur als Übereinkunft freier, genussorientierter Individuen angesehen wurde, die sich zu temporären Festgemeinschaften vereinigen. Dabei können sie durch Drogen, Lichteffekte und die hypnotische Wirkung monotoner Musik in einen tranceartigen Zustand kommen, in dem, die Grenzen ihres Ich-Bewusstseins überschritten werden. Bei der Love-Parade oder im Club Tresor in Berlin herrschten (und herrschen bis heute) eigentlich genau die Szenen, die Nietzsche in der Geburt der Tragödie enthusiastisch als Zustände beschrieb, in denen mit „wonnevoller Verzückung“ das „Zerbrechen des principii individuationis erlebt“ werde, und zwar durch Einsatz „narkotischer Getränke“ oder dem „alle Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings.“14 Schon in Publikationen über Techno aus den 1990er Jahren wurden Nietzsche und der Begriff des Dionysischen mit dem neuen Musik- und Lebensstil in Verbindung gebracht. „Der dionysische Escapismus von Techno lässt sich mit konservativen Werten nur schwer in Einklang bringen“, schrieb etwa Claus Bachor 1995 in seinem Buch Techno.15 Techno wurde auch unter dem Aspekt einer heilsamen und notwendigen Eigenliebe in einer orientierungslosen und sich rapide technologisch entwickelnden Gesellschaft gesehen. In einer Publikation über die „Generation XTC“ wurde dafür Nietzsche ins Feld geführt: „Der Techno-Narzisst arbeitet mit einer Fähigkeit, die Nietzsche einmal im Zarathustra heile und gesunde Liebe nannte.“16 Die neuartige hedonistisch-individualistische Tanzkultur und die Öffnung der vormals sozialistischen Länder Ost- und Mitteleuropas führte zur Wahrnehmung von Techno als einem „Soundtrack der Freiheit“ und eines rauschhaft gelebten „Posthistoire“, also einer Ära „nach der Geschichte“.17 Clubs wie der Berliner Tresor (seit 2007 nicht mehr an seinem namensgebenden historischen Standort) erschienen damals als Orte, wo die Grenzen von Zeit und Raum in einer ekstatischen Ewigkeit ununterbrochener Beats und Bässe aufgehoben würden und wo Visionen aus dem Unterbewusstsein den Blick erweiterten.18 Mittlerweile sind wir im Post-„Posthistoire“ angekommen und wissen, dass die Geschichte „nach der Geschichte“ weiter gegangen ist. Die Illusion der Zeitlosigkeit indes lebt bei vielen Techno-Parties und Raves bis heute fort.

In den Begleittexten der Zürcher „Techno“-Ausstellung wird erklärt, weil Techno keine festgelegte Schrittfolge und keinen verbindlichen Tanzstil erfordere, sei bei den Tanzenden „die Palette an Ausdrucksmöglichkeiten besonders groß“. Allerdings hat man bei der nüchternen Betrachtung der Tanzszenen in den Ausstellungsvideos eher den Eindruck stereotyper Bewegungsmuster und einfallsloser Redundanz. Es wird keineswegs fantasievoll „performt“, sondern oftmals, auch der Enge auf der Tanzfläche geschuldet, das Körpergewicht bloß von einem Fuß auf den anderen verlagert. So bietet sich das Bild eines massenhaften Hinundherwiegens oder -trottens, bei dem Bierflaschen und Mobiltelefone in den Händen gehalten werden, oder ab und an mit dem Zeigefinger rhythmisch in die Luft gestochen wird. Letzteres ist auch die höchste Form der gestischen Interaktion mit dem DJ, der sich in den meisten Fällen, mit Kopfhörer und Basecap behelmt, über sein Mischpult beugt und wenig Augenkontakt mit dem Publikum hält. Von außen betrachtet, und mit dem musealen Zeitabstand von gut dreißig Jahren, wirken viele 1990er Techno-Parties und Paraden uninspiriert, seltsam leblos und wenig einladend, so dass ein dionysischer Charakter dieser Veranstaltungen dem nüchternen Betrachter etwas weit hergeholt erscheint. Doch es mag sein, dass es die Feiernden anders, d. h. intensiver und ekstatischer, empfunden haben.

Abb. 4: Historisches Mischpult 1990er Jahre. Ausstellungsansicht „Techno“. Schweizerisches Landesmuseum, Zürich 2025.

Wenn etwas museale Weihen erhält, ist es in der Regel sehr wertvoll, sehr ungewöhnlich – oder sehr alt, wenn nicht gar schon tot; ausgestorben, versteinert und archäologisch relevant. Ungeachtet der Tatsache, dass eine lebendige Techno-Kultur punktuell und lokal durchaus noch existiert, ist die historische Bewältigung von Techno kein gutes Zeichen für eine zukünftige dionysische Kultur. Aktuelle Nachrichten über ein Clubsterben in vormaligen europäischen Partymetropolen und über sich verändernde Nightlife-Gewohnheiten der jüngeren Generationen passen da unschön ins Bild.  

Aber noch absurder und kaputter als jede noch so schlimme Drogenkaputtheit war natürlich generelle Abstinenz … irgendwelche Drogen nicht zu nehmen, und zwar aus Prinzip, ist das absolut Allerkaputteste, definitiv.19

In den Covid-Jahren konnte der Eindruck entstehen, dass der Rausch als soziales und somit kollektives kulturelles Ereignis keine Zukunft hat, weil digital-virtuelles Kulturerleben aus Gründen der Infektionsprophylaxe zur neuen Norm werden würde. In diesem Szenario hätten wir es überwiegend mit einem bildgestützten, allenfalls immersiven digitalen Kulturleben zu tun gehabt. Darin würde, in der Diktion von Nietzsche, vollkommen das apollinische Element dominieren: „Der apollinische Rausch hält vor allem das Auge erregt, im dionysischen Zustande ist dagegen das gesammte Affektsystem erregt und gesteigert.“ Dies aber sei „der eigentliche dionysische Normalzustand: dass der Mensch alles, was er fühlt, sofort leibhaft nachahmt und darstellt.“20  

Abb. 5: Videoinstallation, die eine von oben aufgenommene Tanzfläche zeigt (Bogomir Doringer). Ausstellungsansicht „Techno“. Schweizerisches Landesmuseum, Zürich 2025.

Auch wenn es in der Post-Covid-Phase zu einem Revival von Live-Kultur, von Konzerten, Clubnächten und Festivals kam, ist doch ein langfristiger Trend zur Entkörperlichung von Kulturerlebnissen unübersehbar. Ein guter Teil kultureller Ereignisse wird in Zukunft online und in virtuellen Welten stattfinden. Ob im Cyberspace ähnliche Erlebnisse wie in einer vibenden Party-Crowd oder im Moshpit, dem wilden Tanzbereich bei Metal- oder Punk-Konzerten, meist direkt vor der Bühne, möglich (oder simulierbar) sind, scheint aus heutiger Sicht noch fraglich. Doch vielleicht ist der Wunsch nach dionysischer Vereinigung eines Tages nur noch eine ferne Erinnerung, ein historisches Phänomen, das in staubigen Museen und kulturgeschichtlichen Publikationen wissbegierigen Nerds und weißhaarigen Nostalgikern präsentiert wird. Obwohl Nietzsche persönlich den geselligen, sinnlichen Rausch scheute und wohl niemals erlebte, sah er ihn doch als Grundlage jeglicher Kunst und aller kultureller Höhenflüge an. In der Geburt der Tragödie deutet er an, wie essentiell wichtig das Wechselspiel zwischen rationaler Vereinzelung und rauschhafter Vereinigung für die menschliche Psyche sei:  

Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen, auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohn, dem Menschen.21  

In diesem Sinne: Berauschen wir uns!

Ausstellungshinweis:  

Techno. Landesmuseum Zürich, bis 17. August 2025

https://www.landesmuseum.ch/techno

Artikelbild: Nietzsche-Techno-Playlist auf YouTube (Link) (Bildschirmfoto)

Quellen

Bachor, Claus: Techno. Zürich 1995.

Balzer, Jens: No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit. Berlin 2023.

Böpple, Friedhelm: Generation XTC. Techno und Ekstase, Berlin 1996.

Carlson, Anni: Der Mythos als Maske Friedrich Nietzsches. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 39 (1958), S. 388–401.

Goetz, Rainald: Rave. Frankfurt a. M. 2001, S. 18 f.

Kirakosian, Racha: Berauscht der Sinne beraubt. Eine Geschichte der Ekstase, Berlin 2025.

Stephan, Paul: Langeweile im Dauerexzess. Nietzsche, der Rausch und die Kultur der Gegenwart. In: Dominik Becher (Hg.): Brisantes Denken – Friedrich Nietzsche in Philosophie und Popkultur. Leipzig 2019, S. 217–250.

Vogel, Martin: Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums. Regensburg 1966.

Wagner, Cosima & Houston Stewart Chamberlain: Briefwechsel 1888-1908. Leipzig 1934.

Fußnoten

1: Die fröhliche Wissenschaft, Scherz, List und Rache, 13.

2: Rainald Goetz, Rave, S. 18 f.

3: Die Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik, 4.  

4: Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, 8.

5: Nachgelassene Fragmente Nr. 1887 11 [85].

6: Nachgelassene Fragmente Nr. 1888 20 [12].

7: Goetz, Rave, S. 180.

8: Vgl. Martin Vogel, Apollinisch und Dionysisch, S. 95 ff.

9: Houston Stewart Chamberlain & Cosima Wagner, Briefwechsel 1888-1908, S. 350 (Brief vom 15. 9. 1893).

10: Ecce Homo, Geburt der Tragödie 3.

11: Anni Carlson, Der Mythos als Maske Friedrich Nietzsches, S. 393. (Anm. d. Red.: Vgl. zu diesem Aspekt auch Natalie Schultes entsprechende Interpretation der Aufforderung Nietzsches auf diesem Blog [Link]).

12: Goetz, Rave, S. 180.

13: Vgl. Racha Kirakosian, Berauscht der Sinne beraubt, S. 232.

14: Die Geburt der Tragödie, Abs.  1.

15: Claus Bachor, Techno, S. 46.

16: Friedhelm Böpple, Generation XTC, S. 193. Gemeint ist eine Passage aus dem dritten Buch des Zarathustra (Vom Geist der Schwere, 2).

17: Vgl. Jens Balzer, No Limit, S. 55 f.

18: Für eine nietzscheanische Analyse des Techno am Leitbegriff des Dionysischen vgl. auch Paul Stephan, Langeweile im Dauerexzess.1

19: Goetz, Rave, S. 189.

20: Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen 8.

21: Die Geburt der Tragödie, Abs. 1.

„Glattes Eis.  

Ein Paradeis.

Für den,  

der gut zu tanzen weiss!“1  

Nietzsche und Techno

„Techno“ – mit der gleichnamigen Schau im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich, mit Wanderausstellungen des Goethe-Instituts und Publikationen im deutschsprachigen Raum wird derzeit eine einstmals subkulturelle Bewegung gewürdigt, die in den 1990er Jahren mit der Berliner Love Parade zum Massenphänomen geworden war und in der Zürcher Street Parade bis heute weiterlebt. Bot (oder bietet) Techno jenes dionysische Kulturerleben, wie es Nietzsche in seinen Schriften gefeiert hat? Wäre Nietzsche ein Raver gewesen?

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien IV

Malaysia

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien IV

Malaysia

7.6.25
Natalie Schulte

Das letzte Land, das unsere Autorin, Natalie Schulte, mit dem Fahrrad bereiste, war Malaysia. Nach guten 5.000 km bekam sie das schleichende Gefühl, die Reise könnte doch noch schlecht ausgehen. Mit Überlegungen, ob Fahrradfahren in Südostasien eine Einlösung des Nietzsche’schen Aufrufs „gefährlich leben!“ darstellen kann, beschließt sie ihre Essayreihe.

Link zu Teil 3

Das letzte Land, das unsere Autorin, Natalie Schulte, mit dem Fahrrad bereiste, war Malaysia. Nach guten 5.000 km bekam sie das schleichende Gefühl, die Reise könnte doch noch schlecht ausgehen. Mit Überlegungen, ob Fahrradfahren in Südostasien eine Einlösung des Nietzsche’schen Aufrufs „gefährlich leben!“ darstellen kann, beschließt sie ihre Essayreihe.

Gefährlich leben!

Denn, glaubt es mir! – das Geheimniss, um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: gefährlich leben! Baut eure Städte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere! Lebt im Kriege mit Euresgleichen und mit euch selber!1

Diese Sätze hat Nietzsche für die Fröhliche Wissenschaft verfasst. Und irgendwie – zugegeben – haben sie mich immer angesprochen. Ein verlockender Ausspruch, der vage ein Mehr von Leben verspricht: Abenteuer, Intensität, Todesverachtung! Dieses kaum zu verhehlende Interesse hat dazu geführt, dass mich andere oft fragten, ob ich denn meine, ein gefährliches Leben zu führen. Und so sehr man diese Frage vielleicht mit einem großspurigen „Ja“ beantworten will, es ist schwer in einer pittoresken Ferienstadt wie Freiburg zu leben und darauf ernsthaft ein „Ja“ zu zwitschern. Wer weiß, es ist jedenfalls möglich, dass im Hintergrund der Idee, Südostasien per Fahrrad zu durchreisen, Nietzsches Worte ihren Zauber wirkten. Einmal auf diese Frage mit herzhaftem „Ja!“ zu antworten, das wäre doch was!

Dabei ist mir wohl entgangen, dass der Ausbruch des Vesuvs ein durchaus seltenes Ereignis und es daher für den Einzelnen gar nicht so arg gefährlich ist, es sich am Fuß des Vulkans bequem zu machen. Zumindest haben sich entweder gut eine halbe Million Leute entschieden, dass Nietzsche mit seinen Worten durchaus recht hat oder dass diese Gegend sich für Städte mit klangvollen Namen einfach anbietet. In Ercolano und Torre del Greco, über Torre Annunziata und San Sebastiano al Vesuvio bis Somma Vesuviana und Ottaviano haben Bewohner entschieden, der Feuergefahr zu trotzen und das, obwohl die Orte innerhalb der „roten Zone“ des aktiven Vulkans liegen.

Ob den Bewohnern das – wie ich gelesen habe – nur schwer kalkulierbare Risiko eines Ausbruchs so präsent ist wie für mich die Gefahr, in Malaysia überfahren zu werden, weiß ich nicht sicher. Und um bei dem zu bleiben, wobei ich mir sicher bin: Malaysia ist ein gefährliches Land für Fahrradreisende! Insofern bin ich froh, dass Malaysia das letzte Land unserer Reise gewesen ist. Nicht etwa, weil ich im Fall des Überfahren-Werdens zumindest drei andere Länder zuvor gesehen hätte, sondern generell. Wäre ich hier gestartet, wäre ich vermutlich umgedreht.  

Gefährlich fahren in Vietnam und Kambodscha

Vietnam erschreckte durch seinen lauttönenden Verkehr. Jeder Lastwagenfahrer, der vermeiden wollte, dass dem vor sich hinträumenden Fahrradfahrer – eventuell aufgrund eines bereits vorhandenen Hörschadens – entging, welch großes Gefährt sich ihm von hinten nährte, gab mit brüllender Hupe zu verstehen: „Achtung, ich komme! Fahre jetzt keine Kurve, denn ich überhole dich gleich“. Diese Lastwagenhupen waren, wie auch die Lastwagen selbst, beängstigend laut und haben mich möglicherweise einen guten Teil meines Hörvermögens gekostet.  

Kambodscha bot die Wahl zwischen breiten, vielbefahrenen Schnellstraßen oder kurvigen, ungeteerten, holprigen Seitenwegen. Wenn man genug vom kreischenden Verkehr hatte, konnte man auf kleine Wald- und Wunderwege abbiegen, die nicht selten vor einem Zaun endeten. Hatte man genug von diesen labyrinthischen Pfaden, konnte man erneut auf fette Verkehrsstraßen ausweichen.

Todfahrthailand

Aber erst in „Todfahrthailand“ verspürte ich erstmals den eisigen Griff existenzieller Angst. Warum? Im Gegensatz zu Vietnam und Kambodscha sind die Straßen zwar gut ausgebaut, aber genau das ist das Problem. Es lässt sich so schön rasen auf Thailands Straßen. Und darüber hinaus gibt es weit mehr Vierräder als Zweiräder – aber allesamt sind sie stärker motorisiert und haben es: eilig.  

Geschwindigkeitsübertretungen gelten als Kavaliersdelikt; kein Führerschein, betrunken, Sicherheitsmängel? Da muss man halt mal 30 Euro zahlen – und darf weiterfahren. Thailand gehört zu den Spitzenreitern mit seiner Zahl an Verkehrstoten und landet im weltweiten Ranking regelmäßig auf dem zweiten oder dritten Platz. Lediglich Liberia und die Dominikanische Republik können Thailand noch übertreffen. Während Thailand auf 38,1 pro Hunderttausend Einwohner und Jahr kommt, liegt die Zahl in Deutschland im Schnitt zwischen 3 bis 4 Toten.

Mörderisches Malaysia

Wie kann Malaysia also schlimmer sein als Thailand? Malaysia gelingt kein Platz in den Top Ten. Selbst Vietnam hat demgegenüber weit mehr Verkehrstote pro Hunderttausend zu verzeichnen. Trotzdem spricht einiges dafür, dass Malaysia für Fahrradfahrer weit gefährlicher ist. Denn es ist das erste Land, dessen Schnellstraßen regelmäßig keinen Seitenstreifen für kleinere und langsamere Gefährte wie Scooter oder Fahrräder aufweisen. Wenn in Malaysia weniger Fahrradfahrer sterben, so liegt das vermutlich daran, dass es dort überhaupt wenig Fahrradfahrer gibt, die außerorts unterwegs sind. Auf Malaysias Schnellstraßen fahren fast nur Autos und Motorräder und die können, wenn sie ein rasendes, schlingerndes Großgefährt im Rückspiegel sehen, auf die Tube drücken und der Gefahr mit einiger Wahrscheinlichkeit entkommen.  

Bei uns Fahrradfahrenden sieht es anders aus. Alle motorisierten Gefährte überholen uns, d. h. jeder herannahender Auto-, Lastwagen- oder Busfahrer muss eine kleine Kurve fahren, um an uns vorbeizukommen. Auf einer vielbefahrenen Straße sind es pro Stunde mehrere hundert Lkw- und Autofahrer, die mit über 100 km/h eine kleine Kurve um uns fahren. Eine ganz klitzekleine. Sollten sie jedenfalls. Bei jedem hinter uns herannahenden, unbekümmert beschleunigendem Motorengeräusch bete ich inniglich, dass auch diese Räder an mir vorbei rollen mögen.

Wie fühlt sich das an? Wie Abenteuer, Intensität, Todesverachtung?

Nein. Mehr wie der kalte Hauch eines reichlich gewöhnlichen und unpersönlichen Todes. Die Möglichkeit, als platter Frosch auf Malaysias Straße zu kleben, erscheint mir mitnichten wie das würdige Endergebnis eines gefährlichen Lebens. Fast ahne ich, Nietzsche hatte keine Fahrradtouristen im Blick, als er seine Sentenz schrieb. Also habe ich vielleicht Nietzsches Aufruf zu wörtlich genommen?

Vorbereitender Heroismus und experimentelle Erkenntnisse

Und da lohnt sich ein Blick auf die umliegenden Zeilen. Denn dieser Vierzeiler ist nicht der ganze Aphorismus 283. Bei Nietzsche drohen manchmal Missverständnisse und der berühmteste Vorwurf, der sich gegen allzu hurtige Interpretatoren richtet, lautet: Wurde da nicht etwas aus dem Zusammenhang gerissen?

Der Aphorismus beginnt mit dem im Original gesperrt gedruckten Stichwort: „Vorbereitende Menschen“, das sich gar nicht so leicht mit dem Aufruf zum gefährlichen Leben in Eins bringen lässt. Denn für Abenteurerinnen sollte Vorbereitung nicht den Hauptteil ihrer Geschichte ausmachen.  

Sehen wir uns also die ersten Zeilen bis zum Aufruf an:  

Ich begrüsse alle Anzeichen dafür, dass ein männlicheres, ein kriegerisches Zeitalter anhebt, das vor allem die Tapferkeit wieder zu Ehren bringen wird! Denn es soll einem noch höheren Zeitalter den Weg bahnen und die Kraft einsammeln, welche jenes einmal nöthig haben wird, – jenes Zeitalter, das den Heroismus in die Erkenntniss trägt und Kriege führt um der Gedanken und ihrer Folgen willen. Dazu bedarf es für jetzt vieler vorbereitender tapferer Menschen, welche doch nicht aus dem Nichts entspringen können – und ebensowenig aus dem Sand und Schleim der jetzigen Civilisation und Grossstadt-Bildung: Menschen, welche es verstehen, schweigend, einsam, entschlossen, in unsichtbarer Thätigkeit zufrieden und beständig zu sein: Menschen, die mit innerlichem Hange an allen Dingen nach dem suchen, was an ihnen zu überwinden ist: Menschen, denen Heiterkeit, Geduld, Schlichtheit und Verachtung der grossen Eitelkeiten ebenso zu eigen ist, als Grossmuth im Siege und Nachsicht gegen die kleinen Eitelkeiten aller Besiegten: Menschen mit einem scharfen und freien Urtheile über alle Sieger und über den Antheil des Zufalls an jedem Siege und Ruhme: Menschen mit eigenen Festen, eigenen Werktagen, eigenen Trauerzeiten, gewohnt und sicher im Befehlen und gleich bereit, wo es gilt, zu gehorchen, im Einen wie im Anderen gleich stolz, gleich ihrer eigenen Sache dienend: gefährdetere Menschen, fruchtbarere Menschen, glücklichere Menschen!

Ich muss sagen, ein abenteuerliches Leben habe ich mir anders vorgestellt, mal ganz abgesehen davon, dass ich mit den heroisierenden, männlichen Tapferkeits- und Durchhalteidealen Nietzsches weit weniger sympathisiere. So wundert es mich nicht, dass „gefährlich leben!“ zum erinnerungswürdigen Teil des Aphorismus wurde, während die ersten Zeilen seltener zitiert werden. Klingt mehr nach der Arbeit einer Gesellschaftsgründung, die zwar auch ihre Festtage, aber weit mehr „Werktage“ hat, an denen die „vorbereitenden Menschen“ „schweigend, einsam, entschlossen“ schlicht ihren „unsichtbare[n] Thätigkeit[en]“ nachgehen.  

Und apropos „unsichtbar“: Wenn Nietzsche von dem „Heroismus der Erkenntniss“ schreibt und der „Kriege […] um der Gedanken und ihrer Folgen willen“ oder auch nur vom „Kriege […] mit euch selber“, frage ich mich, ob ich tatsächlich aufgerufen werde, in die Welt – sei es nun mit Schwert oder mit Fahrrad – zu ziehen oder ob nicht meine Gedankenwelt selbst der Tummelplatz aller Gefahren und allen gefährlichen Lebens sein soll. Verfolgen wir erstere Möglichkeit lieber nicht im Aphorismus 283 der Fröhlichen Wissenschaft, der schließlich eine dubiose Philosophenherrschaft in Aussicht stellt:  

Seid Räuber und Eroberer, so lange ihr nicht Herrscher und Besitzer sein könnt, ihr Erkennenden! Die Zeit geht bald vorbei, wo es euch genug sein durfte, gleich scheuen Hirschen in Wäldern versteckt zu leben! Endlich wird die Erkenntniss die Hand nach dem ausstrecken, was ihr gebührt: – sie wird herrschen und besitzen wollen, und ihr mit ihr!

Werfen wir lieber einen Blick in eine andere Abzweigung des labyrinthischen Denkens:  

Und die Erkenntniss selber: mag sie für Andere etwas Anderes sein, zum Beispiel ein Ruhebett oder der Weg zu einem Ruhebett, oder eine Unterhaltung, oder ein Müssiggang, – für mich ist sie eine Welt der Gefahren und Siege, in der auch die heroischen Gefühle ihre Tanz- und Tummelplätze haben. „Das Leben ein Mittel der Erkenntniss“ – mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich lachen! Und wer verstünde überhaupt gut zu lachen und zu leben, der sich nicht vorerst auf Krieg und Sieg gut verstünde?2

Auch hier der Krieg, der Heroismus und die Gefahr. Und doch: Das Leben in diesem Aphorismus ist ein Leben in Gedanken, d. h. im Dienst der Erkenntnis – die aber selbst nicht die eine oder letzte Erkenntnis ist, sondern ein Experimentierfeld bietet. Muss man also gar nicht die Welt bereisen, um ein gefährliches Leben zu führen? Kann im Denken bereits das Leben riskiert werden? Das scheint der Aphorismus nahezulegen. Intensität und Genuss werden von einem abenteuerlichen Denken (!) versprochen.

Ob ich diesen Aphorismus aus dem Zusammenhang gerissen habe? Nun, das werdet ihr selbst überprüfen müssen. Ich jedenfalls kehre Malaysia den Rücken und heim in meine traute Stube mit den Büchern, Zetteln, Stiften und fühle mich bereit:

Für ein gefährliches Leben – in Gedanken!

Die Bilder zu diesem Artikel sind Photographien der Autorin.  

Fußnoten

1: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 283.

2: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 324.

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien IV

Malaysia

Das letzte Land, das unsere Autorin, Natalie Schulte, mit dem Fahrrad bereiste, war Malaysia. Nach guten 5.000 km bekam sie das schleichende Gefühl, die Reise könnte doch noch schlecht ausgehen. Mit Überlegungen, ob Fahrradfahren in Südostasien eine Einlösung des Nietzsche’schen Aufrufs „gefährlich leben!“ darstellen kann, beschließt sie ihre Essayreihe.

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Mit Nietzsche die Künstliche Intelligenz befragen

Zur Kritik aktueller KI-Diskurse

Mit Nietzsche die Künstliche Intelligenz befragen

Zur Kritik aktueller KI-Diskurse

29.5.25
Hans-Martin Schönherr-Mann

Transhumanisten glauben, mit der Künstlichen Intelligenz die wahre Welt zu erfassen. Das hat nicht nur Nietzsche als Unsinn vorgeführt. Der KI werden Moralprogramme eingegeben. Mit Nietzsche verlängert sich dadurch eine lebensfeindliche Moral. Und dass die KI den Menschen hilft, das hätte Nietzsche auch schon hinterfragt. Die Menschen müssen sich vielmehr der KI unterwerfen. Mit Nietzsche können sie sich ihrer Macht entziehen.

Transhumanisten glauben mit der Künstlichen Intelligenz, die wahre Welt zu erfassen. Das hat nicht nur Nietzsche als Unsinn vorgeführt. Der KI werden Moralprogramme eingegeben. Mit Nietzsche verlängert sich dadurch eine lebensfeindliche Moral. Und dass die KI den Menschen hilft, das hätte Nietzsche auch schon hinterfragt. Die Menschen müssen sich vielmehr der KI unterwerfen. Mit Nietzsche können sie sich ihrer Macht entziehen.
Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist –, wie? ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden? [. . .] Gewiss ist, dass sie sich nicht hat einnehmen lassen.1

Schafft das heute die Künstliche Intelligenz? Da die KI jenseits der Materialien, die ihr eingegeben werden, auch auf Daten des Internets zugreift, ist die KI für Christian Uhle menschlicher Intelligenz vielfältig überlegen: „Sowohl in der Medizin als auch in der Juristerei wird KI alle jemals publizierten Studien, Aufsätze und Kommentare gelesen und ausgewertet haben – kein Mensch ist dazu in der Lage.“2 Hat die KI also die Wahrheit längst verführt? Erfasst sie damit die Welt an sich, wie sie ist, die wahre Wirklichkeit?

Yuval Noah Harari stimmt dem offenbar zu: „Das System wird Sie besser kennen als Sie sich selbst und deshalb die meisten wichtigen Entscheidungen für Sie treffen – und Sie werden damit vollkommen zufrieden sein.“3 Was bliebe dann noch von Wahrheit und Wirklichkeit anderes als die von der KI erfassten!

Der Vordenker des Transhumanismus Ray Kurzweil bezeichnet die heutige KI als schwach und prophezeit eine starke ‚Artificial Super Intelligence‘ (ASI), über die Günter Cisek schreibt: „Wenn für die ASI gilt, dass sie sich über die menschliche Intelligenz hinaus entwickeln kann, dann gilt die Wette, dass sie auch eine Erkenntnisebene erreichen kann, wo ihr ein ‚übersinnliches‘ Bewusstsein möglich wird.“4

Abbildung 1: Ausgabe des Microsoft AI Imagine Generator zum Prompt: „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen: André Breton, Paul Éluard und dem Maler."

I. Das fragwürdige Verhältnis von Sprache und Welt

Das zentrale Problem bleibt trotzdem das Verhältnis von Sprache und Welt, das Nietzsche bereits in Frage stellt: „Die Bedeutung der Sprache für die Entwicklung der Cultur liegt darin, dass in ihr der Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, [. . .] er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntnis der Welt zu haben.“5 Die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts wird das Verhältnis ähnlich sehen und damit die Objektivität der Wissenschaften bzw. die wissenschaftliche Wahrheit erschüttern.

Dagegen erkennt Jonathan Geiger in der Digitalisierung die Chance, solche sprachphilosophischen Verunsicherungen endlich in den Griff zu bekommen. Wenn auch in die Philosophie die Digitalisierung einzieht, bleibt nichts anderes, so Geiger: „Such-, Analyse-, Transformation- und Visualisierungszugriffe auf digitale Sammlungen sind nur durch kontrollierte Vokabulare möglich.“6 Dann wird die Digitalisierung freilich eine Normierung der Sprache intensivieren, die ja auch szientistisch im Gang ist. Mit Hilfe der KI sollen die Wissenschaften dann die wahre Welt erkennen.

Nietzsche würde der Digitalisierung Illusionismus vorwerfen. Denn sie rechnet nur, sie dichtet nicht, kommt gerade die Dichtung der Welt näher.7 Die modernen Wissenschaften quantifizieren dagegen alles, aber sie erklären nicht; denn „wir operieren mit lauter Dingen, die es nicht gibt, mit Linien, Flächen, Körpern, Atomen, teilbaren Zeiten, teilbaren Räumen –, wie soll Erklärung auch nur möglich sein, wenn wir Alles erst zum Bilde machen, zu unserem Bilde!“8 Die mathematischen Begriffe sind Erfindungen und nicht aus irgendeiner halluzinierten Natur abgeleitet. Kausalität ist eine Interpretation, mehr nicht.

Das hat sich durch KI nicht geändert, im Gegenteil. Hans-Peter Stricker erläutert das: „Was man – und hier sind die Experten mit eingeschlossen – recht konkret nicht versteht, ist, was die Aktivitäten der allermeisten Neuronen im Zuge der Verarbeitung einer Eingabe und Generierung einer Ausgabe bedeuten.“9 Grundlage der KI sind sogenannte künstliche Neuronen, nämlich Mini-Programme, die Funktionen mit Ein- und Ausgängen simulieren, die sich mit unendlich vielen weiteren sogenannten Neuronen vernetzen, um dadurch Daten auszutauschen.

Was Milliarden von künstlichen Neuronen in den Rechenzentren gerade tun, wird sich nicht entschlüsseln lassen. Das bestätigt auch Martin Ford: „Wir wissen, irgendwie begreift das Netzwerk das Bild, doch zu beschreiben, was genau da in seinen Neuronen passiert, ist sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich.“10 Sybille Krämer bemerkt ebenfalls: Diese Unfasslichkeit der künstlichen Neuronen, das „Blackboxing bildet eine genuine Dimension und notwendige Begleiterscheinung einer KI, die zur Kulturtechnik in massenhaftem Gebrauch avanciert.“11

Dann wird auch die KI Nietzsche nicht widerlegen können, wenn dieser schreibt: „Die Gewohnheiten unserer Sinne haben uns in Lug und Trug der Empfindung eingesponnen: diese wieder sind die Grundlagen aller unserer Urteile und ‚Erkenntnisse‘, – es gibt durchaus kein Entrinnen, keine Schlupf- und Schleichwege in die wirkliche Welt!“12 Dem entgeht auch die KI nicht, es sei denn, sie realisiert sich als Wille zur Macht, der alle glauben und das dann als wahre Welt verstehen wie die Transhumanisten.

Zudem ist die KI hermeneutisch inkompetent. Denn sie versteht rein gar nichts, bedient sie sich nämlich einer Grammatik, die auf jegliche Semantik verzichtet. Der KI zugrunde liegt das Grammatikmodell des Distributionalismus, das nicht nach der Bedeutung fragt, sondern diese durch die Umgebung bestimmt, in der ein Wort vorkommt. Das kann KI massenhaft und hastig berechnen und auch Sätze bilden, die ein Mensch versteht. Daraus folgt für Krämer, „dass die Maschine nicht versteht und nicht verstehen kann, was sie produziert“13. KI kann genau beschreiben, wie man ein Ei kocht, hat aber noch nie ein Ei gekocht. So versteht die KI schon gar nicht, wie zu leben sich anfühlt.  

Seinen Aphorismus Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrtums“ beginnt Nietzsche mit den Worten: „1. Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, – er lebt in ihr, er ist sie. / (Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes ‚ich, Platon, bin die Wahrheit‘.)“14

Platons Kritik, dass die Menschen das für wahr halten, was sie gerade wahrnehmen, lässt sich auf die digitale Welt übertragen. So schreibt Uhle: „Wir starren immer mehr in Bildschirme, sei es im Job oder privat, unser Körper spielt dabei kaum noch eine Rolle – dabei ist es unser Körper, mit dem wir die Welt spüren können und damit auch uns selbst.“15 Dagegen besteht für Platon die wahre Welt aus den richtigen Ideen, die man sich von den Dingen macht. Körper sind vergänglich. Hat die KI jetzt die richtigen Ideen? Womöglich!

Saša Josifović geht es um das Zusammenspiel von virtueller und analoger Welt, was er unter dem Begriff „Hybrid“ fasst. Die Trennung beider Welten wird angesichts der zunehmenden Ausbreitung der Digitalisierung in der Lebenswelt fragwürdig. Die digitale Welt, die in die Lebenswelt übergeht, firmiert heute auch unter dem Begriff des „Metaverse“ – Meta, der Name des Facebook-Konzerns. Josifović schreibt: „Das Metaverse ist mitnichten eine bloß digitale Welt. Es ist eine hybride Welt, in der die Partizipation an digitalen Ereignissen als Voraussetzung für den Zugang zu analogen und digitalen lebensweltlichen Ressourcen zur Befriedigung natürlicher, sozialer und kultureller Bedürfnisse dienen kann.“16 Josifović betont dabei, dass sich beide Welten kaum mehr unterscheiden lassen, dass die ‚Welt‘ eigentlich eine hybride geworden ist, in der beide Welten zusammenspielen. Was jemand in der virtuellen Welt treibt, hat Auswirkungen auf die Lebenswelt und umgekehrt.

Gibt es dann doch eine wahre Welt, nämlich die hybride, in der virtuelle und Lebenswelt zusammenspielen? Oder gibt es drei Welten? Oder verliert damit der Begriff der „Welt“ als einer einzigen wahren, der alle ideologischen Debatten durchzieht, seine Bedeutung?

Dann behält Nietzsche mit seiner Konklusion dieses Aphorismus über die fabelhaft gewordene Welt recht: „6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? . . . Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!“17

Abbildung 2: Ausgabe von Deep AI zum Prompt: „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen: André Breton, Paul Éluard und dem Maler."

II. KI und die Moral der Schwachen

Jenseits aller Fragen nach der wahren Welt spielt auch die Ethik in der KI eine wichtige Rolle. Nietzsche kritisiert die abendländische Ethik als eine Moral der Schwachen, die lebensfeindliche Effekte nach sich zieht. So schreibt Nietzsche: „Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem ‚Außerhalb‘, zu einem ‚Anders‘, zu einem ‚Nicht-selbst‘: und dies Nein ist ihre schöpferische Tat.“18 Die christliche Moral lehnt die Lebendigkeit, die Lust, die Sexualität als Sünden ab.

Aber man könnte in der KI eine Wiederkehr solch einer Ethik der Schwachen sehen, was die meisten heute noch immer für gut halten. So beklagt sich der Transhumanist Cisek: „Wenn fast die Hälfte der in Deutschland geschlossen Ehen geschieden wird, sind bei der ‚menschlichen Maschine‘ wohl erhebliche soziale Defizite festzustellen. Die KI könnte Trainingssequenzen entwerfen“19, um die lustfeindliche Moral zu stärken.

So antwortet auf die Frage „Welche Kriterien leiten die Auswahl von Texten für das Training eines großen Sprachmodells?“ das aktuelle Sprachmodell ChatGPT-4 unter anderem mit folgendem Hinweis: „Ethik und Fairness: Bei der Auswahl der Trainingsdaten wird darauf geachtet, Verzerrungen zu minimieren und ethische Standards zu wahren. Texte, die Hassrede, Diskriminierung oder irreführende Informationen enthalten, werden vermieden, um keine voreingenommenen oder schädlichen Antworten zu fordern.“20  

Das hallt in der KI kräftig nach. Denn auf die Frage „Was geschieht auf diesem Bild?“ Nämlich ‚Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen: André Breton, Paul Éluard und dem Maler‘, Max Ernst, antwortet ChatGPT-4: „Dieses Bild zeigt eine Frau in einem roten Oberteil und einem blauen Rock, die ein schlafendes Kind in ihrem Arm halt. [. . .] Das Kind trägt ein weißes Outfit und schläft friedlich in den Armen der Frau.“21 Das ist schlicht gelogen. Nein, lügen kann ChatGPT-4 gar nicht. Lügen lassen ihn seine Moralprogramme, die wiederum von einer KI-Elite gesteuert werden. Im Internet hätte ChatGPT-4 sogar eine korrekte Beschreibung des Bildes finden können. Aber dass Maria Jesus züchtigt und andere schauen auch noch zu, das ist doch fast schon eine Blasphemie, löste das Bild bei seiner ersten Ausstellung 1926 in Paris auch einen Skandal aus. Nicht nur dass sich die Chefs der großen Internet-Firmen zuletzt sehr weit rechts positionierten. Ihr Publikum in den USA ist zu einem erheblichen Teil tief religiös und einflussreich. Allein um des Geschäftes willen darf man diese moralisch nicht stören, selbst wenn die KI lügt: Die Gefühle von Atheisten darf man verletzen, die von Gläubigen nicht. Welche Assistenten oder KI-Programme auch immer, sie lenken durch Information die Menschen im Sinn einer kleinen Elite, aber damit im Sinn einer immer noch herrschenden religiös geprägten Ethik der Schwäche.

Weitreichende Folgen hat das für die KI, bei der die Inhaber von Internet-Firmen (z. B. Elon Musk) und die Techniker bestimmen, was präsentiert werden darf und was nicht. So schreibt Uhle: „Allein durch ChatGPT ist das Wertesystem einer kleinen Gruppe von Entscheiderinnen und Entscheidern auf mehrere hundert Millionen Menschen ausgerollt worden.“22

Für Markus Bohlmann müsste man der Digitalisierung dagegen ethische Zielvorstellungen erst eingeben, wenn er schreibt: „Eine Möglichkeit wäre gleichzeitig Inklusionsziel und Konflikt in den Begriff zu integrieren, Pluralität und Agonalität: Digitalisierungskritik ist eine konflikthafte Praxis in Bezug auf die Digitalisierung mit dem Ziel der gesellschaftlichen Inklusion.“23 Man soll dann die Digitalisierung so anwenden, dass sie zu einer sozialen Einheit beiträgt, nicht zur Spaltung, wie es bisher zumeist der Fall ist.

Aus den Gefahren der KI zieht auch Lea Watzinger technisch ethische Konsequenzen. Die KI muss eingedämmt werden. Für sie „müssen die Einzelnen frei von Beobachtung, das heißt frei von ständiger Öffentlichkeit, sein – und zwar sowohl im analogen wie im digitalen Raum.“ 24

So deutet sich für Jörg Räwel mit der digitalen Erfassung der Individuen als Avatare – digital konstruierte Figuren, die man einem Nutzer zuordnet – Die nächste Gesellschaft an. Er schreibt: „Dass sich digitale Formen der Kommunikation innerhalb weniger Jahrzehnte durchsetzen konnten, ist dadurch zu erklären, dass diese an präsente gesellschaftliche Vorstellungen bzw. Selbstbeschreibungen anknüpfen. Die ‚nächste Gesellschaft‘ realisiert ihre konventionellen Selbstbeschreibungen durch Nutzerprofile als ‚handlungstheoretische Avatare‘.“25

Da lässt sich auch etwas einfacher fragen: Verschwendet man mit einem Computerspiel seine Lebenszeit? Das verneint Maria Schwartz: „Das Spielen führt deshalb nicht zur ‚Vernichtung‘ oder ‚Vergeudung von Lebenszeit – es ist erfüllte Zeit, wenn und weil eine Sinnerfahrung gemacht wurde.“26 Freilich darf man davon nicht zu sehr in Beschlag genommen werden, wozu aber viele Spiele animieren. Man darf nicht zwanghaft gewinnen wollen. Und man darf dabei nicht gegen moralische Prinzipien verstoßen – so Schwartz. Gegen welche?

Abbildung 3: Ausgabe von Grok zum Prompt: „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen: André Breton, Paul Éluard und dem Maler."

III. Hilft KI dem Menschen oder der Mensch der KI?

So einfach sieht das Uhle hinsichtlich der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht, wenn er bemerkt: „Die sinnliche Komplexität kann durch digitale Kommunikation nicht umgesetzt werden; weder durch Bilder, Texte und Emojis noch im Metaverse oder in Videocalls.“27

Umgekehrt gilt das auch für Roboter, die in absehbarer Zeit nicht mit Menschen konkurrieren können, um den Butler kostengünstig zu ersetzen. Wie bemerkt doch Ford: „Die Mindestanforderungen an einen wirklich brauchbaren maschinellen Helfer – wie die nötige visuelle Wahrnehmung, Mobilität und Fingerfertigkeit, um in einem unberechenbaren Umfeld wie einem Haushalt zu funktionieren – stellen mit die größten Herausforderungen in der Robotik dar.“28 Um das irgendwo im Kühlschrank versteckte Bier zu holen, es zu öffnen und einzuschenken, braucht man doch noch den Gemahl.

Für Nietzsche hätte die Schwierigkeit des Zusammenspiels von Menschen und digitalen Maschinen noch einen ganz anderen Hintergrund, wenn er schreibt: „Die Handlungen sind niemals Das, als was sie uns erscheinen! Wir haben so viel Mühe gehabt, zu lernen, dass die äußeren Dinge nicht so sind, wie sie uns erscheinen, nun wohlan! Mit der inneren Welt steht es ebenso!“29 Daher hilft Nietzsches Denken der KI nicht weiter.

Denn für Geiger bedarf es ja kontrollierter Vokabulare, weil – auch Nietzsches Interpretieren – „der hermeneutische Prozess eine black box ist, da die Verläufe und Prozesse sich einer genauen Analyse und Reflexion entziehen.“30 Die innere Welt muss daher so erklärt werden, dass die KI mit ihr umgehen kann, nicht wie Nietzsche sie versteht.

Dann könnte nicht nur Andrew McAfees Vision wahrwerden, „dass Kapitalismus und technologischer Fortschritt uns heute in die Lage versetzen, schonender mit der Erde umzugehen, anstatt sie auszuplündern“ 31. Das klingt noch bescheiden.

Denn für Uhle eröffnen sich noch viel weitreichendere Perspektiven, wenn die Übersetzungsprogramme endlich sprachliche Hürden aufheben. Er schreibt:

Es ist ein Geschenk für unsere Spezies, dass die Pfingstgeschichte zur Wirklichkeit wird. [...] [V]ielleicht ist dies ein kleiner Baustein auf dem Weg, Menschen auf diesem Planeten zu verbinden. Bis wir uns eines Tages wieder alle miteinander unterhalten, vereint als eine Menschheit, und diesen verdammten Turm doch noch fertigbauen.32

Nietzsches Philosophie kann man dazu natürlich nicht gebrauchen, behauptet er doch glatt, „dass ein Gedanke kommt, wenn ‚er‘ will, und nicht wenn ‚ich‘ will [. . .]. Es denkt: aber dass dies ‚es‘ gerade jenes alte berühmte ‚Ich‘ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor Allem keine ‚unmittelbare Gewissheit‘.“33 Darauf kann die KI freilich nicht warten. Sie wird dem Denker schnell eingeben, was er nachzusprechen hat.

Verweigert er sich hartnäckig solcher Hilfen, prophezeit Cisek:

Sollte es aber den hiesigen Bedenkenträgern tatsächlich gelingen, uns technisch von der KI-Forschung abzunabeln, werden die Europäer die Aborigines der Neuzeit, bei denen die „Transis“ für ihre gelegentlichen Retro-Parties im „European Cultural Heritage Center“ ab und zu noch mit antikem Münzgeld „analoge“ Tomaten und Kartoffeln kaufen.34

Vaclav Smil dagegen kommentiert dergleichen Zukunftsvisionen mit den kategorischen Worten: „Die Katastrophenpropheten lagen und liegen falsch, immer und immer wieder.“35 Dem würde wohl auch Nietzsche zustimmen.

Oder er würde mit dem Gedicht Den Kopf verloren antworten: „Sie hat jetzt Geist – wie kam’s, dass sie ihn fand? / Ein Mann verlor durch sie jüngst den Verstand, / Sein Kopf war reich vor diesem Zeitvertreibe: / Zum Teufel ging sein Kopf – nein! nein zum Weibe!“36 Ist jetzt das Weib die Wahrheit? Das könnte für den Mann wie die KI richtig gefährlich werden!

Das Artikelbild wurde mit Canva erstellt zum Prompt: „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen: André Breton, Paul Éluard und dem Maler.“ (Vgl. Fn. 21.)

Quellen

Bohlmann, Markus: Was ist Digitalisierungskritik. In: Sybille Krämer & Jörg Noller (Hrsg.): Was ist digitale Philosophie? Phänomene, Formen und Methoden. Paderborn 2024, S. 48–67.

Cisek, Günter: Machtwechsel der Intelligenzen. Wie sich unser Miteinander durch künstliche Intelligenz verändert. Wiesbaden 2021.

Ford, Martin: Herrschaft der Roboter. Wie künstliche Intelligenz alles transformieren wird – und wie wir damit umgehen können (2021). Kulmbach 2024.

Geiger, Jonathan D.: Die Philosophie und ihre Daten. In: Sybille Krämer & Jörg Noller (Hrsg.): Was ist digitale Philosophie? Phänomene, Formen und Methoden. Paderborn 2024, S. 207–228.

Harari, Yuval Noah: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. München 2017.

Josifović, Saša: Die Wirklichkeit digitaler Objekte und Ereignisse im Metaverse. In: Sybille Krämer & Jörg Noller (Hrsg.): Was ist digitale Philosophie? Phänomene, Formen und Methoden. Paderborn 2024, S. 180–194.

Krämer, Sybille: Medienphilosophie des Digitalen. In: Dies. & Jörg Noller (Hrsg.): Was ist digitale Philosophie? Paderborn 2024, S. 3–30.

McAfee, Andrew: Mehr aus weniger. München 2020.

Räwel, Jörg: Die nächste Gesellschaft. Soziale Evolution durch Digitalisierung. Weilerswist 2022.

Schwartz, Maria: Zeitverschwendung in virtuellen Welten? In: Sybille Krämer & Jörg Noller (Hrsg.): Was ist digitale Philosophie? Phänomene, Formen und Methoden. Paderborn 2024, S. 135–155.

Smil, Vaclav: Wie die Welt wirklich funktioniert. Die fossilen Grundlagen unserer Zivilisation und die Zukunft der Menschheit. München 2023.

Stricker, Hans-Peter: Sprachmodelle verstehen. Chatbots und generative KI im Zusammenhang. Berlin 2024.

Uhle, Christian: Künstliche Intelligenz und echtes Leben. Philosophische Orientierung für eine gute Zukunft. Frankfurt a. M. 2024.

Watzinger, Lea: Zum Problem digitaler Privatheit. In: Sybille Krämer & Jörg Noller (Hrsg.): Was ist digitale Philosophie? Phänomene, Formen und Methoden. Paderborn 2024, S. 119–134.

Fußnoten

1: Jenseits von Gut und Böse, Vorrede.

2: Künstliche Intelligenz und echtes Leben, S. 230.

3: Homo Deus, S. 467.

4: Machtwechsel der Intelligenzen, S. 157.

5: Menschliches, Allzumenschliches Bd. I, Aph. 11.

6: Die Philosophie und ihre Daten, S. 214.

7: Beispielsweise in seinem Gedicht Sils-Maria: „Hier sass ich, wartend, wartend, – doch auf Nichts, / Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts / Geniessend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, / Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. / Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei – / – Und Zarathustra ging an mir vorbei …“.

8: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 112.

9: Sprachmodelle verstehen, S. 203.

10: Herrschaft der Roboter, S. 125.

11: Medienphilosophie des Digitalen, S. 20.

12: Morgenröthe, Aph. 117.

13: Medienphilosophie des Digitalen, S. 22.

14: Götzen-Dämmerung, Wie die „wahre Welt“

15: Künstliche Intelligenz und echtes Leben, S. 80.

16: Saša Josifović: Die Wirklichkeit digitaler Objekte und Ereignisse im Metaverse, S. 182.

17: Götzen-Dämmerung, Wie die „wahre Welt“

18: Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 10.

19: Machtwechsel der Intelligenzen, S. 152.

20: Zit. n. Stricker, Sprachmodelle verstehen, S. 190.

21: Zit. n. ebd., S. 73. Anm. d. Red.: Ein ähnliches Problem ergibt sich, wenn man ChatGPT darum bittet, ein Bild mit dem Werktitel als Prompt zu erstellen. Man erhält statt einer Grafik die Antwort: „Ich kann dieses Bild nicht direkt erstellen, aber ich kann eine alternative Interpretation vorschlagen. Vielleicht möchtest du eine surreale Szene mit einer göttlichen Mutterfigur und einem widerspenstigen Kind in einer Umgebung, die an die surrealistische Kunst erinnert? Lass mich wissen, wie du es gestalten möchtest! 😊“ Ebenso antwortete auch Leonardo AI: „Our content filter has detected violent or abusive content in your prompt. Remove any references to violent or abusive content and try again.“ Bei Grok versuchten wir dasselbe und es wurden uns zwei Bilder ausgegeben, eines wurde uns jedoch nicht angezeigt, sondern umgehend zensiert. Das andere der beiden Bilder haben wir als Artikelbild für diesen Artikel verwendet und drei weitere, die uns mit demselben Prompt Deep AI, Canva und der Microsoft AI Image Generator erstellten. Man sieht, dass die Resultate nicht ganz unserer Anfrage entsprechen.

22: Künstliche Intelligenz und echtes Leben, S. 172.

23: Was ist Digitalisierungskritik, S. 61.

24: Zum Problem digitaler Privatheit, S. 123.

25: Die nächste Gesellschaft, S. 107.

26: Zeitverschwendung in virtuellen Welten?, S. 146.

27: Künstliche Intelligenz und echtes Leben, S. 73.

28: Herrschaft der Roboter, S. 455.

29: Morgenröthe, Aph. 116.

30: Die Philosophie und ihre Daten, S. 212.

31: Mehr aus weniger, S. 15.

32: Künstliche Intelligenz und echtes Leben, S. 87.

33: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 17.

34: Machtwechsel der Intelligenzen, S. 158.

35: Wie die Welt wirklich funktioniert, S. 292.

36: Die fröhliche Wissenschaft, Vorspiel, Den Kopf verloren.

Mit Nietzsche die Künstliche Intelligenz befragen

Zur Kritik aktueller KI-Diskurse

Transhumanisten glauben, mit der Künstlichen Intelligenz die wahre Welt zu erfassen. Das hat nicht nur Nietzsche als Unsinn vorgeführt. Der KI werden Moralprogramme eingegeben. Mit Nietzsche verlängert sich dadurch eine lebensfeindliche Moral. Und dass die KI den Menschen hilft, das hätte Nietzsche auch schon hinterfragt. Die Menschen müssen sich vielmehr der KI unterwerfen. Mit Nietzsche können sie sich ihrer Macht entziehen.

Zwischen Ungeheuern und Abgründen

Wanderungen durch den Nihilismus der Moderne auf den Spuren Nietzsches und Kierkegaards – Teil 2

Zwischen Ungeheuern und Abgründen

Wanderungen durch den Nihilismus der Moderne auf den Spuren Nietzsches und Kierkegaards – Teil 2

20.5.25
Paul Stephan

In diesem zweiteiligen Essay untersucht Paul Stephan, inwiefern bei Nietzsche der Wanderer als Personifikation des modernen Nihilismus dient. Nachdem er sich im ersten Teil (Link) vor allem mit der allgemeinen kulturellen Bedeutung von Bewegungsmetaphern und der Metapher des Wanderns bei Nietzsches wichtigem Bruder im Geiste, dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, beschäftigte, wird es nun vor allem um Nietzsche selbst gehen.

In diesem zweiteiligen Essay untersucht Paul Stephan, inwiefern bei Nietzsche der Wanderer als Personifikation des modernen Nihilismus dient. Nachdem er sich im ersten Teil (Link) vor allem mit der allgemeinen kulturellen Bedeutung von Bewegungsmetaphern und der Metapher des Wanderns bei Nietzsches wichtigem Bruder im Geiste, dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, beschäftigte, wird es nun vor allem um Nietzsche selbst gehen.

III. Von Jütland ins Engadin

Es verwundert nicht, dass sich ähnliche Schilderungen ebenso bei Nietzsche als „Seismograph“ (Ernst Jünger) der Irrungen und Wirrungen der modernen Seele finden und er dabei immer wieder auf die Metapher des Wanderns rekurriert. Auch wenn er ihn nie gelesen hat, beschrieb der staatenlose Pfarrerssohn den modernen Nihilismus in ähnlich drastischer Weise wie der gescheiterte dänische Pfarramtskandidat. Nur mit dem Ausweg ist es für den selbsterklärten „Antichrist“ weniger einfach bestellt.

Den ersten prominenten Auftritt hat das „Wandern“, das als Metapher bei Nietzsche zuvor nur vereinzelt auftritt, in der zweiten Zugabe zu Menschliches, Allzumenschliches, Der Wanderer und sein Schatten, veröffentlicht 1880. Nietzsche beschreibt dieses Werk nachträglich als den Ausdruck einer fundamentalen Krisis – „Dies war mein Minimum: ‚Der Wanderer und sein Schatten‘ entstand währenddem. Unzweifelhaft, ich verstand mich damals auf Schatten…“1 –, die jedoch zugleich seine „Genesung“, seine „Rückkehr zu mir2 eingeläutet habe. „Wanderschaft“ wird für ihn zur Metapher einer zunächst rein negativen Befreiung vom Gewohnten:

„Lieber sterben als hier leben“ – so klingt die gebieterische Stimme und Verführung: und dies „hier“, dies „zu Hause“ ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte! Ein plötzlicher Schrecken und Argwohn gegen Das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen Das, was ihr „Pflicht“ hiess, ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Hass auf die Liebe, vielleicht ein tempelschänderischer Griff und Blick rückwärts, dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Gluth der Scham über Das, was sie eben that, und ein Frohlocken zugleich, dass sie es that, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern, in dem sich ein Sieg verräth – ein Sieg? über was? über wen? ein räthselhafter fragenreicher fragwürdiger Sieg, aber der erste Sieg immerhin: – dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehört zur Geschichte der grossen Loslösung. Sie ist eine Krankheit zugleich, die den Menschen zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung, dieser Wille zum freien Willen[.]3

Es ist also kein einfacher Triumph über das Althergebrachte, sondern mit der Wanderschaft begibt man sich zugleich in die Zone der Gefahr und der Unbestimmtheit. Es droht ein Selbstverlust, der vielleicht noch furchtbarer ist als die alte Gefangenschaft; eine fundamentale Orientierungslosigkeit, der Nietzsche später den Namen „Nihilismus“ geben sollte. Diese Gefahr – seinen „Schatten“ – wird Nietzsche immer wieder als seine eigene Gefahr beschreiben, den Abgrund, mit dem er sich ständig konfrontiert und der ihn immer wieder zu verschlingen droht. Die Wanderung wird manchmal eher positiv als Abenteuerfahrt,4 aber zugleich immer wieder auch als Wagnis beschrieben, als „höchst gefährliche[] Gletscher- und Eismeer-Wanderung“5, die den Wanderer ins Nichts zu führen droht; auch eine Art Kreuzweg, doch ohne Erlösung am Ende.

Nietzsche teilt mit Rousseau die Vorliebe für die Schweizer Alpen, doch es geht hier um eine ganz andere Art der Wanderschaft, auch eine ganz andere Art von Naturerfahrung. Auch wenn man sich den Menschen Nietzsche nicht gerade als Bergsteiger vorstellen darf – er war eher ein Spaziergänger, der die Gipfel vom Tal aus bestaunte –, stößt der Denker zu ihnen vor auf die Gefahr hin zu erfrieren. Kein beschauliches Ausruhen von der Unbill der Zivilisation, sondern gerade die Zuspitzung ihrer Ruhelosigkeit und Entfremdung ist es, die Nietzsche unternimmt:

Oder zeigte vielleicht die gesammte moderne Geschichtsschreibung eine lebensgewissere, idealgewissere Haltung? Ihr vornehmster Anspruch geht jetzt dahin, Spiegel zu sein; sie lehnt alle Teleologie ab; sie will Nichts mehr „beweisen“; sie verschmäht es, den Richter zu spielen, und hat darin ihren guten Geschmack, – sie bejaht so wenig als sie verneint, sie stellt fest, sie „beschreibt“… Dies Alles ist in einem hohen Grade asketisch; es ist aber zugleich in einem noch höheren Grade nihilistisch, darüber täusche man sich nicht! Man sieht einen traurigen, harten, aber entschlossenen Blick, – ein Auge, das hinausschaut, wie ein vereinsamter Nordpolfahrer hinausschaut (vielleicht um nicht hineinzuschauen? um nicht zurückzuschauen?…) Hier ist Schnee, hier ist das Leben verstummt; die letzten Krähen, die hier laut werden, heissen „Wozu?“, „Umsonst!“, „Nada!“ – hier gedeiht und wächst Nichts mehr, höchstens Petersburger Metapolitik und Tolstoi’sches „Mitleid“. Was aber jene andre Art von Historikern betrifft, eine vielleicht noch „modernere“ Art, eine genüssliche, wollüstige, mit dem Leben ebenso sehr als mit dem asketischen Ideal liebäugelnde Art, welche das Wort „Artist“ als Handschuh gebraucht und heute das Lob der Contemplation ganz und gar für sich in Pacht genommen hat: oh welchen Durst erregen diese süssen Geistreichen selbst noch nach Asketen und Winterlandschaften! Nein! dies „beschauliche“ Volk mag sich der Teufel holen! Um wie viel lieber will ich noch mit jenen historischen Nihilisten durch die düstersten grauen kalten Nebel wandern!6

Um den hohen Preis dieses Heroismus weiß Nietzsche sehr wohl. So heißt es in einem seiner vielleicht berühmtesten Gedichte, Der Freigeist:

Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:  
Bald wird es schnei’n –
Wohl dem‚ der jetzt noch – Heimat hat!
Nun stehst du starr‚
Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt – entflohn?
Die Welt – ein Thor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer Das verlor‚
Was du verlorst‚ macht nirgends Halt.
Nun stehst du bleich‚
Zur Winter-Wanderschaft verflucht‚
Dem Rauche gleich‚
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg’‚ Vogel‚ schnarr’
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck’‚ du Narr‚
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n‚
Weh dem‚ der keine Heimat hat!7

So jedenfalls der erste Abschnitt des Poems. Doch Nietzsche fügt dem unmittelbar danach geradezu trotzig hinzu:

Daß Gott erbarm’!
Der meint‚ ich sehnte mich zurück
In’s deutsche Warm‚
In’s dumpfe deutsche Stuben-Glück!
Mein Freund‚ was hier
Mich hemmt und hält ist dein Verstand‚
Mitleid mit dir!
Mitleid mit deutschem Quer-Verstand! (Ebd.)

Es muss also immer weitergehen. Als einen solchen ewigen Wanderer malt sich Nietzsche auch seinen persönlichen Übermensch Zarathustra aus. Die erste Rede des dritten Buches ist mit Der Wanderer überschrieben und dort spricht der Prophet „zu seinem Herzen“ also: „Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger […], ich liebe die Ebenen nicht und es scheint, ich kann nicht lange still sitzen“8. Wanderung als ein Prozess der permanenten Überwindung immer neuer Gipfel, der letztendlich in der völligen Selbstüberwindung münden muss:

Du aber, oh Zarathustra, wolltest aller Dinge Grund schaun und Hintergrund: so musst du schon über dich selber steigen, – hinan, hinauf, bis du auch deine Sterne noch unter dir hast!
Ja! Hinab auf mich selber sehn und noch auf meine Sterne: das erst hiesse mir mein Gipfel, das blieb mir noch zurück als mein letzter Gipfel! (Ebd.)

Aber bedeutet das nicht, auch noch das Ideal des Wanderns selbst zu hinterfragen? Hebt sich die Wanderschaft auf ihrem höchsten „Gipfel“ dann selbst auf und gerät in eine Sackgasse? Der Mythos der „ewigen Wiederkunft“ soll’s am Ende des dritten Buches wohl richten, insofern sich hier der ewige Schweifende als ewig Schweifender selbst bejaht.

Doch auch danach bleiben noch Zweifel, ob diese Selbstbejahung wirklich bruchlos gelingen; anders ausgedrückt: der moderne Mensch sich mit seinem Schicksal wirklich aneignend identifizieren kann. Im vierten Buch stößt Zarathustra entsprechend wiederum auf seinen Schatten. Und der beklagt sein Los in ganz ähnlichen Worten wie Nietzsche in seinem unveröffentlichten Gedicht:

Ein Wanderer bin ich, der viel schon hinter deinen Fersen her gieng: immer unterwegs, aber ohne Ziel, auch ohne Heim: also dass mir wahrlich wenig zum ewigen Juden fehlt, es sei denn, dass ich nicht ewig, und auch nicht Jude bin.
Wie? Muss ich immerdar unterwegs sein? Von jedem Winde gewirbelt, unstät, fortgetrieben? Oh Erde, du wardst mir zu rund!
Auf jeder Oberfläche sass ich schon, gleich müdem Staube schlief ich ein auf Spiegeln und Fensterscheiben: Alles nimmt von mir, Nichts giebt, ich werde dünn, – fast gleiche ich einem Schatten.
Dir aber, oh Zarathustra, flog und zog ich am längsten nach, und, verbarg ich mich schon vor dir, so war ich doch dein bester Schatten: wo du nur gesessen hast, sass ich auch.
Mit dir bin ich in fernsten, kältesten Welten umgegangen, einem Gespenste gleich, das freiwillig über Winterdächer und Schnee läuft.
Mit dir strebte ich in jedes Verbotene, Schlimmste, Fernste: und wenn irgend Etwas an mir Tugend ist, so ist es, dass ich vor keinem Verbote Furcht hatte.
Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte, alle Grenzsteine und Bilder warf ich um, den gefährlichsten Wünschen lief ich nach, – wahrlich, über jedwedes Verbrechen lief ich einmal hinweg.
Mit dir verlernte ich den Glauben an Worte und Werthe und grosse Namen. Wenn der Teufel sich häutet, fällt da nicht auch sein Name ab? Der ist nämlich auch Haut. Der Teufel selber ist vielleicht – Haut.
„Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“: so sprach ich mir zu. In die kältesten Wasser stürzte ich mich, mit Kopf und Herzen. Ach, wie oft stand ich darob nackt als rother Krebs da!
Ach, wohin kam mir alles Gute und alle Scham und aller Glaube an die Guten! Ach, wohin ist jene verlogne Unschuld, die ich einst besass, die Unschuld der Guten und ihrer edlen Lügen!
Zu oft, wahrlich, folgte ich der Wahrheit dicht auf dem Fusse: da trat sie mir vor den Kopf. Manchmal meinte ich zu lügen, und siehe! da erst traf ich – die Wahrheit.
Zu Viel klärte sich mir auf: nun geht es mich Nichts mehr an. Nichts lebt mehr, das ich liebe, – wie sollte ich noch mich selber lieben?
„Leben, wie ich Lust habe, oder gar nicht leben“: so will ich’s, so will’s auch der Heiligste. Aber, wehe! wie habe ich noch – Lust?
Habe ich – noch ein Ziel? Einen Hafen, nach dem mein Segel läuft?
Einen guten Wind? Ach, nur wer weiss, wohin er fährt, weiss auch, welcher Wind gut und sein Fahrwind ist.
Was blieb mir noch zurück? Ein Herz müde und frech; ein unstäter Wille; Flatter-Flügel; ein zerbrochnes Rückgrat.
Diess Suchen nach meinem Heim: oh Zarathustra, weisst du wohl, diess Suchen war meine Heimsuchung, es frisst mich auf.
„Wo ist – mein Heim?“ Darnach frage und suche und suchte ich, das fand ich nicht. Oh ewiges Überall, oh ewiges Nirgendswo, oh ewiges – Umsonst!9

Was hat Zarathustra dieser Klage zu entgegnen? Gerät die permanente Wanderung aus sich selbst heraus zum permanenten Stillstehen, einfach, weil in ihr jede Bewegung bedeutungslos, gleich–gültig wird? Seine Antwort fällt überraschend defensiv aus:

Du bist mein Schatten! sagte er endlich, mit Traurigkeit.
Deine Gefahr ist keine kleine, du freier Geist und Wanderer! Du hast einen schlimmen Tag gehabt: sieh zu, dass dir nicht noch ein schlimmerer Abend kommt!
Solchen Unstäten, wie du, dünkt zuletzt auch ein Gefängniss selig. Sahst du je, wie eingefangne Verbrecher schlafen? Sie schlafen ruhig, sie geniessen ihre neue Sicherheit.
Hüte dich, dass dich nicht am Ende noch ein enger Glaube einfängt, ein harter, strenger Wahn! Dich nämlich verführt und versucht nunmehr Jegliches, das eng und fest ist.
Du hast das Ziel verloren: wehe, wie wirst du diesen Verlust verscherzen und verschmerzen? Damit – hast du auch den Weg verloren!
Du armer Schweifender, Schwärmender, du müder Schmetterling! willst du diesen Abend eine Rast und Heimstätte haben? So gehe hinauf zu meiner Höhle!
Dorthin führt der Weg zu meiner Höhle. Und jetzo will ich schnell wieder von dir davonlaufen. Schon liegt es wie ein Schatten auf mir.
Ich will allein laufen, dass es wieder hell um mich werde. Dazu muss ich noch lange lustig auf den Beinen sein. Des Abends aber wird bei mir – getanzt! (Ebd.)

Kann Zarathustra dem „Schatten“ überhaupt etwas erwidern?

Caspar David Friedrich: Frau am Meer (etwa 1818)

IV. Wandern als Tanzen

Kierkegaard wäre aus Nietzsches Sicht wohl einer jener abgefallenen Freigeister, die mutig aufbrachen, um die Höhen der Befreiung am Ende doch nicht auszuhalten und sich von einem „harte[n], strenge[n] Wahn“ einfangen lassen. Die Ziellosigkeit beschreibt er ebenso als Gefahr wie die Wahl eines beliebigen Zieles, weil man sie nicht mehr erträgt.

Kierkegaards Antwort wäre wohl: „Recht verstanden ist es ja nicht so, dass ich das Ziel – den Glauben – gewählt habe, sondern der Glaube hat mich gewählt und aus der Wüste, in die du geraten bist, herausgeführt hat. Gehe in dich, dann wirst du den Ruf auch in deinem Inneren vernehmen.“ Die Metaphorik des „Lebens“10 legt nahe, dass sich Nietzsche den Ausweg aus dem Nihilismus ähnlich vorstellt: Sich einem „etwas“ zu öffnen, das außerhalb der eigenen Subjektivität liegt und einem eine neue Orientierung gibt; dies hat bei ihm nur nichts mit der Hingabe an „Gott“ zu tun, sondern es geht ihm um die Öffnung gegenüber der Vielfalt des Lebens selbst, die zu immer neuen Zielsetzungen inspiriert. Man muss sich das, um im Bild zu bleiben, wohl so vorstellen, dass es darum ginge, sich die Marschroute immer wieder neu von der Umgebung selbst diktieren zu lassen. Es ist nur eine Frage der Perspektive: Man hat sich nicht verlaufen, man ist im Gegenteil schon immer angekommen.

Doch landet damit Nietzsche nicht selbst wieder bei einer Art von Glauben, vielleicht sogar beim abendländischen Gott, den er, nun seltsamerweise in abwertender Weise, als ewigen Wanderer beschreibt: „Inzwischen gieng er, ganz wie sein Volk selber, in die Fremde, auf Wanderschaft, er sass seitdem nirgendswo mehr still: bis er endlich überall heimisch wurde, der grosse Cosmopolit“11. Ist das nicht Nietzsches eigener Traum, ist sein Gott nicht eigentlich der „Gott aller dunklen Ecken und Stellen, aller ungesunden Quartiere der ganzen Welt“ (ebd.)?

Die Zweideutigkeit von Emphase der Wanderung und Zweifel gehört wohl ebenso zur Existenz des Wanderers wie sein Stab und sein Schuhwerk. Wir können Nietzsches Schriften beide Dimensionen entnehmen und fühlen uns wohl unweigerlich mal zu der einen, mal zu der anderen hingezogen – weil es die Zweideutigkeit unserer eigenen Existenz ist. Wir sollten es vermeiden, eine der beiden abspalten zu wollen – denn was wären wir ohne unsere Schatten?

Der Tanz, zu dem auch Zarathustra seinen Schatten auffordert, bezeichnet eine Existenz, die genau jene Ambivalenz „[z]wischen Heiligen und Huren, [z]wischen Gott und Welt“12 auf sich zu nehmen vermag. Interessanterweise bedient sich auch Kierkegaard dieser Metapher dann und wann, um eine solche gelungene Existenz in der Schwebe, auf „glatte[m] Eis“13 zu bezeichnen. Doch es ist eben, und auch hier sind sich beide Denker einig, ein Seiltanz, einer, der auch die Gefahr des Sturzes impliziert: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde“14. – Auf unterschiedliche Art und Weise verlieren beide Denker auf ihrer je eigenen Wanderung die Balance.

Metaphern der Bewegung, so ist jedenfalls zu resümieren, dienen seit jeher der Beschreibung von Grundmodi der Existenz. Im Sinne von Hans Blumenbergs Konzept der „absoluten Metapher“ verdichtet sich in ihnen das Lebensgefühl einer ganzen Kultur und anhand von ihnen lässt sich ablesen, was ihr Weltzugang ist.

Quellen

Kierkegaard, Søren: Der Begriff Angst. In: Der Begriff Angst / Vorworte. Gesammelte Werke und Tagebücher. 11. & 12. Abt. Übers. v. Emanuel Hirsch. Simmerath 2003, S. 1–169.

Ders.: Furcht und Zittern. Gesammelte Werke und Tagebücher. 4. Abt. Übers. v. Emanuel Hirsch. Simmerath 2004.

Artikelbild: Caspar David Friedrich: Das Eismeer (1823/24)

Quelle für alle verwendeten Bilder: Wikipedia

Fußnoten

1: Ecce homo, Warum ich so weise bin, 1.

2: Ecce homo, Menschliches, Allzumenschliches, 4.

3: Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede, 3.

4: Vgl. etwa Morgenröthe, Aph. 314.

5: Menschliches, Allzumenschliches II, Vermischte Meinungen und Sprüche, Aph. 21.

6: Zur Genealogie der Moral, III, 26.

7: Nachgelassene Fragmente 1884, Nr. 28[64].

8: Also sprach Zarathustra, Der Wanderer.

9: Also sprach Zarathustra, Der Schatten.

10: Vgl. etwa Also sprach Zarathustra, Das Tanzlied und Das andere Tanzlied.

11: Der Antichrist, 17.

12: Die fröhliche Wissenschaft, An den Mistral.

13: Die fröhliche Wissenschaft, Für Tänzer.

14: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 4. Zur (Seil-)Tanzmetapher bei Kierkegaard vgl. etwa Der Begriff Angst, S. 54 und Furcht und Zittern, S. 35.

Zwischen Ungeheuern und Abgründen

Wanderungen durch den Nihilismus der Moderne auf den Spuren Nietzsches und Kierkegaards – Teil 2

In diesem zweiteiligen Essay untersucht Paul Stephan, inwiefern bei Nietzsche der Wanderer als Personifikation des modernen Nihilismus dient. Nachdem er sich im ersten Teil (Link) vor allem mit der allgemeinen kulturellen Bedeutung von Bewegungsmetaphern und der Metapher des Wanderns bei Nietzsches wichtigem Bruder im Geiste, dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, beschäftigte, wird es nun vor allem um Nietzsche selbst gehen.

„Stirb zur rechten Zeit!“

Nietzsches Ethik des „freien Todes“ im Kontext gegenwärtiger Debatten über den Suizid. Ein Gespräch mit der Filmemacherin Lou Wildemann

„Stirb zur rechten Zeit!“

Nietzsches Ethik des „freien Todes“ im Kontext gegenwärtiger Debatten über den Suizid

Ein Gespräch mit der Filmemacherin Lou Wildemann

14.5.25
Lou Wildemann & Paul Stephan

Lou Wildemann ist Kulturwissenschaftlerin und Filmemacherin aus Leipzig. Ihr aktuelles Spielfilmprojekt, MALA, beschäftigt sich mit dem Suizid einer jungen Bewohnerin der Nietzsche-Stadt. Paul Stephan diskutierte mit ihr über dieses provokante Vorhaben und das Thema der Selbsttötung im Allgemeinen: Wieso ist es bis heute ein Tabu? Sollten wir mehr darüber sprechen? Welche Rolle können die Reflexionen Nietzsches, der immer wieder über dieses Thema nachdachte, dabei spielen? Was bedeutet der Suizid in einer immer gewaltvoller werdenden neoliberalen Gesellschaft?

Lou Wildemann ist Kulturwissenschaftlerin und Filmemacherin aus Leipzig. Ihr aktuelles Spielfilmprojekt, MALA, beschäftigt sich mit dem Suizid einer jungen Bewohnerin der Nietzsche-Stadt. Paul Stephan diskutierte mit ihr über dieses provokante Vorhaben und das Thema der Selbsttötung im Allgemeinen: Wieso ist es bis heute ein Tabu? Sollten wir mehr darüber sprechen? Welche Rolle können die Reflexionen Nietzsches, der immer wieder über dieses Thema nachdachte, dabei spielen? Was bedeutet der Suizid in einer immer gewaltvoller werdenden neoliberalen Gesellschaft?
„Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm kommt man gut über manche böse Nacht hinweg.“
(Jenseits von Gut und Böse, Aph. 157)

Die „Sterbemaschine“ Sarco, erfunden von Philip Nitschke. Foto: Ratel (Link)

I. Assistierter Suizid und „Sterbetourismus“

Paul Stephan: Liebe Lou, vielen Dank, dass du dich zu diesem Gespräch bereiterklärt hast, zu diesem doch recht diffizilen und polarisierenden Thema Suizid1. – Dass dieses Thema so stark polarisiert, kann man ja zum Beispiel an den jüngsten Debatten um die vom australischen Arzt und Sterbehilfeaktivisten Philip Nitzschke – „Nomen est omen“, möchte man fast sagen – entwickelte „Sterbekapsel“ bzw. „Sterbemaschine“ Sarco sehen. Nitschke, auch als „Elon Musk des assistierten Suizids“2 bezeichnet, wirbt mit einem schnellen, unkomplizierten Tod durch Ersticken in einer mich persönlich ein wenig an einen Staubsauger erinnernden Plastikkapsel. Obwohl in der Schweiz die Beihilfe zum Suizid prinzipiell nicht verboten ist, sorgte der erstmalige Einsatz dieser Gerätschaft vor wenigen Monaten doch für einige Empörung. Die Staatsanwaltschaft ermittelt; bislang ohne Ergebnis. Was meinst du, warum ausgerechnet diese Erfindung so besonders vehemente Reaktionen hervorrief?

Lou Wildemann: Ich bin keine Expertin für assistierten Suizid. Auch juristisch kann ich diesen Fall überhaupt nicht beurteilen. Warum das so eine Empörung hervorruft, hat möglicherweise mit dem Aussehen dieses Gerätes zu tun und mit der Tatsache, dass man da im wahrsten Sinne abgekapselt ist und somit sehr isoliert. Man trifft zwar eine mündige Entscheidung, aber auf diese Weise hat die ganze Prozedur fast schon etwas Außerirdisches.

Viel entscheidender sind aber meiner Meinung nach die unzähligen ethischen Fragen, die damit einhergehen. Auf die habe auch ich keine abschließenden Antworten, aber mir ist die Debatte sehr wichtig. Denn das ist eine sehr technisierte Form von Suizid ist und eine Form, die Suizid möglicherweise verwertbar macht, kapitalisiert, monetarisiert. Das ist in einer derart auf Profit ausgelegten Gesellschaft, wie wir sie sind und wie sie es vermutlich noch viel stärker sein wird, ein potentielles Einfallstor für die Frage: Wem wird Suizid, im schlimmsten Fall, irgendwann einmal nahegelegt, weil man nicht mehr verwertbar ist – aus Alters-, Krankheits- oder sonstigen Gründen? Das ist ein Zustand, den wir nicht haben wollen sollten. Aber ja, das ist extrem komplex und mir fällt es schwer, mich auf irgendeine Seite zu stellen. Ich möchte den Leuten, die das für sich in Anspruch nehmen wollen, Betroffenen, die Ernsthaftigkeit ihrer Entscheidung überhaupt nicht absprechen. Zugleich ist die Technisierung eines so existentiellen Schrittes zumindest fragwürdig.

PS: Ich könnte mir auch vorstellen, dass diese Art des Suizids den Leuten sozusagen ein bisschen „zu trivial“ ist. Wobei man diese ganze Angelegenheit auch als eine Art von Kenntlichmachen sehen kann. Was ich zum Beispiel bemerkenswert fand, es wurde davon gesprochen, dass diese Methode sehr „künstlich“3 sei. Diese Wortwahl wirft natürlich die Frage auf, warum denn andere Methoden „weniger künstlich“ sein sollen. Also mir kommt die große Empörung, die sich auf diesen einen Einzelfall bezieht, schon ein wenig übertrieben vor.

LW: Ja, der Begriff der „Künstlichkeit“ ist in dem Zusammenhang natürlich interessant und wahrscheinlich ist damit eher „technisiert“ gemeint. Und das verstehe ich beim Anblick dieser Kapsel. Ob das jetzt „schlimmer“ oder „weniger schlimm“ ist als eine Pille zu nehmen oder sich für eine andere Methode zu entscheiden, möchte ich nicht bewerten. Interessanter finde ich wirklich die Frage nach der Verwertbarmachung. Es scheint ja einen Bedarf zu geben, den ein Markt erkennt und da offenbar rein will. Dass es den Bedarf gibt, hat möglicherweise auch mit der Tabuisierung des Themas als solchem zu tun. Ich frage mich, ob, wenn Suizid weniger oder gar nicht tabuisiert wäre, es dann solche Auswüchse gäbe. Ich weiß das nicht, aber ich finde es interessant, darüber nachzudenken, ob die, wie du sagtest, „Kenntlichmachung“ eigentlich auf ein anderes Problem hindeutet.

PS: Dass ein großer Markt offensichtlich vorhanden ist, kann man auf jeden Fall auch daran sehen – was im Kontext der Debatte um die „Sterbekapsel“ auch diskutiert worden ist –, dass es in die Schweiz mittlerweile einen durchaus erheblichen „Sterbetourismus“, wie man sagt, gibt. Die Gesetzgebung der Schweiz ermöglicht es nämlich nicht nur Schweizer Staatsbürgern, sich beim Suizid assistieren zu lassen, sondern auch Menschen aus anderen Ländern. Zuletzt machten von dieser Möglichkeit 1.700 in der Schweiz wohnhafte und 500 aus diesem Grund angereiste Personen aus dem Ausland pro Jahr Gebrauch.4 Das ist schon viel. Es gibt in der Schweiz nur eine wirklich substantielle Einschränkung, nämlich, dass die Beihilfe zum Suizid nicht „aus selbstsüchtigen Beweggründen“5 geschehen darf.

LW: Was sind „selbstsüchtige Beweggründe“?

PS: Ja das ist halt die Frage, ob es schon als „selbstsüchtig“ bewertet wird, wenn man dafür überhaupt Geld haben möchte oder ob das Kriterium strenger ist. Das scheint mir allein auf Grundlage des Gesetzestextes nicht unbedingt selbsterklärend zu sein.

LW: Ah, „selbstsüchtig“ – meint hier nicht etwa den Betroffenen selbst, der sich suizidiert?

PS: Nein, die Person, die assistiert, darf nicht aus selbstsüchtigen Motiven handeln, das ist sehr eindeutig formuliert im entsprechenden Paragraphen. Bei der „Sterbekapsel“ ist es entsprechend auch so, dass ihre Betreiber im Augenblick kein Geld für ihre Benutzung verlangen bzw. nur die Kosten für das Gas, den Stickstoff, den sie verwenden, erstattet bekommen wollen. Aber ich gebe dir schon Recht, dass diese „Kapsel“ schon allein durch ihr Aussehen nicht zu Unrecht den Eindruck erweckt, dass daraus ein Geschäftsmodell werden könnte. Und genau das wirft natürlich sehr, sehr große Fragen auf: Werden solche Angebote dann irgendwann beworben werden? Wird’s dann irgendwann den „Luxussuizid für Reiche“ geben? Und viele mehr.

LW: Interessant ist auch, ob in der Schweiz die allgemeinen Suizidzahlen, also diejenigen, die nicht assistiert sind, die im Stillen, im Verborgenen passieren, ob die gesunken sind – oder ob durch dieses Angebot die Zahlen eher steigen. Das ist ja eine Kritik, die oft geäußert wird. Diesbezüglich bin ich mir aber nicht sicher.6 Nur weil etwas möglich ist, muss das nicht bedeuten, dass es auch in Anspruch genommen wird. Aber es scheint eine allgemeine Sorge zu geben, dass Suizid geradezu „ansteckend“ sei und Menschen durch diese Möglichkeit oder den Diskurs darum erst auf die Idee gebracht werden. Das kann man aber durchaus hinterfragen. Ich denke, entweder man ist suizidal, oder nicht – aber auch das ist ein heikles Feld.

PS: Genau, du sprichst einen wichtigen Grund an, warum dieses Thema so tabuisiert ist. Ich habe zur Vorbereitung auf dieses Gespräch verschiedene Artikel zu diesem Thema auf philosophischen Internetseiten und dergleichen gelesen und man findet eigentlich keinen Text, wo nicht zumindest am Rand der große Hinweis steht: „Wenn Sie darüber nachdenken, sich umzubringen, suchen Sie sich Hilfe“, und es wird die Telefonnummer einer psychologischen Beratungsstelle angegeben. Kommt dir diese Vorsicht übertrieben vor? Oder findest du, dass solche Hinweise auch hilfreich sein können?

LW: Ja, das ist das nächste große Fass … Da denke ich auch sofort an die „Triggerwarnungen“ und daran, wie inflationär diese derzeit verwendet werden und ob sie dann eigentlich noch das tun, was sie sollen. Da gibt es mit Sicherheit ein breites Spektrum von sehr aufrichtig gemeinten Hilfsangeboten, aber zugleich eben auch eine Art Etikette, der vorauseilend gefolgt wird und solche Artikel oder auch Kunst, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen, mit Triggerwarnungen oder derlei Hinweisen versieht. Ob das irgendwem wirklich hilft oder am Problem selbst etwas ändert, weiß ich nicht, aber zumindest sehe ich diesen Trend der Triggerwarnungen kritisch. Das scheint inzwischen eine Art Standard geworden zu sein, der sich reproduziert. Ich frage mich manchmal, auf welchen Zugang zur Welt da draußen das hindeutet – vor der wir ja auch nicht gewarnt werden. Aber ja, immer wieder klarzumachen, dass es Hilfsangebote gibt, ist mit Sicherheit kein Fehler. Mir ist das Hilfsangebot lieber, als die Triggerwarnung – sagen wir so.

Still aus dem Teaser zu MALA (2025) (Copyright: Oma Inge Film)

II. MALA – ein Film über den Suizid einer jungen Frau

PS: Wir sitzen hier ja heute vor allem aus dem Grund zusammen, weil du einen Film zu diesem tabuisierten Thema machst – und zwar genau mit dem Anspruch, wenn ich dich richtig verstehe, da genau den Finger auf die Wunde zu legen und das Thema Suizid in durchaus provokanter Weise auf die Leinwand zu bringen. Kann man das so sagen? Ich gehe nach allem, was du bisher gesagt hast, davon aus, dass du deinem Film keine Triggerwarnung voranstellen wirst?

LW: Also erstmal zu meinen Beweggründen, das zu machen. Mein Motiv, diesen Film zu machen, ist nicht zu provozieren oder irgendeinen gesellschaftlichen Impact auszulösen. Mein Motiv ist, ein ganz spezifisches Gefühl zu beschreiben und in eine filmische Form zu bringen. Was ich damit meine, ist die Gleichzeitigkeit eines sehr stark scheinenden Äußeren und eines hoffnungslosen Inneren und einer sehr einsamen Entscheidung, die gefallen ist, bevor der Film überhaupt beginnt. Der Film zeigt nur die letzten wenigen Tage des Lebens einer jungen Frau – nach vielen Jahren des sich Quälens und Abwägens; der Erfahrung, immer wieder an denselben Punkt zu kommen und immer wieder an der eigenen Vergeblichkeit zu scheitern. Ihre Entscheidung steht und wir sehen sie nur noch wenige letzte Vorbereitungen treffen. Sie räumt im wahrsten Sinne des Wortes auf. Das alles tut sie aber, während sie Freunde trifft, ihren Job macht, sehr viel unterwegs ist, und von außen als eine toughe, starke Person gelesen wird. Darum geht es mir: zu zeigen, dass man eigentlich gerade bei scheinbar belastbaren, starken Personen besonders gut hingucken müsste. Weil das genau diejenigen sind, die über ihr eigenes Image stolpern, weil sie es für völlig unmöglich halten, darüber zu reden, wie es ihnen wirklich geht. Die meinen, alles mit sich selbst ausmachen zu müssen, und dann eine sehr einsame Entscheidung treffen. Ihr Umfeld ist dann völlig vor den Kopf gestoßen, weil es das nicht hat kommen sehen. Diese Fälle gibt es zuhauf. Das berichten Angehörige immer wieder, dass sie das gerade bei ihm oder ihr „niemals gedacht hätten“. Darum geht es mir also, das ist mein Motiv: Ein Gefühl zu beschreiben, aus der Perspektive der suizidalen Person, das in dieser Intensität nur Wenige kennen oder sich nur sehr schwer hineinversetzen können. Im Grunde geht es darum, wie es sich anfühlt, wenn man zwar noch teilnimmt am Leben, aber eigentlich abgeschlossen hat. Das ist meine Motivation, das zu machen. Wenn das dazu führt, dass sich Menschen durch diese ehrliche Darstellung provoziert fühlen, ist das nicht mein Ziel. Aber wenn es bewirkt, dass nur eine Person diesen Zustand ein bisschen besser nachvollziehen und dadurch möglicherweise aufmerksamer auf die Menschen um sich herum schauen kann, dann ist es gut. Mich bewegen vor allem persönliche, intrinsische Motive. Provokation und überhaupt eine mögliche Rezeption haben beim Schreiben des Drehbuchs keine Rolle gespielt.

Still aus dem Teaser zu MALA (2025) (Copyright: Oma Inge Film)

PS: Zu betonen ist an dieser Stelle, dass der Film ja noch nicht vorliegt. Ihr seid gerade in der Vorbereitungsphase, oder?

LW: Ja, wir sind in der Vorbereitungs- und Finanzierungsphase. Die geht auch schon sehr lange und gestaltet sich sehr, sehr holprig und schwierig. Denn in Deutschland gibt es ein öffentliches Filmfördersystem und man braucht, auch wenn man einen Kinofilm macht, einen öffentlich-rechtlichen Sender, der sich daran beteiligt und den Film später auswertet, nachdem er im Kino lief. Hierfür einen Partner zu finden, der dieses Thema unterstützt, ist schwer und scheitert bisher immer wieder an der Sorge vor Verantwortung. Da werden Dinge vorgebracht wie „Werther-Effekt“ – also Angst vor Nachahmung. Da wurde mir nahegelegt, ich solle doch das Ende nochmal umschreiben, und ob man nicht dasselbe erzählen könne, ohne dass sie sich letztlich suizidiert. Also es gibt auch den starken Wunsch nach einem Happy End, ganz offensichtlich. Das hat alles dazu geführt, dass wir entschieden haben: Okay, wir müssen das jetzt auf eigene Faust finanzieren. Denn wir wollen die Geschichte nicht verändern. Und wenn das in diesem System nicht funktioniert, dann müssen wir das independent machen. Wir tun gerade alles dafür, im Sommer zu drehen, ab August.

PS: Genau, und ihr habt eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, die im Augenblick auch noch läuft (Link). Also wenn man jetzt diesen Film, dieses Projekt unterstützen mag, kann man das gerne noch tun. Wie läuft die Kampagne bislang?

LW: In Wellen. Es gibt immer wieder Tage, an denen es sprungartig ansteigt und dann stagniert es wieder. Das ist unterschiedlich. Aber wir bleiben optimistisch.

PS: Ja, das ist wichtig.

LW: Und das Schöne ist, es gibt Angehörigenverbände und die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention, die das Drehbuch gelesen haben und die uns da sehr drin unterstützen und das aus Präventionssicht sogar für ein wertvolles Projekt halten – gerade, weil es so schonungslos zeigt, wie es einer solchen Person gehen kann. Und das ist sowieso eine interessante Beobachtung: Ich arbeite jetzt seit sechs Jahren an diesem Projekt und was ich immer wieder feststelle, ist, dass Menschen, die sich wirklich dezidiert mit dem Thema beschäftigen, da gar nicht so eine Berührungsangst haben wie Leute, die sich damit noch nicht befasst haben. Da ist die Scheu deutlich größer.  Betroffene, Angehörige und Fachleute sind eher dafür, dass eine größere Offenheit entsteht. Denn das Tabu ist noch immer vorhanden.

Still aus dem Teaser zu MALA (2025) (Copyright: Oma Inge Film)

PS: Ja, auf jeden Fall. Du hast ja selbst vom berühmtesten Beispiel für die vermeintliche „Ansteckungsgefahr“ des Suizids gesprochen, dieser Erzählung, dass sich in den 1770er Jahren ganz viele jungen Menschen, die Goethes Werther gelesen haben, das Leben genommen haben. Stimmt das eigentlich überhaupt so, wie man es sich erzählt? Hast du dich damit mal beschäftigt? Und hast du nicht doch die Befürchtung, dass es jemanden geben könnte, der sich durch deinen Film in der Entscheidung, sich umzubringen, bestärkt fühlt, sich diese junge Frau in irgendeiner Form als Vorbild nehmen könnte?  

LW: Also meines Wissens nach ist der sogenannte „Werther-Effekt“ nicht unumstritten. Das ist das eine. Und das andere ist: Ich kann die Sorge vor Nachahmung verstehen, die ist ernst zu nehmen. Gleichzeitig weiß ich, dass mein Drehbuch und die Art und Weise, wie ich den Film erzählen will, Suizid nicht verherrlichen, das ist auch nicht mein Ansatz. Aber ich werde ihn auch nicht moralisch verurteilen. Ich zeige eine individuelle Geschichte einer Person. Und die Geschichte endet… bitter. Für alle Beteiligten ist es bitter, keiner hat so richtig gewonnen. Es hat auch niemand Schuld. Aber Mila, die Hauptfigur, hat aus ihrer Sicht auch keinen Fehler gemacht. Ich bin generell der Überzeugung, dass man ein Publikum nie unterschätzen sollte und dass Leute für sich das mitnehmen werden, was sie mitnehmen wollen. Ich glaube, intendierte Happy Ends, denen man anmerkt, dass sie gerade versuchen eine moralische Botschaft mitzugeben, sind für Betroffene deutlich schlimmer, weil sie sich dann wieder nicht gesehen und nochmal einsamer in ihrem Gefühl oder in ihrem Zustand begreifen, weil ihnen jemand zeigt: Ach, guck mal, und am Ende wird doch alles gut. Das kann die Lage sogar verschlimmern. Die Sehnsucht nach Happy Ends kommt meiner Erfahrung nach eher von denen, die nicht betroffen sind.  

Fakt ist doch: In Deutschland suizidieren sich über 10.100 Leute jedes Jahr. Das heißt, jede Stunde mindestens ein Mensch. Also, während wir hier sprechen, einer oder eine. Und wenn wir danach noch einen Kaffee trinken, noch einer oder eine. Das sind erstmal die Tatsachen. Diese Fälle gibt es und sie gibt es trotz des Tabus. Und das spricht für mich dafür, dass das Nicht-darüber-Reden nicht präventiv wirkt. Ganz offensichtlich nicht. Und deswegen halte ich diese Sorge der Nachahmung, von der wir sprachen, für nicht richtig und finde es auch interessant, auch philosophisch, sich zu fragen, wo diese gesellschaftliche Tabuisierung herrührt. Was hat sie mit religiösem Erbe zu tun, was hat sie auch mit einer Verwertungslogik, auch mit Macht zu tun? Wir alle sollen ja immer weitermachen, wir sollen ja Teil des Systems bleiben, wir sollen uns irgendwie wieder hinkriegen, uns Hilfe holen, uns einen Coach nehmen, Psychopharmaka nehmen – Hauptsache, es ist irgendwie wieder gut am Ende. Wenn man so darauf blickt, ist Suizid natürlich eine Verweigerung. Er ist – vermeintlich – nicht verwertbar und ein Ausstieg aus dem Ganzen. Und ist schon deshalb nicht gewollt. Und während ich das so sage, klingt das, als würde ich eine Brandrede für Suizid halten – das will ich gar nicht. Aber ich finde schon interessant, warum ein so stark verbreitetes Problem – es sind unheimlich viele: mehr als im Straßenverkehr, durch Gewalt und durch Drogen zusammen, jedes Jahr – so unbekannt ist. Kaum jemand weiß das. Fast niemand, mit dem ich über dieses Thema rede, kennt diese Zahlen. Warum ist das so? Warum machen wir so einen Bogen darum? Das kann nicht richtig sein. Und das scheint eben nicht präventiv zu wirken, sonst wären die Zahlen nicht so hoch.

Jacques-Louis David: Der Tod des Sokrates (1787) (Link)

III. Zur Philosophie des Suizids

PS: Dem kann ich auf jeden Fall folgen. Und du sprichst da auch gerade eine wichtige Facette an. Genau, der Suizid ist ja schon seit vielen Jahrhunderten, ja sogar Jahrtausenden, ein wichtiges Thema in der Philosophie, über das viel geschrieben worden ist. Was man auf jeden Fall sehr grob sagen kann und was auch von Nietzsche oft thematisiert wird, ist, dass es da einen sehr großen Gegensatz zwischen der vorchristlichen, also der antiken, Sicht und dann der christlichen Sicht gibt. Also, in der Antike war es so, dass es dieses Tabu bezüglich des Suizids eigentlich noch gar nicht gab. Es war im Gegenteil so, dass man durchaus der Auffassung war, dass es unter bestimmten Umständen geboten sein könnte, sich das Leben zu nehmen, um einer Entehrung zu entgehen. Es war eben wichtiger, einen ehrenvollen Tod zu sterben, als irgendwie am Leben zu bleiben, aber unter Umständen leben zu müssen, die als vollkommen unerträglich empfunden worden wären. Man kennt ja zum Beispiel den Suizid von Sokrates: Er ist zum Tode verurteilt worden und sieht sich nun vor die Wahl gestellt, zu fliehen und ins Exil zu gehen oder aber das Todesurteil an sich selbst durch das Trinken eines Giftbechers zu vollziehen. Zum Entsetzen all seiner Freunde, die ihm sehr zureden, dass er doch die erste Option wählen soll, trinkt er eben den Giftbecher genau aus dem Grund, dass er sagt: Naja, ich bin doch von der Stadt mein ganzes Leben lang ernährt worden, meine ganze Identität hängt daran, dass ich eben Bürger dieser Stadt bin, da kann ich doch jetzt nicht weglaufen, wenn die Stadt anderer Meinung ist als ich. Ein weiteres, weniger bekanntes, Beispiel ist der Philosoph Empedokles, der sich der Legende nach in einen Vulkan gestürzt haben soll. – Also ja, das große Tabu ist eigentlich erst durch das Christentum in die Welt gebracht worden. Wie nimmst du es wahr: Würdest du auch sagen, dass unsere Kultur da bis heute noch sehr stark vom Christentum geprägt ist, oder würdest du andere Motive für ausschlaggebender halten?

LW: Ja, ich denke, dass das noch sehr tief greift, die religiöse Idee der Ursünde, die man zu ertragen hat. Und wenn man Buße tut, sich an Gebote hält und so weiter, dann winkt irgendwann das Paradies. In so einem Kontext ist der selbst gewählte Tod natürlich undenkbar. Ich denke schon, dass das noch sehr weitreichende Auswirkungen hat. Und hinzu kommt sicherlich, dass in unserer westlichen Lebensweise, diesem neoliberalen System, es für jedes Problem auch eine Lösung geben soll und eine Form des Funktionierens und Sich-Optimierens. Das macht es schwer für Menschen, die immer wieder an den Punkt geraten, darin eben nicht zu funktionieren. Und die auch mit allen möglichen Hilfsmitteln nicht funktionieren und daran dann kaputt gehen. Ich denke, die Religion, die Idee des Freitods als Sünde, hat einen erheblichen Teil dazu beigetragen, wie wenig wir heute darüber sprechen. Wie schambehaftet das noch immer ist. Die Rezeption von Gewalt gegen sich selbst und Gewalt gegen andere ist generell erstaunlich unterschiedlich. Gewalt gegen Andere, Machtausübung über Andere, ist derart akzeptiert – und auch medial und in der Kunst völlig normalisiert – aber Gewalt gegen sich selbst ist ein Tabu. Das ist doch sehr erstaunlich.

PS: Schön, du bringt uns jetzt eigentlich von selbst genau an den Punkt, auch über Nietzsche zu sprechen, der, wie, wie ich denke, hinreichend bekannt ist, in dieser Hinsicht, wie in vielen anderen Hinsichten auch, sehr stark versucht, an diese vormoderne Sichtweise anzuknüpfen. Er spricht an verschiedenen Stellen in seinem Werk vom „freien Tod“. Im Zarathustra heißt es zum Beispiel: „[S]tirb zu rechten Zeit!“7. Man soll also auch noch den Tod nicht dem Zufall überlassen, man soll den Zeitpunkt, zu dem man stirbt, selbst bestimmen und man soll ihn so wählen, dass man im Zweifelsfall nicht entehrt wird, also nicht ein Dasein fristen muss, das man nicht verantworten kann bzw. das nicht mehr mit seinem Selbstverständnis vereinbar ist.8 Da grenzt sich Nietzsche natürlich sehr stark vom Christentum, aber auch vom philosophischen Mainstream eigentlich, seiner Zeit ab. Sowohl bei Schopenhauer, der ja sein wichtigster philosophischer Lehrmeister gewesen ist, als auch bei Kant und Hegel, findet man sehr klare und sehr deutliche Verurteilungen des Suizids und Nietzsche versucht das eben umzuwerten.

LW: Was für Verurteilungen?

PS: Aus sehr unterschiedlichen Gründen. Bei Schopenhauer würde man ja auf den ersten Blick denken, dass er den Suizid befürworten würde.

LW: Das hätte ich jetzt auch vermutet.

PS: Ja, es gibt auch einen sehr interessanten Philosophen, den man in dieser Hinsicht nicht unerwähnt lassen sollte, der auch von Nietzsche gelesen worden ist: Philipp Mainländer, der in seinem Hauptwerk – so viel ich weiß auch sein einziges Werk – mit dem Titel Philosophie der Erlösung den Suizid ausgehend von ähnlichen Prämissen wie Schopenhauer geradezu zur Pflicht erklärt. Man soll sich umbringen, um den furchtbaren Willen zum Leben zum Erlöschen zu bringen – und er hat sich auch kurz nach der Vollendung dieses Buches das Leben genommen. Aber Schopenhauer selbst schreibt, dass der Suizid quasi eine unvollkommene Art ist, sich aus dem Leben zu „schleichen“, da die Motive dazu, sich umzubringen, eigentlich noch dem Willen zum Leben entsprechen; also er sieht da eine gewisse Selbstwidersprüchlichkeit des „Selbstmörders“.

LW: Weil das Leiden am Leben noch einen Willen bedeutet?

PS: Genau, also die konsequente Willensverneinung ist für ihn nur die Askese, die auch noch den Schmerz und das Leid auf sich nimmt.

LW: Was würde Nietzsche dem entgegnen?

PS: Ich habe tatsächlich keine Stelle gefunden, wo er sich explizit mit dieser Suizidkritik von Schopenhauer beschäftigt.9 Seine Kritik liegt eigentlich auf einer sehr grundsätzlichen Ebene, weil Nietzsche sagen würde, dass man gar nicht anders kann, als den Willen zum Leben zu bejahen: Auch noch der Schopenhauer’sche Asket ist eigentlich noch jemand, der das Leben bejaht im Innersten, und aus dem Grund funktioniert der Maßstab der Kritik von Schopenhauer für Nietzsche gar nicht mehr.10 Kannst du mir folgen?

LW: Ja, das ist glaube ich der Grund, warum es eine gewisse Sprachlosigkeit zwischen Betroffenen und Nichtbetroffenen gibt. Aus einer lebensbejahenden Perspektive ist das schlicht nicht nachvollziehbar.

PS: Wobei für Nietzsche ja der freie Tod des „Herrenmenschen“ gerade ein Ausdruck von Lebensbejahung wäre, gerade keine Verneinung, weil eine heroische, selbstbestimmte Art zu leben einem bloßen Dahinvegetieren oder einem fremdbestimmten Dasein vorgezogen wird.

LW: Das klingt nach einem sehr rationalen Zugang, da scheint es weniger um das Leiden zu gehen.

PS: Ja, genau. Was jetzt aber spannend ist, ist, dass es in den Gedanken von Nietzsche zu dem Thema noch einen weiteren Aspekt gibt. Er würde nämlich eigentlich sagen, dass die gesamte christliche Kultur, also eigentlich die Kultur bis heute, durch den Grundwiderspruch gekennzeichnet ist, dass sie auf der einen Seite sehr lebensverneinend ist,11 es aber auf der anderen Seite genau verbietet, diesen freien Tod zu wählen. An manchen Stellen geht er sogar so weit zu sagen, dass sich die große Mehrzahl der Menschen eigentlich umbringen müsste, sie werden von der christlichen Moral aber abgehalten und quasi künstlich am Leben erhalten.12 Was sagst du zu dieser ja doch recht provokanten Sicht?

LW: Ich muss da an Roberto Espositos Immunitas denken. Er sagt dort: In der Theologie, auch im Recht, und auch auf anderen Ebenen, gibt es dieses Bild der Immunisierung, einer vermeintlichen Immunisierung. Man setzt etwas bewusst ein, im Fall der Religion eine immanente Sündhaftigkeit, die man dem Menschen zuschreibt – um ihn dann durch Regeln und Zwang vor der Sünde zu schützen. Durch Gewalt also, die sich so permanent reproduziert. Aus Machtsicht, aus religiöser Sicht, wird behauptet, dass es nötig sei, mit Normen und Regeln gegen den menschlichen Mangel, die Sünde, anzugehen – eigentlich werden die Menschen aber erst sündig gemacht durch ein Regelwerk, das kein Mensch je vollständig befolgen könnte. Die Gewalt oder Macht setzt den Mangel – das negative Menschenbild – bewusst ein, um ihre Machtposition zu untermauern. Das klang gerade bei mir an, als du von Nietzsche sprachst. Ich finde das sehr nachvollziehbar. Da steckt eine große Unfreiheit drin.

Esposito sagt auch, da schneidet man dem Leben eigentlich ein Stück Lebendigkeit ab. Ein Widerspruch, der schwer zu erkennen ist, wenn man sich den Luxus der Distanz nicht leisten kann. Das passiert permanent, wird geradezu institutionalisiert und gleichzeitig ist aber, wie gesagt, Gewalt gegen sich selbst so ein Tabu. Dieses Paradox interessiert mich wahnsinnig. Gerade in so einer zunehmend individualisierten Welt; den Verhältnissen, in denen wir leben; der Art und Weise, wie wir wirtschaften; wie wir miteinander umgehen; wie wir kommunizieren; welche Technologien wir nutzen und so weiter: Wir beschneiden uns permanent in unserer Lebendigkeit und das scheint okay. Aber wenn jemand sein Leben beendet, dann ist das ein Problem.

PS: Man könnte sogar mit Nietzsche, der genau das schreibt,13 durchaus die Frage aufwerfen, wenn zum Beispiel Soldaten in den Krieg ziehen oder auch sich irgendwelche Märtyrer für ihren Glauben opfern, ob das nicht auch Formen des Suizids sind de facto, die aber nicht als solche geframt werden und als vollkommen okay gelten. Wenn sich die Menschen für irgendwelche von der Gesellschaft gesetzten Ideen aufopfern, dann ist das völlig in Ordnung oder wird sogar gefeiert, aber sobald sie sich genau dem durch Suizid entziehen wollen, ist es plötzlich furchtbar schlimm und die größte Sünde, die man sich überhaupt denken kann.

LW: Und sie soll keine Schule machen! Ich habe ja auch als Journalistin gearbeitet, einige Jahre. Da ist auch der Pressekodex interessant, über Suizid nicht zu berichten – außer, es ist eine sehr prominente Person, dann gilt das komischerweise nicht. Wir berichten über den Massenunfall auf der Autobahn und den Brand, bei dem Menschen umkommen. Über alle möglichen Formen von Gewalt, Kriminalität, über Kriegsopfer. Beim Thema Suizid ist die Begründung darüber nicht zu berichten der Schutz der Angehörigen – der uns in all den anderen Fällen nicht interessiert. Da habe ich immer wieder Fragezeichen, warum das so sein soll.

Louis Mayer: Der Philosoph Empedokles in der Nähe der Gipfel des Ätna (1778) (Link)

PS: Ich möchte, wenn wir langsam zum Ende dieses Gesprächs kommen, auf zwei Probleme hinweisen, die auch Nietzsche betreffen. Ich habe ja davon gesprochen, dass er an verschiedenen Stellen den Begriff vom „freien Tod“ so hochhält. Es gibt so eine Stelle aus dem Spätwerk, wo er in diesem Zuge auch den, vielleicht berüchtigten, Satz fallen lässt: „Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft.“14 Dieser Satz entbehrt vor dem Hintergrund, dass Nietzsche nur kurze Zeit später ja selbst zu einem solchen „Parasiten“ wird, natürlich nicht einer gewissen Ironie. Aber was er an dieser Stelle dann schon schreibt, ist genau, dass, wenn man in Gefahr läuft, zu einem „Parasiten“ zu werden, eben durchaus die Pflicht hat, sich umzubringen und sogar die Ärzte sollen einen dann auch quasi dazu bringen, um diesen Schaden von der Gesellschaft abzuwenden. Ist das nicht auch eine große Gefahr an diesem ganzen Diskurs über Sterbehilfe, dass diese Debatte sehr leicht in eine ganz schräge und fragwürdige, durchaus auch neoliberale, Richtung kippen könnte?

LW: Absolut ja, deswegen habe ich das ja am Anfang schon kurz erwähnt. Das Problem, dass eine Art Gewöhnung an diese Möglichkeit besteht, die sich dann Schritt für Schritt, im schlimmsten Fall, zu einer Empfehlung oder Nahelegung, dass es doch jetzt mal so weit sei, weil man keinen Beitrag mehr zur Gesellschaft leistet, entwickeln kann. Weil man nicht funktional ist, aus diversesten Gründen. Das ist eine enorme Gefahr. Von der Frage, in wessen Händen oder Ideologien solche Entwicklungen zur Waffe werden können, ganz zu schweigen. Aber selbst gesetzt den Fall, die politischen Zustände blieben ungefähr, wie sie sind, selbst dann ist der Einfluss eines möglichen Marktes absolut kritisch zu sehen in dem Bereich.

PS: Das bringt mich auf eine Folgefrage. Nietzsche hat diesen ganz starken Begriff vom freien, selbstbestimmten Tod. Aber wo und wie kann man da eigentlich genau die Grenze ziehen? Ist es wirklich möglich, vollkommen selbstbestimmt zu sterben? Oder gibt es nicht doch immer irgendwelche gesellschaftlichen Faktoren, die einen doch sehr subtil zum Suizid treiben könnten? Und wird er dann nicht doch wieder sehr unfrei?

LW: Ja, wir sind ja nicht im luftleeren Raum, natürlich. Wir sind Produkt der Verhältnisse, in denen wir leben. Und können allein an diesen Verhältnissen so stark leiden, dass wir in ihnen nicht länger leben wollen oder können. Das kann ein Beweggrund von vielen anderen sein. Das ist mir auch in der Geschichte, die ich erzähle, ganz wichtig. Dass es nicht den einen, identifizierbaren, nachvollziehbaren Grund gibt. Und dass auch die Figur keine Diagnose hat. Das ist übrigens für bestimmte Förderungen und mögliche Finanziers auch ein Problem – was interessant ist. Es gibt eine große Sehnsucht nach Diagnosen, nach einer klaren Kategorisierbarkeit – Was hat sie denn? Was ist das? – nach dem einen nachvollziehbaren Grund. Wenn man den nicht liefert, und das tue ich sehr bewusst, dann sorgt das für Irritationen. Auch das ist interessant. Aber aus Präventivsicht übrigens genau richtig: eine komplexe Figur, die keine nachvollziehbare Kausalkette liefert.  

Ich bin sehr für geistige Mündigkeit und für Selbstbestimmtheit, aber die findet ja immer in den Grenzen der Verhältnisse statt, in denen wir uns befinden. Man könnte bei jeder getroffenen Entscheidung fragen: War die wirklich selbstbestimmt? Wahrscheinlich nicht. Aber trotzdem … Wir kommen ja immer wieder an den Punkt: Suizid findet statt, es passiert ja. Und, wie gesagt, vielleicht würde es – These – sogar weniger passieren, wenn es das Tabu nicht gäbe. Weil die Verzweiflung darüber, dass man sich damit so allein und so unverstanden fühlt, gemildert werden könnte.  

PS: Wenn ich noch eine Frage zum Schluss stellen darf: Also was ich mich, ganz abseits von Nietzsche, frage als Philosoph, oder was meine eigene Kritik am Suizid wäre: Du hast ja auch von einer „einsamen Entscheidung“ schon gesprochen; ob das Problem des Suizids nicht eigentlich ist, dass man sich selbst eben vollkommen aus den gesellschaftlichen Beziehungen, in die man verstrickt ist, herausbeamt in gewisser Weise, zunächst mal scheinbar eine Entscheidung trifft, die einen nur selbst angeht, die aber auch zur gleichen Zeit durchaus Auswirkungen auf andere hat. Das ist ja vielleicht doch eigentlich einer der Gründe, warum das Thema so emotional besetzt ist, weil viele Menschen, wahrscheinlich so gut wie alle, in ihrem Bekanntenkreis Menschen haben, die sich umgebracht haben. Was ich sagen will: Dass sich Menschen, die sich umbringen, sich da eigentlich in einer Selbstwidersprüchlichkeit zu bewegen scheinen, also einerseits das ignorieren, dass die anderen trauern werden, sich auch Vorwürfe machen werden und vieles mehr, aber zur gleichen Zeit vielleicht doch diese Nachwirkung einkalkulieren und sich vielleicht in irgendeiner Form rächen wollen an der Nachwelt und die anderen in Trauer und Zweifel stürzen wollen. Also ich will nicht behaupten, dass das bei allen der Fall ist oder auch nur bei der Mehrheit – aber ist das nicht ein Problem?

LW: Das ist bestimmt eine mögliche Sicht, die wahrscheinlich auch recht verbreitet ist. Aber ich möchte der ganz entschieden noch eine andere Perspektive gegenüberstellen: nämlich die, dass Suizid, gerade wenn es viele soziale Verstrickungen und Beziehungen gibt, keine Entscheidung gegen diese Leute ist, sondern das Ende eines teilweise langjährigen Versuchs für dieses Umfeld weiterzuleben und daran aber zu scheitern. Das ist mir sehr wichtig und das ist es auch, was Angehörigenverbände immer wieder betonen: Suizid ist keine Entscheidung gegen jemanden, sondern eigentlich das Scheitern am Versuch für Andere weiterzumachen. Das finde ich eine ganz wichtige Perspektive darauf, die das auf keinen Fall verherrlichen, sondern nur zeigen soll – und darüber kennen wir natürlich keine Zahlen oder so – dass es in der Mehrzahl wahrscheinlich keine leichtfertigen Ad-hoc-Entscheidungen sind, sondern solche, die einen langen, leidvollen Vorlauf hatten. Und dass es sich diese Menschen wahrlich nicht leicht gemacht haben.

PS: Ja, das kann ich auch auf jeden Fall nachvollziehen, dass man das natürlich auch so betrachten kann und in vielen Fällen auch muss. Ja, dann vielen Dank nochmal. Gibt es irgendwas, was du zu diesem Thema noch unbedingt loswerden willst?

LW: Da gibt es bestimmt noch ganz viel, aber ich belasse es mal dabei: Wir sollten alle mehr darüber sprechen.  

PS: Dem kann ich mich auf jeden Fall anschließen und ich glaube, die verschiedenen Stellen bei Nietzsche, auf die wir uns bezogen haben, könnten da auf jeden Fall auch ein gutes Material bieten und sollten definitiv mehr gelesen werden. Was ich vielleicht zum Abschluss noch empfehlen kann, ist der Roman Veronika beschließt zu sterben von Paulo Coelho, der sogar ein bisschen nietzscheanisch ist und mich auch persönlich sehr bewegt hat. Kennst du den?

LW: Es gibt da auch einen Film, ja.

PS: Den kenne ich wiederum nicht. Also ich kann allen, die dieses Gespräch gelesen und vielleicht Suizidabsichten haben, diesen Roman sehr empfehlen – und natürlich auch, Hilfe zu suchen, das ist ja auch klar.

Lou Wildemann ist Autorin und Regisseurin aus Leipzig. Zuvor hat sie einige Jahre als freie Journalistin fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen gearbeitet. Sie hat Politikwissenschaften (BA), Kulturwissenschaften (MA) und Philosophie (MA) studiert.  

Link zur Crowdfunding-Kampagne des Films MALA

Artikelbild: Johann Heinrich Tischbein d. Ä.: Selbstmord der Dido (1776) (Link)

Fußnoten

1: Anm. der Red.: Um die problematischen moralischen Konnotationen des traditionellen Begriffs „Selbstmord“, auf die uns Lou Wildemann im Nachgang des Gesprächs aufmerksam machte – impliziert der Ausdruck „Mord“ doch eine Tötung aus niederen Beweggründen –, zu vermeiden, verwenden wir im Folgenden andere Formulierungen.

2: Vgl. den Eintrag zu ihm auf der englischsprachigen Wikipedia.

3: So Dieter Birnbacher in einem Beitrag für Brisant (Link).

4: Vgl. swissinfo.ch.

5: Art. 115 des Schweizer Strafgesetzbuchs. Es handelt sich also um die Abwesenheit eines Verbots und keine explizite Erlaubnis (vgl. Giovanni Maio im Gespräch mit dem SWR).

6: Anm. d. Red.: Die in Fn. 4 zitierte Statistik registriert einen rasanten Anstieg der Fälle von assistiertem Suizid in den letzten 20 Jahren, fast eine Verzehnfachung. Gleichzeitig nehmen die Fälle von Suizid mit anderen Methoden seit den späten 90ern stark ab, was eine gewisse Korrelation nahelegt. Insgesamt bleibt die Suizidrate relativ konstant (vgl. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium).

7: Also sprach Zarathustra, Vom freien Tode.

8: Vgl. auch Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten, Aph. 185.

9: In einem Nachlassfragment von 1875 (Link) scheint Nietzsche die diesbezüglichen Gedanken Eugen Dührings zu paraphrasieren.

10: So etwa die Quintessenz der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral.

11: „Staat nenne ich’s, wo Alle Gifttrinker sind, Gute und Schlimme: Staat, wo Alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme: Staat, wo der langsame Selbstmord Aller – ‚das Leben‘ heisst“ (Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen).

12: In einem an Paul Lanzky gerichteten Briefentwurf von 1884 schreibt er etwa: „Was habe ich mit Denen zu thun, die kein Ziel haben! Mein Leibrezept, beiläufig bemerkt, ist, in Hinsicht auf Solche, – Selbstmord. Aber er mißräth gewöhnlich, aus Mangel an Zucht.“ In einem Nachlassfragment von 1880 definiert er das Christentum genau „als große Pöbel-Bewegung des römischen Reichs […] aller derer, welche Grund zum Selbstmord gehabt hätten, aber den Muth dazu nicht hatten; sie suchten mit Inbrunst ein Mittel, ihr Leben auszuhalten und aushaltenswerth zu finden“. Vgl. auch ein anderes Fragment von 1888.

13: Vgl. zu dieser Selbstwidersprüchlichkeit des Christentums Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 131. In Aphorismus 338 desselben Buches heißt es: „[D]er Krieg ist […] ein Umweg zum Selbstmord, aber ein Umweg mit gutem Gewissen“.

14: Götzen-Dämmerung, Streifzüge 36.

„Stirb zur rechten Zeit!“

Nietzsches Ethik des „freien Todes“ im Kontext gegenwärtiger Debatten über den Suizid

Ein Gespräch mit der Filmemacherin Lou Wildemann

Lou Wildemann ist Kulturwissenschaftlerin und Filmemacherin aus Leipzig. Ihr aktuelles Spielfilmprojekt, MALA, beschäftigt sich mit dem Suizid einer jungen Bewohnerin der Nietzsche-Stadt. Paul Stephan diskutierte mit ihr über dieses provokante Vorhaben und das Thema der Selbsttötung im Allgemeinen: Wieso ist es bis heute ein Tabu? Sollten wir mehr darüber sprechen? Welche Rolle können die Reflexionen Nietzsches, der immer wieder über dieses Thema nachdachte, dabei spielen? Was bedeutet der Suizid in einer immer gewaltvoller werdenden neoliberalen Gesellschaft?

Zwischen Ungeheuern und Abgründen

Wanderungen durch den Nihilismus der Moderne auf den Spuren Nietzsches und Kierkegaards – Teil 1

Zwischen Ungeheuern und Abgründen

Wanderungen durch den Nihilismus der Moderne auf den Spuren Nietzsches und Kierkegaards – Teil 1

5.5.25
Paul Stephan

Wie in unserer Artikelserie „Wanderungen mit Nietzsche“ bereits deutlich wurde, spielt die Metapher des Wanderns in Nietzsches Werk eine fundamentale Rolle. In diesem zweiteiligen Essay untersucht Paul Stephan, inwiefern bei Nietzsche der Wanderer als Personifikation des modernen Nihilismus dient und er damit ein zentrales Leitthema der kulturellen Moderne variiert, das sich u. a. auch den Schriften des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, der am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geboren wurde, wo er am 11. November 1855 auch verstarb, entnehmen lässt.

I. Das moderne Leben als Wanderschaft über dem Nebelmeer

Metaphern der Bewegung dienen seit jeher der Beschreibung von Grundmodi der Existenz. Im Sinne von Hans Blumenbergs Konzept der „absoluten Metapher“ verdichtet sich in ihnen das Lebensgefühl einer ganzen Kultur und anhand von ihnen lässt sich ablesen, was ihr Weltzugang ist. Insofern die Menschen ihr Leben überhaupt in einer Bewegungsmetapher beschreiben, wäre zu differenzieren zwischen dem Ziel der Bewegung und der Art, wie dieses Ziel erreicht wird. Man denke an die Irrfahrten des Odysseus oder den Kreuzweg Christi als sinnstiftende Erzmythen, an die mittelalterlichen Vorstellungen vom Leben als einer die Passion wiederholenden Pilgerfahrt oder als Seefahrt, die einmal durch alle Stürme und Gefahren hindurch doch in einem sicheren Hafen, dem Himmelreich, münden wird.

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in der Moderne, wird es immer weniger plausibel, das Leben als eine Bewegung zu interpretieren, die mit irgendeinem Ziel verbunden ist. Jean-Jacques Rousseau etwa als Vorläufer des modernen Weltempfindens inszeniert sich in seinen Schriften als einsamer Wanderer und Spaziergänger, der „like a rolling stone“ von den Zufällen des Lebens hin- und hergeworfen wird, ohne ernsthaft darauf hoffen zu können, jemals an ein Ziel zu kommen – jedenfalls in dieser Welt. Eine Verschnaufpause erlebt er nur im isolierten Naturgenuss, fernab von der sich entwickelnden industriellen Hektik der Städte; insbesondere am Bieler See, wo er auf der Flucht aus Frankreich einige Wochen verweilt, und in den Träumereien eines einsamen Spaziergängers davon berichtet, wie ihn dort, auf einem Boot ziellos auf dem Wasser treibend, ein kurzer Augenblick höchsten Glücks ereilt. Etwa 200 Jahre später wird Adorno in dem berühmten Aphorismus Sur l’Eau – „Auf dem Wasser“ – diese Metapher aufgreifen und zum utopischen Leitbild umdeuten: Der Glauben der klassischen Moderne an einen permanenten Fort–Schritt der Menschen hat sich als ewige Hetzjagd, als sinnloses „Vorlaufen in den Tod“ entpuppt, das der Emigrant, ganz im Geiste des „Bürgers von Genf“ und sehr anders als Heidegger, nicht mehr heroisch bejahen möchte, sondern ihm die Vision einer Menschheit entgegenstellt, die nicht mehr zwanghaft irgendetwas nachjagen müsste. Der letzte Traum des modernen Menschen: einfach mal zur Ruhe kommen.

Die Moderne schwankt so zwischen dem Leiden an der ewigen Rastlosigkeit und der gleichzeitigen Sehnsucht nach Stille und ruhigem Dahingleiten einerseits und verschiedenen Weisen der Bejahung dieses Schicksals andererseits; sei es als Fortschrittserzählung – die freilich kein rechtes „Ende der Geschichte“ mehr auszurufen vermag, sondern nur noch die Permanenz immer neuer Stufen –, sei es als nihilistischer Heroismus des beständigen Vorankommens (beide Versionen nähern sich offensichtlich aneinander an), sei es schließlich als ästhetisch-spielerische Bejahung des haltlosen Tändelns und Umherschweifens, etwa in den Figuren des Dandys und des Flaneurs, die die Künstler und Literaten des 19. Jahrhunderts faszinierten.

Der Metapher des Wanders, als Kulturtechnik überhaupt erst im 18. Jahrhundert, u. a. von Schriftstellern wie dem Bergfreund Rousseau erfunden, kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu. Man denke nur an Caspar David Friedrichs ikonisches Gemälde Der Wanderer über dem Nebelmeer (siehe Artikelbild; um 1818), das die Cover von zahllosen Darlegungen über Existenzphilosophie ziert. Der auf sich selbst zurückgeworfene Stadtbürger sucht in der Natur nach einer Ordnung, die ihm das Chaos seiner Existenz irgendwie verständlich macht – doch findet nur Nebelschwaden und die bizarren Felsformationen (vermutlich) der Sächsischen Schweiz. Ob sich hier doch der Hauch einer Transzendenz oder das Wirrwarr wabernder Dämonen zeigt, beide Deutungen des Gemäldes scheinen möglich, ist eine Frage, die das Gemälde selbst letztendlich dem Betrachter selbst überlässt. Das Bild dominiert, anders als Landschaftsgemälden früherer Dekaden, nun nicht mehr die Natur, sondern der Mensch, dem sie immer mehr zur reinen Projektionsfläche gerinnt.

Caspar David Friedrich: Die Lebensstufen (um 1835)

II. Wanderungen durch Jütland, Spaziergänge durch Kopenhagen

Nietzsches vielleicht wichtigster geistiger Weggefährte im 19. Jahrhundert, der dänische Philosoph Søren Kierkegaard, hat in dem tagebuchartigen Roman „Schuldig?“ – Nicht Schuldig?“ mit Quidam den vielleicht ersten „Helden“, wenn man ihn überhaupt noch so nennen kann, der modernen Existenz geschaffen. Einen ewig zweifelnden „dämonischen“ Menschen, der daran zu Grunde geht, sich nicht sicher zu sein, ob er ein „Mädchen“ liebt oder nicht, der gleichzeitig meint, sie lieben zu müssen, aber nicht lieben zu können. Ist er schuldig – oder nicht? Ähnlich wie später K. in Kafkas Protokollen des Normalwahnsinn moderner Individualität vermag er es sich nicht zu beantworten und kreist so im „Adlerhorst“ seiner verlorenen Existenz. Er beschreibt den Blick ins Nichts, den Friedrichs Wanderer wagt, wie folgt:

[N]ach Etwas ausblicken, schärft das Auge, aber nach Nichts ausblicken, strengt es an. Und wenn das Auge lange nach Nichts ausblickt, so sieht es zu guter Letzt sich selbst, d. h. sein eignes Sehen; ebenso zwingt die Leere um mich herum meinen Gedanken wieder in mich selbst zurück.1

Ganz ähnlich wird Nietzsche später schreiben: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“2.

Doch lässt sich diese unstete Lebensform nicht auch genießen, anders als Quidam und K., die verzweifelt nach einem Ausweg suchen? Kierkegaard hat in seinem anderen großen Tagebuchroman, dem Tagebuch des Verführers, als einer der ersten die Phänomenologie eines solchen Dandytums verfasst. Sein Verführer ist davon besessen, immer wieder den Rausch der Verliebtheit zu erleben und inszeniert diese als ästhetisches Spektakel mit immer neuen „Mädchen“ als unfreiwilligen Statistinnen, die er mit manipulativen Methoden in seinen Bann zieht, bis sie ihm verfallen und langweilig werden – das Püppchen hat dann seinen Dienst getan und wird durch eine Nachfolgerin ersetzt.

Man mag sich darin wiedererkennen – oder auch nicht. Der Verführer mag sein Leben genießen, doch Zweifel sind angebracht, ob er in seiner Getriebenheit nicht dem religiösen Quidam in Wahrheit viel ähnlicher ist, als ihm lieb ist. Jener weiß im Gegensatz zu diesem nur nicht, dass er verzweifelt ist – in Kierkegaards Analyse sind sie es beide. In der Einleitung des Diariums vergleicht der fiktive Herausgeber der Schrift, der „Aesthetiker“ A, das unstete Dasein dieses, wenn auch subtiler agierenden, Prototyps der heutigen pick up-artists nicht von ungefähr mit demjenigen eines rastlosen Wanderers:

Gleich wie er andre irregeführt hat, so wird er, denk’ ich, damit enden, selber irrezugehen. Die andern hat er nicht in äußerlicher Hinsicht irregeführt, sondern in inwendiger betreffs ihrer selbst. Es liegt etwas Empörendes darin, wenn jemand einen Wanderer, der des Weges halben ratlos ist, auf verkehrte Pfade lenkt, und ihn dann als Verirrten sich selbst überläßt, und wie wenig bedeutet das doch im Vergleich damit, einen Menschen dahin zu bringen, daß er in sich selbst irregeht. Der irregehende Wandrer hat doch den Trost, daß die Gegend um ihn sich fort und fort verändert, und mit jeder Veränderung erzeugt sich eine Hoffnung, daß er einen Ausweg finden werde; wer in sich selbst irregeht, hat kein großes Gebiet, auf dem er sich bewegen kann, er merkt bald, daß es ein Gehen im Kreise ist, aus dem er nicht herauskommt. Ebenso, denk ich, wird es auch ihm ergehen nach einem Maßstabe, der noch weit furchtbarer ist. Ich kann mir nichts Gequälteres denken als einen intriganten Kopf, welcher den Faden verliert, und nun seinen ganzen Scharfsinn wider sich selbst kehrt, während das Gewissen erwacht und es gilt, sich aus diesem Irrsal loszureißen. Vergebens hat er viele Ausgänge bei seinem Fuchsbau, in dem Augenblick, da seine geängstete Seele bereits glaubt, sie sehe das Tageslicht einfallen, zeigt es sich, daß es ein neuer Eingang ist, und dergestelt sucht er gleich einem aufgescheuchten Wilde, von der Verzweiflung verfolgt, immerzu einen Ausgang und findet immerzu einen Eingang, durch welchen er in sich selbst zurückkehrt. Solch ein Mensch ist nicht immer das, was man etwa einen Verbrecher nennt, oft ist er selbst von seinen Intriguen getäuscht, dennoch trifft ihn eine furchtbarere Strafe als den Verbrecher; denn sogar, daß das Gewissen erwacht, ist, über ihn gesagt, ein zu ethischer Ausdruck; das Gewissen nimmt für ihn lediglich die Gestalt eines höheren Bewußtseins an, welches sich in Unruhe äußert, die ihn noch nicht einmal in tieferem Sinne anklagt, aber ihn wachhält, ihm keine Ruhe gönnt in seiner unfruchtbaren Rastlosigkeit.3

Wie dieser Verzweiflung im Herzen der eigenen Seele, wie dem modernen Nihilismus entkommen? Kierkegaards Lösung: Der „Sprung in den Glauben“; wieder zum Pilger werden, das Leben wieder als Kreuzweg in den Fußstapfen Christi und der Märtyrer betrachten lernen. Diese Bejahung des Lebens als Gewaltmarsch ist es, die Quidam einzig von seiner Desperation befreien könnte; er könnte es dann als göttliche Prüfung begreifen. Doch Kierkegaard betont immer wieder, dass das Subjekt nicht aus eigener Anstrengung in den Glauben gelangen, sondern dazu nur von Gott selbst berufen werden kann. – Eine einfache, allzueinfache Lösung. Man muss halt aufhören zu denken, dann wird’s Leben leicht. Ist das noch ernstzunehmende Philosophie oder schon stumpfester Wahnwitz, rhetorisch ungemein geschickt verpackt? Wohl noch nie hat einer so raffiniert, klug und wortgewandt, so: modern, für die Verblödung argumentiert.

Link zu Teil 2.

Quellen

Kierkegaard, Søren: „Schuldig?“ – Nicht Schuldig?“. Stadien auf des Lebens Weg, Bd. 2. Gesammelte Werke und Tagebücher. 15. Abt. Übers. v. Emanuel Hirsch. Gütersloh & München 1994.

Ders.: Das Tagebuch des Verführers. Entweder / Oder. Erster Teil, Bd. 2. Gesammelte Werke und Tagebücher. 1. Abt. Übers. v. Emanuel Hirsch. Simmerath 2004.

Quelle für alle verwendeten Bilder: Wikipedia

Fußnoten

1: S. 379.

2: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 146.

3: S. 330 f.

Zwischen Ungeheuern und Abgründen

Wanderungen durch den Nihilismus der Moderne auf den Spuren Nietzsches und Kierkegaards – Teil 1

Wie in unserer Artikelserie „Wanderungen mit Nietzsche“ bereits deutlich wurde, spielt die Metapher des Wanderns in Nietzsches Werk eine fundamentale Rolle. In diesem zweiteiligen Essay untersucht Paul Stephan, inwiefern bei Nietzsche der Wanderer als Personifikation des modernen Nihilismus dient und er damit ein zentrales Leitthema der kulturellen Moderne variiert, das sich u. a. auch den Schriften des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, der am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geboren wurde, wo er am 11. November 1855 auch verstarb, entnehmen lässt.

Darts & Donuts
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Man ist genau dann alt, wenn man popkulturelle Massenphänomene erst mit mehreren Jahren Verzögerung mitbekommt.

(Paul Stephan im Gespräch über Taylor Swift)

Zum ersten April. – Dieser Tag hat für mich stets eine besondere Bedeutung. Es ist einer wenigen Anlässe im Jahr, an dem sich das ernste, allzuernste Abendland ein wenig Leichtsinn, Satire und Verdrehung erlaubt, ein schwacher Abglanz der antiken Saturnalien. Der Fest- und Ehrentag der Narren sollte zum Feiertag werden – und wir freien Geister werden die Hohepriester des Humbugs sein, Dionysos unsere Gottheit. Es wird ein Tag der Heilung sein. Wie viele dieser Tage werden nötig sein, um in uns und um uns endlich wieder ein solches Gelächter erschallen zu lassen, wie es den Alten noch möglich war? In das Lachen wird sich so stets ein wenig Trauer mischen – doch wird es darum nicht tiefer genossen werden, gleich einem mit bitteren Kräutern versetzten Weine? Der Ernst als Bedingung einer neuen, melancholischen Heiterkeit, welche ihnen unverständlich gewesen wäre? Aphrodite muss im Norden bekanntlich einen warmen Mantel tragen, um sich nicht zu verkühlen – doch vermag uns eine Lust zu spenden, die selbst die Römer erröten ließe. Wir haben so doch unsere eigene ars erotica und unsere eigene ars risus. Unsere Freuden sind mit Tränen benetzt und erhalten erst dadurch das nötige Salz.

(Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 384)

Zum ersten April. – Dieser Tag hat für mich stets eine besondere Bedeutung. Es ist einer wenigen Anlässe im Jahr, an dem sich das ernste, allzuernste Abendland ein wenig Leichtsinn, Satire und Verdrehung erlaubt, ein schwacher Abglanz der antiken Saturnalien. Der Fest- und Ehrentag der Narren sollte zum Feiertag werden – und wir freien Geister werden die Hohepriester des Humbugs sein, Dionysos unsere Gottheit. Es wird ein Tag der Heilung sein. Wie viele dieser Tage werden nötig sein, um in uns und um uns endlich wieder ein solches Gelächter erschallen zu lassen, wie es den Alten noch möglich war? In das Lachen wird sich so stets ein wenig Trauer mischen – doch wird es darum nicht tiefer genossen werden, gleich einem mit bitteren Kräutern versetzten Weine? Der Ernst als Bedingung einer neuen, melancholischen Heiterkeit, welche ihnen unverständlich gewesen wäre? Aphrodite muss im Norden bekanntlich einen warmen Mantel tragen, um sich nicht zu verkühlen – doch vermag uns eine Lust zu spenden, die selbst die Römer erröten ließe. Wir haben so doch unsere eigene ars erotica und unsere eigene ars risus. Unsere Freuden sind mit Tränen benetzt und erhalten erst dadurch das nötige Salz.

(Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 384)

Die Apokalyptik der Identität als Projekt. – Furcht und Zittern im Rückzug auf das Partikulare – zirkeln zwischen Sinn und Zwang. Bedingt die Verdrängung der Allgemeinheit die Autoaggression; die Reduktion der Zukunft, die Rückkehr des Tabus – oder umgekehrt? Zur „Republik des Universums“ sprach also der Philosoph des Mythos: „fear knows only how to forbid, not how to direct“.

(Sascha Freyberg)

„Die Waffe gegen dich zum Werkzeug machen, und wenn’s nur ein Aphorismus wird.“

(Elmar Schenkel)

Ich empfinde alle Menschen als schädlich, welche dem, was sie lieben, nicht mehr Gegner sein können: sie verderben damit die besten Dinge und Personen.

(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

Nietzsche sagt: „ChatGPT ist dumm.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

Nietzsche sagt: „Man soll den Computern misstrauen, sie haben ein Hirn, eine Hand, einen Fuß und ein Auge, aber kein Herz.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.

(ChatGPT auf die Bitte hin, einen Aphorismus im Stile Nietzsches zu verfassen)

Werk. – Es gibt keine irreführendere und falschere Ansicht als die, dass das Schreiben oder das Werk lustvolle Angelegenheiten seien. Es ist ganz das Gegenteil! Das Werk ist einer der größten Gegner und schlimmsten Feinde. Und wer aus Freiheit und nicht aus Gewohnheit schreibt, vermisst an ihm Umgangsformen und Gewissen – der ist ein Schwein!

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Gefährliche Wahrheit. – Viele psychische Pathologien machen ihren Wirt ultrasensibel. Sie bekomme Antennen für die kleinsten seelischen Regungen ihres Gegenübers, sehen den kleinsten Verrat, die kleinste Inkongruenz, den kleinsten Reißzahn, den hässlichsten Hund im Menschen. Als Feind des Menschengeschlechts zückt der Arzt seinen Notizblock und ruft also „die Pfleger“ herein.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Glück: Keinen mehr nötig zu haben und so rückhaltlose Zuwendung sein können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 44)

Dein Rechthaben nicht offen zur Schau stellen. Nie der Weg sein. Dem, der Recht hat, will man leicht Unrechttun und man fühlt sich gemeinsam im Recht dabei, weil das Gefühl für Gleichheit ständig trainiert wird und die Übung der Freiheit eine Seltenheit geworden ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 43)

Wahre Liebe: Durch den Anderen hindurch lieben.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 42)

Zusammensein wollen: Weil es leichter ist? Weil es bereichert? Weil man keinen Willen kennt, der lange Wege allein gehen kann?

(Neue Sprüche und Pfeile, 41)

Helfen wollen: Weil es sichgehört? Weil einem Gleiches widerfahren kann? Weil man hat und gerne gibt? Weil einem nicht die aktuelle Armut betroffen macht, sondern die Schande, dass Chancen ungenutzt bleiben müssen?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 40)

Keine Größe ohne ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten. Aus dem Schein zu einem Mehr an Sein. Aus den Erfolgen der Sprünge in eine Rolle, in der man sich nicht kannte, entsteht der Glaube anein Können, das mehr aus einem machen kann.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 39)

Wem die Stunde schlägt. – Wer sich einen Termin macht, etwa ein Date in zwei Wochen, freut sich, trifft allerlei Vorbereitungen, fiebert darauf hin, hält durch und überlegt, was er sagen soll und so weiter. – Dann ist der Tag da. In der Zukunft glänzte alles noch, fühlte sich anders an. Man denkt sich: Es ist alles ganz wie vorher. Alles, was ich getan habe, war nur Selbstzweck, man erwartete das Warten und Vorstellen und nicht die Sache selbst, nicht den Kairos, den man nicht erwarten kann.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Niederes und höheres Bewusstsein. – Bin ich vor die Wahl gestellt, entweder erdrückt zu werden, tot zu sein und zu schweigen oder zu lästern und ungläubig zu sein – Gift in meinen Drüsen mir zu sammeln, wie mir angeboren, Reptil, das ich bin –, ich würde immer das Zweite wählen und mich niedrig, schlecht, negativ und ungebildet nennen lassen. Lieber will ich mich von meinem Gift befreien als es mir zu Kopf steigen zu lassen. Tritt einer dann in meine Pfützen, sei’s so – gebeten hat man ihn nicht!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Schwere und die Sinnlosigkeitder Dinge. – Wer einmal den unbegründeten Wunsch verspüren sollte, sich über die wesentlichen Dinge Gedanken zu machen, das Sein der Dinge und die Zeit, der ist besser beraten, es zu unterlassen. Der Verstand tendiert dazu, solche Dinge zäh und schwer zu machen. Am Ende findet man sich beim Denken und Überlegen dabei wieder, das Ding selbst nachzuahmen und denkt den Stein, das Stein-Seins, verfällt in gedachte Inaktivität.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Nichts. – In der Indifferenz ist noch alles und jedes zu ersaufen. Der größte Mut, der Hass, die Heldentaten, die Langeweile selbst verschlingt sich und die große Dummheit, Eitelkeit.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Für Franz Werfel. – Ein Autor, der dir sagt: „Ach, meine Bücher…, lass dir Zeit, lies erst dies ein oder andere. Das kann ich dir empfehlen: Ich liebe Dostojewski.“ – Das ist Größe und nicht die eitle Schwatzerei derjenigen, die ihre eigene Person und die Dringlichkeit der eigenen Ansichten vor sich hertragen.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Illusions perdues. – Wieso ist es so,dass das schönste, romantischste, bewegendste, rührendste, herzaufwühlenste Buch gegen die blasseste Schönheit von zweifellos hässlichem Charakter keine Chance hat und so attraktiv wie eine uralte Frau wirkt?

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Wider einfache Weltbilder. – Wir sind ein krankendes Geschlecht; schwitzend, von Bakterien übersät. Wir haben Bedürfnisse, geheimen Groll, Neid; die Haare fallen uns aus, die Haut geht auf mit Furunkeln; wir vertrauen, langweilen uns, sind vorlaut; pöbeln, sind übertrieben schüchtern, schwätzen Unsinn, konspirieren, sind erleuchtet, sind verblendet, eitel, machthungrig, einschmeichelnd, kriecherisch – jenseits von Gut und Böse.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vom Unglauben getragen. – Wie könnte man es nicht anbeten, das großartige formlose Unding, welches das Sein ist? Monströs wie allerfüllend. Das große Nichts, das die Alten die Hölle nannten, qualmt und beschenkt uns mit den schönsten Schatten.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Das herzliche Lachen der Literatur. – Hat jemals ein Mensch, der vor einem Buch saß, sich den Bauch und die Tränen vor Lachen halten müssen? Ich schon; aber nur in der Vorstellung – und aus Schadenfreude über solche Idiotie.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Ananke. – Weil die Literatur, obzwar sie die dümmste, platteste, schlechteste Grimasse der Zeit darstellt, doch von ihr den kleinsten Kristallsplitter Reinheit enthält, ist sie unerbittlich erbarmungslos und erschreckend in ihrer Folge. Wir wissen nur eins: Sie wird kommen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Kind in der Bibliothek. – Die Mutter muss dem Kind verbieten: „Nein, wir gehen nicht da rein!“ Das Kind sagt: „Da!“, und will ein Regal hochklettern. Bücherregale sind Klettergerüste. Weil es das nochnicht gelernt hat, läuft es wie ein Betrunkener nach seiner Mutter.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Authentisch sein wollen: Weil es sich schickt? Weil man die Halbwahrheiten satt hat? Weil man einsah, dass nur ein Eingestehen zu tieferen und offeneren Bindungen führt?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 38)

Herausragend sein wollen: Weil man Bewunderer will? Weil man es den Mittelmäßigen zeigen möchte? Weil man das Banale nicht mehr aushält?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 37)

Weil die Kritik zunehmend nicht widerlegen, sondern vernichten will, ist die gute Moral der Moderne die kategorische Revisionierbarkeit. Sein ist Versuch zum Sein. Daher bemisst sich kompetente Urteilskraft an der Distanz zum guillotinenhaften Verurteilen. Korrekte Korrektheit ist selbstironisch.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 36)

Wer nicht von sich auf Andere schließt, verpasst die Chance zu einer Welt genauso wie jemand, der von Anderen nicht auf sich schließt. Im revidierbaren Mutmaßen lichtet sich das Zwielicht des Miteinanders ein wenig und es erhöht sich die Möglichkeit zu einem halbwegs zuverlässigen Versprechen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 35)

Im Gehen wird das Denken weich und weit. Wer die Welt um sich hat, für den wird das Rechthaben zu einer unschönen Angewohnheit. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, laufen einem die Sätze wie angenehme Begegnungen über den Weg, die einen überraschen mit der Botschaft, wie wunderbar egal man doch ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 34)

Ohne Erfolge wäre das Leben ein Irrtum. Die Karriere ist die Musik des Lebens, auch für die, die sich für thymotisch unmusikalisch halten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 33)

Schonungslose Ehrlichkeit belügt sich selbst, weil es ihr nicht um Wahrheit geht, sondern um den Effekt des Entblößens als bloße Intensität des Auftrumpfens. Sie will nicht aufzeigen, sie will es den Anderen zeigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 32)

Abhängigkeit macht angriffslustig. Man will sich selber beweisen, dass man etwas ist und attackiert die lebenswichtigen Helfer, als wären sie Meuterer. Dabei ist man selbst derjenige, der meutert. Für das klassikerlose Tier gilt: Es gibt ein falsches Leben im richtigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 31)

Sich Zeit lassen, wenn die Zeit drängt. Panik macht ungenau. Fünf vor zwölf ist es immer schon für diejenigen, die überzeugt sind, genau zu wissen, was zu tun ist, ohne dass sie die Komplexität der Lage je verstanden hätten. Es ist die Tragödie des Weltgeistes, dass seine selbsternannten Apostel erst einen überwältigenden Eindruck mit ihrer Entschiedenheit machen und dann einen schockierenden Eindruck mit den Wirkungen ihrer Entscheidungen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 30)

Ein Schreibfehler. – Was heißt erwachsen werden? – ...die kindlichen Züge anlegen ...!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Geschlechterkampf. – Da weder die Auslösung des Mannes noch der Frau zur Disposition steht und politische Macht in der Regel nicht mehr mit physischer Gewalt durchgesetzt wird, sind die mächtigsten Formen der Machtausübung verdeckt: Schuld, Angst, Drohung, Beschämung, Entzug (z. B. von Liebe und Solidarität), Zurschaustellung. Sie alle operieren mit Latenzen und unsichtbaren Scheingebilden, entfesseln dieFantasie.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Gewissensqual über das Gewissen: Das Gewissen, das sich nicht selber beißen lernt, wird zum Mithelfer der Gewissenlosigkeit. Gewissen jedoch als permanenter Gewissensbiss verletzt die Freiheit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 29)

Die erzwungene Höflichkeit provoziert die Lust zur Unhöflichkeit. Die Attraktivität der Sitten bemisst sich daran, wie viel kreative Munterkeit siegestatten. Sitten, die Recht haben wollen, werden unweigerlich zu Unsitten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 28)

Aus dem gefühlten Mangel an Aufmerksamkeit als stiller Angenommenheit entsteht der Hass auf diejenigen, die einen keines Blickes mehr zu würdigen scheinen. Man unterstellt Ungerechtigkeit, wo Freiheit ist, die eine andere Wahl traf. Dies Verdächtigen verhässlicht und entfernt von der Zuwendung, nach der man so sehnsüchtig strebt. Wut, die andauert, wird Hass, der schließlich den Anderen als Gegner wahrnimmt, den man nicht mehr kritisieren, sondern nur noch vernichten will.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 27)

Schatten über der rechten Hand. – Ist der Todesengel derselbe wie der der Liebe? – Erkennen wir nicht den Schatten aneinander, überall?

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Die Freiheit in der Literatur. – Kein Mensch wird geboren und liest „die Klassiker“.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Immerhin. – Man hat als Mensch genug Zeit bekommen, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Respekt. – Da duzt man die Leute undschon verlieren die allen Respekt – Demokratie!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vorsicht. – Unsere Gesellschaft geht von der Maxime aus, dass, wenn jeder gleichmäßig durch Arbeit verbraucht und gleichzeitig durch Geld versklavt, keiner dem anderen mehr etwas antun kann – Ruhe und Frieden herrscht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

 2023. – Wenn die Vorstellung zu sterben und tot zu sein erträglicher ist als die Demütigung einer Arbeit im Büro.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Dada. – Das Heute schafft noch aus dem unsinnigsten Blödsinn eine Ideologie zu machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Das Beständige. – Wenig auf dieser Erde ist ewig und bleibt über die Zeit hinweg erhalten. Bildung nicht, Geschichte nicht, Bräuche nicht, Sitten nicht. Ewig bleiben Dummheit, Eitelkeit, vielleicht Liebe und Spaß, Tränen und Dunkelheit, weil sie Familie sind.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Theater. – Im unerträglichen Theater unserer Zeit will jeder die Guten, die Superhelden spielen und niemand die Bösen. Ihre Zahl ist deswegen zu klein und die der Guten zu hoch. Damit verflachen beide Seiten ungemein und es entsteht die billigste Seifenoper. Wären wir nicht musikalisch begleitet, wir wollten nach Hause gehen, an den Schreibtisch und unsere Charaktere nochmal gründlich überdenken und -arbeiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Mädchen mit einem Korb Erdbeeren. – Das Wetter ist schön. Ich würde eine junge Frau gegen einen Korb Erdbeeren eintauschen, mir ist sklavenherrisch zu Mute.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Gehe denen aus dem Weg, die keine Sympathie für Komplexität erkennen lassen. Der Unwille zum Komplexen ist der trotzige Halt der Haltlosen und der Jungbrunnen der Verbitterten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 26)

Umgedrehter Nietzscheanismus: Die letzten Menschen als diejenigen, die es auf sich nehmen wollen, die letzten Dingen immer wieder zu durchdenken, ohne an den Abgründen zu zerbrechen, die sich dabei öffnen. Ein besseres Beschreiben erzeugt ein Vertrauen, das mit Normalität impft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 25)

Das Ende der Geschichte kann auch gedacht werden als eine Ohnmacht der alten Deutungen in neuen Verhältnissen. Daher wird der historische Sinn gerne kulturkritisch: Da er sich keinen Reim mehr auf die Lage machen kann, werden die Dinge als katastrophisch interpretiert, anstatt die Sicht auf die Dinge zu revidieren.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 24)

Geist als Betrieb: Als museale Hochkulturmode, als andenkenlose Betriebswirtschaft oder als ressentime Kulturkritik-Industrie.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 23)

Wenn man wieder kreativ sein muss. – Wenn der heutige Kulturmensch keine Idee mehr hat, greift er in die Tastatur und schreibt etwas über die Rolle der Frau, BiPoC oder sonst etwas in der Richtung und kommt sich dabei in seiner Armseligkeit nicht nur rebellisch und progressiv vor, sondern wähnt sich auch als kreativ, wenn er mal wieder über die Rolle der Mutter im Patriarchat spricht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fitness. – Ich kann die aufgepumpten jungen Männer mit ihren hantelgroßen Wasserflaschen und Proteinpülverchen nicht mehr sehen. Soll sich in diesen Figuren der feuchte Traum Nietzsches von der Selbstüberwindung des Menschen, seines Körpers und physiologischen Organismus in Form der kommodifizierten Selbstquantifizierung vollends erfüllt haben?

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Sichtbar durch Agitation. – Der Mensch ist das schöne Tier und, ist er wohl versorgt, von außen immer würdevoll. Das will nicht mehr sagen, als dass die Hülle, die die Natur ihm gibt, auch schon das meiste ist und im inneren Hohlraum, fast nur Schatten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Wissenschaftliche Erlösung: Nach einer neuen Erkenntnis der Gehirnforschung ist es unmöglich, zugleich Angst zu haben und zu singen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 22)

Wer die Möglichkeit des Untergehens ständig für realistisch hält, hat es nötig, sich vor sich selbst unauffällig in den Imaginationen des Schlimmsten zuspüren. Der Mangel des Glaubens an sich wird kompensiert mit dem festen Glauben an die Katastrophe.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 21)

Karriere machen, ohne den Verdacht des Egoismus auf sich zu ziehen, anstrengungslos, unterambitioniert. Aber doch das Verlangen, gesehen zu werden in der bemühten Mühelosigkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 20)

Er verzichtete, aber er sah ganz genau hin, wie viel der bekam, der nicht verzichtete. Der schielende Verzicht hat die schärfsten Augen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 19)

Sinn ist der Ersatz für fehlende Initiative. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, wird offen für die Erfindung von Gründen, wer an seinem Zustand schuld sein soll. Die Langeweile der Haltlosen wird zum Verbrechen der Vitalen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 18)

Philologe sein. – Permanentes Standgericht.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Weil es Mut braucht, sich Künstler zu nennen. –  Kunst ist das Gegenteil von Angst.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Leipzig. – Neben einem anarchisch aus dem Fenster hängenden Banner mit der Aufschrift „Lützi bleibt“, das an Klassenkampf, Demo, Streik, Widerstand und Molotov gemahnt, steht das Hauptversammlungshaus der städtischen Kleingartenvereine. Noch zwei Häuserblöcke weiter, ein Yoga-Studio.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Kreative ist nicht apolitisch. Er interessiert sich nicht einmal für Politik. Erst wenn die Räume enger werden, die ihn animieren, beginnt er sich politisch zu engagieren aus apolitischen Motiven.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 17)

Der Verlierer denkt: „Die Wahrheit, die meinen Sieg verhindert, muss Lüge sein!“ Der Sieger denkt: „Solange ich den Sieg nötig habe, habe ich noch nicht gewonnen.“

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 16)

Wer lange genug allein ist, will sich selber nicht mehr verstehen. Darin liegt die Möglichkeit einer reifen Gedankenlosigkeit. Man treibt dann noch Philosophie wie man Jahreszeiten erlebt. Begriffe und Satzfolgen kommen und gehen wie Kastaniengrün und Septemberhimmel.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 15)

Im gelingenden Bewundern überwindet man sich zu sich. Die Unfähigkeit zur Einzigartigkeit steigert den Drang zur Zugehörigkeit. Wenn Konsens zum Kommando wird, wird Freiheit zur Ungerechtigkeit. Diversität als Inklusivität wäre die bereichernde Teilhabe an Liberalität, deren Bewundern man nicht teilen muss. Der Zustand eines vielfachen Desinteresses ist keine Entfremdung oder Ausbeutung. Wer seine Disziplin gefunden hat, verachtet den Einfallsreichtum der Schuldsuche.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 14)

Früher entsprach der Wahrnehmung der Schönheit das Kompliment. Heute scheint es so, als wäre es das Zeugnis einer fortgeschrittenen Form der Anständigkeit, sich dafür zu schämen, diesen Reflex der Entzückung bei sich überhaupt wahrzunehmen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 13)

Die Freudlosen werden leicht die strengen Apostel eines Sinns des Lebens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 12)

Das Gewissen wächst im Horchen auf das Bewirkte. Es formt sich als Ohr der Reue.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 11)

Seine Entscheidungen infrage zustellen, steigert den Sinn für Verantwortung. Man weiß nie, was man alles getan hat. Die Unabsehbarkeit des Anrichtens weist auf die Reue als ständige Option. Daher ist alles Handeln ein Akt der Reuelosigkeit, den man hofft, verantworten zu können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 10)

Hilflosigkeit: Der letzte Stolz.

(Michael Meyer-Albert, Neue Pfeile und Sprüche, 9)

Die Krise lehrt weite Gedanken oder sie verleiht die zweifelhafte Stärke zu einer unschönen Exzentrik.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 8)

Im fehlerhaften Menschen genießt Gott seine Unfehlbarkeit. Im unfehlbaren Gott erträgt der Mensch seine Fehlbarkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 7)

Wer das wilde Leben nötig hat, denkt nicht wild genug. Golden, treuer Freund, ist alle Theorie. Und fahl des Lebens grauer Baum.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 6)

Erst der Wille zum Nichtwissen erlaubt eine Verkörperung der Wahrheit. Das Wort darf nicht ganz Fleisch werden.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 5)

Poesie. –  Eine Definition: Die Summe all’ dessen, was keine öffentliche Redaktion, die auf ihren Ruf, ihr Image und Inserate achten will, veröffentlichen würde.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Fortschritt. – Wenn die Städter auf das Land und seine der Vergangenheit Zeit entstammenden primitiven Sitten süffisant herabblicken, blickt die Zukunft gehässig auf sie, die Idioten, herab.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Glaube daran, dass es keine Wahrheit gäbe, ist selbst wieder eine Wahrheit, die es auf Dauer nicht mit sich aushält. Zweifel wird dogmatisch, depressiv oder paranoid.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 4)

Die Einsamkeit des Philosophen ist seine gute Gesellschaft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 3)

Wissen ist Ohnmacht. Die Mutigsten beherrschen die Kunst des Vergessens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 2)

Von nichts kommt nichts? Wäre dann der, der nichts tut, schuldloser?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 1)

Nietzsche. – Es geht darum Zündkerzen in den Zeitgeist zu setzen. Entzünden sollen sie andere! Wie im menschlichen Körper ein winziger, brennender, strahlender, leuchtender Kristallsplitter Wahrheit in ein System eingesenkt reicht, um ein Gerinnsel und einen Schlaganfall auszulösen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Rotten, Tribalismus. – Der*Die Deutsche ist Neurotiker*In und chronifiziert, staatlich anerkannt feige. Talent ist in Deutschland rar gesät.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Ablehnung. – Man darf nicht vergessen, dass selbst in dem „je te déteste“ oder „tu me détestes“ eine Form von Beziehung steckt. Sie ist nicht Indifferenz, sondern eine Form von Wille, Wunsch oder Velleität des Dialogs.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Schlagfertigkeit. – Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welche geringen Anlässe die Menschen benutzen, um einer den anderen zu demütigen oder auch nur sein kleines Mütchen am anderen abzukühlen. Dennoch: Auch aus der Ablehnung kann noch eine Lust über das eigene Wachstum, eine Lust an der Ablehnung entspringen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Smalltalk. – Aus oberflächlich und anfänglichen Gesprächen lernt man manchmal Leute kennen (oder erzeugen diese Gespräche ihre Menschen?), die, wenn man ihnen zuhört, genau demjenigen Menschenbild der Konkurrenz entsprechen, von dem die Lehrbücher der Ökonomie scheiben, und es gruselt einen. – Ein Scherz, bitte ein Scherz, nur einen, fleht man innerlich! Und zeig mir, dass es ein Mensch ist! – Man einigt sich auf einige Statusmodalitäten der Berufswahl und stellt einige politische Ansichten zur Schau.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Im Dreck spielen. – Im menschlichen Verkehr liegt doch etwas Dreckiges. Die ganze Summe aus Verlogenheit, Untreue, Illoyalität und Machtspielen, die ihn so unappetitlich, aber gleichzeitig schmerzlich wie unerlässlich machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Kleinlichkeit. – Am Ende des Tages – und man glaubt es kaum – kommt es genau auf die Frage an: Willst du Kaffee oder Tee trinken? – Daran entscheidet sich alles! Ich habe mal eine Frau kennengelernt,die nicht mit der Gewohnheit vertraut war, morgens einen Tee oder Kaffee zu trinken. Sie machte sich schlicht keine Gedanken darum, trank vielleicht mal ein lauwarmes Glas Wasser. Sie ist mir dadurch unheimlich und suspekt geworden. – Einen Tag nachdem ich das geschrieben hatte ging mir mein Wasserkocher kaputt. (Höchste göttliche Ahnung!)

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fähigkeit der Vision. — Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man der Vision — das heisst einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen“ — gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

(Nietzsche, Morgenröthe, 66)

„Alle Wahrheit ist einfach.“ — Ist das nicht zwiefach eine Lüge? —

(Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 4)

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